Der Duft von Argentinien - Oliver Konrad Gerbig - E-Book

Der Duft von Argentinien E-Book

Oliver Konrad Gerbig

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Beschreibung

Die Geschichte beginnt in Berlin 2022 mit der Erzählung eines alten Tango-Tänzers, der durch ein Musikstück in seinen Erinnerungen in die Vergangenheit versetzt wird. Esperanza Darno, deutsch-argentinische Sängerin, und El Ruso, polnischer Geiger, zwei Menschen, deren Herkunft nicht unterschiedlicher sein könnte, flüchten aus dem zerstörten Europa des Zweiten Weltkriegs. Sie führen sehr unterschiedliche Leben in der vom Tango durchtränkten Metropole von 1945. Die Musik und der Tango bringen sie zusammen und sie bauen sich in Buenos Aires ein neues Leben auf. Sie verlieben sich in der musikalischen Welt der Tango-Orchester, die nach 1945 ihre Blütezeit erlebten. Esperanza und El Ruso genießen die wunderbare Welt der Tango-Musik und der vom Tango begeisterten Menschen. Auf einer Tournee ihres Orchesters staunen sie über die Schönheit und Vielfalt Argentiniens. Das neu gefundene Leben und die Liebe werden jedoch in Gefahr gebracht, als Schatten der Vergangenheit auftauchen. Romantisch wie eine erste zarte Berührung. Dramatisch wie ein Tango. Musikalisch wie der sehnsüchtige Ton eines Bandoneons. Dieser Roman umspinnt die geschichtlichen Ereignisse der Zeit nach dem 2. Weltkrieg in Argentinien mit einer ergreifenden Liebesgeschichte. Kaufen Sie jetzt Ihr Exemplar und tauchen Sie ein in eine Welt von Liebe, Musik, Abenteuer und Geschichte. (überarbeitete und erweiterte Auflage)

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Der Duft von ArgentinienRoman(2. korrigierte und ergänzte Auflage)von Oliver Konrad Gerbig

Copyright © 2023Oliver Konrad Gerbig

Inhaltsverzeichnis

Museumsinsel Berlin, Samstag, 16.07.2022

New York City, 1961

Silvester, 1922

SCALA Cabaret Berlin, 14 Jahre später

Theater Lemberg, (Liev) Polen 1943

Cabaret de Paris, August 1944

Hafen von Genua

Conventillo 1945

Bienvenidos

Conventillo 2, 27. Januar 1945

Fabrizio

Cambio de sentido – Richtungswechsel - 10. Juni 1945

Das Vorspielen, Januar 1946

El Rusos Chance

Esperanzas Herausforderung

El Maestro

Das Orchester

Amorada

Maria Restelli

Carlos Rodríguez, 1947

Conventillo 3

El Tango, 1948

Die Natur

Die Frage

Die Vergangenheit

Die Weite Argentiniens

Malbec y Asado

Montevideo

Die Ratten kommen, Februar 1949

Vergebung

Der Plan

Der lange Weg

Der Ball

Das Apartment

Das andere Leben, 1950

Villa Devoto

Die Indoktrinierung

Doppelleben, 1955

Die Entdeckung

Corpus Christi, 09. Juni 1955

Enigma, 14. Juni 1955

La Noche, 15. Juni 1955

Schatten

Plaza de Mayo, 16. Juni 1955

Museumsinsel, Berlin 2022

Epilog

Epilog - Berlin, 2023

Epilog - Im Hafen von Genua, 2024

Epilog - In Richtung Südamerika

Epilog - Argentinien 2024

Nachwort – Danksagung

Historische Referenzen

Tragende Figuren des Romans

Über den Autor

Impressum

Museumsinsel Berlin, Samstag, 16.07.2022

„Alles Gute zum Geburtstag, Carlos Rodríguez", scheint Chico, mein blauer Wellensittich zu zwitschen. "Neunzig, unglaublich, seit heute bist du tatsächlich neunzig Jahre alt“, rede ich fast erstaunt mit mir selbst und stelle fest, dass meine Stimme über die Jahrzehnte einige Patina angesetzt hat.Ich stehe vor dem Spiegel und versuche vergeblich, die Züge jenes jungen Mannes wiederzufinden, der einst in Buenos Aires aufgewachsen ist.

Heute ist es so wie seit zweiundsiebzig Jahren. Ich hole meinen dunklen Zweireiher-Anzug im Stil der vierziger Jahre aus dem Schrank. Meine schwarzen Tangoschuhe bewahre ich in der Kiste auf, in der ich 1955 mein erstes Paar kaufte. „Der alte Karton“, lächele ich. Er ist inzwischen abgegriffen und blass. Früher leuchtete er in bunten Farben und die argentinische Flagge mit ihrem herrlichen Hellblau in verschlungenen Ornamenten und Blumen zierte den Deckel. Jedes Mal, wenn ich ihn verschließe, lege ich neue Erinnerungen mit hinein. Glückliche Bilder der Vergangenheit, die verschwommen im Spiegel hinter meinem Gesicht erscheinen. Inzwischen sind es viele glückliche Momente, die mein Leben bereichert haben. Jahre, in denen ich fast täglich umarmt von schönen Frauen über die Parkettböden der Welt geschwebt bin. Mit den Füßen habe ich Gedichte auf den Boden geschrieben. Ich empfinde unendliche Dankbarkeit für das Leben, welches der Tango mir beschert hat. Jede dieser Umarmungen habe ich in mein Herz geschlossen.Der Duft der Frauen bringt mich auch heute noch um den Verstand. Eine kleine Berührung lässt mich noch so erzittern wie damals in Buenos Aires, als ich mit achtzehn Jahren das erste Mal zu einer Milonga ging. Milonga, eine dieser dumpfigen, lasziven Tangoveranstaltungen, in denen die Realität verschwindet und Menschen eins werden mit dem Partner und der Musik.„Na, wie sehe ich aus?“, frage ich Chico. Der kleine Wellensittich legt den Kopf schräg und piepst munter vor sich hin. Er schaut mich mit seinen schwarzen Knopfaugen anerkennend an, dann flattert er zurück in seinen Käfig.

Das Leben hat mich nach Berlin verschlagen. Viele Jahre durfte ich als Botschafter des Tangos in dieser Stadt unterrichten. „Weißt du, Chico“, rede ich vor mich hin und gebe ihm frisches Wasser, „ich habe hier das geteilte Berlin erlebt, die Mauer und deren Fall. Am neunten November 1989 habe ich auf der Mauer Tango getanzt. In einer innigen Umarmung verschmolzen damals Ost und West an der Stelle, an der Menschen starben, um ihrem Traum nach Freiheit zu folgen. Jubel, Zorn, Verachtung, Hass, Sehnsucht und alle Gefühle, zu denen die Menschheit fähig ist, wiedervereinigten sich zu Frieden und Harmonie. Kapitalismus und der real existierende Sozialismus fanden Frieden bei diesem denkwürdigen Mauer-Tango, noch lange bevor es die Menschen taten.Eben noch hatte ich als sogenannter Mauerspecht ein großes, buntes Stück Berliner Mauer mit Hammer und Sichel – Oh, Entschuldigung, Meißel, natürlich - herausgebrochen. Heute noch liegt es da drüben im Regal, neben der russischen Pelzmütze“, erkläre ich dem Wellensittich und nehme die Mütze heraus. „Schau mal, vorne drauf ist noch der Stern der UdSSR“, poliere ich diesen mit dem Ärmel, während Chico genüsslich seine Hirsestange zerlegt.„Hier, mein alter Kassettenrecorder. Der lag oben auf der Mauer“, krame ich in einer der Schubladen. “Was hatte ich bloß laufen lassen?“, versuche ich mich zu erinnern. „Ach ja, La Yumba, kennst du doch, von meinem Lieblingsorchester“, summe ich Chico die Melodie vor. „Jedenfalls tönte das Stück laut und blechern aus dem voll aufgedrehten Lautsprecher“, kommen die Eindrücke dieses Tages zurück, und ich nehme einen Fussel von der Jacke, bevor ich ein zur Krawatte passendes Tuch in die Brusttasche stecke.„Ach, was interessiert dich denn Buenos Aires und das fantastische Orchester von Osvaldo Pugliese?“, schaue ich Chico gedankenverloren an. Er schaut kurz zurück und hackt noch die letzten Hirsekrümel von seinem Holzstab.Die Sonne strahlt hell in meine schöne Altbauwohnung in Köpenick. Mein Blick fällt auf den Schreibtisch, den Kalender, der Samstag, den 16. Juli 2022 anzeigt, und auf einen Bleistift. Ich muss lachen, als mir klar wird, dass heute wohl kein Jugendlicher mehr weiß, was dieser Bleistift mit einer Audiokassette gemeinsam hat. Ich sehe genau vor mir, wie ich noch schnell den Bandsalat zurückgedreht hatte, der aus meiner geliebten Tango-Audiokassette heraushing. Ein Bleistift passt nämlich perfekt in die Zahnräder, mit der die Kassette angetrieben wird. Dann nahm ich meine Tangoschuhe aus ihrer Kiste, packte Hammer und Meißel, Kassette und Kassettenrecorder ein und machte mich auf in Richtung Berliner Mauer. „Ja“, seufze ich, „auch das ist nun schon lange Vergangenheit.“Glitzernd werden die sommerlichen Sonnenstrahlen von der Spree reflektiert, die träge unter meinem Fenster entlang strömt. Es fällt mir inzwischen schwer, die drei Stockwerke hinunterzusteigen. Der Rücken schmerzt und ich weiß, dass die guten Jahre lange vorbei sind. Aber ich weiß auch, dass alles anders sein wird, wenn ich die ersten Takte der Musik höre, die mir alles bedeutet. Mir fehlen zwar noch 17 Jahre zu dem biblischen Alter von 107, in dem ich vor Jahren Johannes Heesters auf der Bühne des Berliner Friedrichstadtpalast sah. Ich werde das Schauspiel nie vergessen. Er kam herein als alter, kranker, blinder und gebeugter Mann, doch sobald er die Wärme der Scheinwerfer auf seiner Haut spürte, vollzog sich vor den Augen des Publikums eine magische Verwandlung.Mit den ersten Takten der Musik richtete er sich plötzlich auf. Wie durch einen Jungbrunnen reckten und strafften sich die Glieder. Es schien eine Aura von diesem Mann auszugehen, die uns glauben machte, es sei ein Jüngling dort zu sehen. Man sagt mir ähnliches nach, wenn ich den Tango höre und tanze. „So alt wie der olle Hesters bin ich ja noch lange nicht“, höre ich mich denken, und ein Lächeln huscht über mein Gesicht.Ich trete zur Tür heraus und die warme Nachmittagssonne trifft auf meine Haut. Das wird ein herrlicher Abend mit Tango und Livemusik im Monbijoupark gleich neben der Museumsinsel. Tanzen in den Sonnenuntergang. Open Air sagt man heute.Mit Hut und lässig auf meinen Stock mit dem Silberknauf in Form eines Papageienkopfes gestützt, warte ich auf die S-Bahn. Die Menschen auf dem Bahnsteig schauen mich aus den Augenwinkeln an.„Wat donnert sich der Alte uff wie´n Jockel am hellerlichten Tag“, denken die sich bestimmt.Ich fühle mich aber wohl darin, ein wenig anders zu sein und mit Sicherheit den Geschmack der Berliner Tangueras, der Tango-Tänzerinnen, zu treffen. In der S3 Richtung Alexanderplatz geben mir die anerkennenden Blicke und das Lächeln einer jungen Frau recht. Vom S-Bahnhof Alexanderplatz aus laufe ich in Richtung Brandenburger Tor die Karl-Liebknecht-Straße entlang. Ich betrete die Museumsinsel und erblicke das glanzvolle Ambiente dieses historischen Platzes gegenüber dem neu aufgebauten Berliner Schloss mit seiner glänzenden Kuppel und den aus Bronze gegossenen Engeln, die diese tragen und mich immer wieder zum Staunen bringen. An diesem warmen Nachmittag ist die Insel gefüllt mit entspannten, glücklichen Menschen, die die Wärme genießen und auf den Grünflächen zwischen den prachtvollen, historischen Gebäuden plaudern, schlafen oder auf ihren Laptops und Handys schreiben. Kurz bevor ich hinter dem Bode Museum die Brücke über die Spree zum Monbijoupark überquere, höre ich bereits die ersten fernen Klänge eines Tangos.Sofort hebt sich meine Stimmung und steigt mein Puls. Die Magie dieser Musik lässt Vorfreude aufkommen, wie man sie sonst nur in Kinderaugen vor Weihnachten findet.„Soll ich einen Artikel darüber schreiben?“, kommt es mir in den Sinn, aber sofort überlasse ich diese Aufgabe den jungen Journalisten, an die ich vor vielen Jahren meinen Job abgetreten habe. „Man muss wissen, wann es genug ist. Ich habe fünfundvierzig Jahre lang geschrieben, recherchiert, aufgedeckt, spioniert und richtiggestellt. Ich habe meinen Teil erfüllt“, denke ich beim Näherkommen, als die Musik lauter wird.Schon während ich die Treppe zur Uferpromenade heruntersteige, erkenne ich viele bekannte Gesichter. Die Damen sind wunderschön herausgeputzt in ihren extravaganten Tangokleidern. Alle strahlen und sind von einer Glückseligkeit und freudigen Erwartung bestimmt, die heute auf den Straßen selten anzufinden ist. Eine Mischung der edelsten Eau de Cologne und Parfums steigt mir angenehm in die Nase.„Bienvenidos, Carlos!“, ruft Fernando, den man Mr. Zapato nennt und der diese Milonga organisiert. „Komm“, sagt er, „ich habe dir den besten Platz freigehalten, gleich an der Tanzfläche, wo du alle sehen kannst.“ „Ah, altersgerechter Weg auf die Tanzfläche“, scherze ich. „Carlos Rodríguez“, schüttelt Fernando den Kopf und verdreht die Augen.Ja, es ist wirklich ein Jungbrunnen. Meine Rückenschmerzen sind verflogen. Die ersten Blicke der Damen erreichen mich. Wenn ich mich jetzt mit meinem Blick bei einer der Damen länger als ein oder zwei Sekunden aufhalte, würde es bedeuten, dass ich sie zum Tanz auffordere. Daher lasse ich meine Augen noch unverbindlich über ihre Blicke gleiten, ohne länger bei einem Augenpaar zu verweilen, das da verführerisch sagt: „Bitte entführ mich in die Zauberwelt des Tangos.“ Nach so vielen Jahren sind mir die Feinheiten der Tango-Etikette in Fleisch und Blut übergegangen.„Am liebsten würde ich ja erst tanzen, wenn das Orchester aufspielt“, denke ich und schaue den tanzenden Paaren zu.„Der DJ ist doch ´ne Wucht“, träumen Fernandos Augen im Vorbeitanzen.„Ja“, denke ich, „eine sehr schöne Tanda, die Guillermo da spielt.“ Auch er ist vor ein paar Jahren aus Argentinien nach Berlin gekommen und erhellt unsere Abende mit seiner wundervollen Musik. Fragt man ihn etwas über ein Orchester, beginnen seine Augen zu leuchten und er verblüfft uns immer wieder mit Anekdoten und seinem Wissen.„Wusstest du, dass der Sänger, der hier singt, gar nicht Armando Laborde hieß, sondern José Atilio Dattoli?“, schmunzelt er. „Das Orchester von Juan D'Arienzo war auf einem Abstecher nach Uruguay. Da sagte D'Arienzo zu Dattoli: ‚Mit diesem Namen wirst du es nicht weit bringen.‘ Dann fragte er den Busfahrer, wie er wohl hieße. ‚Armando Laborde, Señor‘, antwortete dieser. ‚Na siehst du, es ist ganz einfach, ab heute ist dein Künstlername Armando Laborde‘“, hebt Guillermo sein Weinglas und lacht entspannt.Die vier zusammenhängenden Tangos von einem Orchester stellt er immer sehr gekonnt zusammen. Ich liebe diese alten, traditionellen Orchester, die damals zwischen 1930 und 1953 im goldenen Zeitalter des Tangos ihre Musik in zwei Minuten und dreißig Sekunden auf eine Schellack Schallplatte gepresst haben.Das hat etwas, das hat Stil und Vergangenheit, den Hauch von Geschichte und Geschichten.Auch die andersartige Musik zwischen den Tandas wählt er mit Bedacht und an die Stimmung angepasst. Sie heißt Cortina, der Vorhang, und ich erinnere mich, wie es damals war, als vier oder fünf Tanzorchester am Abend aufeinander folgten und während sie wechselten und die Bühne für sich vorbereiteten, der Vorhang geschlossen wurde. Dann setzten sich die Tänzer und unterhielten sich, gut gelaunt, lachend und voll freudiger Erwartung auf das nächste Orchester. In den kurzen Cortinas von heute ist diese Tradition etwas verloren gegangen. „Ich vermisse die Zeiten, als man mehr redete und Freundschaften pflegte“, denke ich.Guillermo schaut zu mir herüber und scheint meine Gedanken zu lesen. Ich nicke ihm anerkennend und lächelnd zu. „Nein“, entscheide ich dennoch. „Ich warte auf das angekündigte Tangoorchester.“Plötzlich steht sie vor mir und bricht mit jeder Etikette. Sophie aus Neukölln, Studentin der Violine an der Hanns Eisler, Mitte 20, wunderschön und eine der besten Tänzerinnen Berlins.„Carlos, Carlos, wie schön, dass du da bist. Tanz mit mir!“, ruft sie mit einem umwerfenden Lächeln und dreht sich im Kreis. Der wie ein Schwalbenschwanz geschnittene Rock an ihrem Kleid wirbelt herum. Die anderen Frauen starren sie entgeistert an. Haben sie mich doch seit meiner Ankunft mit ihren Blicken durchbohrt, um einen Tanz zu ergattern. Nun feuern ihre Augen spitze Dolche auf Sophie ab.Ihr schwarzes Haar hat sie zu einem spanischen Dutt zusammengebunden. Ein tiefrotes Tangokleid mit einem Rückenausschnitt, der jeden jungen Mann sofort bedingungslose Liebe schwören lässt und mich in vergangene Erinnerungen versetzt, raubt mir den Atem.Der enganliegende, seidige Stoff betont ihren athletischen Körper. Der tiefe mit teurer schwarzer Spitze umrandete Ausschnitt präsentiert ihre von zarten Adern marmorierten, porzellanfarbenen Brüste und zieht meine Blicke an wie ein Magnet. Meine Augen weigern sich, meiner guten Erziehung zu gehorchen.Sophie lächelt und zwinkert mir zu.„Männer“, denke ich, „wir sind doch in jedem Alter gleich“, und ich frage mich, ob ich gerade rot werde. „Ein großer Schauspieler sagte einst, er sähe auch im hohen Alter die Frauen immer noch mit denselben Augen wie früher. Recht hat er“, schmunzle ich. „Daran wird sich wohl nie etwas ändern.“Der Sommer scheint heißer zu sein als sonst.Vor ein paar Jahren kam sie neugierig in Clärchens Ballhaus in Berlin Mitte, wo ich unterrichtete. Sie wollte für ihr Studium mehr über den Tango erfahren. Ich erinnere mich schwärmerisch, wie wir stundenlang über den Tango philosophierten, analysierten, stritten und die Welt vergaßen. Sie verzauberte mich mit ihrer Geige und ich habe ihr die ersten Geheimnisse dieser Musik und dieses einzigartigen Tanzes verraten. Da war plötzlich etwas im Raum, was uns für immer verbindet. El Tango.„Lo siento, Ladies“, denke ich triumphierend und biete Sophie meine Hand an. Sie kommt ganz nah und ich versinke in ihrem Duft und ihrer jugendlichen Energie. Ich lege meinen rechten Arm um ihre Taille und sie kommt mir so nah, dass ich ihre Brüste spüre. Ich fühle ihr Herz neben meinem schlagen und ein Zittern durchfährt mich. Sie drückt mich so fordernd an sich, dass ich das Gefühl habe, mit ihr zu verschmelzen, dass es keine Grenze zwischen uns gibt.Sie wartet, wartet, dass ich ihr wortlos etwas sage. Ich lasse mich mit jeder Faser meines Körpers in diesen Augenblick fallen. Ich schließe die Augen und lasse den Moment der ersten Bewegung spontan entstehen. Keine fertige, einstudierte Bewegung, kein Tanzschritt. Ich atme sie tief ein und nehme sie zwanglos aber entschlossen mit auf die Reise. Dies ist ein Moment, der für immer in der Ewigkeit nachklingt, weil er einzigartig und einmalig ist. Es ist die reine Liebe und Verschmolzenheit, die ich gerade für Sophie empfinde und dieser magische Moment ist auch gleichzeitig die Grenze, die wir niemals überschreiten werden.Wir genießen diese vier Tangos. Nachdem der letzte Ton verhallt ist, bleiben wir noch ein paar Sekunden in unserer Umarmung stehen, als ob wir sagen wollten, dass dies der schönste Moment unseres Lebens war. Langsam lösen wir uns, und ich bringe sie schweigend an ihren Platz zurück. Zwischen uns bedarf es keiner Floskeln. Ich weiß nicht, was in dieser Tanda alles passiert ist. Ob wir uns bewegt haben oder einfach nur dastanden. Wie wir getanzt haben, was wir uns ohne Worte mitgeteilt haben. Ja, es war der schönste Moment des Lebens, bis der nächste schönste Moment des Lebens kommt. Das ist die Sucht nach Tango, deshalb sind wir hier, um ihn zu tanzen.Gerade läuft eine dieser Zwischenmusiken und gibt das Zeichen, dass diese Tanda, diese Runde, beendet ist. Glenn Miller, In the Mood.Diese Pause gibt den Tanzenden die Möglichkeit, sich höflich voneinander zu verabschieden. Keine Verpflichtung, nichts von Dauer, ein Moment in der Unendlichkeit, eine kurze und manchmal heftige erotische Beziehung ohne Folgen.„Oder ohne bleibende Schäden“, denke ich schmunzelnd.Ich höre amüsiert zu, mit welchen charmanten Floskeln die Herren ihre Dame dieses Mal zu ihrem Platz zurückbegleiten.„Es war wunderbar, danke schön. Es war so einzigartig, so intensiv. So kreativ. So sehr verbunden.“Ich kann es nicht beeinflussen, dass sich meine linke Augenbraue kritisch hebt, als ich denke, „Hmm, ob das alles so stimmt?“ Der Moment, in dem beim Tanzen die Zeit stehen bleibt, ist selten wie ein Komet am Himmel und wenn er kommt, unbeschreiblich schön. Oft hat es jedoch Nichts von alledem, dennoch bleibt man höflich, lächelt nett und folgt unlängst einem anderen, einladenden Blick. Eine Milonga ist eine Traumwelt, eine andere Realität, in der jeder sein darf, was er oder sie möchte.Ein spanischer Linguist sagte mir einmal, dass das Wort Milonga von einem sehr alten spanischen Wort abstammte, dessen Bedeutung genau das ist: Eine erfundene Welt, eine Fantasie. Oh, wie recht er doch meistens hat.Noch ist es ein wenig leer auf der Tanzfläche und auf dem Platz. Später werden es über 100 Tänzer sein, die sich von der Musik und der einzigartigen Atmosphäre verzaubern lassen. Auch heute sind sie alle wieder da. Ich nicke einigen guten Tänzern und Freunden aus Buenos Aires zu, die so wie ich hier heimisch geworden sind. Der Ausblick darauf, mich mit ihnen zu unterhalten, macht mich glücklich. Denn auch darum geht es an diesem Abend. Freundschaften zu pflegen, das Leben zu feiern und neue Bekanntschaften zu machen. „Langsam, Amigo!“, will ich rufen, als Eddy aus Neukölln die Treppe fast herunterstolpert. Noch bevor er seine Tanzschuhe überhaupt angezogen hat, haben seine Blicke schon jede der freien Damen als ein potentielles Tangoopfer fixiert. Ich hingegen lehne mich erst einmal entspannt zurück und sauge mit allen Sinnen die Stimmung und die heutige Energie des Abends auf. Jedoch auch Eddy soll heute sein dürfen, wer er sein möchte.„Ah“, schmunzle ich ein wenig in die Runde schauend. „Da sind sie ja alle wieder. Die, die irgendwann einmal für vierzehn Tage in Buenos Aires waren und nun glauben zu den Tango Göttern zu gehören. Die, die analysieren und nie die Essenz des Tangos finden werden, einfach nur zu sein. Die einsamen Herzen, die nirgendwo sonst eine Umarmung bekommen. Und die, die glauben, der Tango öffne ihnen jede Schlafzimmertür.“ Ich denke mir meinen Teil und lasse die Menschen Menschen sein, denn das Leben ist Tango und Tango ist Leben.„Wann spielt endlich dieses Orchester?“, frage ich mich ungeduldig, den Blicken der Tänzerinnen ausweichend, die mich immer noch mit ihren inzwischen fordernden Blicken durchlöchern.Die Instrumente liegen schon da. Das wird spannend. Ich hatte mit einem so großen Orchester nicht gerechnet. Meistens spielen vier Musiker zum Tanz auf. Ein Piano, ein Bass, eine Geige und das Bandoneon. Das Bandoneon, jenes quadratische, meist schwarze Instrument, welches wie kein anderes Freude, Liebe, Sehnsucht, Schmerz und Wehmut in seinen Tönen besingt.Wenn der Musiker die Luft in den Balg einsaugt, scheint es, als ob das Bandoneon selbst atmet und lebt.Es hat mich immer fasziniert, mit welcher unglaublichen Geschwindigkeit die Finger der Musiker links und rechts über die Druckknöpfe huschen, den Balg manchmal nur minimal bewegen, fast streicheln oder ihn in musikalischer Ekstase fast zwei Meter auseinanderziehen. Ich lasse meine Gedanken schweifen und denke, „wie außergewöhnlich ist es, dass ein einst in Deutschland erfundenes Instrument mit den Einwanderern den Weg nach Argentinien gefunden hat. Dort zu dem Instrument wurde, welches den Tango so einzigartig macht. Jetzt wartet es hier in Berlin neben der Tanzfläche im Monbijoupark darauf, für uns Tangotänzer gespielt zu werden.“Ich beuge mich zu Sophie herüber, die uns zwei Weingläser mit argentinischem Malbec an der Bar geholt hat. Fröhlich setzt sie sich neben mich. „Das wird wohl besonders werden, mit zwei Geigen, einer Bratsche und zwei Bandoneons“, zwinkere ich ihr munter zu.„Oh ja, ich freu mich drauf“, leuchten ihre Augen, „und dann bist du heute da, wie schön.“Sie stellt die Weingläser auf das Tischchen mit dem roten Tischtuch, gleich neben das Teelicht, das Fernando in eine mit Sand beschwerte Papiertüte gestellt hat.„Ich liebe Tango, wenn er live gespielt wird“, sagt sie und stößt klingend mit mir an.„Und ich erst, dann ist es so wie früher in Buenos Aires“, freue ich mich und lehne mich entspannt zurück.„Vielleicht gibt es ja sogar noch eine Überraschung“, scherzt Sophie.„Was für ein wundervoller Sommerabend“, denke ich und genieße die warmen Temperaturen. Wir sitzen entspannt an der Tanzfläche und schauen den Tanzenden zu. Langsam geht die Sonne unter und die vielen leuchtenden Papiertüten auf den Tischen, um die Tanzfläche, tauchen den Abend in einen magischen Glanz. Das Orchester macht sich bereit.„Mann, sehen die super aus“, freut sich Sophie. Ich denke, „Ja, alles hat eine gewisse Klasse“, und nippe an meinem Malbec, während die Bandoneons langsam einatmen, um uns in eine andere Welt zu entführen.Fernando betritt die Tanzfläche und beginnt mit seiner Ansage.Argentinisch ausschweifend spricht er laut und mit großen Gesten, „Tangueros y Tangueras, ich freue mich, Ihnen heute eine besondere Premiere präsentieren zu dürfen“, begeistert er sich und uns. „Begrüßen Sie mit einem großen Applaus das hier in Berlin neu gegründete Tango-Orchester Orquesta Milonguera Intercultural!“ Die Anwesenden tuscheln in großer Erwartung und applaudieren.„Die Gründerin und musikalische Leiterin, Violinistin Sophie Maiers!“„Ich hatte dir ja gesagt, dass es noch eine Überraschung gibt“, schmunzelt Sophie, küsst mich auf die Wange und geht selbstbewusst auf die Tanzfläche.„Du bringst mich noch um den Verstand“, schüttle ich lachend den Kopf, und starre ihr perplex hinterher.Ich bin fasziniert von Sophies Energie und Virtuosität. Das Orchester ist wirklich einmalig. Sie hat es geschafft, das Credo meines Lieblingsorchesters umzusetzen. Der Leiter dieses Orchesters sagte einmal sinngemäß: „Jeder, der etwas Neues mitbringt, macht den Tango interessant und hält ihn am Leben.“ Er meinte damit Einwanderer und Flüchtlinge, die erst in Buenos Aires den Tango kennenlernten. Sie brachten ihre Kultur, ihre Instrumente und ihre Besonderheiten mit.Sophie hatte diese Idee hier in Berlin, 12.000 km entfernt von Buenos Aires, bravourös umgesetzt.Das Orchester spielt ein paar Tangos. Die Tänzer und Tänzerinnen schweben glücklich über die Pista. Sophies Geige hat einen tiefen, warmen Klang. Das Piano ist ein wenig tiefer gestimmt, um sich nicht mit dem Bandoneon zu reiben. Diese musikalische Mischung lässt allen einen angenehmen, warmen Schauer über den Rücken laufen, wenn Sophie mit langen Strichen ihre Geige zum Singen bringt. „Dieser Klang, dieser einzigartige Klang. Ich kenne ihn“, suche ich in mich hinein.Sophie greift souverän zum Mikrophon und kündigt das nächste Stück an.„Señores y Señoras, Tangueros y Tangueras, liebe Gäste, heute werden wir ein neues Stück für euch spielen“, funkeln ihre Augen. „Erst kürzlich habe ich die Noten dieses vergessenen Tangos auf meinem Speicher gefunden. Lasst euch von uns verzaubern.“„Sie ist immer wieder voller Überraschungen, meine kleine Sophie“, staune ich.Es folgen ein erwartungsvoller Applaus und dann eine tiefe Stille. Wieder atmen die Bandoneons tief ein. Sophie setzt elegant ihren Bogen auf die Saiten und gibt das Zeichen für den gemeinsamen Einsatz. Die ersten Töne sind fröhlich und beschwingt doch dann, nach ein paar Takten wechselt das Stück ins Moll. Es wird schwerer und leicht dissonant. Es erinnert mich an einen gequälten, stummen Schrei und ich werde blass. Schon nach den ersten Tönen krampft sich mein Magen zusammen. Nun weiß ich auch wieder, wessen Geige sie da spielt. Ich bin wie gelähmt, als sich der Schleier der Vergessenheit von der Geschichte hebt, die ich damals als junger Journalist im Jahr 1961 recherchiert hatte.Eine Geschichte, die 1922 ihren Anfang nahm und 1955 endete, so glaubte ich jedenfalls bis heute. Schweißperlen treten auf meine Stirn und mir wird schwarz vor Augen.„Woher hat sie dieses grauenbehaftete Stück?“, höre ich meine Gedanken in der Dunkelheit der Ohnmacht verhallen. „Woher hat sie den Tango des Todes, den Tango de la Muerte?“

New York City, 1961

„15. Juni 1961“, notiere ich das heutige Datum in meinem Notizbuch der New York Times und lasse meinen Blick über den East River gleiten. Im Radio spielt Ben E. King Stand By Me, einer der Top Hits dieses Jahres. Die Zeitung hat mich beauftragt, meine Erinnerungen an eine Geschichte aufzuschreiben, die ich einst in meiner Heimatstadt Buenos Aires miterlebt habe. Miterlebt ist übertrieben, während und nachdem sie passiert ist, habe ich die Puzzlestücke aus Erinnerungen, Fakten, Erzählungen und Berichten zusammengetragen.Der Anfang geht weiter zurück als mein Leben selbst. Ich starre die beiden Kisten auf meinem Schreibtisch an, die ich seit Jahren durch mein Leben schleppe, und in denen ich alles aufbewahre, was ich über den Fall weiß. Meine Gedanken reisen die vom Sonnenaufgang lichtüberflutete Brooklyn Bridge entlang in Richtung Osten. Mein Blick folgt einer DC8–Clipper der PAN AM, die gerade vom Idlewild Airport gestartet sein muss. Sie nimmt meine Gedanken mit über den Atlantik und durch die Zeit zurück nach Deutschland, nach München in das Jahr 1922.

„31. Dezember 1922, Silvester“, beginne ich meine Notizen: „In der herrlichen Stadtvilla der Familie Darno in München…“

Silvester, 1922

In der herrlichen Stadtvilla der Familie Darno in München wartet man gespannt auf Mitternacht. Der gutaussehende, im Smoking gekleidete Gustav Darno und seine hübsche junge Frau Alma haben zu einer privaten Feier auf ihrem Anwesen geladen.Der Festsaal ist bunt geschmückt mit Girlanden und Fahnen. Ein kleines Orchester spielt die neusten Gassenhauer und Schlager, des langsam vergehenden 1922. Gerade spielen sie Wir versaufen uns‘rer Oma ihr klein‘s Häuschen. Das Publikum nimmt die Anspielung auf die steigende Inflation gelassen hin. Herren in schwarzen Anzügen, Smokings oder gar Fräcken tanzen ausgelassen mit Damen in schwarzen, goldenen, roten oder silbernen Fransenkleidern. Manche der Damen sind gekrönt mit herrlichen Perlenkappen, die ihre Köpfe schmücken. Manch einer steht an der Bar und genießt, Zigarre rauchend, die anregenden Gespräche in guter Gesellschaft. Vergessen sind für heute Abend die Schrecken, die noch vor 5 Jahren Deutschland und die Welt mit Krieg und Elend heimsuchten. Verheilt sind die Narben und der Schmerz des Verlustes über die, die im Hagel der Granaten oder im Senfgas des Feindes in den Schützengräben jämmerlich verreckt waren. Heute will man genießen und vorausschauen, Buster Keatons Film The Blacksmith und Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau sind Gesprächsthemen. Wenngleich auch hier und da das Unrecht gegen das Vaterland durch die Versailler Verträge immer noch explosive Gesprächsthemen liefert. Die Damen plaudern und lachen ausgelassen über die neuesten Pariser oder New Yorker Moden und über die Filmstars des vergangenen Jahres.Noch sind es knapp dreißig Minuten bis Mitternacht. Gustav Darno klopft mit einem Silberlöffel an sein Champagnerglas und bittet um Gehör. „Meine Damen und Herren, Señoras y Señores. Herzlich willkommen in unserem Haus zu unserer alljährlichen Silvesterfeier“, spricht er seine Gäste an. „Ich danke meinen Eltern von Herzen, dass sie uns auch dieses Jahr wieder diesen Festsaal zur Verfügung stellen.“Die Gäste wenden sich Gustavs Eltern Richard und Eleonore zu und applaudieren höflich.„Bevor wir um Mitternacht das neue Jahr begrüßen, möchte ich traditionell einen Einblick in die Kultur meines Vaterlandes Argentinien geben. Viele von ihnen haben im letzten Jahr den Hollywood Streifen Die vier Reiter der Apokalypse mit Rudolph Valentino gesehen, in dem er in meiner Heimatstadt Buenos Aires den Tango tanzt.“Viele Gäste nicken erwartungsvoll und erinnern sich an den Film über eine argentinische Familie.„Nun, das ist Hollywood“, lächelt Gustav und hebt leicht abweisend die Hand. „Ich möchte ihnen den wahren, den echten Tango nicht vorenthalten, der nun in den gesellschaftlichen Kreisen von Paris gefeierten Einzug hält. Ich konnte eine kleine Gruppe junger, argentinischer Studenten, die dort lebt, begeistern, heute Abend für uns zu tanzen. Extra aus Paris angereist! Begrüßen Sie mit einem großen Applaus die außergewöhnlichen Tangotänzer Pablo Montenegro y Constanza Palacios und ihre Freunde.“Sekunden später setzt das kleine Orchester zu einem Tango an und die Paare wirbeln vor den staunenden Augen der Gäste herum. Momente von ausdrucksstarken Bewegungen und Drehungen wechseln sich ab mit intensiven, innigen Umarmungen, in denen sich die Tänzer kaum bewegen und doch eine unglaubliche erotische Spannung im Saal hervorbringen. In einem emotionsgeladenen Finale wickeln sich Beine um Beine, schauen sich die Tänzer tief in die Augen. Eng umschlungen und dann wieder mit weiten, ausfallenden Bewegungen der Damen und maskulinen Posen der wie Gauchos gekleideten Männer, bildet das Tanzensemble ein spannendes Schlussbild. Gustavs Gäste sind fasziniert. Es tobt der Applaus. 1922 ist es eine außergewöhnliche Attraktion, solch exotische Tänzer von einem anderen Kontinent auf der Bühne sehen zu können.„Noch haben wir ein paar Minuten bis Mitternacht“, kündigt Gustav die nächste Nummer an. „Genießen Sie einen Volkstanz aus meiner Heimat, eine volkstümliche Chacarera, wie sie auf den Estancias in der argentinischen Pampa getanzt wird.“ Die zehn Tänzer und Tänzerinnen haben sich in zwei Reihen voreinander aufgestellt. Die Herren auf der einen Seite des Saals, die Damen auf der andern. In kreisenden Bewegungen tanzen sie aufeinander zu und wieder zurück. Die Männer wie Toreros mit ausgebreiteten Armen, die Frauen mit leicht angehobenem Rock. Dann wechseln sie zwei Mal die Seiten, ohne den Blick voneinander zu lassen. Das deutsche Publikum nickt anerkennend, kann es sich doch mit der Symmetrie und Synchronität dieses Tanzes mehr identifizieren als mit den erotischen Nuancen des Tangos.Wie immer hat Gustav den Ablauf perfekt geplant, das hatte er im Krieg von 1914-18 gelernt. Oft sagte er, „der Unterschied zwischen Argentinien und Deutschland ist der, dass in Argentinien immer alles pünktlich ist.“ Natürlich war das scherzhaft gemeint, dann jeder wusste, dass es schon immer andersherum war. Wieder klopft er an sein Glas. Deutet auf die große Uhr am Kopfende des Saals und beginnt das Herunterzählen. „10 9 8 7 6 5 4 3 2 1. Gutes neues Jahr! Happy New Year! Feliz Año Nuevo!“, klingen die Gläser im Saal. Hier wird sich umarmt, hier geküsst, dort gelacht oder vielleicht auch schmerzhaft über die vergangenen Jahre nachgedacht.„Ich wünsche Ihnen allen ein gesundes und erfolgreiches 1923! Musik!“, ruft Gustav und das kleine Orchester bringt den Saal mit dem neuesten Tanz zum Kochen. Charleston. Ausgelassen und verrückt tanzen die Gäste in das neue Jahr hinein. Champagner und Absinth treiben die Stimmung zusätzlich an.„Ja, es wird ein sehr besonders Jahr werden“, wird Gustav von einem Mann angesprochen, der sich bislang eher unauffällig im Hintergrund aufgehalten hat. Am linken Arm trägt er eine rote Binde mit einem Hakenkreuz auf weißem Grund. „Hier meine Karte, angenehm Schultze, Eduard Schultze.“„Hmm“, erwidert Gustav und schaut auf die Karte des Architekten und dann auf dessen Armbinde.„Herr Darno, wir sind fasziniert von Ihrem Land und vor allem von Ihren persönlichen Kenntnissen in Sachen Viehzucht und Vererbungsfragen. Wenn Sie jemals daran interessiert sind, dieses Wissen für die Reinheit der arischen Rasse zu nutzen...“„Ich glaube nicht, dass ich interessiert sein werde“, unterbricht Gustav ihn schroff.„Nun, warten Sie einfach ein wenig ab, was das Jahr für Überraschungen bereithält. Dann können Sie immer noch entscheiden“, kontert Schulze.„Ja, ich habe davon gehört. Wir werden sehen. Ich wünsche ihnen ein erfolgreiches 1923“, beendet Gustav das Gespräch.„Oh, das wird es ganz sicher“, streckt er den rechten Arm nach vorne. „Für Volk und Vaterland! Heil!“„Ich glaube, Sie wollten gerade gehen. Gute Nacht, gute Heimfahrt“, deutet Gustav in Richtung Tür.

„Was für ein Abend“, fallen Gustav und Alma noch in Partystimmung gegen fünf Uhr morgens auf ihr Sofa im ersten Stock. „Frohes neues Jahr, mi Corazón“, küsst Gustav seine Alma auf die Lippen.„Frohes neues Jahr, Liebchen“, flüstert sie, bevor sie seinen Kuss erwidert und in der Wärme seiner Umarmung versinkt. Sie küssen und liebkosen sich, noch berauscht von zu viel Absinth und guter Laune. Seine Hände wandern über ihren Körper und lockern die Bänder, die ihr Kleid zusammenschnüren. „Ja“, denkt sie, „lass mich in deinen Armen und im Rausch dieser Nacht vor Lust verbrennen.“ Langsam tastet sie sich vom Knie der Innenseite seines Schenkels entlang und spürt, wie sehr er sie begehrt.„Oh, meine wunderbare Alma“, schließt Gustav die Augen und genießt ihre Berührung.„Mamá, ich kann nicht schlafen“, unterbricht sie leise eine Kinderstimme und reißt sie aus ihrer Umarmung.„Es tut mir sehr leid, Frau Darno, Esperanza hat sehr schlecht geträumt“, räuspert sich das Kindermädchen Elisabeth.„Komm her mein Engel“, nimmt Alma sie in den Arm, „Elisabeth, Sie können gehen, Dankeschön. Kleines, was hast du denn geträumt?“, fragt sie ihre kleine Tochter.„Mamá, da war ein Mann, der hat so laut geredet und mit den Armen gefuchtelt. Er hat gesagt, dass alles besser wird, aber dann waren alle tot“, beginnt sie zu schluchzen. „Und da waren zwei Jungs, die haben über den Toten Geige gespielt und geweint.“„Schätzchen, Schätzchen, ist ja gut. Komm, ich erzähle dir eine Geschichte und singe dir ein Gutenachtlied.“„Fein Mamá, ja bitte, sing.“„Es war einmal ein Mann, ein berühmter Dichter. Er hieß Johann Wolfgang von Goethe.“„Hi hi, lustiger Name, Goethe, Gööööööte, hi hi“, freut sich Esperanza.„Er war in ein schönes Mädchen verliebt und schrieb ein Gedicht über die zauberhaften Blätter des Ginkgo Baumes für sie.“„,Dieses Baumes Blatt, der von Osten Meinem Garten anvertraut, Giebt geheimen Sinn zu kosten, Wie's den Wissenden erbaut.‘“, zitiert Alma die ersten Zeilen des Ginkgo Biloba-Gedichts, bevor sie eine Melodie summt und den Rest des Textes singt.Gustav geht zum Schrank, nimmt das Bandoneon seines Großvaters heraus und spielt leise zum Gesang seiner Frau.Während sie singt, greift Alma in eine kleine Schatulle neben dem Sofa. Als ob sie das wunderbarste aller Geheimnisse enthüllen wollte, öffnet sie einen Samtbeutel. Dann nimmt sie eine Kette mit dem Anhänger eines Ginkgo Biloba-Blattes heraus und legt sie ihrer Tochter um den Hals.„Mamá, das ist sooooo schön“, freut sich Esperanza und läuft glücklich zu ihrem Vater.„Papa, Papa, schau mal, ein Dinko-Blatt, ein Gingong-Blatt, ein Gingging… Papa schau!“Gustav legt das Bandoneon zur Seite und tut so, als würde er sie nicht hören.„Papá, mirá!“, stampft sie mit dem Fuß auf.„Sí, mi corazón.“„Papá, mirá, mirá, recibí un regalo de mamá“, sagt sie in perfektem Rioplatense, dem Spanisch, das in Buenos Aires gesprochen wird.„Hija, wir lieben Goethe und die Heimat, die wir uns ausgesucht haben, aber wir sind eine argentinische Familie“, sagt Gustav ebenfalls auf Spanisch. „Nuestro país es argentina y nuestro idioma es el español. Escuchá!“Er wendet sich dem Grammophon zu und spielt einen Tango von Carlos Gardel. Dann stellt er Esperanza auf seine Füße und tanzt mit ihr. Leise singt er mit, als Alma zu ihnen kommt.Gustav hebt seine Tochter Esperanza vor seine Brust. Nachdem sie ihre Arme um seinen Hals und die Beine um seine schlanke Hüfte geschlungen hat, umarmt Gustav liebevoll seine schöne Frau Alma. Langsam und eng umschlungen tanzen sie zu dritt diesen Tango, bis Esperanza in der Wärme zwischen ihren Körpern eingeschlafen ist.

Pobre enfermita que se fue a las sierras,buscando un poquito de aire y de sol.Que amargo fue para ella el destinoque pocos momentos de amor disfrutó.Pobre enfermita, fue en busca de vida,y en medio la vida la muerte encontró...

Armes kleines, krankes Mädchen, das in die Sierras ging,auf der Suche nach ein bisschen Luft und Sonne.Wie bitter ihr Schicksal für sie warwie wenige Momente der Liebe sie genossen hat.Armes, kleines, krankes Mädchen, sie ging auf die Suche nach dem Leben,und inmitten des Lebens fand sie den Tod…“

SCALA Cabaret Berlin, 14 Jahre später

Es ist kalt an diesem späten Nachmittag des 7. März 1936.Die Dielen knarren, als Wilhelm in seiner Berliner Wohnung im Prenzlauer Berg zum Fenster geht. „Na wunderbar, mein Lieblingswetter“, denkt er. „Drei Grad und morgen soll es schon wieder regnen, großartig.“ Die alte Uhr auf der mit Mahagoni furnierten Biedermeier Anrichte seiner Großeltern schlägt sechs Uhr abends. Nachdem die Sonne eben untergegangen ist, durchziehen noch einige rote Streifen den Himmel zwischen den Regenwolken. „Endlich wieder etwas mehr Tageslicht“, seufzt er und schaltet das Licht ein. „Jetzt Anfang März ist es nicht mehr ganz so deprimierend wie im November, wenn die Morgendämmerung bis Mittag andauert und es um drei Uhr nachmittags schon wieder dunkel wird. Wenn es dann noch regnet, ist man froh, wenn es überhaupt noch hell wird.“ Er bindet seine Krawatte mit einem Windsorknoten, steckt das Parteiabzeichen an sein Revers und dreht den Volksempfänger lauter, in dem der Titel Regentropfen, die an dein Fenster klopfen gespielt wird. „Was für ein unvergesslicher Tag. Unser Führer hält sein Wort und führt Deutschland wieder auf seinen rechtmäßigen Platz in der Weltgeschichte“, denkt Wilhelm, während er vor seinem Spiegel steht und die beste Ausgehuniform für den heutigen Premierenabend anlegt. Orden und Abzeichen sind poliert, die Stiefel auf Hochglanz gewichst. „Na, wenn ich damit keinen Eindruck mache?“, zündet er sich in Anbetracht seines heutigen Vorhabens nervös eine Zigarette an. In tiefen Zügen saugt er den Rauch seiner Lieblingsmarke Olympia ein und schaut auf die Prenzlauer Allee herunter. Immer wieder ziehen kleine Menschengruppen mit Fahnen, Parolen und Gesang vorbei. Die Nachricht über den Einmarsch von militärischen Einheiten über die Hohenzollernbrücke in Köln und deren Vorbeizug am Dom verbreitetet sich wie ein Lauffeuer. „Deutschland ohne Armee im Rheinland? Auf Dauer undenkbar!“, spricht er seine Gedanken laut aus. Der Führer hatte sein Versprechen eingelöst und die Remilitarisierung des Rheinlands befohlen. Ganz Deutschland fühlt sich heute befreit wie ein spanischer Kampfbulle, dem man endlich das Band abnimmt, das ihm die Hoden abschnürt, um ihn mit unendlichen Schmerzen rasend zu machen.„Ab heute sind wir wieder wer in der Welt“, drückt er zufrieden die Zigarette im schweren Bleiglasaschenbecher seines Vaters aus, dessen Bild in kaiserlicher Uniform und mit schwarzem Trauerband auf dem Kaminsims steht.

Im SCALA, Berlins renommiertester Varieté-Bühne, hat Esperanza, die zu einer attraktiven, jungen Frau herangewachsen ist, von all dem Trubel noch nichts mitbekommen. Sie konzentriert sich auf ihren Auftritt und spürt, dass diese Show ihre Karriere schnell voranbringen wird. Kurz vor der Premiere herrscht bei allen Ensemblemitgliedern nervöse Betriebsamkeit. Auf dieser Bühne waren bereits internationale Künstler wie der Jongleur Enrico und der Clown Grock aufgetreten. Die Woche war wie im Flug vorbeigezogen. Gestern am Freitag war die Generalprobe richtig schön schief gegangen. „Gott sei Dank“, sagt Marion, Esperanzas Garderobennachbarin. „Ein gutes Omen für heute Abend. Komm her, Kleines!“, umarmt sie Esperanza und spuckt ihr, um Glück zu wünschen, dreimal über die Schulter. „TOI TOI TOI!“ „Dir auch Marion, TOI TOI TOI. Ob Friedrich sich vom Schock seiner ersten Hauptprobe erholt hat?“, schmunzelt Esperanza. „Er sah seine Werke glorreich untergehen“, scherzt sie mit stark gerolltem R.„Pssst, bist du verrückt geworden“, reißt Marion die Augen auf und lacht. Im Flur wird noch an einem Kostüm genäht. Da sucht jemand seine Requisiten. Dem Zauberer Tim Salabim ist eine Taube weggeflogen und nun versuchen er und drei Techniker, das verängstigte Tier wieder einzufangen. Der Tenor Stefano zerrt an den Nerven, indem er immer wieder dieselbe Stimmübung macht und dann den hohen Ton doch nicht trifft.Ja, es ist allerhand los an diesem Tag, dem 07. März 1936.Als Wilhelm gerüstet mit einem herrlichen Rosenstrauß die Seitenloge betritt, scherzt eine ihm unbekannte junge Dame, „Oh, sind die für mich?“. Das kleine Kästchen mit dem Diamantring spürt er deutlich in der Hosentasche seiner Uniform, denn er hat noch etwas Besonderes vor an diesem Abend.„Wilhelm Kaiser“, stellt er sich förmlich vor, „bedaure, die sind schon reserviert“, lächelt er charmant.„Darf ich vorstellen, Señorita Maria Restelli, mi hija, meine Tochter“, entgegnete der gepflegte Herr in einer goldbestickten argentinischen Uniform. „Ernesto Restelli, Gesandter der Republica Argentina in Berlin.“„Angenehm“, geben sich die beiden Herren förmlich die Hand.„Hauptscharführer des Rasse- und Siedlungshauptamtes unter Reichsminister Gustav Darno.“Gerne hätte Wilhelm noch etwas geplaudert, um mehr über die interessanten Menschen zu erfahren, die ihm der Zufall in die Loge gesetzt hatte. In diesem Moment jedoch lässt der Inspizient den Saal verdunkeln. Das Stimmengewirr im Publikum verhallt. Hier und hinter dem Vorhang ist es nun vor Erwartung oder Lampenfieber so still, dass man das Trippeln eines Mäuschens unter den Brettern, die die Welt bedeuten, hören kann. Ein fulminanter Trommelwirbel setzt ein, an dessen Höhepunkt in vollkommener Dunkelheit ein kleiner Scheinwerferkreis auf dem Bühnenvorhang die herausgestreckte, freche Fratze des Conférenciers bestrahlt und für den ersten Lacher des Abends sorgt.Esperanzas Eröffnungsnummer begeistert das Publikum und stellt den Abend in das Licht einer ausgelassenen und fröhlichen Stimmung.In der Pause diskutiert man bei Champagner und Sekt viel über die Künstler. „Die Pudelnummer war ja nett“, sagt ein Offizier in Uniform und sächsischem Akzent an der Bar, auf dessen Namensschild Eduard Günther steht. „Aber die Seilartisten haben mich mit ihrer atemberaubenden Technik und Eleganz total begeistert.“ „Also mir ist fast das Herz stehen geblieben, als die Frau sich hat fallen lassen“, sagt seine Begleitung und nippt an ihrem Sekt. „Ich fand Tim Salabim faszinierend“, ergänzt sie.„Alles nichts gegen diese Argentinierin“, schwärmt Eduard Günther, „wie heißt sie? Ah, Esmeralda, also die war ja, die hatte, also so viel…“„Dann frag doch diese Esmeralda, ob sie hinterher mit dir ausgeht, Eduard“, faucht die Begleitung eingeschnappt zurück.Als Finale der Aufführung ist Esperanzas feurige Nummer genau richtig platziert.Es ist eine Überraschung für das Publikum, als die erst scheu beginnende Nummer, die eine Adaption eines von Pola Negri gesungenen Tangos ist, unvermittelt in die schnell arrangierte Foxtrott Nummer Frische Brise wechselt. Mit diesem Musikwechsel tanzt das gesamte Ensemble auf die Bühne, in dessen Mitte Esperanza mit südamerikanischem Feuer brillieren kann. Neben der erotischen Ausstrahlung trifft Esperanzas Darbietung auch den Nerv der Zeit. Es herrsche Aufbruchsstimmung im Reich. Der Führer hatte noch am späten Nachmittag in seiner Rede über die Remilitarisierung des Rheinlandes die Schande von Versailles für beendet erklärt. Da passt ihre systemkonforme Leichtigkeit und Freude gut zur Euphorie des neuen Gedankenguts.„Diese wunderbare Frau werde ich heiraten“, denkt Wilhelm als er nach dem Finale den nicht enden wollenden, tosenden Applaus des Publikums um sich herum hört. Auch er lässt seinem begeisterten Beifall freien Lauf. Esperanza strahlt zum Schlussapplaus von der Bühne herunter und wirft dankbare Kusshände in den Zuschauerraum. Vom Parkett bis in den zweiten Rang sind die Menschen inzwischen aufgestanden und jubeln. Auch in der Mittelloge ist der Propagandaminister Joseph Goebbels begeistert. Er scherzt mit seiner weiblichen Begleitung und den Herren mit Parteiabzeichen der NSDAP hinter sich. Ohne seinen Blick von Esperanza abzuwenden, diktiert er seinem Sekretär beiläufig er eine Notiz, der kurz darauf nickend die Loge verlässt.„‚Suerte‘“, sagen wir in Argentinien, wenn wir jemandem Glück wünschen“, verabschiedet sich Maria Restelli von Wilhelm. Ihr Vater nickt höflich, als sie die Loge verlassen. Mit dem Fluss der anderen Zuschauer, die noch euphorisch schwärmen und ausgelassen parlieren, werden sie den Flur herunter gespült.Wilhelm holt tief Luft, als er die Hand hebt und fast zaghaft an Esperanzas Garderobentür klopft.Drinnen herrscht Partystimmung. Ausgelassen sitzen die Damen des Varietés, nur mit leichten, seidigen Kimonos bekleidet auf Garderobentischen, dem Sofa oder lehnen sich mit ihren Champagnergläsern an die Schränke und Wände. Blechern quäckt Tanzmusik aus dem Volksempfänger, durch das Stimmengewirr kaum hörbar, aus einer Ecke.„Was für eine Premiere“, jubelt Esperanza, „ihr wart alle so famos.“„Nein, du warst famos“, strahlt Marion ihre Garderobennachbarin an. „Schau mal, meine Eltern haben uns eine Toi Toi Toi-Karte geschrieben, mit einem Familienbild. Hier, die Hüte hat mein kleiner Bruder auf das Bild gemalt, die Masken, Brillen und Schnurrbärte sicher mein Vater der Spaßvogel. Hier“, reicht sie Esperanza lachend das Bild.„Lustig“, freut sich diese und lässt ihren Blick über das Bild gleiten, bis sie an einem Detail hängen bleibt. Marion hätte die Karte sicher nicht so freizügig gezeigt, wäre es ihr aufgefallen.Hinter dem mit einem mexikanischen Sombrero bemalten Kopf ihrer Mutter erkennt sie noch recht gut den siebenarmigen Leuchter, die Menora, ihrer Familie. Mit einem kalten Lächeln stellt Esperanza das Bild auf den Tisch, der ihre beiden Garderobenplätze trennt.„Na, wen ham wa denn da?“, flirtet Jenny Wilhelm an, der mit so vielen Damen in der Garderobe nicht gerechnet hat. „Schmuck sieht er aus, der Herr Hauptscharführer, hier nehm‘ se erst mal ‘n Schluck“, drückt sie Wilhelm mit sanfter Bestimmtheit zwischen zwei vollbusige und spärlich bekleidete Tänzerinnen auf das Sofa.Seine und Esperanzas Blicke treffen sich. Beide schmunzeln und zwinkern sich amüsiert zu. Wilhelm hebt die Schultern und deutet auf die Blumen. „Später“, lächelt Esperanza ihm stumm zu und widmet sich ausgelassen und fröhlich der lebhaften Party.Nach dem dritten Glas Champagner hält Wilhelm seine innere Spannung nicht mehr aus. Endlich will er loswerden, was er seit Tagen geplant und geprobt hat. Lautstark klopft er mit seinem SS-Ring an sein Glas, um sich Gehör zu verschaffen.„Meine liebe Esperanza“, sucht er die Worte in seinem Kopf zusammen. „Heute ist ein besonderer Tag in deinem Leben. Mit deiner unglaublichen Leistung hast du einen großen persönlichen Triumph errungen und reichlich Grund zum Feiern.“„Hört, hört!“, ruft eine der vollbusigen Tänzerinnen, und der Rest des Saals beginnt, Esperanza zu applaudieren und auf sie anzustoßen.„Jedoch der heutige Tag ist aus einem viel wichtigeren Grund besonders", trägt er seinen einstudierten Satz vor und ärgert sich zunehmend darüber, dass Esperanza ständig abgelenkt ist und auch niemand sonst wirklich zuhört. „Seit genau vierzehn Monaten, drei Tagen und vier Stunden kennen wir uns. Du hast mich vom ersten Moment an in deinen Bann gezogen. Wenn ich an dich denke, klopft mein Herz. Wenn ich dich auf der Bühne sehe, klopft mein Herz. Wenn ich dir in die Augen sehe, klopft mein Herz. Ich genieße jede Sekunde mit dir oder mit einer Erinnerung an dich, mit deinem Duft an dem Handschuh, den du zufällig hast fallen lassen.“„Zufällig!“, kichert Jenny „Hört, hört!“Wilhelm versucht, ihre Unterbrechung und die ausgelassene Stimmung zu ignorieren, erhebt seine Stimme und fährt fort: „Der Führer, das Vaterland und das ganze deutsche Volk stehen am Beginn einer großen Reise.“ Esperanza ist etwas verwundert über diese Bemerkung, die unter den gegebenen Umständen völlig unangebracht erscheint.„Danke, Schatz“, unterbricht sie Wilhelm irritiert, „aber diese Reden und Lobeshymnen habe ich schon in der Lobby nach der Show gehört. Wie wäre es mit mehr Champagner?“, versucht sie, die Unbehaglichkeit des Augenblicks zu lindern und die Stimmung wieder anzukurbeln. Hartnäckig entschlossen greift Wilhelm in einem letzten Versuch seinen Plan umzusetzen in die Tasche, umfasst das Kästchen, um ihr den Verlobungsring im richtigen Moment zu präsentieren, und ruft: „Auf diese Reise meine liebe Esperanza, … möchte ich dich …“, stellte er ein Bein etwas vor das andere und beginnt leicht das vordere Knie zu beugen, als es unvermittelt an der Tür klopft.„Herein!“, schreit Esperanza entnervt und fragt sich, ob Wilhelm ihr tatsächlich inmitten der chaotischen After-Show-Party völlig unerwartet und fehl am Platz einen Heiratsantrag machen will.Eine Sekunde später öffnet sich die Tür und ein enormer Blumenstrauß mit Beinen schreitet herein. Eine Hand im weißen Handschuh erscheint zwischen den Blumen und streckt einen Umschlag heraus. „Fräulein Esperanza?“, fragt der Blumenstrauß. Esperanza greift die Karte und bittet Marion das übertrieben bunte Gestrüpp in einen Eimer zu stellen.Nach einer einstudierten Verbeugung dreht sich der in einen schwarzen Frack gekleidete Bote herum und verlässt den Raum.Alle Blicke sind auf den Umschlag gerichtet. „Nun mach schon auf“, drängelt Marion.„Sicher wieder ein durchgeknallter Bewunderer“, entgegnet Esperanza, als sie den Umschlag mit einem ihrer noch angeklebten, langen, roten Fingernägel aufschlitzt. „Fehlt nur noch Aftershave und Rosenblätter, die dramatisch aus dem Umschlag fallen“, scherzt Jenny. Und tatsächlich schlägt Esperanza der etwas penetrante Duft von 4711 entgegen.

„Sehr geehrtes Fräulein Esperanza“, beginnt sie zu lesen:„Hiermit möchte ich Ihnen meine größte Hochachtung für Ihre künstlerischen Leistungen aussprechen“,liest Esperanza mit lächerlicher Dramatik weiter vor.„Ihre Kunst, Anmut und arische Kraft lassen Sie schon jetztkometenhaft aufsteigen. Gerne würde ich umgehend und persönlich das weitere Erklimmen Ihrer künstlerischen Erfolgsleiter zum Firmament der Deutschen Reichskultur mit Ihnen besprechen. Mein Wagen steht Ihnen um 23:00 Uhr am Bühneneingang zur Verfügung und wird Sie, geschätztes Fräulein Esperanza, zu meinem Haus am Wannsee bringen.HochachtungsvollJoseph GoebbelsHeil Hitler.“

Nun sind alle Blicke auf Esperanza gerichtet. Die Stimmung ist schlagartig auf den Nullpunkt gefallen.„Wenn ich mir den kommenden Abend auf Kölsch und mit 4711 vorstelle, buäh“, schüttelt es Jenny, „du wirst doch nicht…“„Was werde ich nicht…?“, faucht Esperanza ihre Freundin an. In ihrem Kopf überschlagen sich die Gedanken, um eine für ihre Karriere wichtige Entscheidung zu treffen. „Oh Gott, soll ich wirklich zu ihm gehen? Er ist der Leiter des Propagandaministeriums. Er ist für alle Musik-, Film- und Kulturproduktionen zuständig", denkt sie. "Wenn er befiehlt, ich werde ein Star, dann werde ich ein Star."Gedanklich abwesend wirft sie einen Blick auf Wilhelm, der immer noch wie erstarrt dasteht und völlig fassungslos beobachtet, was aus dem Abend geworden ist, auf den er all seine Hoffnung für ihre gemeinsame Zukunft gesetzt hat.„Na, zum Bock…“, greift Jenny ihre Frage noch einmal auf. „… von Babelsberg“, ergänzen die anderen den ängstlichen Satz von Marion.„Lasst mich mal kurz allein“, bittet Esperanza und weist zur Tür, „Wilhelm, du auch bitte. Ich muss nachdenken. Was wolltest du mir denn...? Vergiss es, wir reden morgen.""Oh, ja, natürlich. Es war nichts Wichtiges. Wir haben noch viel Zeit", antwortet Wilhelm wie betäubt.„Übrigens“, sagt sie ernst und reicht Wilhelm Marions bemaltes Bild, „das wird dich interessieren, schau dir das Bild von Marions Eltern etwas genauer an.“„Wie ein Tier, das zur Schlachtbank geführt wird, hat Wilhelm keine Kraft zu widersprechen, nimmt wortlos das Bild und verlässt mit den anderen den Raum.Pünktlich um elf Uhr abends hält eine stattliche Mercedes Limousine vor dem Bühneneingang.„He Männeken, hier könn‘ se nich‘ paaken, sehn‘ ‘se nich‘ det‘ Schild? Paaken vaboten!“, steckt der Pförtner seinen Kopf zum Fenster heraus.„Spezielle Anordnung von Herrn Propagandaminister Goebbels.“„Na, wenn ‘se meinen“, klappt die Luke des Pförtners mit einem Knall zu.In einer dunklen Ecke zündet sich ein schattenhafter Jemand eine Zigarette an. Nur die Spitzen seiner auf Hochglanz polierten Stiefel werden von dem fahlen Licht der Gaslampe beleuchtet, als Esperanza in ihrem besten Abendkleid das Theater verlässt.Nervös fummelt der Schatten an einem kleinen Schmuckkästchen in seiner Hosentasche herum. „Bis Morgen“, sagt sie noch im Vorbeigehen, als der Pförtner den Schlüssel zu ihrer Garderobe entgegennimmt.Kaum ist sie die fünf Stufen zur Straße heruntergelaufen, öffnet der Chauffeur ihr bereits elegant die Wagentür. Der Schlägertyp, der sich gelangweilt auf dem vorderen Beifahrersitz räkelt und raucht, schenkt all dem keine Aufmerksamkeit, bis sich der Schatten aus der dunklen Häuserecke löst und Esperanza mit einem schmerzhaften, festen Griff an den Oberarm am Einsteigen hindern will.„Du gehst da nicht hin, zu diesem Bock!“, zischt Wilhelm ihr ins Ohr. „Du kommst mit mir, du wirst dich nicht zu seiner Hure oder zur Hure des Reichs machen“, versucht Wilhelm noch zu sagen, als er plötzlich den kalten Lauf einer P08 Luger an seinem Hals spürt.„Beleidijung eines hohen Staatsbeamten, da werd ick wohl Meldung machen“, hört Wilhelm die raue Stimme des Schlägertypen in schneidigem Berliner Dialekt sagen, während dieser ihm den Lauf tiefer in den Hals bohrt und seinen Kopf auf der Kühlerhaube fixiert. „Ick denke einije Monate Sondabehandlung warten schon auf Sie, Herr Hauptscharführer Kaiser!“, liest er Wilhelms Namensschild. „Und jetz Abflug, sonst mach ick dir neue Knopflöcher in de Uniform.“Mit einem tiefen Brummen des starken Motors setzt sich der schwarze Mercedes in Bewegung. Die roten Reichsfahnen auf den Kotflügeln flattern fröhlich im Fahrtwind.

Theater Lemberg, (Liev) Polen 1943

Sieben Jahre sind vergangen und Esperanza befindet sich als gefeierte Star-Sängerin auf Tournee durch die von der Wehrmacht besetzen Ostgebiete.

Als sie die Garderobe des Theaters in Lemberg betritt, berührt sie eine Energie in diesem Raum, die nur Theaterleute wahrnehmen können. Sie spürt die Musiker, die sich wohl vor kurzem noch auf eine Vorstellung vorbereitet haben.Der Geist der Musik, des Lachens und der Anspannung vor der Vorstellung ist noch deutlich zu spüren. „Es ist wie ein Knistern, das wie ein Elmsfeuer die Wände entlangläuft“, denkt sie müde von der Reise. Mit einem tiefen Seufzer stellt sie ihre Tasche und den Bandoneonkoffer auf die durchgesessene Couch. Von Lublin war es nicht weit gewesen, aber die Straßen waren schlecht. Oft hatten sie anhalten oder Umwege fahren müssen, da die Offiziere, die für ihre Sicherheit verantwortlich waren, Anschläge des polnischen Widerstandes erwartet hatten. Die Wochen vorher waren nicht minder kräftezehrend gewesen. In Berlin und Dresden hatte sie unter großem Jubel und viel Applaus ihre letzten Konzerte im Reich gegeben. Dann feierte sie Erfolge vor den Offizieren und ausgewählten Soldaten, die in Polen stationiert waren. Katowice, Warschau und Lublin waren die Orte gewesen, wo sie mit ihrem eigenen kleinen Orchester auftrat. Zum Rasen brachte sie dort ihr Publikum, wenn sie zum Finale im roten Kleid über ihr Bandoneon gebeugt in einem gleißenden Lichtkegel saß. Das Bandoneon, ein Geschenk ihres argentinischen Vaters, ruhte auf ihren Knien. Ihr langes schwarzes Haar fiel in wilden Locken über ihre Schultern nach vorne und bedeckte einen Teil des Instrumentes. Nur die eine oder andere Verzierung des Balges schimmerte silbern zwischen ihren Locken hervor. Nach einer wohl gesetzten, langen Spannungspause ließ sie das Instrument tief einatmen, wobei sie den Balg über einen Meter auseinanderzog. Gleichzeitig öffnete sie langsam ihre Beine um einige wenige Zentimeter. Mit dem ersten sehnsüchtigen Ton des Instruments warf sie ihre Haare ekstatisch in einem Bogen über ihren Kopf nach hinten und begann mit tiefem Timbre zum Bandoneon zu singen. Dieser winzige Moment hatte bereits erfolgreich in anderen Städten hunderte ausgehungerte Soldaten um den Verstand gebracht. „Ich habe es geschafft“, hatte sie dabei frech ins Publikum geschmunzelt. „Der Abend bei Goebbels hat Früchte getragen. Ich bin ein Star und den Bock habe ich nicht mal herangelassen, nur scharf gemacht habe ich ihn. Eine Weile lasse ich ihn noch seine Geilheit genießen und dann kühle ich ihn wieder ab“, lachte sie in sich hinein, während das Orchester zu einem wilden Arpeggio einsetzte und sie mit ihrer erotischen Stimme das Stück unter Jubel des Publikums zu Ende gebracht hatte.