Der Duft der großen weiten Welt - Irmela Hauffe - E-Book

Der Duft der großen weiten Welt E-Book

Irmela Hauffe

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Beschreibung

Wo finde ich ihn, den Duft der großen weiten Welt? Kann man ihn überhaupt riechen? Haben Sie eine Ahnung, wie es in Marrakesch riecht? Hätte der Geruch in einem Reiseführer gestanden, wäre ich vielleicht nicht dorthin gefahren. Aber in welchem Reiseführer werden schon solche Nichtigkeiten erwähnt?! Gerüche beschäftigen mich seit meiner Kindheit. Aber sie haben sich in meinem Umfeld im Laufe der Jahrzehnte verändert. Ich habe herausgefunden, dass es typische Gerüche eines Landstrichs, einer Stadt oder einer Insel gibt. Von vielen Städten meiner Reisen bin ich überrascht, weil ich mir einen anderen Geruch für diese Region vorgestellt habe, als er in Wirklichkeit ist. Vielleicht schaffe ich es eines Tages mit verbundenen Augen anhand des Geruches herauszufinden, in welcher Stadt ich mich gerade befinde?! Das wäre mal eine Herausforderung!

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Inhalt:

Wo finde ich ihn, den Duft der großen weiten Welt? Kann ich ihn überhaupt riechen?

Haben Sie eine Ahnung, wie es in Marrakesch riecht? Hätte der Geruch in einem Reiseführer gestanden, wäre ich vielleicht nicht dorthin gefahren. Aber in welchem Reiseführer werden schon solche Nichtigkeiten erwähnt?!

Gerüche beschäftigen mich seit meiner Kindheit. Aber sie haben sich in meinem Umfeld im Laufe der Jahrzehnte verändert.

Ich habe herausgefunden, dass es typische Gerüche eines Landstrichs, einer Stadt oder einer Insel gibt. Der gleiche Ort riecht zu jeder Jahreszeit anders. Von vielen Städten meiner Reisen bin ich überrascht, weil ich mir einen anderen Geruch für diese Region vorgestellt habe, als er in Wirklichkeit ist.

Überall auf der Welt begegnen uns Düfte. Mal sind sie angenehm, mal ekel ich mich davor. Jetzt, da ich älter werde, merke ich, dass mein Geruchssinn nachlässt. Ich muss mich also beeilen, wenn ich noch ein paar dufte Reiseziele ansteuern will.

Irmela Hauffe ist 1954 in Duisburg geboren. Sie hat Chemie und Textilgestaltung/Kunst für das höhere Lehramt studiert. Als freischaffende Künstlerin ist sie Mitglied des Dormagener Organisationsteams für Kunstausstellungen D ´Art.

www.irmela-hauffe.de

Irmela Hauffe hat viele Jahre an der Rezeption einer Seniorenresidenz gearbeitet. Jetzt ist sie tätig als Betreuerin an einer Ganztagsschule.

Nach der Geburt ihrer Enkel hat sie zwei Kinderbücher geschrieben und illustriert, jedoch nicht veröffentlicht: „Der Kuckuck“, „Farbenspiele“

Ihr erstes veröffentlichtes Buch heißt:

„Ruhestand- Ab morgen habe ich Zeit“ und ist 2016 erschienen.

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

RUHRGEBIET, NRW, DEUTSCHLAND

WAYNESBURG, PENNSYLVANIA, USA

MAROKKO, AFRIKA

MANHATTAN, NEW YORK CITY, USA

INSEL GOZO, MALTA

ROM, ITALIEN

ST. PETERSBURG, RUSSLAND

LANGEOOG, OSTFRIESLAND, DEUTSCHLAND

Vorwort

Wissen Sie, was ein Olf ist? Keine Ahnung? „Wer muss das wissen?“, denken Sie. Ein Architekt zum Beispiel. Oder ich, denn diese Olfs begleiten mich auf meinen Reisen. Ein Olf ist eine Maßeinheit für die Stärke einer Geruchsquelle. Sie wird gemessen mit einem hochsensiblen Apparat, genannt Nase. Geschulte Testpersonen haben die Geruchsstärke erschnüffelt und ihnen einen Wert zugeordnet, den Olf. Der Name stammt von seinem Erfinder, Professor Ole Fanger aus Dänemark und wird seit 1988 offiziell benutzt. Ein Erwachsener, der täglich duscht, täglich die Wäsche wechselt und im Büro arbeitet verströmt 1 Olf. Ein Raucher hat 25 Olf. Ein Sportler 30 Olf. Je mehr geschwitzt oder gestunken wird, desto mehr Olf. Es müssen aber nicht nur schlechte Gerüche sein, die den Olf-Wert ausmachen. 30 Olf können auch von einem Parfüm ausgehen. Die Stärke eines Geruches ist ausschlaggebend für den Wert. Wenn Architekten zum Beispiel ein Bürogebäude bauen, so können sie mit unterschiedlichen Baumaterialien ein angenehmes Raumklima schaffen. Marmor riecht anders, beziehungsweise weniger als Holz. Je besser es im Büro riecht, desto lieber kommt man zur Arbeit. Das hat man herausgefunden. Gerüche wirken im Gehirn direkt auf das limbische System, das zuständig ist für Emotionen wie Angst oder ein Glücksgefühl. Auch körperliche Funktionen können über Gerüche gesteuert werden. Riecht etwas angenehm, wird die Speichelproduktion angeregt. Schlechte Gerüche können sogar Übelkeit und Brechreiz auslösen.

Es gibt typische Gerüche eines Landstrichs, einer Stadt oder einer Insel. Der gleiche Ort riecht zu jeder Jahreszeit anders. Den würzig, salzigen Geruch von Seetang, Salzwiesen und Krebsen im Wattenmeer der Nordsee vermisse ich im Frühjahr. Ende des Sommers ist er erst wieder da. Das ist wichtig zu wissen, wenn ich meinen Urlaub plane. Manhattan in New York City riecht nach Abwässern, Müll und Abgasen. Beziehungsweise stinkt danach. Jetzt könnte man meinen, dass es auch in Venedig nach Abwässern stinkt. Das stimmt. Und dennoch unterscheiden sich diese Gerüche insofern, als dass in Venedig noch der faulige Geruch von Algen hinzukommt. Den ich aber als angenehm empfinde. Dafür fehlen die stinkenden Abgase der Autos.

Ganz allgemein kann ich jetzt schon sagen, dass die Gerüche in einer warmen Umgebung um etliches intensiver sind, als bei Kälte. Wer also eine Reise plant und gerne den Duft der großen weiten Welt atmen möchte, muss sich einen Termin im Sommer wählen. Im Winter, wenn es kalt ist, sind die Gerüche erfroren.

Vielleicht schaffe ich es eines Tages mit verbundenen Augen anhand des Geruches herauszufinden, in welcher Stadt ich mich gerade befinde?! Das wäre mal eine Herausforderung!

Ruhrgebiet, NRW, Deutschland

Wie alles anfing. Ich bin im „Ruhrpott“ groß geworden. Das ist in Nordrhein-Westfalen. Da qualmten die Schornsteine der großen Fabriken ihren gelben, schwefeligen Dampf aus den Schloten. Alle paar Tage wurden die Hochöfen abgestochen, und meterhohe Feuerfontänen färbten den Duisburger Himmel rot vom brennenden Stahl. Es sah gespenstisch, aber auch wunderschön aus. Wir Kinder kannten diese Prozeduren der Hüttenwerke und hatten keine Angst vor der Feuersbrunst. In manchen Stadtteilen roch es nach Malz. Da war die Bierbrauerei nicht mehr weit entfernt. Öffneten wir die Fenster, so wussten wir immer aus welcher Richtung der Wind wehte. Wenn es nach Schwefel roch, hatten wir Westwind. Schönes Wetter mit Wind aus Osten kündigte sich mit dem Gestank der Brauereien an. Für diese Gegend vergebe ich locker 80 Olfs. Viele Väter und Großväter meiner Klassenkameraden waren Bergmannsleute bzw. Grubenmänner und fuhren unter Tage. Sie gingen zum Pütt, so sagte man. Die Kohlezechen hatten Hochkonjunktur. Und überall wurde die Steinkohle zum Heizen eingesetzt. Die schweren Jutesäcke mit den Steinkohlebriketts wurden auf LKWs verladen und zu den Haushalten geliefert. Die Kohlenmänner packten sie sich auf den Rücken und schleppten sie zu den Kelleröffnungen. Bei meinen Großeltern gab es eine Kellerluke am Bordstein, durch die mehrere Säcke mit Steinkohlebriketts hinein geschüttet wurden. Das war Vorrat für etwa einen Monat. Wir durften den Kohlekeller erst eine Stunde später betreten, da sich der Staub des schwarzen Goldes noch legen musste. Erst danach wurden die Briketts feinsäuberlich wie Goldbarren gestapelt. Duisburg, Oberhausen und all die anderen Städte des Ruhrgebietes rochen nach Schwefel, Stahl und Kohle. Das Ruhrgebiet qualmte, puffte, stank und war unglaublich lebendig. Meine Nase war geübt im Umgang mit den verschiedensten Gerüchen.

Unser Schulweg zur Volksschule, wie die Grundschulen damals hießen, führte erst durch die Einkaufsstraße. Mindestens einmal in der Woche kauften wir vor dem Unterricht für zehn Pfennig eine Tüte loses Sauerkraut beim Metzger ein. Es schmeckte wunderbar. Und dann ging der Weg weiter bis zu einer roten Backsteinmauer, die so hoch war, dass wir nur mit Hilfe einer Räuberleiter über sie hinweg gucken konnten. Wir wussten ja längst, was hinter der Mauer verborgen lag, aber wir gruselten uns jeden Tag gerne aufs Neue. Wer war diesmal mutig und traute sich, über den Rand zu schauen? Im Innenhof lagen nämlich blutverschmierte Skelette von geschlachteten Pferden, die mitten im Wohngebiet von der benachbarten Pferdemetzgerei in dem Hof entsorgt wurden. Es stank bestialisch nach geronnenem Blut und verwesten Hautfetzen, und die Fliegen und Katzen umkreisten die Kadaver. Mal lag nur ein abgehackter Pferdekopf, mal das ganze Gerippe auf dem Boden. Schreiend, aber erleichtert, dass wir diese Mutprobe überlebt hatten, rannten wir die letzten Meter bis zur Schule.

Fünfzig Jahre später haben sich die Gerüche meiner Kindheit verändert, denn es gibt vom Gesetz vorgeschriebene Geruchsfilter für die Schornsteine. Kaum noch einer heizt seine Wohnung ausschließlich mit Kohle. Das Gemüse wird vorzugsweise vakuumverpackt angeboten oder eingefroren. Autos bekommen Abgasfilter und stinken ab sofort anders, aber nicht besser. Rosen versprühen nicht mehr ihren verführerischen, zarten Duft, weil sie so gezüchtet werden, dass sie schnell wachsen und robust gegen Ungeziefer sind. Tomaten riechen und schmecken nur selten noch nach Tomaten. Vieles ist überzüchtet und geruchslos. Mein Gedächtnis für alle gesammelten Gerüche funktioniert bis heute einwandfrei. Und was noch famoser ist, wir Menschen haben gelernt, uns bestimmte Düfte zu Nutze zu machen, indem wir zum Beispiel ein verführerisches Parfüm benutzen, um einen Partner anzulocken. Einige Säugetiere markieren ihr Revier mit Duftmarken. Wir Menschen müssen da ein wenig nachhelfen. „Ich kann dich gut riechen“, oder „das ist dufte“, sind bekannte Redensarten, die ausdrücken, das einem etwas gefällt. Was für die einen gut riecht, riecht aber für mich noch lange nicht gut. Gerüche werden subjektiv wahrgenommen. Das ekelige Parfüm meines Onkels erkenne ich bis heute mit verbundenen Augen, auch wenn er schon Jahrzehnte unter der Erde liegt. Ich glaube, er hat den Duft gemocht und seine Frau auch. Umgekehrt ist es genauso. „Hier riecht es lecker“, sage ich, wenn ich an einer Tankstelle stehe oder wenn ich eine voll gekackte Babywindel wechsele. Andere halten sich ihre Nase zu, weil es für sie stinkt. Eine zigarettenverqualmte Bude riecht für mich richtig fies, ebenso abgestandenes Bier oder Erbrochenes. Dann muss ich aufpassen, dass ich nicht selbst kotzen muss.

Ich vermisse viele Gerüche aus meiner Kindheit, wie zum Beispiel den modrigen Holzgeruch der Sitzbänke im Burgtheater. Heute sind die Bänke aus Kunststoff. Und ich vermisse den Geruch der Molkerei, die es früher in jeder Stadt gab. Täglich fuhr ein Milchwagen durch unsere Straße, und die Mütter konnten frische Vollmilch aus einem Zapfhahn in eine 10l Milchkanne pumpen. Die Milch roch herrlich frisch und schmeckte köstlich. Dieser Milchwagen war Treffpunkt aller Frauen in der Straße und wurde genutzt, um ein ausgiebiges Quätschchen zu halten. Heute wird die Milch pasteurisiert und entrahmt. Das nimmt ihr den Duft und den Geschmack. Im Supermarkt riecht die Milchabteilung nach gar nichts.

Doch zum Glück gibt es sie noch- die guten Düfte meiner Kindheit. Jeder weiß wie ein Wald riecht, wenn es geregnet hat. Er duftet nach feuchter Erde, vermoderten Blättern und frischem Holz. Laubwälder riechen wieder anders als Nadelwälder. Fichten, Kiefern und Tannen duften nach würzigem Harz, das wie zäher, klebriger Honig an der Rinde hinab tropft. Der Geruch von Laubwäldern ist feuchter und frischer. Wenn die Pilze im Wald wachsen, duftet der Waldboden würzig und erdig. Wir wissen wie es riecht, wenn das Gras frisch gemäht wird. Das erste Rasenmähen des Jahres kündigt den Sommer an mit seinem Geruch nach süßlich trockenem Heu.

Haben Sie den Geruch eines Opernhauses in der Nase? Das Publikum sitzt auf seinen Plätzen in den Rängen und Logen oder im Parkett, die Musiker finden sich mit ihren Instrumenten ein und üben kleine Passagen. Jeder für sich. Es ist ein lustiges Stimmengewirr aus Instrumenten und lebhaften Gesprächen der Zuschauer. Selbst die Luft im Zuschauerraum fängt an, sich zu bewegen und bis auf die höchsten Plätze hinauf zu tanzen. Eine Duftwolke aus Holz und Parfüm. Irgendwann schließen sich die Türen zum Foyer, und das Licht der prächtigen Kristallleuchter geht langsam aus. Alles wird still. Die Luftbewegung lässt spürbar nach. Es ist, als würde die Duftwolke wie ein Nebel niedersinken. Schließlich naht der Dirigent. Er wird mit Beifall begrüßt. Danach herrscht wieder Stille. Der Dirigent hebt seinen Taktstock. Die ersten Töne zur Ouvertüre erklingen, erst zaghaft, dann immer mutiger. Wenn dann der schwere Samtvorhang hinter dem Orchestergraben zur Seite gleitet, um die Bühne frei zu geben, dann strömt eine warme Wolke aus parfümiertem Puder und Kostümen, die in der Sommerpause einen leicht modrigen Kellermief angenommen haben, zu den Rängen empor und lässt die Zuschauer träumen und genießen. Dieses Zusammenspiel von Musik, herrlichen Düften und wunderbaren Kostümen auf der Bühne geht mir unter die Haut. Es ist ein Genuss für all meine Sinne.

Ich kann es riechen, wenn sich der erste Schnee ankündigt. Dann verfärbt sich der Himmel in ein eigenartiges Grau, das anders ist als das Grau des Novembernebels. Und dann kann ich die ersten Schneeflocken riechen. Leider geschieht das immer seltener im Ruhrgebiet.

Und weil mir Gerüche so wichtig sind, plane ich Urlaube an immer anderen Flecken der Erde. Ich habe bereits bestimmte Vorstellungen vom Geruch einer Stadt. Wenn ich dann vor Ort bin, trifft mich der tatsächliche Geruch unerwartet. Ich kenne keinen Reiseführer, der die Aspekte der Düfte mit erwähnt. Sind mir die fremden Gerüche angenehm oder widerwärtig? Das will ich herausfinden. Immer der Nase nach.

Waynesburg, Pennsylvania, USA

„Hier sind irgendwo Marienkäfer.“ „Was ist los?“, fragt mich meine Kusine. „Ich kann sie riechen.“ „Wen?“ „Die Marienkäfer.“ Und tatsächlich. Da krabbeln die ersten Käfer in den Ecken. „Ich rieche nichts. Wonach riechen sie denn?“ „Sie riechen bitter und unangenehm. Sie stinken.“ Natürlich rieche ich den Käfer nicht, wenn er sich alleine in einem Raum befindet. Da bedarf es schon ein paar mehr Krabbelkäfern. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diese kleinen Tierchen einmal ekelig finden würde. Als Kind habe ich sie gerne auf meine kleinen Fingerchen gesetzt und ihnen zugeschaut, wenn sie meinen Arm hinauf liefen. Aber jetzt? Undenkbar!

Im Frühjahr des letzten Jahres plante ich einen 14-tägigen Urlaub in Pennsylvania, USA. Meine Kusine hatte mich zu sich eingeladen. Aus beruflichen Gründen waren sie und ihr Mann für ein paar Jahre in die Universitätsstadt Waynesburg gezogen. Dort bewohnten sie vor den Toren der Stadt ein hübsches, typisch amerikanisches Häuschen mit überdachter, holzverschnörkelter Veranda, auf der ein Schaukelstuhl leicht im Wind hin und her wippte. Dieses Haus hätte in jedem Westernfilm eine Hauptrolle bekommen können, so idyllisch sah es aus. Vor den Toren der Stadt bedeutet in den USA etwa eine Stunde Autofahrt. Um das Haus herum gab es saftige Weiden, auf denen zahlreiche Kühe und Ochsen zu sehen waren. Es roch nach frischem, kühlen Gras, Kuhfladen und ersten Frühlingsblumen. In der Ferne grasten zwei Pferde. All diese Tiere gehörten zum Inventar des Hauses. Die Landschaft war hügelig und weitläufig, wobei sich Wiesen und Wälder abwechselten. Eigentlich sah es aus wie im Sauerland, nur dass die Ortsnamen fremd klangen. Obwohl mir ein Städtename bekannt vorkam: Washington. Da wollte ich ja sowieso mal hin. Die Obamas sehen. Ich hätte nie gedacht, dass meine Kusine so nah bei Washington lebt. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie nur: „Nicht D.C.“ Mist!

Nun ja, hier war es ja auch schön. Aber einsam. Sehr einsam. Der nächste Nachbar wohnte etliche Kilometer weiter den Hügel hinunter. Wenn man Glück hatte, kam im schneereichen Winter einmal am Tag ein Schneeschieber vorbei. Wenn nicht, dann wurde es schwierig mit den täglichen Einkäufen. Ohne Jeep mit Ketten ging dann gar nichts mehr.

Und was sich außerdem zum Sauerland unterschied: es gab hier keine gekennzeichneten Spazier- und Wanderwege. Entweder man lief am Straßenrand oder querfeldein durch die Walachei. Amerikaner gehen wohl nicht spazieren, sie fahren lieber mit dem Auto. Meine Kusine erzählte mir, dass sie beim Gassi gehen mit ihrem Hund von vorbeifahrenden Autofahrern angesprochen wurde, ob sie Hilfe brauche, weil sie in der Wildnis zu Fuß unterwegs wäre. Ob es hier doch Gefahren gibt, die auf den ersten Blick nicht zu sehen sind?

Ich bin aber im Frühjahr gekommen. Ein frischer Wind weht mir um die Nase. Ganz allmählich nehmen die Wiesen eine grüne Farbe an, auch wenn es täglich noch kalte Schneeflocken schneit. Aber in der Mittagssonne taut die leichte Schneedecke und wärmt die ersten Knospen der Narzissen, Primeln und Schneeglöckchen. Ganz vorsichtig schicken diese zarten Knospen ihre Düfte übers Land, so als wollten sie den Frühling herbei sehnen. Ich bin neugierig auf das Haus. Die Außenwände des Holzhauses sind hellgrau gestrichen, die Fensterläden sind weiß und passen sehr gut in diese ländliche Gegend. Die benachbarte Garage ist fast genauso groß wie das eigentliche Wohnhaus, was bei Amerikanern selbstverständlich ist, da sie alle sehr große Autos fahren oder sogar zwei. Da ist eine Garage in XXL Standard. Wenn das Wohnhaus außen schon so hübsch aussieht, wie wird es dann drinnen aussehen? Meine Kusine ist schon immer ein Freund von schöner Deko gewesen. Alles, was auf dem Fenstersims, im Vorgarten oder auf der Veranda zu sehen ist, ist handmade. Auswanderer aus Deutschland dekorieren ihr neues Zuhause gerne mit typisch deutschen Dingen, wahrscheinlich um das Heimweh zu lindern. So auch meine Kusine. Gartenzwerge zum Beispiel sind eindeutig deutsch. Die kann ich auf den ersten Blick aber gar nicht erblicken, dafür sehe ich hölzerne Leuchttürme im Fenster baumeln, Muscheln im weichen Nordseesand im Beet vor der Veranda, Möwen aus Keramik etc. Die erste Tür nach den zwei Stufen ist die Tür mit dem Fliegengitter und lächerlich kleinem Haken, an dem die Tür geschlossen werden kann. Danach kommt die eigentliche Eingangstür. Sie ist gemäß Deutscher Sicherheitsvorschriften jämmerlich. Aber wer will schon in so einer verlassenen Gegend einbrechen? Trotzdem gibt es in diesem Haus ein Jagdgewehr, um sich bei Gefahr verteidigen zu können. Sollte es hier vielleicht wilde Tiere wie Bären oder Wölfe geben? Die Grenze zu den kanadischen Wäldern ist ja nur einen Katzensprung, etwa 400 Kilometer, entfernt. Die Spuren im leichten Schnee deuten auf keine Gefahr hin. Hier haben sich lediglich kleine Vögel getummelt, um an die Meisenknödel zu kommen. Und dann betrete ich die Diele des Hauses. Ja, genauso habe ich mir dieses Haus vorgestellt. Mein erster Freund hatte in den 70-er und 80-er-Jahren jede Folge ´Bonanza´ und ´Winnetou´ Teil 1-3 im Fernsehen gesehen. Ihm zuliebe habe ich mit geschaut. Daher weiß ich, wie die amerikanischen Häuser aussehen. Alles ist aus Holz gebaut. Der Fußboden, die Decken, die Treppen, die Schränke, selbst eine Kaminattrappe. Meinen Koffer kann ich im Gästezimmer abstellen, das sie für mich hübsch hergerichtet haben. „Hier ist das Zimmer, in dem du am ungestörtesten bist“, sagt meine Kusine. Ich weiß erst nicht, wie sie das meint. Hier ist es doch so ruhig und einsam, dass man von niemandem gestört werden kann. Selbst mein Handy bleibt still, denn es hat keinen Empfang in dieser Umgebung. Dafür muss ich es alle paar Stunden aufladen, weil die ständige Sucherei nach einem Empfang den Akku strapaziert. Irgendwann mache ich mein Handy einfach aus. Dann wollen mir die beiden das ganze Haus zeigen. Hinter der nächsten Tür befindet sich die große Wohnküche. Ein seltsamer Geruch steigt mir in die Nase. Es riecht penetrant modrig und bitter. Vielleicht wird hier mit anderen Gewürzen gekocht, denke ich mir.