Madame Bertin steht früh auf - Julie Masson - E-Book

Madame Bertin steht früh auf E-Book

Julie Masson

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Beschreibung

Eine moderne Miss Marple auf Mörderjagd in Paris. An einem prächtigen Tag im Mai genießt Madame Bertin eine Ruhepause im Hinterhof ihrer Pariser Boulangerie – da muss sie beobachten, wie sich eine blutige Hand an die Fensterscheibe des angrenzenden Hauses presst. Schnell alarmiert die alte Dame die Polizei, doch die findet keinerlei Hinweis auf ein Verbrechen. Haben Madame Bertins Sinne ihr einen Streich gespielt? Auf keinen Fall, meint die rüstige Pariserin und beschließt, den unfähigen Gesetzeshütern zu helfen. Als Putzfrau verkleidet, verschafft sie sich Zugang zum Tatort im Nachbarhaus. Dort entdeckt sie nach eingehender Untersuchung tatsächlich Blutspuren. Aber Alter schützt vor Torheit nicht, und so kommt Madame Bertin dem Täter schnell näher, als ihr lieb ist.

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Julie Masson

Madame Bertin steht früh auf

Ein Paris-Krimi

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Eine moderne Miss Marple auf Mörderjagd in Paris.

 

An einem prächtigen Tag im Mai genießt Madame Bertin eine Ruhepause im Hinterhof ihrer Pariser Boulangerie – da muss sie beobachten, wie sich eine blutige Hand an die Fensterscheibe des angrenzenden Hauses presst. Schnell alarmiert die alte Dame die Polizei, doch die findet keinerlei Hinweis auf ein Verbrechen. Haben Madame Bertins Sinne ihr einen Streich gespielt? Auf keinen Fall, meint die rüstige Pariserin und beschließt, den unfähigen Gesetzeshütern zu helfen. Als Putzfrau verkleidet, verschafft sie sich Zugang zum Tatort im Nachbarhaus. Dort entdeckt sie nach eingehender Untersuchung tatsächlich Blutspuren. Aber Alter schützt vor Torheit nicht, und so kommt Madame Bertin dem Täter schnell näher, als ihr lieb ist.

Über Julie Masson

Julie Masson, geboren 1975 in einem kleinen Dorf am französischen Atlantik, studierte Germanistik und Literatur an der Sorbonne in Paris. Während eines Auslandssemesters an der Freien Universität Berlin verliebte sie sich nicht nur in die deutsche Sprache – und blieb. Nach dem Studium verfasste sie diverse Sachbücher, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt die Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt.

1. Kapitel

Besorgt wanderte Madame Bertins Blick zu der großen Wanduhr aus Emaille. Die dunklen Zeiger hoben sich deutlich von dem hellen Zifferblatt mit dem handgemalten blauen Hahn ab, das im Laufe der Zeit rostfleckig geworden war. Wie so vieles hier, seufzte Madame Bertin innerlich, während sie sich in dem hellen Raum umsah. In dieser alten Küche war sie aufgewachsen. Hier hatte sie vor einem halben Jahrhundert das Bäckerhandwerk von ihrer Mutter erlernt.

Mit routinierten Bewegungen faltete sie den Hefeteig, der bereits zwölf Stunden geruht hatte, wie einen Briefumschlag zusammen. Bestäubte ihn mit Mehl, ehe sie ihn abermals zum Ruhen in die vorgewärmte Schüssel gab und mit einem feuchten Küchentuch zudeckte. Jetzt hatte der Hefeteig noch einmal zwanzig Minuten Zeit, sich von den Strapazen zu erholen – und mit ihm Madame –, bevor er später mittels ihrer ganz speziellen Knet- und Rolltechniken in die typische Baguetteform gebracht werden würde. Doch bis es so weit war, würde sie die zeitaufwendige Prozedur noch weitere zwei Mal im Abstand von je zwanzig Minuten durchführen müssen.

Normalerweise nutzte sie diese Auszeit für ein kurzes Nickerchen auf der Bank im Garten, während allmählich die Sonne über den Dächern von Paris aufging, doch heute musste sie sich diese erholsame Ruhepause versagen. Denn heute war der zweite Mai. Auf diesen Tag hatte Louise Bertin schon seit Wochen hingefiebert: Es war der erste Tag nach der offiziellen Amtseinführung des neuen Präsidenten und seines Umzugs in den Élysée-Palast. Als Preisträgerin des langen und ehrenvollen Titels – «Le Grand Prix de la Baguette de tradition française de la Ville de Paris» – hatte sie die privilegierte Aufgabe, den jeweiligen Präsidenten täglich mit knusprig frischen Baguettes zu versorgen. Eine Auszeichnung, die sie seit vielen Jahren mit nationalem Stolz trug und die sie täglich mit vollem Pflichtbewusstsein persönlich erfüllte.

Die traditionsreiche Bäckerei in der Rue des Francs Bourgeois hatte Louises Mutter bereits von ihren Eltern übernommen und nach ihrer Heirat mit dem Postminister weitergeführt. Dem Amt und Status ihres wohlhabenden Vaters verdankte Louise ein sorgenfreies Leben und eine glückliche Kindheit in der Obhut ihrer warmherzigen Mutter. Unzählige Kindheitserinnerungen waren in den Geruch ofenwarmer Baguettes, Brioches und Croissants gehüllt und fest mit ihm verwoben. Vielleicht war die unbeschwerte Kindheit in der duftenden Backstube einfach zu schön gewesen, denn im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester hatte Louise nie den Drang verspürt, das Elternhaus zu verlassen und die weite Welt zu erkunden. Da mochte die alte Uhr, die ihre Mutter einst als Teil der Aussteuer für die junge Louise gekauft hatte und die nun in Ermangelung einer Hochzeit bereits seit über fünfzig Jahren an der Wand hing, noch so vorwurfsvoll ticken: Madame (streng genommen «Mademoiselle», aber sie war es irgendwann leid geworden, ihr Umfeld auf diesen kleinen, aber feinen Unterschied hinweisen) – Madame Louise Bertin war Pariserin mit Herz und Seele – sie würde ihr Zuhause nie freiwillig verlassen. Schon gar nicht für einen Mann.

Der einzige Mann, für den sie bereit war, Kompromisse einzugehen, war der Präsident Frankreichs. Für ihn stand sie ohne Klagen jeden Morgen um kurz nach vier Uhr auf, um in der alten Stube der ehemaligen Bäckerei den vorbereiteten Teig zu falten, formen und knusprig zu backen. Während der vergangenen vier Jahre hatte sie täglich fünfzehn Stück in den Palast geliefert. Doch nun war der abgewählte Präsident nur noch ein Name in den Geschichtsbüchern, und sein Nachfolger hatte Einzug gehalten. Louise war neugierig, ob sie ihn heute zu Gesicht bekommen würde, wenn sie die bestellten Brote auslieferte. Traditionell gehörte es zur Palastetikette, dass sich der Präsident am ersten Tag nach der Amtseinführung persönlich bei allen angestellten Mitarbeitern des Palastes vorstellte. So war es jedenfalls bei sämtlichen Vorgängern von Charles Bonnet gewesen. Ob allerdings der junge, moderne Präsident diese Tradition aufrechterhalten würde, konnte Louise nicht so recht einschätzen.

Auf jeden Fall wollte sie vorbereitet sein, wenn der Präsident kam, und ihn bitten, ein Foto machen zu dürfen, das sie dann stolz in die Auslage des kleinen Geschäftes stellen konnte.

Dieser Aspekt war wohl auch die tiefere Ursache für ihre innere Anspannung, wie sie sich gerade eingestehen musste: Der neue Präsident war ungewöhnlich attraktiv und sehr jung, und sie würde sich neben ihm ungewöhnlich unattraktiv und sehr alt vorkommen. Und diese auf Fotopapier festgehaltene Schmach würde sie zudem in ihren eigenen Geschäftsräumen aufstellen müssen. Wie dem auch sei – es musste sein. Der Umsatz stieg jedes Mal um fast dreißig Prozent, wenn sie ein neues Bild in den goldenen Rahmen stellte, der im Schaufenster gut sichtbar neben den unzähligen Pokalen der Pariser Bäckervereinigung platziert war.

Wieder huschte ihr Blick zu der alten Uhr: Die Zeit reichte gerade noch, um sich ein wenig zurechtzumachen, bevor der Teig weiterverarbeitet werden musste. Rasch wischte sie die mehligen Hände an ihrer Küchenschürze ab und betrat die ehemalige Vorratskammer, in der nun ihr kleines Badezimmer untergebracht war.

Aus dem grell erleuchteten Badspiegel blickte ihr eine Frau entgegen, mit der es das Alter gut gemeint hatte. Die Schätzungen ihrer Umgebung reichten von Mitte fünfzig bis höchstens Anfang sechzig. Ein Irrglaube, den sie jedoch nicht vorhatte zu korrigieren. Sie hatte mit vierzig beschlossen, nicht mehr zu altern, und seitdem konsequent auf Geburtstagsfeiern verzichtet. Dadurch hatten ihre zahlreichen Freunde und Bekannte im Laufe der Jahre den Überblick über ihr wahres Alter verloren, und das war gut so. Der Spiegel war jedoch nicht so leicht zu täuschen.

Sie rubbelte sich gründlich mit dem Waschlappen übers Gesicht, um die Durchblutung anzuregen, wie es ihr schon ihre Großmutter beigebracht hatte, und cremte sich ein. Bei einem kritischen Blick in den Spiegel fiel ihr eine matte Mehlspur im silbergrauen Haar auf. Entschlossen griff sie zum Föhn, pustete den Mehlstaub aus den Haaren und strich sie dann mit der Bürste wieder glatt. Ihr eleganter Pagenkopf war am gestrigen Tag akkurat auf eine gerade Linie geschnitten worden und saß perfekt. Die ins Gesicht fallenden Seitenpartien betonten ihr markantes Gesicht. Die Haarfarbe war eine Laune der Natur, die sie bereits mit Mitte zwanzig hatte ergrauen lassen. Ein weiterer Umstand, der ihr wahres Alter verbarg, da sie schon als junge Frau das ergraute Haar stets mit aristokratischem Stolz getragen hatte. So kam der knallrote Lippenstift, den sie täglich sorgfältig auflegte, noch besser zur Geltung und verlieh ihr eine extravagante Note. Zudem hatte sie sich trotz der süßen Verlockungen am Arbeitsplatz ihre schlanke Figur erhalten.

Da sie dem üblichen Bild einer typischen Bäckerin in keiner Weise entsprach, hatte sie schnell aus der Flut von Backstuben hervorgestochen, und die Pariserinnen hatten von Anfang an gerne bei ihr gekauft. Bald war die kleine Bäckerei in dem historischen Gebäude aus allen Nähten geplatzt und hatte den Betrieb erweitern müssen. Louise Bertin hatte in ein neues Hauptgeschäft mit großer und vor allem moderner Backstube investiert, weitere Filialen waren gefolgt, und Louise hatte zunehmend mehr Zeit im Büro verbracht als in der Backstube. Der finanzielle Erfolg hatte ihr ein sorgenfreies Leben im angenehmen Luxus ermöglicht. Sie hatte jedoch das Geld nicht für unnützen Kram wie teure Autos oder eine Yacht in Cannes aus dem Fenster geworfen, sondern in moderne Arbeitsgeräte und ein ansprechendes Interieur ihrer Filialen investiert.

Vor einigen Jahren hatte sie die operative Geschäftsführung dann ihrem Neffen überlassen, dem erwachsenen Sohn ihrer verstorbenen Schwester. Eine Entscheidung, die sie schon bald wieder bereut hatte, da die Geschäfte unter seiner Leitung allem Anschein nach zu leiden hatten und sie gezwungen gewesen war, einige Filialen zu schließen. Doch noch mehr als an den finanziellen Einbußen hatte sie unter ihrer eigenen Pensionierung gelitten. Sie hatte ihr Leben lang mit Leidenschaft und voller Energie gearbeitet und hatte sich mit der erzwungenen Untätigkeit nicht abfinden können.

Da sie keine Enkel zum Bespielen und keinen Hund zum Mästen gehabt hatte, hatte sie sich bereits nach kurzer Zeit wieder ihrem alten Beruf gewidmet. Immer öfter hatte sie in der kleinen Filiale ausgeholfen, die sich noch in ihrem Elternhaus befunden hatte. Doch die Zeiten hatten sich geändert: Die Kunden im Stammhaus waren hektischer und fordernder als früher, sie wollten rasch bedient werden und sich nicht mit ihr über das Wetter oder die neuen Nachbarn unterhalten. Zudem erwarteten sie, dass sie aus dem chromglitzernden Höllenteil einer italienischen Barista-Kaffeemaschine in Sekunden einen Espresso im Stehen oder «Café au lait – to go» hervorzaubern konnte.

Mit dieser Entwicklung war Louise nicht zurechtgekommen. Mit Wehmut dachte sie an die «gute alte Zeit», als die Kunden stets Zeit für ein kleines Schwätzchen hatten. Sich dann mit einer Tasse handgebrühtem Kaffee und einem frischen Croissant an einen der filigranen Bistrostühle aus mintgrün lackiertem Gusseisen setzten, eine Gauloise rauchten und den Tag und die Passanten an sich vorbeiziehen ließen. Nach dem kurzen Ausflug in die Realität hatte sie sich in die ehemalige Backstube ihres Geburtshauses zurückgezogen, die längst ausgedient hatte. In dem prächtigen mehrstöckigen Gebäude in der Rue des Francs Bourgeois hatte sie die Vorratsräume der ehemaligen Backstube saniert und behutsam die Zimmer ihren Bedürfnissen entsprechend in Wohnräume mit separatem Eingang umgewandelt. Den Verkaufsraum des ehemaligen Stammhauses hatte sie im Originalzustand belassen. Hier konnte man nach wie vor frisches Brot kaufen und ein kleines Frühstück an einem Bistrotisch einnehmen.

Ihr Neffe leitete das Geschäft in der Früh, meist unterstützt von zwei jungen Aushilfskräften. Davon bekam Louise jedoch kaum etwas mit. Sie hatte sich vom eigentlichen Tagesgeschäft zurückgezogen und sich voller Leidenschaft in ihre Aufgabe gestürzt: das beste Baguette von Paris zu backen. Täglich bereitete sie die Brotlaibe in einer komplizierten und zeitaufwendigen Prozedur in ihrer Küche zu. Doch auch wenn diese Beschäftigung ihr viel abnötigte und sie jeden Morgen sehr früh aufstehen musste, würde sie diese Arbeit niemals freiwillig ihrem Neffen übertragen. Nein – dies war ihr Lebenselixier. Stolz erfüllte sie, wenn sie an die Pokale und goldenen Plaketten dachte, die ihren Laden schmückten. Sie liebte es, in ihrer alten Backstube zu arbeiten, von der sie direkt in den angrenzenden Garten im Hinterhof schauen konnte, den sie im Rahmen des Umbaus hatte anlegen lassen. Die Fassade in den Hinterhof war durchbrochen und das Gebäude um einen Wintergarten aus grün gestrichenem Gusseisen und Glas ergänzt worden. Dadurch waren die Räume trotz der Lage im Parterre meist luft- und sonnenlichtdurchflutet.

Louise fühlte sich in den alten Räumen voller Kindheitserinnerungen auf Anhieb so wohl, dass sie ihre eigentliche Wohnung – die repräsentativen Räumlichkeiten in der zweiten Etage des Hauses – schon bald kaum noch betrat. Eigentlich nutzte sie die Räume nur noch jeden ersten Mittwoch im Monat, wenn sie ihre Freunde zur Soirée bat. Sie liebte die geselligen Zusammenkünfte und lud gerne Künstler und Musiker dazu ein. Natürlich gab es immer wieder Schnorrer unter den selbsternannten Kreativen, die sich in ihren Kreis einzuschleichen versuchten. Doch da hatten sie die Rechnung ohne die resolute alte Dame gemacht. Louise konnte nicht nur sehr charmant und großherzig sein, sondern auch äußerst scharfzüngig und direkt, wenn ihr etwas oder jemand nicht passte. Zudem waren die meisten ihrer Gäste Persönlichkeiten der Pariser Hautevolee, und kein Künstler konnte es sich erlauben, hier negativ aufzufallen und einen möglichen Mäzen zu vergraulen. Die monatliche Zusammenkunft war immer ein großes Ereignis, über das ab und an auch schon mal die lokale Presse berichtet hatte. Aus diesem Grund konnte und wollte Louise die repräsentative Wohnung mit dem atemberaubenden Blick über die Dächer der Stadt nicht aufgeben. Sie war der einzige Luxus, den sie sich erlaubte. Die Wohnung und ihr Hang zu exquisiter Kleidung.

Doch der Tag würde kommen, wo sie einsehen musste, dass sie dafür zu alt wurde. Die aufwendige Organisation, die luxuriöse Garderobe, die Kosten für die feine Foie gras, Coquille St.-Jacques, Austern und prickelnden Champagner für die anspruchsvollen Gäste, die Heizkosten – all dies waren Faktoren, die sie langfristig überdenken musste. Zudem waren die Treppenstufen für sie eine immer größer werdende Herausforderung, und so hatte sie sich für den Alltag lieber im Erdgeschoss eingerichtet. Das erste Geschoss der prachtvollen Stadtvilla hatte sie ihrem Neffen und seiner Frau überlassen, als sie ihm die Leitung der Bäckerei übertragen hatte. Ein weiterer Punkt auf ihrer Liste mit Dingen, die sie bereute.

Der Gedanke an ihren Neffen verdüsterte ihre Stimmung noch mehr. Energisch knipste sie das Licht im Bad aus, marschierte in ihre Küche und machte sich einen Espresso. Dann schnappte sie sich mit der einen Hand das Kreuzworträtselheft, das schon mit einem Stift bereitlag, und trug mit der anderen Hand vorsichtig die feine Porzellantasse mit dem köstlich dampfenden Kaffee durch die Hintertür in den Garten. Sie lief über den gekiesten Weg zu der alten Holzbank, setzte Tasse und Heft auf dem metallenen Gartentischchen ab und wickelte die wärmende Stola enger um ihre Schultern, bevor sie sich setzte. Für einen Moment schloss sie die Augen, sog die frische Luft des anbrechenden Tages tief in ihre Lunge und öffnete die Augen wieder, betrachtete den Himmel. Die Morgenröte zauberte die schönsten Farben in das sich ausbreitende Blau und versprach einen herrlichen Frühlingstag. Unbewusst ließ sie den Blick über die rückwärtige Fassade des Nachbargebäudes gleiten – und verharrte irritiert am großen Fenster des rückwärtigen Treppenhauses.

Noch bevor ihr Verstand realisierte, was sie da sah, zog sich ihr die Kehle zusammen, doch der Schrei blieb ihr im Halse stecken. Voller Entsetzen sprang sie auf und stieß dabei gegen den Tisch. Die Tasse fiel klirrend zu Boden und zerbarst in tausend Stücke.

Die blutüberströmte Hand, die sich hinter dem Fenster abgestützt hatte, glitt langsam nach unten und hinterließ eine rote Spur auf der Scheibe.

2. Kapitel

«Bonjour, Commissariat de Police du 4e Arrondissement, Boulevard Bourdon, Sergeant Paul-Henry Faure am Apparat, wie …?» Weiter kam der junge Polizist nicht, da ihm eine aufgeregte Stimme das Wort abschnitt.

«Blut, alles ist voller Blut, mon Dieu, schrecklich, ich glaube, sie ist tot!»

«Madame, beruhigen Sie sich bitte.»

Louises Stimme überschlug sich vor Aufregung beinahe: «Hier spricht Madame Bertin. Bitte kommen Sie schnell her, vielleicht lebt die Frau ja doch noch. Kommen Sie bitte schnell!»

«Madame, bitte setzen Sie sich doch erst einmal, holen Sie tief Luft, und dann nennen Sie mir bitte Ihren vollständigen Namen, Ihren genauen Aufenthaltsort und …»

«Bertin, haben Sie nicht zugehört? Madame Bertin. Ich rufe natürlich aus der Rue des Francs Bourgeois an, von der Boulangerie Bertin, die werden Sie doch wohl kennen, junger Mann! Und jetzt verlieren Sie keine Zeit mehr mit Formalitäten und schicken auf der Stelle einen Einsatzwagen her. Ich wurde soeben Zeugin eines Mordes. Verstehen Sie? Gerade eben vor einer Minute. Im Haus gegenüber wurde jemand kaltblütig ermordet. Ich bin ganz außer mir. Schicken Sie doch endlich jemanden hierher! Einen Krankenwagen, einen Arzt. Vielleicht kann man das Opfer noch retten. Ich warte vor der Haustür und bringe Sie zum Tatort.»

«Pardon, Madame, ich benötige noch die genaue Adresse des vermeintlichen Tatortes und eine genaue Beschreibung des Tatherganges. Was für ein Verbrechen wollen Sie dort beobachtet haben?» Paul-Henry malte neben den Namen der offensichtlich hysterischen Dame ein kleines Galgenmännchen auf den Notizzettel.

«Junger Mann, dafür ist jetzt keine Zeit! Wir müssen sofort etwas unternehmen, sonst ist der Mörder über alle Berge und das Opfer nicht mehr zu retten. Ich stelle mich jetzt vor die Tür meines Ladens und erwarte, dass Ihre Leute in zwei Minuten hier sind.»

Resolut beendete sie das Gespräch, ohne auf eine Erwiderung zu warten, und hängte kopfschüttelnd den Hörer auf die Gabel ihres alten Drehscheibentelefons. Normalerweise war es nicht ihre Art, jemanden am Telefon derart zurechtzuweisen, aber hier handelte es sich offensichtlich um einen Notfall, und der unfähige junge Mann schien die Tragweite des Anrufs nicht richtig einzuschätzen. Sie stellte das Telefon zurück auf die antike Kommode im Flur ihrer kleinen Wohnung und warf dabei einen prüfenden Blick in den vergoldeten Spiegel. Schnell zog sie die Lippen rot nach und puderte die Nase. Das müsste für die Polizei reichen. Sie griff die Klinke und wollte gerade die Haustür öffnen, als ihr Blick auf die abgedeckte Schüssel fiel. Der Teig! Das durfte auf gar keinen Fall warten. Mord hin oder her – das Baguette für den Präsidenten hatte Vorrang. Schnell reinigte sie sich die Hände und bestäubte sie anschließend mit Mehl, knetete entschlossen den Teig und faltete ihn mehrfach. Dann bedeckte sie die einzelnen Teigrohlinge mit dem Küchentuch, säuberte die Hände ein weiteres Mal und rannte zur Tür. Jetzt hatte sie noch einmal zwanzig Minuten zur Verfügung, bevor der nächste Schritt der traditionellen Backprozedur anstand.

Als sie durch den massiven Türrahmen des alten Stadthauses trat, stolperte sie beinahe in die zwei uniformierten Männer, die anscheinend gerade dabei waren, an dem alten Klingelschild nach ihrem Namen zu suchen.

«Madame Bertin?» Der vordere Polizist richtete sich auf und schaute sie fragend an. «Ich bin Lieutenant Jean Luc Balterre, und das …»

«Guten Tag. Kommen Sie bitte, ich habe nur noch etwa fünfzehn Minuten Zeit.» Louise drehte sich um und ließ die beiden verdutzten Männer einfach stehen. «Nun kommen Sie doch, ich muss noch das Baguette für den Präsidenten in den Backofen schieben», rief sie ungeduldig über die Schulter, während sie rechts um die Straßenecke eilte und dann nach drei Häusern erneut rechts abbog. Die beiden Uniformierten schauten ihr irritiert hinterher und versuchten dann mit der betagten Dame Schritt zu halten, die bereits hinter der nächsten Hausecke verschwunden war.

Louise blieb vor dem Torbogen eines prächtigen Stadthauses stehen. Die schwere Holztür war angelehnt, und Louise wollte sie gerade öffnen, als Lieutenant Balterre sie resolut am Arm packte.

«Madame Bertin, wir wissen Ihren Einsatz zu schätzen, aber ab jetzt übernehmen wir das Kommando. Bitte bleiben Sie hier draußen vor der Tür stehen und rühren sich nicht vom Fleck.» Louise wollte gerade etwas erwidern, als er ihr das Wort abschnitt: «Keine Diskussion. Sie bleiben hier. Nach Ihrer eigenen Aussage können wir nicht ausschließen, dass der Täter noch am Tatort ist, also bleiben Sie hier, in Sicherheit.» Er nickte seinem Kollegen kurz zu, zog die Waffe aus dem Halfter und entsicherte sie.

Louise hielt vor Aufregung die Luft an, als sie Sergeant André Martin dabei beobachtete, wie er dem Beispiel seines Vorgesetzten folgte, sich hinter die Tür kniete und den Lieutenant sicherte. Ein letzter Augenkontakt signalisierte sein Einverständnis, dann schob Martin die schwere Holztür mit der Waffe im Anschlag auf. Nach einer kurzen Orientierungszeit traten die beiden bewaffneten Männer in den leeren Vorflur ein.

Louise hielt es nicht lange auf dem ihr zugewiesenen Platz. Lautlos schob sie sich im Rücken der Polizisten mit in den Flur.

Ein stechender Geruch nach Tierurin hing in der Luft. Ein eisernes Metalltor führte zum Innenhof – es stand weit offen und gab den Blick auf den großzügigen Innenhof frei. Wie das Klingelschild gleich hinter dem Eingang und die rot lackierten Briefkästen nahelegten, wohnten an die zehn Parteien im Haus. Man musste also damit rechnet, dass sich zahlreiche Bewohner in unmittelbarer Gefahr befanden, sollte es tatsächlich zu einem Schusswechsel kommen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs waren zwei Eingangstüren zu erkennen.

«Die blau gestrichene Tür führt zu der Treppe in dem Gebäudeteil, wo ich hinter der Scheibe den Mord gesehen habe, zwischen der zweiten und der dritten Etage», raunte Madame Bertin dem immer noch die Waffe im Anschlag haltenden Lieutenant Balterre ins Ohr.

Erschrocken fuhr der Mann zusammen. «Was machen Sie denn hier? Ich habe gesagt: Draußen bleiben!» Unwirsch schob er Madame Bertin wieder durch die Tür, zurück auf die Straße.

Im gleichen Augenblick fuhr der angeforderte Krankenwagen mit Blaulicht um die Ecke und kam vor dem Tor abrupt zum Stehen. Jean Luc Balterre verdrehte die Augen und gab dem Fahrer des Rettungswagens ein Signal, das Blaulicht sofort abzustellen und zu warten. Er wandte sich ab, um wieder in den Hof zu gehen, als Madame Bertin ihn erneut mit entschlossener Stimme ansprach.

«Ich wollte ja nur helfen, damit es schneller geht. Sie trödeln hier so rum, und ich muss doch in zehn Minuten wieder in meiner Bäckerei sein.»

Balterre schaute ihr streng ins Gesicht und konnte seine aufkommende Wut nur mäßig zügeln. «Madame Bertin, dann gehen Sie doch am besten jetzt gleich. Sie stören nur die Ermittlungen. Ich schicke nachher jemanden bei Ihnen vorbei, der Ihre Aussage aufnimmt.» Kopfschüttelnd drehte sich der Lieutenant wieder zum Hof um und fixierte den gegenüberliegenden Eingang.

Die schwere Holztür war geschlossen. Erneut gab der Lieutenant seinem Kollegen ein Zeichen und betrat vorsichtig den Hof. Madame Bertin beobachtete, wie sie versuchten, sich nahe an der bepflanzten Mauer zu halten, offenbar, um möglichst lange in Deckung zu bleiben. Falls sie ins Visier des potenziellen Täters gekommen waren, hatten sie hier kaum mehr Schutz als im Hofinneren. Endlich erreichten sie mit geduckten Schritten die Tür. Balterre griff nach der Klinke und drückte sie vorsichtig herab, doch sie gab nicht nach. Die Tür war verriegelt.

Madame Bertin überlegte nicht lange. Wenn eine Tür verschlossen war und man keinen Schlüssel hatte, musste man sie sich eben öffnen lassen. Wahllos drückte sie einen Klingelknopf und wartete. Kurz darauf ertönten in der frühmorgendlichen Stille ein Knacken und Rauschen und dann die verschlafene Stimme einer jungen Frau mit osteuropäischem Akzent, die sich ungehalten in einer fremden Sprache über die Störung zu beschweren schien. Louise ignorierte den Redeschwall und bat die Bewohnerin, die Eingangstür für die Polizei zu öffnen. Sie warf dem Polizisten, der irritiert in ihre Richtung gestarrt hatte, einen triumphierenden Blick zu und beobachtete, wie die Klinke unter seinem Druck nachgab und die Tür aufschwang.

Balterre gab seinem Kollegen noch die Anweisung: «André, du bleibst hier unten und sicherst den Eingang, falls jemand versucht, über den Seitenflügel zu flüchten», dann schob er sich ins Treppenhaus, hängte die Tür an der Wandvorrichtung ein, damit sie nicht wieder zufiel, und verschwand aus Louises Blickfeld.

Der Sergeant bewegte sich daraufhin wieder leise die Wand entlang in Richtung Eingang. Madame Bertin beachtete er nicht weiter, daher nutzte sie die Gelegenheit, schnell durch die Tür zu schlüpfen und dem Polizisten in sicherer Entfernung zu folgen. So eine aufregende Erfahrung wollte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Vorsichtig steckte sie den Kopf durch die Türöffnung und blickte in den imposanten Hausflur.

Über ihr spannten sich etwa dreißig Quadratmeter freischwebendes Deckengewölbe, das mit Stuckornamenten und einem kitschigen Landschaftsbild verziert war. Louise betrat vorsichtig die erste Stufe der Holztreppe aus dunkel gebeizter Eiche, schob sich Stufe für Stufe nach oben. Balterre war offenbar schon in die nächste Etage vorgedrungen, sodass sie ihm unbemerkt folgen konnte.

Auch im zweiten Stock schien alles ruhig zu sein. Langsam beschlich sie das ungute Gefühl, einem Phantom nachzujagen. Was, wenn sie sich doch getäuscht hatte? Sie hoffte, dass der Polizist ihre Beobachtung nicht als das Hirngespinst einer senilen Exzentrikerin abtat. Nein, sie wusste, was sie gesehen hatte!

Doch auch in der darüberliegenden Etage konnte Louise weder einen Verdächtigen noch Spuren eines Kampfes ausmachen. Vorsichtig spähte sie um die letzte Biegung, die bereits in die abschließende Dachmansarde hochführte. Das Tageslicht fiel durch ein bodentiefes Fenster. Louise blieb stehen, damit der Polizist sie nicht doch noch bemerkte, und beobachtete, wie er ebenfalls kurz verharrte und nachdenklich durch das Fenster in ihren Garten blickte. Schnell zog sie den Kopf wieder zurück und hielt die Luft an, um kein verräterisches Geräusch zu machen. Louise musste sich eingestehen, dass hier nichts auf ein Verbrechen hindeutete. Kein verdächtiger Mann, keine sterbende Frau und vor allem kein Blut.

Nichts!

Balterre schienen gerade ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen, denn er drehte sich kopfschüttelnd um und murmelte vor sich hin: «So ein Aufwand wegen eines Fehlalarms. Na warte, die alte Schachtel kann was erleben.» Er steckte seine Waffe zurück in das Halfter und holte sein Handy hervor.

Louise machte auf der Stelle kehrt und lief, so leise sie konnte, die Treppe hinunter. Doch der Polizist schien sie trotzdem gehört zu haben. Er kam ihr mit schnellen Schritten nach und holte sie noch im ersten Stock ein.

Verärgert beugte sich Balterre über das Treppengeländer und rief nach dem Sergeanten, dann wandte er sich vorwurfsvoll an die ertappte Verfolgerin: «Nichts! Hier gibt es absolut nichts Verdächtiges! Was fällt Ihnen ein, meine Anweisungen erneut zu missachten und mir hinterherzuschnüffeln? Das ist eine bodenlose Unverschämtheit, die Polizei so zu ver… – so hinters Licht zu führen! Sie wissen schon, dass Sie sich strafbar machen, wenn Sie absichtlich falsche Angaben machen, oder?» Genervt schlug er den Kragen seiner Jacke hoch. «André, schick den Krankenwagen wieder weg», herrschte er den inzwischen eingetroffenen Beamten an.

Madame Bertin wurde ganz heiß. Sie hielt sich am Treppengeländer fest, schnappte laut nach Luft und griff sich mit der Hand an die Brust über dem Herzen.

Balterre schien ihren Schwächeanfall zu bemerken und rief dem Sergeanten hinterher: «Warte, ich glaube, wir brauchen den Arzt doch noch. Hol ihn schnell her.»

Louise war bereits in die Knie gesunken, als Lieutenant Balterre sie unter dem Arm griff und zu der Treppenstufe führte, wo sie sich hinsetzen konnte. Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn. Der Lieutenant schien es zu bereuen, sie zuvor so angefahren zu haben, und sprach beruhigend und fürsorglich auf sie ein.

Nur wenige Sekunden später kam Sergeant André Martin mit dem Notarzt die Treppe hoch. Besorgt griff der nach ihrem Handgelenk, um den Puls zu fühlen und die Blutdruckmanschette um den Arm zu legen.

Madame Bertin schob den jungen Notarzt resolut zur Seite und entzog ihm ihre Hand. «Danke, junger Mann, mir fehlt nichts. Ich muss nur einen Moment Luft holen. Die Aufregung, wissen Sie? Die macht mir doch sehr zu schaffen. Lassen Sie mich bitte einen Moment alleine ausruhen. Ich komme schon zurecht.»

«Madame, sind Sie sicher, dass Sie meine Hilfe nicht benötigen?» Dann wandte er sich an den Lieutenant: «Monsieur, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, fahre ich jetzt wirklich los. Es gab einen Unfall an der Rue Saint-Sebastian, da werde ich dringend gebraucht, und hier habe ich offensichtlich schon genug Zeit vertrödelt.» Genervt schulterte er die schwere Notfalltasche und nickte den beiden Polizisten zu, bevor er durch die Tür verschwand.

«Also, Madame …» Jean Luc Balterre richtete sich zu seiner vollen Größe auf. «Dann warten wir im Hof. Ich muss kurz mit der Dienststelle telefonieren, und wenn es Ihnen wieder besser geht, begleiten wir Sie nach Hause. Ihre Aussage brauchen wir ja wohl nicht mehr aufzunehmen.»

Louise Bertin saß zusammengesunken auf der Treppenstufe, bedeckte mit einer Hand die Augen und wedelte mit der anderen Richtung Ausgang, um die beiden zum Gehen zu bewegen.

3. Kapitel

Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, rappelte Louise sich auch schon rasch auf die Beine. Sie lauschte einen Moment und konnte die beiden Polizisten leise hinter der Tür miteinander sprechen hören. Nichts Schmeichelhaftes, vermutete sie, aber damit konnte sie leben. Bei so einer wichtigen Angelegenheit konnte sie keine Rücksicht auf Befindlichkeiten nehmen. «Ich weiß doch, was ich gesehen habe», schimpfte sie leise vor sich hin, während sie die Treppenstufen hochstieg, fest entschlossen, selber noch einmal nach Spuren zu suchen.

Zwischen der zweiten und der dritten Etage hielt sie am vermeintlichen Tatort an und betrachtete das große Fenster. Es war in der Tat sauber. Nicht gerade streifenfrei, aber eben auch nicht blutverschmiert. Sie trat ans Fenster und schaute hinunter. Dort konnte sie ihren Wintergarten sehen, ihren bereits knospenden Rosenstock und sogar den kleinen Tisch, auf dem sie ihr Kreuzworträtselheft abgelegt hatte. Davor die Scherben auf dem Boden. Es gab keinen Zweifel: Dies war das Fenster, an dem sich die blutende Hand im Todeskampf abgestützt hatte. Vorsichtig berührte sie die Scheibe und den Rahmen. Sauber. Erstaunlich sauber. Sie sah sich im Flur um. Das Holz der alten Treppe war abgewetzt und fleckig, die blassblaue Farbe an den Wänden abgeblättert, Staub lag zwischen den Streben des Geländers. Nur die Scheibe und das Fensterbrett waren blitzblank. Sie beugte sich über das Geländer und versuchte einen Blick auf das Fenster in der darunterliegenden Etage zu erhaschen. Auf die Entfernung konnte sie es nicht genau erkennen, doch schien ihr das untere Fenster stärker verschmutzt zu sein.

Sie öffnete ihre geräumige Handtasche und fischte ein Taschentuch aus zarter Baumwolle heraus. Mit dem zusammengeknautschten Tuch wischte sie am Fensterkitt entlang: eine schwarze, schmierig-ölige Spur zeichnete sich ab. Dann spuckte sie etwas Speichel in das Tuch und verrieb vorsichtig den Fleck. Tatsächlich. Am äußersten Rand der Verschmutzung bildete sich eine zarte, blasse, hellrote Spur. Das sah verdächtig nach relativ frischem Blut aus.

«Was machen Sie denn hier oben?», donnerte die empörte Stimme von Lieutenant Balterre neben ihr.

Vor Schreck zuckte sie zusammen, und das Tuch entglitt ihren Händen. «Monsieur Balterre! Müssen Sie mich so erschrecken? O Gott, mein Herz.» Sie griff sich theatralisch an die Brust. Und holte tief Luft, um sich einen Moment zu sammeln. Dabei traf sie blitzschnell eine Entscheidung: Sie wusste selbst nicht, warum, jedoch beschloss sie, ihre Entdeckung erst einmal für sich zu behalten. Flink bückte sie sich, um ihr Taschentuch aufzuheben und es in ihrer Tasche verschwinden zu lassen. «Wollen Sie mich ins Grab bringen, Sie Grobian?»

Schuldbewusst murmelte der Gescholtene etwas Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart, was wahrscheinlich eine Art Entschuldigung sein sollte. Das Ablenkmanöver klappte großartig: Eingeschüchtert von ihrem resoluten Auftritt, vergaß der arme Mann offenbar, sie zurechtzuweisen.

«Geht es Ihnen besser, Madame Bertin?», erkundigte sich Balterre fürsorglich.

«Danke, junger Mann. Es geht schon.» Louise blickte erneut nachdenklich aus dem Fenster auf ihren Garten hinab, doch der Polizist ließ sich nicht abwimmeln.

«Meine liebe Madame Bertin, ich denke, wir sind uns einig, dass es hier nichts Verdächtiges zu entdecken gibt und kein Verbrechen stattgefunden hat. Vielleicht hatten Sie einen lebhaften Traum. Oder etwas hat sich in der Scheibe gespiegelt und ihnen einen optischen Streich gespielt.» Beruhigend legte er ihr eine Hand auf die Schulter.

In Louises Brust kämpften derweil zwei Seelen: die eine wollte recht bekommen, den Polizisten tadeln und nach weiteren Indizien suchen. Die andere wollte schnell nach Hause, um den Teig in den Ofen zu schieben. Sie hatte getan, was getan werden musste, und schließlich war es ja nicht ihre Schuld, wenn die Polizei ihre Arbeit nicht ordentlich erledigte. Sie nickte dem Polizisten zu, der ihr eine Hand reichte und sie die Treppe hinunterführte.

Beim Hinuntergehen sah sich Louise unauffällig die anderen Scheiben des Treppenhauses an, indem sie kleine Verschnaufpausen vortäuschte. Tatsächlich waren die übrigen Fenster allesamt dreckiger als das in der oberen Etage. Auch die Treppenstufen waren in einem schlechteren Zustand, was nicht nur daran lag, dass sie häufiger benutzt wurden. Nein, die oberen Stufen waren eindeutig dunkler, als seien sie noch ein wenig feucht. Louise war sich inzwischen sicher, dass jemand vor kurzem sowohl die Fenster als auch die angrenzenden Treppenstufen gereinigt hatte.

Am Fuß der Treppe stießen sie auf den wartenden Sergeanten. Die beiden begleiteten Louise das kurze Stück zu ihrem Haus und verabschiedeten sich rasch, als sie vor der großen Eingangstür ankamen. Während Louise den Schlüssel aus ihrer Tasche zog und die Tür aufschloss, beobachtete sie, wie die Polizisten durch die Tür der Verkaufsstelle ihre Bäckerei betraten.

Sie öffnete die Wohnungstür und stellte ihre schwarze Tasche auf die kleine Kommode im Eingangsbereich. Routiniert wusch sie sich die Hände und ging zu der mit einem Tuch bedeckten Schüssel. Sie nahm den Teig heraus, knetete und faltete ihn kunstfertig und legte die Rohlinge vorsichtig in die alten Backformen, die ihre Mutter schon zum Backen verwendet hatte. Dann schob sie die Bleche in den Ofen und schloss die schwere Klappe. Jetzt hatte sie etwa eine Viertelstunde Zeit, um sich endlich zurechtzumachen und für den großen Tag angemessen zu kleiden.

Kurze Zeit später rollte eine hellblaue Ente aus der Garage. Madame trug ein dem Anlass entsprechend elegantes Outfit: eine weiße Seidenbluse mit Schluppe, dazu einen schwarzen Blazer, einen schwarzen schmalen Rock und mittelhohe Pumps aus Krokodilleder. Über ihr graues Haar hatte sie ein seidenes Hermès-Tuch gebunden, um ihre Frisur vor dem Fahrtwind zu schützen, denn sie fuhr immer mit offenem Verdeck, wenn es nicht in Strömen regnete. Auch das knallige Chanel-Rot auf den Lippen durfte natürlich nicht fehlen. Auf dem Beifahrersitz stand der Tragekorb aus geflochtener Weide mitsamt den bestellten Baguettes für den Präsidenten und verströmte den appetitlichen Duft des ofenfrischen Gebäcks.

Während sie in rasantem Tempo den Wagen um den Arc de Triomphe steuerte und dabei mehrfach waghalsig die Spur wechselte, wanderten ihre Gedanken erneut zu der unheimlichen Beobachtung vom Morgen. Sie musste unbedingt noch einmal in das Haus und sich gründlich umsehen. Doch jetzt stand erst mal Wichtigeres auf dem Programm. Langsam wuchs ihre Nervosität.

Sie bog um die letzte Kurve in die Avenue de Marigny ein und konnte schon von weitem die bewaffneten Sicherheitsbeamten vor den parkenden weißen Vans erkennen. Ein uniformierter Verkehrspolizist, der vor dem Eingang auf der Straße stand, stoppte ihre langsame Fahrt. Ein voluminöses Funkgerät steckte in seiner Brusttasche und dehnte sie beinahe bis zum Zerreißen aus. Die roten Kordeln, die an seiner linken Schulter an den blau-goldenen Epauletten befestigt waren, hatten sich verdreht, und die blaue Krawatte wölbte sich über dem gewaltigen Bauch. Der Mann hob die weiß behandschuhte Hand zum Gruß an seine Kappe. Sie nickte freundlich zurück. Die beiden hatten sich schon oft gesehen, als sie den abgewählten Präsidenten beliefert hatte.

Auch die Polizisten der Wachstation hoben zum Gruß die Hand und traten zu ihr ans Fenster. Auch wenn sie hier häufiger vorfuhr, musste sie sich doch jedes Mal erneut ausweisen. Die beiden Beamten trugen im Gegensatz zu ihrem Kollegen auf der Straße rot umrandete Kappen auf den Köpfen und deutlich sichtbare Waffen. Während einer Louises Papiere überprüfte, umrundete der andere wachsam ihr Auto und schaute durch die Scheibe auf die Rückbank. Er öffnete schließlich den Kofferraum und kontrollierte das Wageninnere, hob die Verkleidung an und griff in den Radkasten des Reservereifens. Louise kannte die Prozedur bereits und wusste, dass sie exakt sieben Minuten in Anspruch nahm. Diese Zeit musste sie immer zum Verkehrsweg dazurechnen, wenn sie rechtzeitig ausliefern wollte. Doch ihre kleine analoge Uhr in der Mitte des Cockpits zeigte ihr an, dass sie noch Zeit hatte und mehr als pünktlich war.

Ihre Gedanken wanderten erneut zu dem neuen Präsidenten, dem sie gleich zu begegnen hoffte. Noch mehr interessierte sie allerdings die neue Première dame – die Frau des Präsidenten, Francine Bonnet. Sie war eine schillernde Persönlichkeit und füllte täglich die Seiten der nationalen Regenbogenpresse. Francine Bonnet war bildschön, stets perfekt und sehr stilvoll gekleidet, sprach fließend mehrere Sprachen und hatte ein kamerawirksames, sympathisches Lachen und eine gewinnende Ausstrahlung. Das Volk liebte sie, und nicht nur politische Analysten waren sich einig, dass die Wahl ihres Mannes zum ersten Mann des Staates zu einem nicht unerheblichen Teil ihr Verdienst war. Die Sache hatte nur einen Haken: Francine war ein Phantom. Sie war am Anfang des Wahlkampfes plötzlich an der Seite von Charles Bonnet aufgetaucht. Der Presse, der Öffentlichkeit und nicht zuletzt auch dem Geheimdienst war sie vollkommen unbekannt. Schnell kam das Gerücht auf, dass sie mit Kalkül an die Seite des aufstrebenden Politikers gestellt worden war und dunkle Mächte den Wahlkampf unterstützten.

In dem Moment schob der diensthabende Wachmann ihren Ausweis durch das geöffnete Fenster und riss sie aus ihren Gedanken. Sie nickte ihm zu und fuhr durch die schmale Toreinfahrt in der massiven Steinmauer, die den Palast umgab, und nur eine Sekunde später öffnete sich der geschützte Hinterhof des prächtigen Élysée-Palastes vor ihren Augen. Hier standen bereits weitere Lieferwagen, Bedienstete und Lieferanten eilten geschäftig über den Hof. Sie stellte ihre alte Ente ab und stieg aus.

Nicolas Mével eilte ihr schon entgegen. Louise lächelte den Küchenjungen an. Wobei der Begriff «Junge» eigentlich nicht auf Nicolas zutraf – er hatte die Dreißig schon vor einigen Jahren überschritten und arbeitete seit seinem fünfzehnten Geburtstag als Hilfskraft in der Küche des Palastes. Aufgrund seiner geistigen Behinderung war er im Rahmen eines Sozialisierungsprogramms eingestellt worden und seitdem nicht befördert worden. Louise mochte den sanftmütigen Mann, der vielleicht nicht besonders intelligent, aber besonders optimistisch war. Für Nicolas war das Glas sprichwörtlich immer voll, leider auch oft mit Alkohol, weswegen er schon einige Abmahnungen erhalten hatte.

Louise hatte die Beifahrertür von innen geöffnet, da der Mechanismus klemmte und sich die Tür nicht anders öffnen ließ, und Nicolas beugte sich hinein, um den Korb mit dem Brot herauszunehmen. Louise begrüßte ihn und griff in den Korb, fischte eine Papiertüte mit einem noch ofenwarmen Brioche heraus und reichte Nicolas lächelnd die Tüte. Er nahm sie begeistert entgegen, öffnete das Papier und sog genüsslich den verführerischen Duft des Hefebrötchens ein. Strahlend verschloss er die Papiertüte wieder, damit nichts von dem köstlichen Duft verlorenging, und schob sie sich unter seinem Küchenkittel in die Hosentasche seiner weiten, klein karierten Küchenhose.

Dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg zum Hintereingang der großen Küche. Hier standen bereits mehrere Köche und bereiteten ein leichtes Frühstück für den Präsidenten sowie seinen engsten Mitarbeiterstab zu. Nicolas Mével tänzelte in seinem typischen, leicht schwankenden Gang durch die Enge der Küche und stellte den Korb auf der sauberen Edelstahlfläche unter dem Fenster ab. Dort standen schon die Brotkörbe aus frischgeputztem Silber bereit. Nicolas strahlte, als er sein Werk betrachtete. Zu seinen Aufgaben gehörte das tägliche Silberputzen – eine Tätigkeit, die bei den übrigen Küchenangestellten verhasst war. Nicolas dagegen liebte diese Aufgabe. Mit unermesslicher Geduld saß er täglich auf seinem Holzstuhl am Fenster und polierte mit einem feinen Tuch das Silber, bis kein Fingerabdruck und kein Fettfleck mehr zu sehen waren.

Jetzt zog er die dünnen, weißen Stoffhandschuhe aus seiner Kitteltasche und streifte sie über. Andächtig nahm er einen silbernen Brotkorb und legte das weiße Baumwolltuch mit dem gesticktem Wappen des Palastes hinein. Louise beobachtete ihn gerne dabei: Ganz in seine Welt versunken, verrichtete er seine Tätigkeit mit einem Ernst, der seine Wertschätzung für diese Arbeit widerspiegelte. Um ihn herum herrschten der Lärm, die Hektik, das Chaos einer Profiküche, doch um Nicolas herum schien die Zeit wie in einer Blase stillzustehen. Nachdem er die Brotkörbe vorbereitet hatte, schnitt er das frische Baguette und legte es vorsichtig in die Körbe. Er trat einen Schritt zurück, betrachtete sein Werk und veränderte hier und da die Lage der einzelnen Brotstücke. Schließlich zeigte ein Strahlen, dass er mit dem Ergebnis zufrieden war. Dann zog er den Stuhl ans Fenster, holte Louises Geschenk aus der Hosentasche und setzte sich. Seine Arbeit war nun getan, und er hatte Pause.

Louise setzte sich zu ihm ans Fenster und schaute dem lebhaften Betrieb in der Küche zu. In ein paar Minuten würde einer der Bediensteten kommen, das vorbereitete Tablett mit den Brotkörben nehmen und zum Präsidenten bringen. In etwa einer halben Stunde würde der Präsident dann in die Küchenräume kommen, um sich für sein erstes Frühstück als Präsident der großen Nation persönlich zu bedanken – so wollte es die Tradition.

Nachdenklich betrachtete Louise die blitzblank geputzten Oberflächen der hochmodernen Küche. Hier hatten Blutspritzer bestimmt keine Chance. Die Ereignisse vom Morgen holten sie wieder ein. Es konnte doch nicht sein, dass sie sich die blutige Hand eingebildet hatte. Nein, sie war sich sicher, dass sie Zeugin eines schrecklichen Vorfalls geworden war. Sie würde der Sache auf den Grund gehen, sobald sie wieder zu Hause war.

Entschlossen griff sie nach ihrer Tasche und zog das Kreuzworträtselheft heraus, um sich zu beschäftigen. Hektisch blätterte sie die Seiten um, die bereits ein wenig wellig waren – war denn keine einzige Seite mehr frei? Schließlich fand sie ein nahezu ungelöstes Rätsel und begann penibel die Kästchen auszufüllen. Die meisten waren typische Fragen, die sie einfach abarbeitete, ohne groß darüber nachdenken zu müssen. Dann blieben noch etwa eine Handvoll kniffligere Aufgaben offen, über die sie etwas länger nachdenken musste. Angebot – Offerte, tiefe Männerstimmlage – Bariton, Ausguck auf Schiffen – Mastkorb, Ränkespiel – Intrige, chem. Mittel zur Sichtbarmachung von Blutspuren – Luminol, Mutter des Apollo – Leto, dünne Baumwollschnur – Gimpe … Aus dem G ergab sich dann auch – gefeit für immun.

Louise stutzte und ließ den Stift sinken. Erneut las sie ihre Eintragungen: Luminol – Chemisches Mittel zur Sichtbarmachung von Blutspuren. Sie kannte die Lösung dieser Frage, da sie regelmäßig im Rätselheft auftauchte, aber nicht, was genau dahintersteckte. Luminol. Sie umkringelte den Begriff dick mit dem Kugelschreiber. Das war etwas, das sie unbedingt recherchieren musste. Und sie hatte auch schon eine Idee, wie sie das anstellen würde.

Zufrieden mit ihrem Plan für den Nachmittag, verstaute sie das zerfledderte Heft wieder in ihrer geräumigen Tasche, nahm den Lippenstift heraus, überprüfte mit Hilfe ihres eleganten Taschenspiegels den akkuraten Sitz ihrer Haare und zog die Lippen nach. Anschließend puderte sie noch eine zarte Schicht über ihr Gesicht und verstaute schließlich alles wieder in der Tasche.

Die hektische Stimmung in der Küche schien sich noch zu steigern. Und jetzt hörte sie es auch: das Geräusch schwerer Stiefel auf den alten Holzdielen, die sich rasch näherten. Die Sicherheitsbeamten des Präsidenten waren bereits auf dem Flur vor der Küche. Augenblicklich erstarb jedes Geräusch in der Küche. Alle Mitarbeiter hielten in ihrer Arbeit inne und blieben einen Moment wie versteinert stehen. Dann kam wieder Bewegung in die Küchenangestellten. Sie setzten schnell Töpfe und Kochlöffel ab, um die Hände frei zu haben, und zogen Pfannen und Töpfe vom Feuer, um zu verhindern, dass etwas anbrannte. Mit einem lauten Gepolter kam die Wache vor der Tür zum Stehen. Jetzt war es so weit: Der neue Präsident Frankreichs würde jeden Moment durch diese Tür treten. Louise holte tief Luft und hielt sich mit der Hand an der Stuhllehne fest, damit sie sich zu ihrer vollen Größe aufrichten und dem Präsidenten mit geradem Rücken die Hand geben konnte.

Die Tür öffnete sich schwungvoll. Zwei uniformierte Sicherheitsbeamte des Inneren Corps betraten geräuschvoll den Raum und prüften rasch die Lage. Dann betraten zwei Männer mit In-Ear-Verkabelung an den Revers ihrer dunklen Anzüge den Raum und blickten sich ebenfalls schnell, aber gründlich um. Louise fand den Auftritt der Sicherheitsmänner mit ihren dunklen Sonnenbrillen etwas übertrieben, da doch bereits alle Personalien und Taschen im Vorfeld überprüft worden waren.