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Colette Viard ist die Gewinnerin der Kochshow «Le Grand Gourmet», die im französischen Fernsehen für Traumquoten sorgt. Mit dem Preisgeld eröffnet sie ihr eigenes Restaurant. Commissaire Lefevre, der zu den Gästen der Eröffnungsfeier gehört, will gerade eine Gabel des köstlich riechenden Fischgerichtes probieren, als ein Schrei die heitere Stimmung zerreißt. Raul Da Silva, der gefürchtete Restaurantkritiker, ringt um Luft. Als er schließlich vor aller Augen stirbt, ahnt Lefevre, dass ihm dieser Fall noch schwer im Magen liegen wird. Bald sieht er sich in einer Melange aus Missgunst, Eifersucht und Intrigen verstrickt, die ihn wünschen lässt, seinen Fisch doch lieber zu Hause gegessen zu haben ...
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Seitenzahl: 372
Julie Masson
Der Commissaire kocht
Kriminalroman
Ihr Verlagsname
Colette Viard ist die Gewinnerin der Kochshow «Le Grand Gourmet», die im französischen Fernsehen für Traumquoten sorgt. Mit dem Preisgeld eröffnet sie ihr eigenes Restaurant. Commissaire Lefevre, der zu den Gästen der Eröffnungsfeier gehört, will gerade eine Gabel des köstlich riechenden Fischgerichtes probieren, als ein Schrei die heitere Stimmung zerreißt. Raul Da Silva, der gefürchtete Restaurantkritiker, ringt um Luft. Als er schließlich vor aller Augen stirbt, ahnt Lefevre, dass ihm dieser Fall noch schwer im Magen liegen wird.
Bald sieht er sich in einer Melange aus Missgunst, Eifersucht und Intrigen verstrickt, die ihn wünschen lässt, seinen Fisch doch lieber zu Hause gegessen zu haben …
Julie Masson, geboren 1975 in einem kleinen Dorf am französischen Atlantik, studierte Germanistik und Literatur an der Sorbonne in Paris. Während eines Auslandssemesters an der Freien Universität Berlin verliebte sie sich nicht nur in die deutsche Sprache - und blieb. Nach dem Studium verfasste sie diverse Sachbücher, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt.
Der Himmel, schwer wie eines Deckels Last,
Sinkt auf die Seele voll verhaltenem Weinen,
Bleiern und dumpf hält er das All umfasst,
Trüber als Nacht will uns der Tag erscheinen.
Es wandelt sich die Welt zum finstern Haus,
Zum feuchten Kerker voller Angst und Schauer,
Und flatternd, scheu wie eine Fledermaus
Rennt Hoffnung sinnlos gegen Wand und Mauer.
Der müde Regen, der die Welt umfängt,
Spannt um das Haus die engen Gitterstäbe,
Verwünschtes Ungeziefer kommt und hängt
In unser Hirn die grauen Spinngewebe.
Und plötzlich heulen Glocken dumpf empor,
Zum Himmel heben sie ihr furchtbar Tönen,
Wie irrer, heimatloser Geister Chor,
Ein eigensinnig, unaufhörlich Stöhnen.
Und lautlos zieht ein langer Leichenzug
Durch meine Seele seine schwarzen Bahnen,
Die Hoffnung weint. Das Grauen, das sie schlug,
Das Grauen pflanzt in meinem Hirn die Fahnen.
Charles Baudelaire
«Schwermut»
«Und lautlos zieht ein langer Leichenzug durch meine Seele seine schwarzen Bahnen.»
Leise die Zeilen des Gedichtes rezitierend, schlich ein Schatten über den einsamen Strand. Kaum hatten die Silben den trockenen Mund verlassen, wurden sie vom Wind verschluckt. Die Ausläufer des ersten Sturmtiefs in diesem Herbst fegten über die Dünen. Das Meer reflektierte die regentiefen, grauen Gewitterwolken, und die schaumschlagenden Wellen entluden ihre Wut am Strand. Die Kapuze des wetterfesten Parkas tiefer über das Gesicht ziehend, versuchte sich der Schatten vor dem Wind und den eiskalten Regentropfen zu schützen. Die Wut des Unwetters verschmolz mit seiner eigenen zu einem alles verzehrenden Hass.
Wie ein ungezogenes Kind trieb der Wind zerbrechlich wirkende Kunstwerke des Meeres über den Strand. Wie filigrane Seifenblasen lagen Quallen auf dem hellen Sand. Die sackartige Gasblase, mit der die Portugiesische Galeere wie mit einem aufgerichteten Segel über das Meer treibt, schimmerte purpurn und lenkte die Aufmerksamkeit ihrer Beute von ihren tödlichen Waffen ab, den fast durchsichtigen, gallertartigen, meterlangen Tentakeln. Bei Kontakt mit ihrem Opfer feuern Tausende Nesselzellen ihr tödliches Gift in den wehrlosen Körper. Hochaggressive Eiweißmoleküle führen auf der Stelle zu einer Überreizung der Nerven und lassen ihr wehrloses Opfer kollabieren. Stechende Schmerzen lähmen das wehrlose Opfer und führen zu einem qualvollen Ende, noch bevor die Tentakel den Körper zu den Verdauungsorganen bugsieren und ihr tödliches Werk vollenden.
Die Fragmente der Tentakel lagen unscheinbar und nutzlos am Strand. Der Schatten sammelte sie vorsichtig und fast liebevoll ein. Jetzt würden sie wieder ihren Zweck erfüllen und den Tod bringen.
Seufzend legte Lucien das alte, schweinsledern gebundene Buch zur Seite, in dem er gedankenverloren geblättert hatte. Die Zeilen des Gedichtes «Schwermut» von Charles Baudelaire hingen wie Spinnweben in seinem Kopf. Der müde Regen malte Gitterstäbe auf die Fenster und schien die Welt auszusperren. Die schweren Sturmwolken ließen den Tag in Dunkelheit versinken.
Unten am Strand huschten vereinzelt Spaziergänger vorbei, die dem stürmischen Wetter trotzten. Lucien erhob sich aus seinem bequemen Ledersessel, den er vor das Panoramafenster gestellt hatte, um den unverbauten Blick auf den weiten Atlantik genießen zu können. Hier oben auf der Düne von Contis hatte er sein neues Zuhause gefunden, nachdem es ihn unfreiwillig in dieses kleine Nest verschlagen hatte. Überraschend schnell hatte er sich dann doch an die schroffe Landschaft und ihre nicht minder spröden Bewohner gewöhnt und sich dazu entschlossen, die Leitung der kleinen Wache von Lit-et-Mixe zu übernehmen.
«Brauchst du noch lange, chérie?», rief Lucien und tadelte sich umgehend selbst. Merde. Er war lange genug mit einer mondänen Frau der besseren Pariser Gesellschaft verheiratet gewesen, um zu wissen, dass ungeduldiges Drängeln die schwierige Kleiderfrage nur unnötig verlängerte.
«Bin gleich fertig!», kam auch prompt Sophies resolute, aber noch nicht allzu genervte Antwort aus dem Bad.
«Ich wollte dich auch gar nicht drängen, chérie, aber wir sollten nicht als Letzte auftauchen, sonst bekommen wir bei dem Mistwetter keinen Parkplatz mehr», versuchte Lucien die gefährliche Situation zu entschärfen, aber es war zu spät. Sophie schoss aus dem Badezimmer, öffnete hektisch den Reißverschluss des eleganten schwarzen Kleides und ließ es an ihrem schlanken Körper heruntergleiten. Genervt kickte sie es mit der Fußspitze auf das Bett hoch.
«Verdammt, ich habe nichts Passendes dabei. Ich habe mir für die paar Tage hauptsächlich legere Feriengarderobe eingepackt und nichts Festliches.»
Verzweifelt durchsuchte sie erneut ihren Koffer, der noch nicht mal richtig ausgepackt war, obwohl sie schon ein paar Tage bei Lucien wohnte. Er war froh, dass sie den weiten Weg aus Deutschland auf sich genommen hatte, um bei ihm zu sein. Es konnte recht einsam sein auf der Düne von Contis. Zumal ihn die Arbeit in der kleinen Polizeistation nicht sonderlich forderte.
«Aber das Kleid war doch perfekt, chérie, warum hast du es wieder ausgezogen?»
«Weil es ein Abendkleid ist und der Empfang schon um 16 Uhr stattfindet. Und es wird doch vorher eine Führung durch die renovierten Räume des Restaurants geben. Da kann ich nicht im langen Abendkleid zwischen den ausgenommenen Enten herumspazieren. Nein, ich brauche etwas mit Alltagsschick.» Der Kleiderstapel wanderte jetzt Stück für Stück von der linken auf die rechte Betthälfte.
«Chérie», versuchte es Lucien noch einmal mit all seinem Charme. «Wir müssen aber doch gar nicht an der Führung teilnehmen, es reicht auch, wenn wir erst zum Champagnerempfang oder zum Menü erscheinen. Dann kannst du auch dein Abendkleid anziehen, und ich kann noch ein bisschen lesen und muss nicht ewig in der Gegend rumstehen und mich mit uninteressanten Gästen unterhalten.» Lucien begeisterte sich zunehmend für seine Idee. «Zudem kennst du die Räume ja schon in- und auswendig, du warst doch während der Umbauphase mehrmals auf der Baustelle.»
Sophie lächelte und gab Lucien einen Kuss auf die Wange. «Mein lieber Monsieur le Commissaire. Sie sind viel zu leicht zu durchschauen. Wie willst du mit so einem miserablen Pokerface ein Verhör durchführen? Mir ist schon klar, dass du überhaupt keine Lust hast, mitzukommen. Aber du wirst sehen, der Abend wird bestimmt sehr nett. Es kommen alle wichtigen Persönlichkeiten aus der Gegend. Ich habe gehört, dass sogar ein Kamerateam vom lokalen Sender kommen soll.» Sie hielt sich prüfend ein Kleid vor den Körper und betrachtete sich im Spiegel, bevor es zu den anderen aufs Bett flog.
«Ehrlich gesagt, sind das für mich eher Gründe dafür, nicht hinzugehen, aber wenn du Spaß dran hast, gehe ich eben mit, wenn auch unter Protest.» Lucien lehnte lässig am Türrahmen und betrachtete das Chaos.
«Was heißt hier Protest. Hättest du dich nicht geweigert, mit mir gestern nach Biarritz zu fahren, um etwas Passendes zum Anziehen zu kaufen, müsste ich nicht in Pulli und Jeans gehen.»
«Ich finde, dir stehen Pulli und Jeans besser als jeder anderen Frau, die heute Abend kommen wird. Du wirst sehen, dass du auch ohne Ballrobe die Schönste von allen sein wirst.» Zufrieden wandte Lucien sich ab, überzeugt, dass nun alles zu dem Thema gesagt war.
«Na super, ihr Männer macht es euch wirklich leicht. Zieht einen Anzug an und seid immer passend gekleidet», grummelte Sophie vor sich hin und nahm erneut die einzelnen Kleidungsstücke in die Hand. Dabei fiel ihr ein, dass Audrey Hepburn in dem Film «Frühstück bei Tiffany» eine ganz schlichte Kombination getragen hatte, die hinreißend ausgesehen hatte. Kurzentschlossen zog sie eine schmale schwarze Etuihose aus dem Stapel und dazu einen schlichten schwarzen Rollkragenpullover aus feinem Kaschmir. Zufrieden betrachtete sie das Ergebnis im Spiegel. Nicht ganz der umwerfende Look von Holly Golightly, aber auch nicht die übertriebene Garderobe einer geschmacklosen Dorfpatronin. Mit hohen Schuhen müsste der Look passen. Sie zog den roten Lippenstift nach, fuhr sich kurz mit den Händen durch die wilden Locken und legte ihren Lieblingsduft auf.
Strahlend trat sie aus dem Bad.
«Voilà, wir können gehen.»
Lucien hatte es sich in Erwartung einer längeren Wartezeit derweil wieder auf seinem Sessel bequem gemacht und pustete in den dampfenden Espresso, bevor er einen Schluck trank. Anerkennend schaute er auf, griff nach ihrer Hand und zog sie zu sich heran.
«Ich habe dir doch gesagt, dass du die schönste Frau von allen bist. Wollen wir nicht doch lieber etwas später losgehen?» Er schob eine Hand unter den feinen Stoff des Pullovers und fuhr zärtlich über ihre Hüfte. Sophie erwiderte die Berührung mit einem intensiven Kuss und wischte dann mit dem Finger sanft die Spuren ihres Lippenstifts von Luciens Lippen.
«Später. Jetzt müssen wir wirklich los.» Sie befreite sich aus seiner Umarmung und schob die Hand zurück.
Seufzend erhob sich Lucien.
«Einem alten Mann bleibt aber auch nichts erspart.»
«Na, immerhin hast du dich für dein Alter noch sehr gut gehalten», neckte sie ihn und strich durch das leicht ergraute Haar an seinen Schläfen.
Lucien zuckte zusammen. Nahm sie ihn etwa auf den Arm? Doch ihr Blick ruhte zärtlich auf seinem Gesicht, und so beschloss er, es als Kompliment zu deuten. Rasch trank er den verbliebenen Rest Espresso und trug die Tasse zur Spüle.
Lucien strich seinen maßgeschneiderten Anzug glatt, legte den eleganten Trench über den Arm und warf einen prüfenden Blick auf die tadellos geputzten Schuhe. Dann trat er durch die Verbindungstür in die Garage und stand vor dem kleinen Dienstwagen, den er aus Bordeaux mitgebracht hatte. Der blaue Mégane war trotz Garage mit einer feinen Sandschicht bedeckt, wie alles hier auf der Düne.
«Ich muss unbedingt mit meinem Vorgesetzten sprechen, das ist doch kein Zustand, dass ich als Leiter der Wache mit so einem Kleinwagen vorfahren muss.» Schmerzlich vermisste er seinen alten Porsche, den er an seinem Zweitwohnsitz in Bordeaux zurückgelassen hatte, um ihn vor der aggressiven Witterung zu schützen. Doch jetzt bereute er diese Maßnahme und wünschte, er hätte den Porsche hier, um seine Freundin standesgemäß auszuführen.
«Wir können auch meinen Wagen nehmen, wenn es dich stört, im Dienstwagen vorzufahren», versuchte Sophie ihn aufzumuntern.
«Nein, schon gut», grummelte Lucien in seinen akkurat gestutzten Dreitagebart, den er seit dem Sommer trug. Er ließ es sich nicht nehmen, ihr die Tür zu öffnen und eine Hand zum Einsteigen zu reichen. Die junge Deutsche konnte sich über diese ungewohnte Galanterie ein Lächeln nicht verkneifen.
«Ich bin total gespannt, wer heute alles kommt», wechselte Sophie das Thema, während Lucien den Wagen zurücksetzte. «Ich habe gehört, dass sogar dieser berühmte Restaurantkritiker, Raúl Da Silva, eingeladen ist. Auch die anderen Teilnehmer aus der Show, die Colette gewonnen hat, werden wohl kommen.»
«Mh, Raúl Da Silva, sagst du? Den Mann kenne ich leider nur allzu gut. Ich bin ihm früher in Paris bei verschiedenen Anlässen begegnet.»
«Echt? Du kennst ihn? Ist der wirklich so arrogant und vernichtend in seiner Kritik wie im Fernsehen?» Sophie schaute ihn überrascht an. Sie wusste nur wenig über diesen Aspekt seiner Vergangenheit. Sie konnte sich den kantigen Commissaire nur schwer in der Rolle des charmanten Ehemanns vorstellen, der an der Seite seiner mondänen Frau über das gesellschaftliche Parkett der höheren Pariser Kreise glitt.
«Nein, ehrlich gesagt, finde ich ihn im persönlichen Kontakt sogar noch unangenehmer. Bevor er durch diese komische Kochshow berühmt wurde, tingelte er als Paradiesvogel von Einladung zu Einladung. Gerade weil er so hart mit seiner Kritik sein konnte, buhlte die Haute société um seine Gunst. Sein Wort entschied darüber, ob eine Veranstaltung oder ein Fest gelungen war oder nicht. Raúl kann wahnsinnig einnehmend sein, mit einem speziellen Charme, dem sich kaum eine Frau entziehen kann, soweit ich gehört habe. Er ist wie ein gefährliches Tier, bei dem man sich nicht traut, ihm den Rücken zuzukehren. Vorsichtshalber suchen alle seine Zuneigung und Gunst, um nicht von seinem vernichtenden Urteil getroffen zu werden. Keiner mag Raúl, aber alle respektieren und hofieren ihn.»
Geschickt lenkte Lucien den Wagen die steile Dünenstraße hinab.
«Diese Kochshow, von der du sprichst, habe ich allerdings nur einmal kurz gesehen, aber dort erschien er mir relativ harmlos. Der Raúl Da Silva, den ich kenne, ist wirklich sehr speziell.» Lucien brach ab. Es gab noch einen anderen Grund, warum er Da Silva nicht leiden konnte. Aber er hatte nun wirklich keine Lust, über seine Exfrau und die unangenehme Scheidung im vergangenen Jahr zu reden. Der prominente Gourmet hatte seine Frau damals mit seiner schmierigen Art umschmeichelt. Noch mehr hatte er sich allerdings darüber geärgert, dass sie die Galanterie nicht nur offensichtlich sehr genossen hatte, sondern auf seine Flirtversuche eingegangen war.
Er schüttelte den Kopf, um die schmerzlichen Erinnerungen und die wilden Gerüchte, die es damals gab, abzuschütteln. Der Gedanke daran, diesem Schnösel gleich erneut gegenüberzustehen und noch dazu als geschiedener Mann, erschien ihm wie das Eingeständnis einer Schwäche. Er hatte die schillernde Frau an seiner Seite nicht halten können, auch nicht wollen, aber das stand hier nicht zur Diskussion.
Lucien warf einen Blick auf seine Beifahrerin. Sophie erwiderte den Blick mit einem strahlenden Lächeln und löste die düsteren Gedanken auf. Vergangenes musste man loslassen. Jetzt hatte er Sophie. Sie war eine faszinierende und außergewöhnlich attraktive Frau. Er griff nach ihrer Hand und zog sie zu seinem Mund.
Der Regen hatte inzwischen noch zugenommen und prasselte auf das Autodach. Die tiefhängenden dunklen Gewitterwolken schienen fast die Wipfel der Bäume zu berühren. Die Pinien huschten wie Schatten an ihrem Fenster vorbei. Lucien erinnerte sich an einen Vers des Gedichts, das er eben gelesen hatte: «Trüber als Nacht will uns der Tag erscheinen.»
Natürlich waren bereits alle Parkplätze vor dem Restaurant belegt. Lucien fluchte und wendete auf dem kleinen Innenhof des umgebauten Gehöfts. Er ließ Sophie vor der ehemaligen Scheune aussteigen, in der nun das Restaurant untergebracht war. Lucien erinnerte sich noch sehr lebhaft an die Diskussionen, die er mit Sophie geführt hatte, als sie vor der Entscheidung stand, dieses liebevoll restaurierte Bauernhaus, das sie von ihrem verstorbenen Bruder geerbt hatte, zu verkaufen. War das nicht ein Verrat an Thomas und seinem Andenken? Letztendlich siegte aber die Einsicht, dass das Haus durch die seltene Nutzung als Ferienwohnung schnell verfallen würde. Lucien konnte sich vorstellen, wie schwer es Sophie fallen musste, nun als Gast in den Räumen zu sein, die sie selber für einige Zeit bewohnt hatte.
Nachdenklich beobachtete er im Rückspiegel, wie ihre schlanke Figur schnell durch den Regen huschte und in der Scheune verschwand. Dieses Glück, trocken zu bleiben, würde er wohl nicht haben. Sämtliche kreativen Parkmöglichkeiten waren schon ausgeschöpft. Der schmale, unbefestigte Kiesweg, der durch den dichten Pinienwald führte, war bereits mit Fahrzeugen gesäumt. Lucien fluchte, als er sich auf der Suche immer weiter von dem Anwesen entfernte. Schließlich erreichte er die Stelle, wo früher die alte Garage gestanden hatte. Colette hatte sich sogar die Mühe gemacht, den Platz zu kiesen.
Lucien starrte auf den mit Höchstleistung arbeitenden Scheibenwischer. Er würde vielleicht besser noch einen Moment sitzen bleiben. Erfahrungsgemäß waren die Regenschauer meist heftig, aber kurz, und zogen recht zügig von der Küste weiter ins Landesinnere. Er griff nach seinem Handy und schickte Sophie rasch eine SMS. Seufzend lehnte er sich zurück und starrte auf die regennasse Frontscheibe. Den Wischer hatte er ausgestellt. Die Lichter eines Wagens leuchteten kurz vor ihm auf und blendeten ihn, bevor der schwarze Sportwagen an ihm vorbeifuhr und in der Dunkelheit verschwand. Lucien lächelte schadenfroh in dem Bewusstsein, dass der elegante Wagen bald wieder zurückkommen würde, um ebenfalls hier zu parken. Doch Lucien wartete vergebens. Der Wagen kam nicht zurück. Merde, dann hatte er einen freien Parkplatz übersehen. Der Regen hatte immer noch nicht nachgelassen, und Lucien war sich nicht mehr sicher, ob es heute überhaupt noch aufhören würde. Langsam kam er sich lächerlich vor, wenn er Sophie wegen der paar Tropfen so lange warten ließ. Kurzentschlossen schlug er den Kragen seines Trenches hoch und knöpfte den Popelinemantel bis oben zu.
Er öffnete die Tür und rannte durch den Regen zur Scheune. Der schwarze Wagen stand direkt vor dem Eingang des Restaurants. Lucien ärgerte sich darüber, dass ihm diese pragmatische Lösung nicht eingefallen war. Ein Blick in das Innere des Maseratis klärte endgültig die Frage nach dem Besitzer. Nur Raúl Da Silva war eitel genug, um sich das Familienwappen seiner adeligen Vorfahren in Form eines silbernen Eichenblattes auf das feine Leder des Fahrersitzes drucken zu lassen.
Lucien riss die Tür zur Scheune auf und polterte in den Flur hinein. Sein Mantel triefte, und Wassertropfen rannen ihm aus den nassen Haaren über sein Gesicht. Sophie, die auf ihn gewartet hatte, riss die Augen auf und starrte ihn belustigt an, bevor sie doch noch loslachen musste. Der heitere Ausbruch übertrug sich rasch auf die ebenfalls dort stehenden Gäste, und Lucien fand sich plötzlich umringt von Leuten, die ihm aufmunternd auf die Schultern klopften und aus dem nassen Trenchcoat halfen.
Ein aufmerksamer Kellner reichte ihm ein flauschiges Handtuch, damit er sich rasch das Gesicht trocknen konnte. Lucien rubbelte es sich durchs Haar und ordnete dann vor dem Garderobenspiegel notdürftig seine Frisur.
Er fühlte sich in seinem derangierten Zustand unwohl zwischen den eleganten Roben- und Anzugträgern. Sophie hatte nicht übertrieben. Die meisten der geladenen Gäste strahlten jene Eleganz aus, die der gehobenen Pariser Gesellschaft eigen ist.
Sophie schaute sich strahlend um. Offensichtlich genoss sie die exquisite Atmosphäre und das Gefühl – wenn auch nur für einen Abend –, Teil dieses erlesenen Kreises zu sein. Lucien schaute sich nach einem Pastis um und nahm dann in Ermangelung seines Lieblingsgetränkes zwei Gläser Champagner entgegen, die ihm eine junge Kellnerin im weißen Kleid mit schwarzen Paspeln reichte. Er gab jeweils einen Eiswürfel hinzu, wie es in Paris üblich war, und überreichte Sophie das Glas mit leichter Verbeugung.
«Auf unseren schönen Abend, chérie.»
Sophie erwiderte seinen zärtlichen Blick und nippte an dem feinen Kristallglas. Der perfekt temperierte Champagner war köstlich. Der Eiswürfel nahm dem Getränk etwas von der Säure und intensivierte den Geschmack. Lucien schaute sich in dem eleganten Raum um. Sanft erklangen die leisen Töne einer Harfe. Eine junge Frau strich fast zärtlich über die Saiten des Instruments.
Die leisen Töne und der bezaubernde Anblick taten ihre Wirkung. Lucien atmete tief aus und ließ seine Anspannung abfließen. Er beschloss, seine schlechte Laune, ebenso wie seine Vorurteile hinsichtlich solcher Feierlichkeiten, vorerst über Bord zu werfen und den Abend an Sophies Seite zu genießen. Zärtlich legte er ihr den Arm um die Hüfte, zog sie sanft zu sich heran und hauchte ihr einen Kuss auf den Scheitel, bevor er sich wieder von ihr löste.
In dem Moment schien sich die unbefangene Stimmung in dem Empfangszimmer zu verändern. Ein Mann betrat geräuschvoll den Raum, und Lucien erkannte ihn sofort. Raúl Da Silva. Die Gespräche verstummten, und zielstrebig durchquerte der Starkritiker den Raum und trat auf Lucien zu.
«Commissaire Lucien Lefevre, wenn ich mich nicht irre. Wie schön, Sie hier zu sehen. Es muss eine Ewigkeit vergangen sein, seit wir uns das letzte Mal bei einer Einladung in Paris getroffen haben. Erstaunlich! Mit zunehmendem Alter nimmt Ihre Ähnlichkeit mit George Clooney sogar noch zu. Die angegrauten Haare stehen Ihnen ausgezeichnet. Aber was rede ich da, wahrscheinlich erinnern Sie sich gar nicht mehr an mich», kokettierte Da Silva mit seiner Berühmtheit und seinem immer noch sehr jugendlichen Aussehen, obwohl er mittlerweile auch schon auf die fünfzig zugehen musste und damit eigentlich deutlich älter als Lucien war.
«Ah, Monsieur Lagerfeld, wenn ich mich nicht täusche», erwiderte der Commissaire schlagfertig die laute Begrüßung. «Natürlich erkenne ich Sie wieder. Die Zeit war in der Tat auch gnädig zu Ihnen. Sie sehen keinen Tag älter aus als sechzig.» Lucien deutete eine Verbeugung an.
Die Spitze saß. Raúl zuckte zusammen, und sein Lächeln gefror. Sophie schaute irritiert von einem zum anderen, während sich die beiden Alphatiere mit den Augen duellierten. Nach einem kurzen Moment des Schweigens schlug ihm Lucien versöhnlich auf den Arm und lachte auf.
«Nichts für ungut, Raúl. Den Scherz konnte ich mir einfach nicht verkneifen. Darf ich Ihnen meine charmante Begleitung vorstellen? Sophie Schumacher. Ihr gehörte das Anwesen hier, bevor Madame Viard es in ihr Restaurant umwandelte», stellte er Sophie formvollendet mit einer leichten Verbeugung vor.
Sophie nickte befangen dem berühmten Mann zu, der sie mit seinen Blicken nahezu verschlang, wie es Lucien schien. Sie betrachtete das lange silbergraue Haar, das der gebürtige Portugiese zu einem affektiert wirkenden Zopf zusammengebunden hatte. Durch sein gekünsteltes Benehmen hatte er in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem genialen Modezaren. Das graue Haar unterstrich den Kontrast zu dem auffällig jugendlichen, nahezu faltenfreien Gesicht und machte seine Erscheinung noch aparter. Der grüne Samtblazer betonte die ungewöhnliche Farbe seiner Augen und ließ sie in einem besonderen Smaragdgrün leuchten, als sie auf der jungen Deutschen ruhten.
Sophie hielt unter diesem prüfenden Blick unwillkürlich die Luft an und strich sich verlegen eine Locke aus dem Gesicht. Lucien nahm das Aufblitzen der Begierde in den grünen Augen wahr und versteifte sich augenblicklich. Demonstrativ legte er einen Arm um Sophies schlanke Taille und zog sie zu sich heran.
«Oh, Mademoiselle, welch Augenschmaus. Dank Ihnen werde ich diesen langweiligen Abend doch noch überstehen. Nie hätte ich in der Provinz so eine Schönheit vermutet. Sie stammen doch nicht etwa hier aus der Gegend?»
Seine Schmeichelei konnte seine Herablassung für die Bewohner dieses Landstriches nicht verdecken. Sophie war kurz versucht, auf das Spiel einzugehen und sich als Landpomeranze zu präsentieren. Doch ihr weiblicher Stolz brachte sie dazu, ebenfalls arrogant zu antworten.
«Monsieur Da Silva. Es ist mir eine große Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen. Nein, ich komme nicht aus Contis, ich bin Berlinerin.»
«Oh, là, là, Berlin. Très chic. Die Metropole der Kunst und der Moderne. Großartig. Ich liebe diese Stadt. Was führt sie nur in diese schrecklich langweilige Einöde?»
Sophie lachte hell auf. Lucien entspannte sich etwas, als ihm klar wurde, dass die schmierigen Annäherungsversuche an ihr abperlten.
«Ich brauche ab und zu ein wenig Entspannung von der Großstadt. Ich habe schon als Kind die Sommer in Contis verbracht und fühle mich daher hier sehr heimisch.» Sophie legte Lucien vertraulich die Hand auf den Arm.
Silva schien die Bedeutung dieser Geste zu erkennen und zog sich intuitiv zurück. «Entschuldigen Sie, Mademoiselle. Ich hoffe, wir haben heute noch die Gelegenheit zu einem längeren Gespräch. Die Gastgeberin verlangt nach mir.» Er deutete eine Verbeugung an und nickte Lucien kurz zu.
«Commissaire Lefevre, Sie entschuldigen.» Dann ging er rasch zu der jungen Frau, die am Eingang der Küche stand. «Coco, Schatz, ich komme ja schon.»
Lucien und Sophie schauten der schillernden Figur kopfschüttelnd hinterher. Wie ein Schwarm Sprotten vor einem Haifisch, teilte sich die Menge vor ihm, um dann wieder zusammenzufließen. Sein Fortgang hinterließ eine Art Vakuum in dem Raum, das sich erst langsam mit tuschelnden Stimmen wieder füllte.
Lucien schaute sich um und bestaunte erneut die baulichen Veränderungen in der ehemaligen Scheune, in der vormals der kleine Hofladen von Sophies Bruder untergebracht gewesen war. Die neue Besitzerin hatte den schwierigen Balanceakt geschafft, den romantischen Charakter des alten Gebäudes zu erhalten und ihm trotzdem jene moderne Note zu geben, die Lucien liebte. Die alten Backsteinmauern waren vom Putz befreit und schimmerten in warmen Erdtönen. Geschickt platzierte LED-Lichter illuminierten die schweren Steine und brachten ihre Plastizität dadurch besonders gut zur Geltung. Den gestampften Lehmboden hatte die neue Inhaberin mit alten, ochsenblutrot gebeizten Eichenholzdielen überdeckt. Die große Öffnung des ehemaligen Scheunentors behielt ihren großzügigen Charakter durch bodentiefe Schiebetüren aus Glas, die sich bei gutem Wetter komplett öffnen ließen und zu einem Aperitif im Freien einluden. Lucien sah durch die hohen Scheiben nach draußen. Der Regen hatte nun endlich ein wenig nachgelassen. Auf den modernen Loungemöbeln und Stehtischen hatten sich große Pfützen gebildet. Schwere Tropfen liefen die Scheibe herab, in der sich die Festgesellschaft spiegelte.
Lucien spürte die entspannende Wirkung des Champagners in dieser angenehmen Umgebung, obwohl er lieber einen Pastis auf Eis getrunken hätte. Die meisten der Anwesenden waren ihm unbekannt. Sophie flüsterte ihm die Namen einiger Gäste zu, die sie aus dem Fernsehen oder der Regenbogenpresse kannte. Neben den anderen Teilnehmern der Show, die Colette gewonnen hatte, waren auch die beiden Juroren gekommen, Camille Bommelaer und Paul Leclerk, die neben Da Silva über das Weiterkommen der Teilnehmer entschieden hatten.
Lucien suchte nach einem bekannten Gesicht und entdeckte den korpulenten Bürgermeister von Lit-et-Mixe, Viktor Beauchamp, der sich diese Einladung natürlich nicht entgehen lassen hatte und mit gerötetem Gesicht ein Glas Champagner in einem Zug leerte, um rasch mit seinen Wurstfingern nach dem nächsten zu grapschen, das ihm eine junge Kellnerin reichte. Nicht ohne ihr wie zufällig ein wenig zu nahe zu kommen. Seine Frau, Emilia Beauchamp, stand gelangweilt an seiner Seite und ignorierte den lächerlichen Flirtversuch ihres Mannes. Lucien folgte ihrem Blick, der auf der durchtrainierten Figur eines jungen Gastes lag. Sophie bemerkte es und beugte sich vertraulich vor.
«Das ist Martin Richard, der andere Finalist. Da Silva hat sein Menü als ungenießbar bezeichnet und ihm nur sehr wenige Punkte gegeben. Dadurch hat Coco letztendlich gewonnen.»
«Und wie haben die anderen Juroren entschieden? War das Urteil einstimmig? Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich streiten.» Er beobachtete den jungen Mann, der sich, lässig an die Wand gelehnt, gelangweilt umsah.
«Ja, die Entscheidung war sogar überraschend eindeutig. Es wurde gemunkelt, dass bei der Wertung geschummelt wurde. Martin hatte das Publikum hinter sich und Coco die Jury. Das kam natürlich schlecht an, weil die Zuschauer sich betrogen fühlten. Durch die Stimme des Publikums schaffte es Martin immer eine Runde weiter. Die Jury war eigentlich nie von seinem Können angetan, aber so kam er bis ins Finale. Ich finde es sehr gerecht, dass nicht das Aussehen, sondern Colettes Fähigkeiten belohnt wurden.»
«Stimmt, allein mit ihrem Aussehen hätte es wohl kaum zum Sieg gereicht», rutschte es Lucien heraus, als er an die füllige Köchin dachte.
Sophie gab ihm einen Klaps auf den Arm. «Du Schuft. Du weißt genau, dass sie eine hervorragende Köchin und ein sehr sympathischer Mensch ist.»
Ein Raunen ging durch die Menge, als die Gastgeberin den Raum betrat. Die junge Frau strich sich verlegen das schwarze Wickelkleid glatt, das ihre weiblichen Rundungen kaschierte, und griff unwillkürlich an ihre Perlenkette. Sie war ihr Markenzeichen, das ihr Sicherheit und Selbstvertrauen gab, wenn sie es unter ihren Fingern spürte und das ihr den Kosenamen Coco eingebracht hatte. Es war eine mehrreihige Kette aus Südseeperlen mit ungewöhnlicher Silber-rosé-Färbung. Auch jetzt spielten ihre Finger mit der Kette, bevor sich das Raunen legte und sich gespannte Stille über die Anwesenden senkte.
«Meine lieben Gäste, ich freue mich, Sie alle zu diesem für mich so besonderen Anlass zu begrüßen. Heute erfüllt sich mein Lebenstraum. Ich möchte mich an dieser Stelle bei dem gesamten Team von ‹Le Grand Gourmet› bedanken, das mir durch den Gewinn die Realisierung dieses Restaurants ermöglichte. Zudem möchte ich die zahlreich erschienenen Vertreter der Presse und die geschätzten Kollegen und Gourmetkritiker herzlich begrüßen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen und Sie zu einem kleinen Rundgang durch die Räumlichkeiten einladen, bevor Sie im Speisesaal Platz nehmen. Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause und scheuen Sie sich nicht, auch mal hinter geschlossene Türen zu schauen.»
Mit einer leichten Verbeugung nahm sie den Beifall entgegen und zeigte mit einer ausladenden Handbewegung über die vom Entrée abgehenden Türen. Unter zustimmendem Gemurmel und Gelächter begann sich die Gesellschaft, die etwa dreißig Menschen umfasste, in Bewegung zu setzen. Erst zögerlich, doch dann mit wachsender Neugierde wurden Türen geöffnet und Schränke inspiziert.
Lucien kam sich vor wie bei einem Kindergeburtstag, bei dem ein Geschenk versteckt war, das nun alle suchten. Seufzend stand er von dem bequemen Stuhl auf, auf dem er es sich zwischenzeitlich gemütlich gemacht hatte, und folgte Sophie, bei der sich die einen Kopf kleinere Coco eingehakt hatte und sie lachend mit sich zog. Gebührend bewunderte er die hochmoderne Küche aus glänzendem Edelstahl, die sich hinter der alten Holztür verbarg. Diverse Köche und Helfer rührten bereits emsig Soßen, schnippelten Gemüse und richteten das Salatbouquet für die Vorspeise. Lucien lief augenblicklich das Wasser im Munde zusammen, als er an den appetitlich duftenden Töpfen und Pfannen vorbeigeschoben wurde. Coco hatte für die hungrigen Gäste an verschiedenen Stellen bereits weiße Porzellantabletts mit Probierhäppchen vorbereitet.
Der Commissaire ließ sich nicht zweimal bitten und griff begeistert zu. Der Geschmack eines Hauchs Entenstopfleber auf kandierten Apfelecken explodierte förmlich in seinem Mund, und er musste sich beherrschen, nicht gleich über die ganze Platte herzufallen. Rasch nahm er sich noch eine zweite Portion, bevor er von der Schlange hinter sich weitergeschoben wurde. Er ging an weiteren appetitlich präsentierten Tellern vorbei und probierte überall. Das war mal eine Führung nach seinem Geschmack. Coco, die mit seiner Freundin voranging, blieb vor einer massiven Stahltür stehen und drehte sich theatralisch zu ihren Gästen um.
«Nun kommen wir zum eigentlichen Herzstück jeder guten Küche, dem Kühllager. Et voilà.»
Sie berührte einen Schalter an der Wand, und die schwere Tür schwang auf.
«Damit man beim Hinaustragen alle Hände frei hat», erklärte Coco lächelnd und wies auf die gefüllten Regale. Trotz der diversen Häppchen brummte Luciens Magen, als er die frischen Köstlichkeiten betrachtete. Er kam sich vor wie in einer Art künstlerischem Stillleben oder einer Werbebroschüre für Biolebensmittel. Er hoffte, dass der Lagerraum nicht nur für die Eröffnung präpariert war und die frischen Lebensmittel verschwanden und durch Fertigprodukte ersetzt wurden, sobald die kritischen Augen der Presse und Restaurantkritiker nicht mehr da waren.
Den Mittelpunkt des von deckenhohen Regalen gesäumten Kühlraumes bildete eine Art Anrichte, auf der bereits die Teller mit dem Amuse-Gueule vorbereitet waren.
«Coco, wie schön, du hast dieselbe Vorspeise gemacht, mit der du das Finale gewonnen hast.» Camille Bommelaer war inzwischen neben die Gastgeberin getreten und klatschte übertrieben begeistert in die Hände.
«Danke, meine Liebe. Ich habe mir gedacht, dieses Gericht symbolisiert am besten den Beginn dieses neuen Lebensabschnitts.»
Lucien betrachtete die Vorspeise. Eine frittierte, lila-rötliche Teigtasche lag auf einem Nest aus irgendetwas Weißem, vielleicht eine Art Frühlingsrolle auf Glasnudeln, überlegte er.
Coco trat vor und zeigte auf den einzigen Teller, der einen silbernen Rand hatte. Überdies war er mit einem Eichenblatt verziert.
«Und dies ist, wie Sie sicherlich alle wissen, der Teller von Raúl Da Silva. Es ist mir eine große Ehre, dieses Zeichen seiner Anerkennung später in der Vitrine im Eingangsbereich auszustellen. Schauen Sie sich ruhig um, aber fassen Sie bitte nichts an, die Hygienevorschriften sind sehr streng, wie Sie wissen.»
Im Hinausgehen beantwortete Coco die Fragen einer Journalistin des Lokalsenders.
Der Commissaire wurde mit den anderen Gästen nun langsam in den nächsten Raum geschoben. Durch die automatisch leise zur Seite gleitende Glastür betrat die Gruppe den durch einen Sichtschutz abgeteilten Zugang zum Speiseraum. Der Zwischenboden der ehemaligen Scheune war entfernt worden, sodass der Raum sehr luftig und großzügig war. Die dunklen Holzbalken standen im interessanten Kontrast zu den neu verputzten und in Cremeweiß gestrichenen Wänden. Die Türrahmen nahmen das Farbenspiel der Decke auf und waren ebenfalls dunkel gebeizt. Im Gegensatz zu diesem Spiel mit den Kontrasten war die Einrichtung vorwiegend in Weiß gehalten. Auf antiken Kommoden standen effektvoll arrangiert weiße Vasen mit prächtigen Lilien und Callas. Die Tische waren festlich mit edlen Leinen eingedeckt. An der Stirnseite der Scheune hatte Coco die Rückwand herausnehmen lassen und einen Wintergarten angefügt. Weiße Metallfassungen gaben den großen Glasscheiben den Effekt eines überdimensionalen Vogelkäfigs.
Die Gäste um Lucien herum kommentierten den überraschenden Anblick mit anerkennendem Gemurmel. Sophie hatte ihn unterdessen an ihren zugewiesenen Platz geführt. Coco schwebte von Tisch zu Tisch und bat die Gäste, Platz zu nehmen. Lucien konnte nur vermuten, welche Anspannung hinter der betont lockeren Fassade stecken musste. Die Eröffnung des Restaurants vor diesem erlesenen, aber auch sehr kritischen Publikum war die erste Nagelprobe für das Überleben in dieser Branche.
Er kannte aus seiner Zeit in Paris noch einige Restaurantbesitzer, die mit ebensolcher Inbrunst wie Coco ein Restaurant eröffnet und statt der Erfüllung ihres Traumes einen wahren Albtraum erlebt hatten. Der große Tag der Eröffnung war im Nachhinein zugleich der Startschuss des finanziellen und gesellschaftlichen Untergangs gewesen. Lucien hoffte, dass Coco dieses Schicksal erspart blieb. Auch wenn er die junge Frau nur oberflächlich kannte, war ihm die quirlige Frau sympathisch, die es gewagt hatte, ihr Leben einem neuen Ziel unterzuordnen und ihr altes Leben als Kindergärtnerin hinter sich zu lassen. Coco hatte durch den Gewinn der Show die finanziellen Möglichkeiten erhalten, ihre persönliche Leidenschaft zum Beruf zu machen.
Lucien lächelte Sophie an und zog ihr den Stuhl vom Tisch zurück, damit sie bequem Platz nehmen konnte, dann setzte er sich ebenfalls. Er nickte den anderen Gästen am Tisch kurz zu. Bevor sie sich miteinander bekannt machen konnten, erhob sich Raúl Da Silva und schlug mit dem Löffel an sein Glas. Die Gäste, die geräuschvoll unter Gelächter und Getuschel Platz genommen hatten, verstummten und wandten sich dem Redner zu.
Der aufbrausende Beifall im Anschluss an Da Silvas Rede holte Lucien in die Realität zurück. Während der langatmigen Ausführungen, die in der typisch nasal-arroganten Art eines Mannes vorgetragen wurden, der es genoss, seiner eigenen Stimme und seinen Worten große Bedeutung zuzumessen, waren seine eigenen Gedanken schnell abgeschweift. Er hatte die Zeit genutzt, um seinem Lieblingshobby nachzugehen und die Gäste heimlich ein wenig zu beobachten. Gebannt hatten seine Tischnachbarn die Lobrede auf die Gastgeberin verfolgt, und doch konnte sich Lucien nicht des Eindrucks erwehren, dass nicht alle so angetan von Raúl waren, wie es den Anschein hatte. Je länger die egozentrische Rede gedauert hatte, desto mehr waren der heitere Glanz und unbeschwerte Reiz des Neuen verflogen. Vielleicht brandete der Beifall deshalb nun so begeistert auf, weil alle froh waren, von der eindringlichen Stimme des Starkritikers befreit zu sein. Lucien beugte sich zu Sophie vor.
«Hast du auch bemerkt, wie sich die Stimmung zunehmend abgekühlt hat?», flüsterte er ihr ins Ohr. «Oder bilde ich mir das nur ein?»
Mit einem belustigten Glitzern in den Augen beugte sie sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr. «Lucien, ich glaube, du hast einfach Hunger. Mir ist nichts aufgefallen, aber ich habe ehrlich gesagt auch nicht besonders darauf geachtet, was er gesagt hat, weil ich von einem Vogel abgelenkt war, dem ich draußen beim Baden in einer der Regenpfützen auf dem Loungesofa zugesehen habe. Das war total putzig. Hat Da Silva denn irgendwas Wichtiges gesagt? Ich schalte bei Festreden eigentlich immer ab.»
Lucien fiel in ihr Lachen mit ein. Die Pause, die nach der Rede Da Silvas entstanden war, wurde nun vom stimmungsvollen Spiel der Harfenistin überdeckt. Die zarten Klänge untermalten die festliche Stimmung. Andächtig lauschten die Gäste.
«Nein, wahrscheinlich hast du recht.»
Er griff zu dem eleganten Körbchen, in dem verschiedene, frisch gebackene Brotlaibe im Miniformat lagen. Sorgfältig strich er etwas von der Bärlauchfrischkäsecreme mit dem silbernen Buttermesser auf die knusprige Oberfläche und biss herzhaft ab. Die Eröffnung eines solchen Restaurants in diesem kargen Landstrich war längst überfällig, sinnierte er zufrieden, während der Bürgermeister sich erhob und ebenfalls eine staatstragende Rede darbrachte.
Endlich konnte er mit Sophie einen genussvollen Abend verbringen, ohne den weiten Weg nach Soustons oder Bayonne fahren zu müssen. Lucien ging ausgesprochen gerne exquisit essen. Er liebte den zuvorkommenden Service gut geschulten Personals, das elegante Ambiente und die hohe Qualität der Speisen. Leider war die Küste, mit wenigen Ausnahmen, kulinarisches Niemandsland, wie er Da Silva leider recht geben musste.
Der erneute Beifall riss Lucien aus seinen Gedanken. Der Bürgermeister nahm seinen Platz neben Raúl Da Silva wieder ein, der ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter legte und sie dort einen Moment liegen ließ. Viktors Blick huschte kurz über die anwesenden Tischgäste und blieb dann an der missbilligenden Miene seiner Frau hängen.
Lucien betrachtete die illustre Gruppe am Tisch neben ihm. Coco hatte die Gäste strategisch geschickt platziert und Raúl Da Silva zwischen seine Frau Angelique und Viktor Beauchamp gesetzt, wohl um ihn gegen jegliche Ablenkungsversuche seiner weiblichen Fans abzuschirmen. Außerdem saßen an dem Tisch ein erfolgreicher französischer Koch samt Freundin und eine bekannte Opernsängerin mit Begleitung. Der Raum war erfüllt von dem Geräusch klingender Gläser, die wie von Zauberhand von den emsig umherhuschenden Angestellten gefüllt wurden.
Lucien lehnte sich zurück. Der Abend schien sich trotz seiner anfänglichen Vorbehalte zu einer gelungenen Veranstaltung zu entwickeln. Er nippte an dem Glas und atmete das Barrique-Aroma des erstklassigen Weins ein. Der schwere Bordeaux war von erlesener Qualität. Blutrot schimmerte das Kerzenlicht durch den Wein, als Lucien das Glas hob und es leicht schwenkte. Aus dem Augenwinkel betrachtete er Sophie, die ins Gespräch mit ihrem Tischnachbarn vertieft war. Soweit er sich erinnerte, hatte sich der Mann als Miguel Cazeneuve vorgestellt. In Luciens Augen war der Mann abstoßend attraktiv und unangenehm höflich. Seine eigene Tischnachbarin dagegen war eine äußerst geschwätzige Frau mittleren Alters namens Josephine Fabergé, die mehrfach vergeblich versucht hatte, Lucien in ein Gespräch zu verwickeln, und sich nun ihrem rechten Nachbarn zugewandt hatte, einem gebrechlich wirkenden Herrn, der von einer deutlich jüngeren Frau begleitet wurde. Entgegen Luciens erstem Verdacht stellte der Mann die äußerst attraktive Frau als seine Tochter Minou vor. Wohl in der Annahme, dass der ältere Herr schwerhörig war, sprach die Frau neben ihm jeden Satz langsam und deutlich und vor allem laut aus.
Im Laufe des Gesprächs, das Lucien dadurch unwillkürlich mit anhören musste, erfuhr er, dass der ältere Herr Baptiste Cuillére war, Gründer und alleiniger Eigentümer eines großen Verlagshauses in Paris, das bereits eine Reihe namhafter Spitzenköche unter Vertrag hatte. Lucien dachte an die zahlreichen Kochbücher in seiner neuen Küche, die seine Hausangestellte Marianne für ihn gekauft hatte. Er war sich sicher, dass darunter auch welche vom Cuillére-Verlag waren.
Das aufgeregte Grundgeräusch aus Gesprächsfetzen und Gelächter verstummte, als sich die große Flügeltür öffnete und sämtliche Kellner hintereinander mit schnellem Schritt den Raum betraten. Einheitlich in weißer Kleidung mit schwarzen Paspeln spiegelten sie das Farbkonzept des Raumes wider. Coco eilte mit geröteten Wangen voran und ließ es sich nicht nehmen, selber einen Teller samt Haube zu tragen. Ihr schwarzes Seidenkleid in Kombination mit der Perlenkette wirkte wie ein Negativabzug der Kleidung ihrer Kellnerinnen. Sie erwies Raúl Da Silva die Ehre, ihm seine Vorspeise persönlich zu servieren. Lucien erkannte den eleganten Teller mit silbernem Rand und dem Eichenblatt, den er schon im Kühlraum gesehen hatte. Raúl nickte ihr mit seitlich gesenktem Kopf zu und bedankte sich für die Sonderbehandlung mit einem selbstgefälligen Lächeln.
Lucien sah Sophie an, die derweil zu der Menükarte gegriffen hatte.
«Portugiesische Galeere», las sie leise vor. «Das ist die Vorspeise aus dem Menü, mit dem sie das Finale gewonnen hat. Soweit ich mich erinnere, hat sie damals erklärt, dass sie dieses Rezept als Hommage an einen berühmten Koch am Hofe des Sonnenkönigs kreiert hat.»
Lucien verzog unwillkürlich das Gesicht.
«Natürlich handelt es sich nicht um eine echte Qualle, Lucien, sondern um in Butter und Rosmarin gebratene Jakobsmuscheln in einem Kokon aus dünnem, mit Roter Bete eingefärbtem Teig, die in einem Nest aus geeistem Sepia-Gelee liegen», las Sophie leise von der Menükarte ab.
«Interessant», war das Einzige, was Lucien von sich geben konnte. Das Gericht auf dem Teller vor ihm sah in der Tat wenig ansprechend aus, roch dafür aber umso appetitlicher.
Lucien griff zum Besteck und trennte gerade mit der Gabel ein Stück von der Jakobsmuschel ab, als ein schier unmenschlicher Schmerzensschrei die gelöste Stimmung im Saal augenblicklich schockgefror. Alarmiert sprang Lucien auf und versuchte die abstruse Situation, die sich ihm bot, zu begreifen.
Raúl Da Silva lag auf dem Boden und krümmte sich vor Schmerzen. Er umklammerte mit beiden Händen seinen Hals, als könnte er sich dadurch von einem unsichtbaren Griff befreien. Mit zittrigen Fingern riss er den Hemdkragen auf und versuchte mit verkrampften Händen, die Krawatte zu lösen. Sein Gesicht nahm die Farbe eines kochenden Hummers an, und die smaragdgrünen Augen schienen aus den Höhlen zu treten. Die Pupillen waren weit geöffnet, die Adern im Augapfel platzten und das Weiß füllte sich mit Blut.
Seine Frau beugte sich hysterisch schreiend über ihn und versuchte, in sinnlosem Aktionismus gefangen, ihn wieder hochzuziehen. Der Tumult nahm noch zu, als alle gleichzeitig von ihren Stühlen aufsprangen und helfen wollten, ohne es zu können.
Lucien hörte entsetzte Rufe nach einem Arzt, der Feuerwehr oder der Polizei. Er versuchte, Angelique Da Silva dabei zu helfen, ihren Mann aufzurichten, um ihm das Atmen zu erleichtern. Unbeholfen klopfte er ihm auf den Rücken, als habe er sich nur verschluckt. Doch der Mann kollabierte buchstäblich unter seinen Händen. Die panisch aufgerissenen Augen starrten Lucien verzweifelt an. Spastische Krämpfe durchzuckten seinen Körper. Lucien konnte hören, wie unter den Krämpfen eine Rippe brach. Blut und Schleim liefen die Mundwinkel herab. Da Silvas Lippen waren blau angelaufen. Keuchend verlangten seine Lungen im Todeskampf nach Luft.
Ein letztes Mal bäumte sich der Körper des Mannes auf, bevor er mit einem langen Röcheln sein Leben aushauchte. Der Glanz seiner Augen brach, und der Körper erschlaffte in Luciens Armen. Erschüttert ließ der Commissaire ihn auf den Boden gleiten und versuchte, Angelique von ihm fortzuziehen. Doch die verzweifelte Frau beugte sich schützend über ihren Mann, stülpte sich förmlich über ihn. Sie umklammerte den Leichnam und wiegte ihn leicht hin und her.
Entsetztes Schweigen breitete sich einem Leichentuch gleich über die Festgesellschaft. Der Commissaire hob den Blick und sah sich mit unzähligen Augenpaaren konfrontiert, die jede seiner Regungen beobachteten. Sophie hatte die Hände vor den Mund geschlagen und schüttelte ungläubig den Kopf. Da Silvas Frau hatte sich mittlerweile erhoben und starrte apathisch auf ihren am Boden liegenden Mann.
«Mon Dieu», brachte der Verleger Baptiste Cuillére das Geschehene auf den Punkt.
Fassungslos starrten die Gäste auf den Toten. Ganz allmählich kam Bewegung in die Gesellschaft, und aufgeregte Stimmen erfüllten den Raum.
Angelique Da Silva rannte, sich die Hand vor den Mund pressend, aus dem Zimmer. Auf ein Zeichen von Lucien folgten ihr Sophie und Madame Viard und brachten die von Weinkrämpfen geschüttelte Frau kurze Zeit später nach nebenan in Cocos Privaträume. Sie legten sie auf das große Sofa am Kamin. Sophie nahm eine Decke und legte sie über Angeliques zitternde Schultern.
«Geh du ruhig zurück zu deinen Gästen, ich bleibe hier.» Sophie setzte sich neben Angelique auf das Sofa und streichelte ihren Kopf wie bei einem Kind. Coco überlegte kurz und griff nach ihrer Kette, was sie zu beruhigen schien.
«Ist gut, ruf mich, wenn du Hilfe brauchst.» Nervös spielten ihre Finger mit der Perlenkette, als sie den Raum verließ. Geschockt lief sie den kurzen Weg zurück ins Restaurant. Das war eine Katastrophe. Ein Todesfall in ihrem Restaurant, vor den Augen der Presse und der Prominenz. Sie war erledigt. Tränen schossen ihr ins Gesicht. Das war so ungerecht. Konnte der Mistkerl nicht an einem anderen Ort krepieren?
Sie betrat das Restaurant durch den Kücheneingang. Der Commissaire kniete noch immer neben dem Leichnam.
Lucien hatte inzwischen per SMS den lokalen Notarzt und die Spurensicherung aus Bordeaux informiert. Der Commissaire erhob sich und signalisierte den Gästen, sich zu beruhigen.
«Mesdames et Messieurs, bitte setzen Sie sich wieder auf Ihre Plätze.» Seine sonore autoritäre Stimme zeigte umgehend Wirkung.
Während die Gäste an ihre Tische zurückkehrten, beugte sich ein junger Kellner routiniert zu dem zerbrochenen Teller, den Raúl mit sich heruntergerissen hatte.
Noch bevor der Commissaire einschreiten konnte, begann der Kellner die Scherben des weißen Porzellantellers mit dem markanten Wappen und die Reste der Jakobsmuschel und des Sepia-Gelees aufzusammeln.
«He, nicht anfassen!», raunte Lucien.
Der Kellner zuckte zusammen und ließ alles wieder aus der Hand fallen. Die Porzellanbruchstücke fielen erneut auf den Boden und zerschlugen jetzt in noch kleinere Stücke.
«Na, großartig», motzte Lucien erbost. «So habe ich das natürlich nicht gemeint.»
Doch der Kellner schien ihn gar nicht zu beachten, sondern hielt erstaunt seine rechte Hand schützend mit der linken fest.
«Haben Sie sich geschnitten?» Lucien zügelte seine aufbrausende Art und beugte sich besorgt zu ihm.
«Geschnitten? Nein, ich glaube nicht. Verdammt, das brennt wie Feuer.» Ungläubig betrachtete der Kellner seine verletzte Hand.
Lucien sah die feuerroten Striemen, die sich über die Fingerkuppen und Handinnenflächen zogen, als hätte ihn jemand mit einem brennenden Strick ausgepeitscht. Innerhalb von Sekunden schwoll die Verletzung an, und weißliche Quaddeln überzogen großflächig seine Haut.
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