Der dunkelste aller Zauber - Margaret Rogerson - E-Book
SONDERANGEBOT

Der dunkelste aller Zauber E-Book

Margaret Rogerson

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Traue niemals einem Zauberer …

Wenn es eine Sache gibt, die die 16-jährige Elisabeth weiß, dann: Alle Zauberer sind abgrundtief böse. Seit sie als Findelkind auf den Treppen einer der Großen Bibliotheken von Austermeer ausgesetzt wurde, ist sie zwischen magischen Grimoires großgeworden – Büchern, die in den Regalen flüstern, ihre Eisenketten zum Klirren bringen und sich in tödliche Monster aus Tinte und Papier verwandeln, wenn man sie provoziert. Als durch einen Sabotageakt das gefährlichste Grimoire der ganzen Bibliothek freikommt, wird Elisabeth die Schuld an seinem Ausbruch gegeben. Elisabeth bleibt nichts anderes übrig, als sich ausgerechnet an ihren Erzfeind zu wenden – den Zauberer Nathaniel Thorn. Zusammen mit ihm und seinem dämonischen Diener Silas findet sich Elisabeth bald im Fadenkreuz einer jahrhundertealten Verschwörung wieder. Und diese droht, nicht nur alle Großen Bibliotheken in Flammen aufgehen zu lassen, sondern die ganze Welt …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 637

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MARGARET ROGERSON

Aus dem Englischen von Claudia Max

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Copyright © 2019 by Margaret Rogerson

Published by arrangement with Margaret Rogerson

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Sorcery of Thorns« bei MARGARET K. McELDERRY BOOKS, an imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division, New York

Aus dem Englischen von Claudia Max

Lektorat: Regine Teufel

Umschlaggestaltung und Artwork: © Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung mehrerer Bilder von © Shutterstock (oksana2010; Runrun2)

sh · Herstellung: UK

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24901-4V001www.cbj-verlag.de

Für alle Mädchen, die sich in Büchern gefunden haben.

1

DIENACHTBRACHHEREIN, als der Tod in der Großen Bibliothek von Summershall vorfuhr. Er traf in einer Kutsche ein. Elisabeth stand im Hof und beobachtete die Pferde, die mit wildem Blick und Schaum vor den Mäulern durch die Tore galoppierten. Über ihr loderten in den Turmfenstern der Großen Bibliothek die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs, als stünden die Räume dahinter in Flammen. Das Licht wich schnell immer weiter nach oben zurück. Die auf der regennassen Brüstung der Bibliothek wachenden Engel und Wasserspeier warfen lange Schattenfinger.

Die Kutsche hielt schlingernd an; auf der Seite glänzte ein vergoldetes Emblem: ein Kreuz aus Feder und Schlüssel, das Emblem des Collegiums. Eisenstäbe machten aus dem hinteren Teil der Kutsche eine Gefängniszelle. Trotz der kühlen Nacht hatte Elisabeth schweißfeuchte Hände.

»Scrivener«, sagte die Frau neben ihr. »Habt Ihr Euer Salz? Eure Handschuhe?«

Elisabeth tastete die Lederriemen, die kreuz und quer über ihren Oberkörper liefen, nach den daran befestigten Beuteln und dem Salzfässchen an ihrer Hüfte ab. »Jawohl, Direktorin.« Das Einzige, was ihr fehlte, war ein Schwert. Doch das würde sie erst als Aufseherin bekommen, nach vielen Jahren Ausbildung am Collegium. Nur wenige Bibliothekarinnen kamen so weit. Entweder gaben sie vorher auf oder sie starben.

»Sehr gut«, lautete die knappe Antwort der Direktorin. Sie war eine unnahbare elegante Frau mit eisbleichen Zügen und flammend rotem Haar. Von ihrer linken Schläfe bis zum Kinn verlief eine aufgeworfene Narbe, die dauerhaft einen Mundwinkel zur Seite zog. Wie Elisabeth hatte sie Lederriemen über der Brust, darunter trug sie allerdings keinen Auszubildendenkittel, sondern die Uniform einer Aufseherin. Die Messingknöpfe ihrer blauen Jacke und die blank geputzten Stiefel glänzten im Laternenlicht. Das Schwert an ihrer Seite war schmal und spitz und am Knauf mit Granaten besetzt.

Das Schwert war berühmt in Summershall. Es trug den Namen Dämonenschlächter und die Direktorin hatte im zarten Alter von neunzehn damit gegen ein Malefict gekämpft. Es hatte ihr die Narbe eingetragen, von der es hieß, dass sie ihr beim Sprechen unerträgliche Schmerzen bereitete. Elisabeth bezweifelte die Korrektheit dieser Gerüchte, doch die Direktorin wählte ihre Worte in der Tat mit Sorgfalt und lächelte niemals.

»Und denkt daran«, fügte die Direktorin schließlich hinzu, »sobald Ihr beim Betreten des Tresorraums eine Stimme in Eurem Kopf hört, ignoriert sie. Wir haben es hier mit einem Klasse Acht zu tun, viele Jahrhunderte alt, damit ist nicht zu spaßen. Es hat im Laufe seiner Existenz Dutzende von Menschen in den Wahnsinn getrieben. Seid Ihr bereit?«

Elisabeth schluckte. Der Kloß in ihrer Kehle verhinderte eine Antwort. Sie konnte kaum glauben, dass die Direktorin mit ihr sprach, und noch viel weniger, dass sie sie herbestellt hatte, um beim Transport einer Lieferung in den Tresorraum behilflich zu sein. Normalerweise wurde eine solche Verantwortung keiner Bibliothekarin übertragen, die noch in Ausbildung war. Hoffnung prallte in ihr hin und her wie ein in einem Haus gefangener Vogel, der zu flüchten versucht, abprallt und es bis zur Erschöpfung immer wieder versucht, weil ein weit entfernter offener Himmel lockt. Doch die Angst flatterte wie ein Schatten hinterher.

Sie gibt mir eine Chance, mich der Ausbildung zur Aufseherin würdig zu erweisen, dachte Elisabeth. Zu versagen, wäre mein Tod, auch wenn ich dann zumindest nützlich wäre. Sie können mich im Garten begraben und die Radieschen mit mir düngen.

Sie nickte und wischte sich die schweißnassen Hände an ihrem Kittel ab.

Die Direktorin schritt über den Hof und Elisabeth folgte ihr. Der Schotter knirschte unter ihren Absätzen. Je näher sie der Kutsche kamen, umso intensiver wurde der faulige Geruch in der Luft, er erinnerte an mit Wasser vollgesogenes Leder, das am Ufer vor sich hin rottete. Elisabeth war in der Großen Bibliothek aufgewachsen, umgeben von dem Tinte-Pergament-Duft magischer Bücher. Dieser Gestank hier war gänzlich ungewohnt für sie, er ließ ihre Augen tränen und erzeugte Gänsehaut auf ihren Armen. Er machte sogar die Pferde nervös. Sie scheuten in ihrem Zaumzeug und wirbelten den Schotter auf, ohne sich um die Besänftigungsversuche des Kutschers zu kümmern. In gewisser Weise beneidete Elisabeth sie, schließlich wussten sie wenigstens nicht, was sie den ganzen Weg von der Hauptstadt hinter sich hergezogen hatten.

Zwei Aufseher sprangen vom Kutschbock, die Hände auf dem Heft ihrer Schwerter. Elisabeth zwang sich, nicht zurückzuweichen, als sie sie mit finsteren Blicken musterten. Vielmehr richtete sie sich auf, reckte das Kinn und bemühte sich, ebenfalls eine undurchdringliche Miene aufzusetzen. Selbst wenn sie sich nie ein Schwert verdienen sollte, konnte sie zumindest tapfer genug wirken, um eines zu schwingen.

Der Schlüsselring der Direktorin rasselte, die hinteren Türen der Kutsche öffneten sich mit einem zittrigen Ächzen. In der Düsternis schien die Zelle aus Eisenstäben auf den ersten Blick leer zu sein. Doch dann entdeckte Elisabeth einen Gegenstand auf dem Boden: eine flache, viereckige Eisenkassette, die mit mehr als einem Dutzend Schlösser gesichert war. Einem Laien mussten die Vorsichtsmaßnahmen absurd erscheinen – allerdings nicht lange. In der dämmrigen Stille hallte ein einziger dumpfer Schlag aus dem Inneren der Kassette, kraftvoll genug, um die Kutsche erbeben zu lassen und die Türen in den Angeln durchzurütteln. Eines der Pferde wieherte ängstlich.

»Schnell«, sagte die Direktorin. Sie nahm einen der Griffe, Elisabeth packte den anderen. Sie hievten die schwere Kassette hoch und gingen auf die Tür mit der Inschrift zu. Die Schriftrolle über dem Türbogen wurde links und rechts von weinenden Engeln gehalten. OFFICIUMADUSQUEMORTE, war verschwommen im Halbdunkel zu lesen. Das Motto der Aufseher. Pflicht bis in den Tod.

Sie betraten einen langen, bräunlichen Steinkorridor, der von flackernden Kerzen erhellt wurde. Das bleierne Gewicht der Kassette zog bereits an Elisabeths Arm. Dass sich die Kassette plötzlich nicht mehr rührte, war nicht dazu angetan, Elisabeth zu beruhigen. Vielmehr befürchtete sie, dass das Buch darin lauschte. Wartete.

Neben dem Eingang zum Tresorraum wachte ein weiterer Aufseher. Als er Elisabeth neben der Direktorin erkannte, schimmerte Verachtung in seinen kleinen Augen. Dies war Aufseher Finch, ein nörglerischer Mann mit kurzem grauen Haar und einem aufgedunsenen Gesicht, in dem seine Züge versanken wie Rosinen in einem Brotpudding. Unter den Auszubildenden war seine rechte Hand berüchtigt, die größer und muskulöser war als die andere, weil er sie ständig damit auspeitschte.

Elisabeth umklammerte den Griff der Kassette, bis ihre Knöchel weiß hervortraten, und machte sich instinktiv darauf gefasst, dass er sie gleich schlagen würde. Doch vor der Direktorin konnte ihr Finch nichts anhaben. Vor sich hin brummend zog er an einer Kette. Zentimeter für Zentimeter hob sich ein Fallgitter und reckte seine spitzen schwarzen Zähne über ihren Köpfen. Elisabeth trat einen Schritt vor.

Die Kassette schlingerte.

»Immer mit der Ruhe«, fuhr die Direktorin Elisabeth an, als sie beide gegen die Steinwand taumelten und nur mit Mühe das Gleichgewicht halten konnten. Elisabeths Magen krampfte sich zusammen. Ihr Stiefel ragte über den Rand der Wendeltreppe, die in einer schwindelerregenden Spirale in die Dunkelheit hinunterführte.

Ihr schwante die schreckliche Wahrheit. Das Grimoire, das Zauberbuch, hatte sie zu Fall bringen wollen. Sie malte sich aus, wie die Kassette die Treppe hinuntergepoltert und auf die Steinplatten am Ende geschlagen und aufgebrochen wäre … Es wäre ihre Schuld gewesen …

Die Hand der Direktorin packte sie an der Schulter. »Schon gut, Scrivener. Es ist ja nichts passiert. Haltet Euch am Geländer fest und geht weiter.«

Mit Anstrengung wandte sich Elisabeth von Finchs missbilligendem Blick ab. Sie stiegen die Treppe hinab. Eine unterirdische Kälte wehte ihnen entgegen, sie roch nach kaltem Stein und Schimmel und etwas weniger Natürlichem. Der Stein selbst verströmte die Niedertracht der alten Gegenstände, die seit Jahrhunderten in der Dunkelheit schmachteten und deren Bewusstsein weder Schlaf fand noch träumen konnte. In der von Tausenden Pfunden Erde gedämpften Stille hörte Elisabeth nur den eigenen Herzschlag.

In ihrer Kindheit hatte sie die unzähligen Ecken und Winkel der Großen Bibliothek erforscht, in zahllose Geheimnisse hineingespäht, doch im Tresorraum war sie noch nie gewesen. Wie etwas Unaussprechliches, das sich unter dem Bett versteckte, hatte dieser ihr ganzes Leben unter der Bibliothek gelauert.

Dies hier ist meine Chance, rief sie sich in Erinnerung. Sie durfte keine Angst haben.

Sie kamen in eine Kammer, die der Gruft einer Kathedrale ähnelte. Die Wände, die Decke und der Boden waren alle aus demselben grauen Stein geschlagen. Die geriffelten Säulen und die Gewölbedecke zeugten von Kunstfertigkeit und sogar Ehrerbietung. In den Wandnischen flackerten zu Füßen der Engel Kerzen. Mit traurigen, umschatteten Augen wachten sie über Reihen eiserner Regale, die in der Mitte des Tresorraumes Gänge bildeten. Im Gegensatz zu den Regalen im überirdischen Teil der Bibliothek waren diese hier festgeschweißt. Ketten sicherten die verschlossenen Kassetten, die wie Schubladen zwischen die Regalböden passten.

Elisabeth redete sich zu, dass das Flüstern, das im Vorbeilaufen aus den Kassetten kam, nur in ihrer Einbildung existierte. Auf den Ketten lag eine dicke Staubschicht. Die meisten der Kassetten waren seit Jahrzehnten nicht herausgenommen worden und ihre Bewohner lagen in tiefem Schlaf. Trotzdem prickelte Elisabeths Nacken, als würde sie beobachtet.

Die Direktorin führte sie zu einer Zelle hinter den Regalen, in deren Mitte ein Tisch am Boden festgeschraubt war. Eine einsame Öllampe warf einen geblichen Schimmer über die tintenfleckige Platte. Die Kassette verhielt sich beunruhigend kooperativ, als sie sie neben vier tiefen Kerben absetzten, die aussahen, als hätten gewaltige Klauen das Holz des Tisches zerkratzt. Elisabeths Blick wanderte immer wieder zu diesen Schrammen. Sie wusste, wie sie entstanden waren. Und was passierte, wenn ein Grimoire außer Kontrolle geriet.

Es verwandelte sich in ein Malefict.

»Welches ist die erste Vorsichtsmaßnahme, die wir ergreifen?« Die Direktorin riss Elisabeth aus ihren Gedanken. Die Prüfung hatte angefangen.

»Salz«, antwortete sie und griff nach dem Behälter an ihrer Hüfte. »Salz schwächt wie Eisen die dämonische Energie.« Ihre Hand zitterte leicht, als sie die Kristalle zu einem schiefen Kreis ausschüttete. Der Anblick der unregelmäßigen Kontur trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Was, wenn sie am Ende doch noch nicht so weit war?

Eine leise Andeutung von Wärme milderte die strenge Miene der Direktorin. »Wisst Ihr, warum ich Euch behalten habe, Elisabeth?«

Elisabeth erstarrte, ihr stockte der Atem. Die Direktorin hatte sie noch nie bei ihrem Vornamen genannt – immer nur bei ihrem Nachnahmen, Scrivener, oder manchmal bloß »Auszubildende«, je nachdem, wie tief Elisabeth gerade im Schlamassel steckte, was häufig sagenhaft tief war. »Nein, Direktorin«, sagte sie.

»Hmm. Es stürmte, das weiß ich noch. Die Grimoires waren unruhig in jener Nacht und veranstalteten einen derartigen Lärm, dass ich das Klopfen an der Haustür kaum hörte.« Elisabeth konnte sich die Szene nur allzu gut vorstellen. Gegen die Fensterscheiben peitschender Regen, während die Bücher heulten und schluchzten und an ihren Fesseln rüttelten. »Als ich Euch auf den Treppenstufen fand und ins Haus trug, war ich mir sicher, dass Ihr weinen würdet. Doch Ihr saht Euch um und fingt zu lachen an. Ihr hattet keine Angst. In diesem Moment war mir klar, dass ich Euch nicht in ein Waisenhaus fortschicken konnte. Ihr gehörtet ebenso in die Bücherei wie die Bücher.«

Elisabeth hatte diese Geschichte schon früher gehört, allerdings nur von ihrer Tutorin, nie von der Direktorin persönlich. Zwei Worte hallten mit der Lebhaftigkeit eines Herzschlages durch ihren Kopf: Ihr gehörtet. Es waren die Worte, auf die sie sechzehn Jahre gewartet hatte und von denen sie verzweifelt hoffte, dass sie zutrafen.

In atemloser Stille beobachtete sie, wie die Direktorin nach ihren Schlüsseln griff und den größten wählte. Er war so alt, dass er beinahe bis zur Unkenntlichkeit verrostet war. Für die Direktorin war die Zeit für Sentimentalität offenbar vorbei. Elisabeth gab sich damit zufrieden, das stumme Gelübde zu wiederholen, das sie gehalten hatte, solange sie zurückdenken konnte. Eines Tages würde auch sie eine Aufseherin werden. Sie würde die Direktorin stolz machen.

Als sich der Kassettendeckel knarrend öffnete, rieselte Salz auf den Tisch. Der durchdringende Gestank nach fauligem Leder, der durch den Tresorraum wehte, löste einen Würgereiz bei ihr aus.

In der Kassette lag ein Grimoire. Es war ein dicker Band mit zerfledderten gelblichen Seiten zwischen zwei fettigen schwarzen Lederstücken. Wären da nicht die knollenartigen Auswölbungen auf dem Einband gewesen, hätte es recht gewöhnlich ausgesehen. Sie ähnelten riesigen Warzen oder den Blasen auf einer Teergrube, jede hatte die Größe einer Riesenmurmel. Insgesamt waren es Dutzende, sie beulten beinahe jeden Zentimeter der Lederoberfläche aus.

Die Direktorin zog ein paar schwere eisengefütterte Handschuhe über. Elisabeth folgte hastig ihrem Beispiel. Als die Direktorin das Buch aus der Kassette nahm, biss sie sich nervös auf die Innenseite ihrer Wange.

In dem Moment, in dem die Direktorin das Buch in den Salzkreis auf dem Tisch legte, platzten die Beulen auf. Doch es waren keine Warzen – sondern Augen. Augen in jeder erdenklichen Farbe, blutunterlaufen rollten sie hin und her; als sich das Grimoire in den Händen der Direktorin wand, weiteten und verengten sich die Pupillen im Wechsel. Sie biss die Zähne zusammen und öffnete es gewaltsam. Elisabeth streckte im Reflex die Hand in den Salzkreis und drückte die andere Seite herunter, durch ihre Handschuhe spürte sie, wie das Leder zuckte und sich aufbäumte. Wütend. Lebendig.

Diese Augen waren keine Zaubertricks. Sie waren echt, vor langer Zeit aus menschlichen Köpfen herausgerissen, geopfert, um ein Buch zu erschaffen, das machtvoll genug für die Zaubersprüche war, die in seine Seiten geätzt waren. Der Geschichtsschreibung zufolge hatten sich die meisten Opfer nicht freiwillig zur Verfügung gestellt.

»Das Buch der Augen«, erklärte die Direktorin völlig ruhig. »Es enthält magische Formeln, die Zauberern Einblick in die Köpfe anderer erlauben, um ihre Gedanken zu lesen oder vielleicht sogar ihr Handeln zu beeinflussen. Glücklicherweise bekamen nur eine Handvoll Zauberinnen und Zauberer im ganzen Königreich die Erlaubnis, es zu lesen.«

»Warum sollten sie das auch wollen?«, platzte Elisabeth heraus. Die Antwort lag nahe. Zauberer waren von Natur aus böse und verdorben von der dämonischen Magie, die sie ausübten. Hätte es jene Reformen nicht gegeben, die es Zauberern verboten, Bücher mit menschlichen Körperteilen einzubinden, wären Grimoires wie das Buch der Augen nicht so außergewöhnlich selten. Zauberer hatten natürlich im Laufe der Jahre versucht, weitere zu schaffen, doch die magischen Formeln ließen sich nicht auf gewöhnliche Materialien schreiben. Die Macht der Magie würde die Tinte und das Pergament auf der Stelle in Asche verwandeln.

Zu Elisabeths Überraschung nahm die Direktorin ihre Frage ernst, obwohl sie sie nicht länger ansah. Sie blätterte konzentriert die Seiten durch, um sie auf mögliche Beschädigungen durch die Reise zu untersuchen. »Vielleicht kommt eine Zeit, in der wir diese Zauber brauchen, auch wenn sie abscheulich sind. Wir tragen eine große Verantwortung für unser Königreich, Scrivener. Würde dieses Grimoire zerstört, wären seine Zauberformeln für immer verloren. Es ist das Einzige seiner Art.«

»Jawohl, Direktorin.« Diese Begründung konnte sie nachvollziehen. Aufseher schützten sowohl die Grimoires vor der Welt als auch die Welt vor den Grimoires.

Angespannt sah sie zu, wie die Direktorin sich, ohne zu antworten, vorbeugte, um einen Fleck auf einer Seite zu begutachten. Grimoires der höheren Klassen zu transportieren, war riskant, weil jede zufällige Beschädigung sie in ein Malefict verwandeln konnte. Vor ihrer Beisetzung im Tresorraum mussten sie sorgfältig überprüft werden. Elisabeth war sich sicher, dass mehrere der Augen, die unter dem Einband hervorspähten, auf sie gerichtet waren – und dass sie hinterhältig funkelten.

Sie wusste intuitiv, dass sie ihrem Blick ausweichen musste. In der Hoffnung, sich abzulenken, spähte sie auf die Seiten. Einige Sätze waren in Austermeerisch oder Alter Sprache geschrieben. Andere waren in Henochisch hingekritzelt, der Sprache der Zauberer, mit den seltsamen gezackten Runen, die wie glühende Kohlen auf dem Pergament leuchteten. Es war eine Sprache, die man nur lernen konnte, wenn man mit Dämonen Umgang hatte. Der bloße Anblick der Runen ließ es in Elisabeths Schläfen pochen.

»Auszubildende …«

Das Flüstern schlitterte gegen ihre Gedanken, fremd und unerwartet wie die kalte glitschige Berührung eines Fisches in einem Teich. Elisabeth fuhr zusammen und blickte auf. Falls die Direktorin die Stimme ebenfalls gehört hatte, zeigte sie es jedenfalls nicht.

»Auszubildende, ich sehe dich …«

Elisabeth hielt die Luft an. Sie befolgte die Anweisung der Direktorin und versuchte, die Stimme auszublenden, doch das Wissen um die vielen auf sie gerichteten Augen, in denen unheilvolles Wissen glänzte, machte es unmöglich, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.

»Schau mich an … Schau …«

Langsam, aber unbeirrbar, als würde er von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, wanderte Elisabeths Blick nach unten.

»Das war’s«, sagte die Direktorin. Ihre Stimme klang matt und verzerrt, als spreche sie unter Wasser. »Wir sind fertig. Scrivener?«

Als Elisabeth keine Antwort gab, schlug die Direktorin das Grimoire zu und machte dem Flüstern ein Ende. Elisabeths Sinne kehrten zurück. Sie holte Luft, ihr Gesicht glühte vor Demütigung. Die Augen quollen wütend aus dem Einband und zuckten zwischen der Direktorin und ihr hin und her.

»Gut gemacht«, lobte die Direktorin. »Ihr habt wesentlich länger durchgehalten, als ich erwartet habe.«

»Fast hätte es mich herumgekriegt«, flüsterte Elisabeth. Wie konnte die Direktorin ihr gratulieren? Auf ihrer Haut klebte kalter Schweiß, und es war so feuchtkalt im Tresorraum, dass sie zitterte.

»Ja. Aber genau das wollte ich Euch heute Abend zeigen. Ihr wisst Grimoires zu nehmen, Ihr habt einen Draht zu ihnen, wie ich es noch nie zuvor bei einer Auszubildenden erlebt habe. Trotzdem habt Ihr noch viel zu lernen. Ihr wollt eine Aufseherin werden, oder?«

Ausgesprochen vor der Direktorin und bezeugt von den Engelsstatuen an den Wänden, kam Elisabeths leise Antwort einem Geständnis gleich. »Das ist mein innigster Wunsch.«

»Denkt trotzdem daran, dass Euch viele Wege offenstehen.«  Der durch die Narbe schiefe Mund der Direktorin sah beinahe wehmütig aus. »Ihr müsst Euch ganz sicher sein, bevor Ihr die Entscheidung trefft, dass das Leben einer Aufseherin wirklich Euer wahrer Wunsch ist.«

Elisabeth nickte, wagte aber nicht zu sprechen. Wenn sie die Prüfung bestanden hatte, warum riet ihr die Direktorin dann, in Erwägung zu ziehen, ihren Traum aufzugeben? Vielleicht hatte sie sich an anderen Stellen als unvorbereitet und ahnungslos erwiesen. In diesem Falle musste sie sich einfach mehr Mühe geben. Ihr blieb noch ein Jahr, bevor sie siebzehn wurde und für das Training am Collegium infrage kam – Zeit, um zu beweisen, dass sie über jeden Zweifel erhaben war, und um sich die Anerkennung der Direktorin zu verdienen. Hoffentlich würde sie ausreichen.

Gemeinsam wuchteten sie das Grimoire in die Kassette zurück. Sobald es das Salz berührte, gab es seinen Widerstand auf. Die Augen drehten sich nach oben und zeigten weiße milchige Halbmonde, bevor sie zuklappten. Das Knallen des Deckels erschütterte die Grabesstille des Tresorraums. Die Kassette würde jahrelang, vielleicht jahrzehntelang nicht mehr geöffnet werden. Sie war gesichert. Sie stellte keine Bedrohung mehr dar.

Doch Elisabeth konnte den Klang der Stimme nicht aus ihren Gedanken verbannen, ebenso wenig das Gefühl, das Buch der Augen nicht das letzte Mal gesehen zu haben – und dass es umgekehrt sie nicht zum letzten Mal gesehen hatte.

2

ELISABETHLEHNTESICHZURÜCK und bewunderte die Aussicht, die sie von ihrem Schreibtisch aus hatte. Sie war den Überführungen auf der dritten Etage zugeteilt worden, ein guter Aussichtspunkt, von dem sie quer durch den Lichthof der Bibliothek blicken konnte. Durch die Fensterrosette hoch über dem Eingangsportal strömte Sonnenlicht und warf rubinrote und saphir- und smaragdfarbene Prismen auf die Bronzegeländer der kreisrunden Galerien. Bücherregale reichten bis zur Gewölbedecke über den sechs Stockwerken, die sich wie die Schichten einer Hochzeitstorte oder die Reihen eines Kolosseums um den Lichthof erhoben. Der widerhallende Raum war von Gemurmel erfüllt, das gelegentlich von einem Husten oder Schnarchen unterbrochen wurde. Die meisten dieser Geräusche stammten nicht von den blau gewandeten Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, die über die Fliesen des Innenhofs eilten. Sondern von den Grimoires, die in den Regalen vor sich hin brummten.

Als Elisabeth Luft holte, füllten sich ihre Lungen mit der Süße von Pergament und Leder. Staubkörnchen schwebten reglos in den Sonnenstrahlen wie an Harz klebende Blattgoldflöckchen. Schwankende Stapel von Unterlagen drohten jeden Moment von ihrem Schreibtisch zu stürzen und sie unter einer Lawine unbearbeiteter Überführungsanfragen zu begraben.

Widerwillig wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem wachsenden Stapel zu. Die Große Bibliothek von Summershall war eine der sechs Großen Bibliotheken im Königreich. Die nächste war jeweils drei Tagesreisen entfernt. Die Großen Bibliotheken waren kreisförmig und in einem regelmäßigen Abstand in Austermeer verteilt und durch die Tintenstraßen verbunden, die sich wie Radspeichen aus der Hauptstadt in der Mitte auffächerten. Grimoires von einer Bibliothek in die andere zu überführen, konnte eine heikle Aufgabe darstellen. Manche Bände hegten einen so machtvollen Groll aufeinander, dass sie vom selben Standort nur mit vielen Meilen Abstand fortgebracht werden konnten, weil sie ansonsten heulend in Flammen aufgegangen wären. In der Wildnis von Wildmarch gab es tatsächlich einen Krater, so tief wie ein Haus hoch, dort waren zwei Bücher über eine thaumaturgische Doktrin aneinandergeraten.

Als Auszubildender waren Elisabeth die Bewilligung von Überführungen der Klassen eins bis drei anvertraut worden. Grimoires wurden auf einer Zehnerskala nach dem Grad ihrer Gefährlichkeit eingestuft; alles ab Klasse vier bedurfte einer Sonderverwahrung. Summershall verfügte nur über Werke bis Klasse acht.

Sie schloss die Augen und griff nach dem obersten Blatt auf dem Stapel. Knockfeld, vermutete sie, Summerhalls Nachbar im Nordosten.

Doch als sie das Blatt umdrehte, war es eine Anfrage der Königlichen Bibliothek. Wenig überraschend, dorthin gingen zwei Drittel aller Überführungen. Eines Tages würde sie vielleicht ebenfalls ihre Habseligkeiten zusammenpacken und dorthin reisen. Die Königliche Bibliothek befand sich im Herzen der Hauptstadt auf dem Gelände des Collegiums, und wenn sie nicht mit ihrem Training zur Aufseherin beschäftigt war, könnte sie dort durch die Gänge wandeln. In ihrer Vorstellung erstreckten sich die Korridore meilenweit, mit Büchern entlang der Wände und Durchgänge und Geheimräume, die sämtliche Geheimnisse des Universums enthielten.

Allerdings nur, wenn es ihr gelang, von der Direktorin anerkannt zu werden. Seit der Nacht im Tresorraum war eine Woche vergangen, und noch immer wusste sie nicht, wie sie den Ratschlag der Direktorin deuten sollte.

Sie erinnerte sich noch genau an den Moment, als sie sich vorgenommen hatte, eine Aufseherin zu werden. Sie war acht gewesen und hatte sich in die Geheimgänge der Bibliothek geflüchtet, um den Lektionen von Master Hargrove zu entkommen. Sie hatte es keine weitere Stunde ertragen können, in dem stickigen, vom Lagerraum zum Klassenzimmer erklärten Raum auf einem Hocker herumzuzappeln und Deklinationen in Alter Sprache zu wiederholen. Schon gar nicht an einem Nachmittag, an dem der Sommer gegen die Bibliothekswände trommelte und die Luft in dickflüssigen Honig verwandelte.

Elisabeth konnte es noch immer spüren, wie ihr der Schweiß die Wirbelsäule hinuntergelaufen war, als sie auf Händen und Füßen durch die Spinnweben des engen Durchgangs kroch. Dort war es zumindest dunkel und man sah die Sonne nicht. Durch die Bohlen drang ein goldener Schimmer und spendete ausreichend Licht, um den herumhuschenden Staubläusen auszuweichen, die panisch herumrannten, nachdem sie sie aus ihren Nestern gescheucht hatten. Manche waren so groß wie Ratten, weil sie sich mit verzaubertem Pergament vollgestopft hatten.

Hätte Master Hargrove doch eingewilligt, sie an diesem Tag in die Stadt mitzunehmen! Es war bloß ein fünfminütiger Spaziergang durch den Obstgarten und den Hügel hinunter. Auf dem Markt hätten sich die Menschen gedrängt und Bänder und Äpfel und Plunderteilchen verkauft, manchmal kamen auch fahrende Händler vorbei, um ihre Waren feilzubieten. Einmal hatte sie Akkordeonmusik gehört und einen Tanzbären gesehen und sogar einen Mann, der eine Lampe vorführte, deren Docht ohne Öl brannte. Da die Bücher in ihrem Klassenzimmer ihr nicht hatten erklären können, wie die Lampe funktionierte, ging sie davon aus, dass sie magisch und somit böse war.

Vielleicht war es der Grund, warum Master Hargrove sie nicht gern in die Stadt mitnahm. Begegnete sie außerhalb der geschützten Bibliothek einem Zauberer, würde er sie womöglich verschleppen. Ein junges Mädchen wie sie wäre zweifelsohne ein perfektes Opfer für ein dämonisches Ritual.

Stimmen holten Elisabeth in die Realität zurück. Sie redeten direkt unter ihr. Die eine war die von Master Hargrove, die andere die der …

Der Direktorin.

Ihr Herzschlag setzte aus. Sie legte sich flach auf die Dielenbretter und spähte durch ein Astloch; das durchschimmernde Licht ließ dabei ihre wirren Haare glänzen. Sie konnte nicht viel erkennen: einen Streifen Tisch, der mit Papieren bedeckt war, die Ecke eines ihr unbekannten Büros. Die Vorstellung, dass es womöglich das der Direktorin war, beschleunigte ihren Puls.

»Das ist nun schon das dritte Mal diesen Monat«, sagte Hargrove gerade, »und ich bin schlicht mit meiner Weisheit am Ende. Dieses Mädchen ist eine halbe Wilde. Verschwindet wer weiß wohin, gerät in jeden nur denkbaren Ärger – erst letzte Woche hat sie eine ganze Kiste lebender Staubläuse in meinem Schlafzimmer losgelassen!«

Elisabeth konnte sich gerade noch beherrschen, einen Einwand durch das Astloch zu rufen. Sie hatte diese Staubläuse als Forschungsobjekte gesammelt, nicht etwa, um sie freizulassen. Ihr Verlust war ein schwerer Schlag für sie gewesen.

Doch Hargroves nächster Satz ließ sie die Läuse komplett vergessen.

»Ich muss mir die grundsätzliche Frage stellen, ob es die richtige Entscheidung ist, ein Kind in der Großen Bibliothek aufwachsen zu lassen. Ganz sicher wusste die Person, die sie auf unserer Treppe abgelegt hat, dass wir Findelkinder normalerweise ausbilden. Doch wir nehmen diese Jungen und Mädchen ja erst, wenn sie mindestens dreizehn Jahre alt sind. Ich schließe mich nur ungern der Meinung von Aufseher Finch an, trotzdem sollten wir in Erwägung ziehen, was er von Anfang an gesagt hat: dass die junge Elisabeth in einem Waisenhaus womöglich besser aufgehoben wäre.«

Es verunsicherte sie zwar, aber es war nichts, was Elisabeth nicht schon zuvor gehört hätte. Sie ertrug die Bemerkung, weil sie wusste, dass der Wille der Direktorin ihren Platz in der Bibliothek sicherte. Den Grund dafür wusste sie nicht. Die Direktorin sprach selten mit ihr. Sie war unnahbar und unerreichbar wie der Mond und ebenso geheimnisvoll. Für Elisabeth besaß die Entscheidung der Direktorin, sie aufzunehmen, etwas nahezu Mystisches, etwas aus einem Märchen. Sie konnte weder infrage gestellt noch rückgängig gemacht werden.

Mit angehaltenem Atem wartete sie darauf, was die Direktorin auf Hargroves Vorschlag erwidern würde. Ihre Haut kribbelte.

Doch die Direktorin sagte: »Dasselbe habe ich mich auch schon gefragt, Master Hargrove. Die letzten acht Jahre beinahe täglich.«

Nein – das konnte nicht sein. Das Blut erstarrte in Elisabeths Adern. Das Pochen in ihren Ohren übertönte beinahe alles andere.

»Damals, vor all diesen Jahren, habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, wie es sich auf sie auswirken würde, ohne Gleichaltrige aufzuwachsen. Selbst die jüngsten Auszubildenden sind fünf Jahre älter als sie. Hat sie irgendein Interesse gezeigt, sich mit ihnen anzufreunden?«

»Ich fürchte, ihr Versuch war wenig erfolgreich«, erklärte Hargrove. »Obwohl ihr das womöglich nicht bewusst ist. Vor Kurzem habe ich mitgehört, wie ihr ein Auszubildender erklärt hat, dass Kinder in ihrem Alter gewöhnlich Mütter und Väter haben. Die arme Elisabeth hatte keine Ahnung, wovon er sprach, und erwiderte durchaus fröhlich, dass ihr jede Menge Bücher Gesellschaft leisteten.«

Die Direktorin seufzte. »Ihre Verbundenheit mit den Grimoires ist …«

»Besorgniserregend? O ja. Dass sie nicht unter mangelnder Gesellschaft leidet, liegt, fürchte ich, daran, dass sie die Grimoires als Freunde betrachtet.«

»Eine gefährliche Denkweise. Aber Bibliotheken sind nun mal gefährliche Orte. Das lässt sich nicht leugnen.«

»Zu gefährlich für Elisabeth, denkt Ihr?«

Nein, bettelte Elisabeth. Ihr war bewusst, dass in der Bibliothek keine gewöhnlichen Bücher aufbewahrt wurden. Sie flüsterten auf den Regalbrettern und schauderten unter Eisenketten. Manche spuckten Tinte und bekamen Wutanfälle; andere sangen sich in windstillen Nächten, wenn das Sternenlicht wie Quecksilberstrahlen durch die vergitterten Fenster der Bibliothek strömte, mit hohen klaren Tönen etwas vor. Andere wiederum waren so gefährlich, dass sie im unterirdischen Tresorraum in Salz aufbewahrt werden mussten. Nicht alle waren ihre Freunde. Das war ihr sehr wohl bewusst.

Doch sie fortzuschicken, wäre dasselbe, wie ein Grimoire zwischen leblose Bücher zu stellen, die sich weder bewegen noch sprechen konnten. Bei ihrer ersten Begegnung mit einem solchen Buch hatte sie es für tot gehalten. Sie gehörte nicht in ein Waisenhaus, was immer das war. Vor ihrem inneren Auge ähnelte ein solcher Ort einem Gefängnis, grau und von feuchtem Nebel verhüllt, mit einem Fallgitter gesichert wie der Eingang zum Tresorraum. Die Vorstellung löste eine Angst aus, die ihr die Kehle zuschnürte.

»Wisst Ihr, warum die Großen Bibliotheken Waisen aufnehmen, Master Hargrove?«, fragte die Direktorin schließlich. »Weil sie kein Zuhause und keine Familie haben. Niemanden, der sie vermissen wird, wenn sie sterben. Ich frage mich, ob … Scrivener womöglich nur so lange überlebt hat, weil es der Wunsch der Bibliothek ist. Ob man das Band, das sie mit diesem Ort verbindet, wohl oder übel bestehen lassen sollte.«

»Ich hoffe, Ihr begeht keinen Fehler, Direktorin«, erwiderte Master Hargrove sanft.

»Das hoffe ich auch.« Die Direktorin klang matt. »Sowohl um Scriveners als unseretwillen.«

Elisabeth wartete mit gespitzten Ohren, doch die Beratung über ihr Schicksal schien beendet. Unten knarrten Schritte, die Bürotür schlug zu.

Sie hatte eine Gnadenfrist bekommen – vorläufig. Wie lange würde sie dauern? Wenn die Fundamente ihrer Welt bebten, konnte der Rest ihres Lebens jeden Moment einstürzen. Eine einzige Entscheidung der Direktorin konnte bedeuten, dass sie für immer fortgeschickt wurde. Noch nie hatte sie sich so unsicher, so hilflos, so klein gefühlt.

In diesem Moment, zusammengekauert zwischen Staub und Spinnweben, geklammert an die einzige Rettungsleine in Greifweite, hatte Elisabeth ihren Eid abgelegt. Falls die Direktorin nicht überzeugt war, dass die Große Bibliothek der beste Ort für sie war, würde sie eben den Beweis erbringen müssen. Sie würde eine große und mächtige Aufseherin werden, genau wie die Direktorin. Sie würde allen so lange zeigen, dass sie hierhergehörte, bis auch Aufseher Finch ihr das Recht nicht mehr absprechen konnte.

Außerdem …

Außerdem würde sie alle davon überzeugen, dass sie kein Irrtum war.

»Elisabeth«, zischte eine Stimme in der Gegenwart. »Elisabeth! Schläfst du?«

Erschrocken fuhr sie hoch, die Erinnerung wirbelte wie Wasser in einem Abfluss davon. Sie sah sich um, bis sie die Quelle der Stimme entdeckte. Ein Mädchengesicht spähte zwischen zwei Bücherregalen hervor; sie warf den Zopf über die Schulter und sah sich um, ob jemand in der Nähe war. Eine Brille ließ ihre dunklen klugen Augen noch größer aussehen, ihre aus den Ärmeln herausblitzende braune Haut war mit hastig hingekritzelten Notizen bedeckt. Wie Elisabeth trug sie eine Kette mit einem Schlüssel um den Hals, der sich hell von ihrem Auszubildendenkittel abhob.

Zum Glück war Elisabeth nicht ohne Freundin geblieben. Sie hatte Katrien Quillworthy an dem Tag kennengelernt, an dem sie beide dreizehnjährig ihre Ausbildung begonnen hatten. Aufgrund des Gerüchts, dass sie eine Schachtel Staubläuse unter dem Bett aufbewahrte, hatte keiner von den anderen Auszubildenden ein Zimmer mit Elisabeth teilen wollen. Katrien war jedoch genau deshalb auf sie zugekommen. »Ich hoffe, dass es stimmt«, hatte sie gesagt. »Mit Staubläusen wollte ich experimentieren, seitdem ich das erste Mal von ihnen gehört habe. Sie scheinen immun gegen Zauberei zu sein – Hast du eine Vorstellung, was das für die Wissenschaft bedeutet?« Seit diesem Zeitpunkt waren sie unzertrennlich.

Elisabeth schob unauffällig ihre Papiere beiseite. »Gibt es irgendwas?«, flüsterte sie.

»Du bist vermutlich die Einzige, die es nicht mitbekommen hat. Außer Hargrove, der den ganzen Morgen auf dem Klo verbracht hat.«

»Aufseher Finch wird doch nicht etwa zurückgestuft, oder?«, fragte Elisabeth hoffnungsvoll.

Katrien grinste. »Daran arbeite ich noch. Irgendwann finde ich garantiert irgendwas, um ihn zu belasten. Und dann erfährst du es als Erste.« Den Sturz von Aufseher Finch einzufädeln, war seit Jahren ihr Lieblingsprojekt. »Nein, es ist ein Magister. Er ist gerade angekommen, um in den Tresorraum hinunterzugehen.«

Elisabeth wäre fast vom Stuhl gefallen. Sie sah sich schnell um, dann eilte sie hinter das Bücherregal und duckte sich neben Katrien, die so winzig war, dass Elisabeth ansonsten nur ihren Scheitel gesehen hätte. »Ein Magister? Bist du sicher?«

»Absolut. Ich habe die Aufseherinnen und Aufseher noch nie so angespannt gesehen.«

Wenn Elisabeth es sich überlegte, waren die Zeichen dieses Morgens unmissverständlich. Aufseher, die mit vorgeschobenem Kiefer vorbeiliefen und ihr Schwert umklammerten. Auszubildende, die in Gruppen auf den Gängen standen und um jede Ecke flüsterten. Selbst die Grimoires wirkten ruheloser als sonst.

Ein Magister. Angst zitterte durch sie wie eine Note auf den Saiten einer Harfe. »Was hat das mit uns zu tun?«, fragte sie. Keine von ihnen hatte je einen richtigen Zauberer gesehen. Bei ihren seltenen Besuchen wurden sie von den Aufsehern durch eine spezielle Tür direkt in ein Lesezimmer geführt. Ein Magister wurde sicherlich mit noch mehr Vorsicht behandelt.

Katriens Augen glänzten. »Stefan hat eine Wette mit mir abgeschlossen, dass der Magister spitze Ohren und einen Pferdefuß hat. Er irrt sich natürlich, aber ich muss einen Weg finden, ihm das zu beweisen. Ich werde den Magister ausspionieren. Und du musst alles bezeugen.«

Elisabeth hielt die Luft an und spähte automatisch zu ihrem verwaisten Schreibtisch. »Dazu müssten wir in Bereiche, die uns verboten sind.«

»Und Finch würde unsere Köpfe auf Spieße stecken, wenn er uns erwischte«, beendete Katrien den Satz. »Aber das wird er nicht. Er kennt die Schleichwege nicht.«

Ausnahmsweise war Finch mal nicht Elisabeths größte Sorge. Ihr gingen die blutunterlaufenen hervorquellenden Augen durch den Kopf, die auf dem Buch der Augen gewesen waren. Jedes davon hatte früher jemandem wie Katrien oder ihr gehört. »Falls uns der Magister erwischt«, sagte sie, »wird er noch Schlimmeres tun, als unsere Köpfe aufzuspießen.«

»Das bezweifle ich. Seit den Reformen dürfen Zauberer Menschen nur noch aus Notwehr töten. Er würde höchstens dafür sorgen, dass uns die Haare ausfallen oder wir überall Furunkel bekommen.« Sie wackelte lockend mit den Augenbrauen. »Komm schon. So eine Chance hat man nur ein Mal im Leben. Ich zumindest. Wann werde ich sonst je einen Magister zu Gesicht bekommen? Wie oft werde ich Gelegenheit haben, magische Furunkel zu kriegen?«

Katrien wollte Archivarin werden, nicht Aufseherin. Zauberinnen und Zauberer würden nicht zu ihrem Aufgabengebiet gehören. Elisabeth hingegen …

Ein Funke flammte in ihrer Brust auf. Katrien hatte recht; das hier war tatsächlich eine Gelegenheit. Letzte Nacht hatte sie sich vorgenommen, mehr zu unternehmen, um die Direktorin zu beeindrucken. Aufseherinnen hatten keine Furcht vor Zauberern, und je mehr sie über sie lernte, umso besser würde sie vorbereitet sein.

»Also gut.« Elisabeth erhob sich aus der Hocke. »Sie werden ihn höchstwahrscheinlich in das östliche Lesezimmer bringen. Hier lang.«

Während sie sich mit Katrien zwischen den Bücherregalen hindurchschlängelte, schüttelte Elisabeth ihre schwelenden Befürchtungen ab. Sie gab sich alle Mühe, die Regeln nicht zu brechen, aber ihre Versuche hatten die eigenartige Tendenz, fehlzuschlagen. Erst letzten Monat hatte es dieses Desaster mit dem Kronleuchter im Speisesaal gegeben – wenigstens sah die Nase der alten Mistress Bellwether nun fast normal aus. Und dieses eine Mal, als sie alles mit Erdbeermarmelade beschmiert hatte … nun ja. Lieber nicht daran denken.

Als sie die Büste von Cornelius dem Weisen erreichten, die Elisabeth als Orientierungshilfe diente, sah sie sich nach einem vertrauten karmesinroten Einband um. Sie fand ihn auf halber Höhe im Regal, der goldene Titel war zu abgewetzt und abgeblättert, um ihn noch lesen zu können. Die Seiten des Grimoires raschelten eine schläfrige Begrüßung, als sie es kraulte. Aus dem Regal kam ein Knacken, als würde ein Schloss einrasten. Dann schwangen sämtliche Regalbretter nach innen und gaben den verstaubten Eingang eines Geheimkorridors frei.

»Es ist mir schleierhaft, warum das nur bei dir funktioniert«, flüsterte Katrien, als sie sich hineinduckten. »Ich habe es bestimmt ein Dutzend Mal mit Kraulen versucht. Stefan auch.«

Elisabeth zuckte die Achseln. Sie verstand es auch nicht. Sie war damit beschäftigt, nicht zu niesen, als sie Katrien den schmalen gewundenen Korridor hinunterführte, Spinnweben beiseiteschlug, die wie gespenstische Girlanden an den Dachbalken baumelten. Der Ausgang am anderen Ende befand sich hinter einem Gobelin im Lesezimmer. Sie blieben stehen und lauschten, um sicher zu sein, dass der Raum leer war, bevor sie sich in die Ärmel hustend hinter dem schweren Wandbehang hervorkämpften.

Auszubildenden war das Betreten des Lesezimmers untersagt, und Elisabeth war ebenso erleichtert wie enttäuscht, dass der Raum ziemlich normal aussah. Er wirkte einladend und gemütlich mit dem vielen polierten Holz und dem dunklen Leder. Vor dem Fenster stand ein großer Mahagonischreibtisch, mehrere Ledersessel bildeten einen Kreis um einen knisternden Kamin, in dem knackende Scheite eine Funkenfontäne aufschießen ließen, als sie eintraten, was sie zusammenzucken ließ.

Katrien verlor keine Zeit. Während Elisabeth sich umsah, ging sie geradewegs auf den Schreibtisch zu und begann die Schubladen zu durchsuchen. »Rein wissenschaftlich«, beteuerte sie. Das sagte sie häufig, bevor etwas explodierte.

Elisabeth steuerte auf den Kamin zu. »Was ist das für ein Geruch? Der kommt nicht vom Feuer, oder?«

Katrien fächelte sich Luft in die Nase. »Pfeifenrauch?«, tippte sie.

Nein – es war etwas anderes. Elisabeth schnüffelte eifrig und verfolgte den Geruch zu einem der Sessel. Sie atmete über dem Polster ein, schreckte jedoch sofort zurück, als sich ihr der Kopf drehte.

»Elisabeth! Alles in Ordnung mit dir?«

Sie atmete gierig frische Luft ein und blinzelte die Tränen weg. Der beißende Gestank haftete an ihrer Zunge, und zwar so penetrant, dass sie ihn beinahe schmecken konnte: einen versengten unnatürlichen Geruch. So stellte sie sich verbranntes Metall vor, könnte Metall denn brennen.

»Ich glaube schon«, keuchte sie.

Katrien öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch dann warf sie einen Blick zur Tür. »Achtung. Sie kommen.«

Sie drückten sich schnell hinter die Bücherregale an der Wand. Katrien passte problemlos dahinter, doch für Elisabeth stellte sich der Spalt als ziemlich schmal heraus. Schon mit vierzehn war sie das größte Mädchen in Summershall gewesen. Zwei Jahre später überragte sie die meisten Jungen. Sie presste die Arme steif an den Körper und atmete so flach wie möglich, um die Grimoires zu beschwichtigen, die wegen der Störung missbilligend vor sich hin brummten. Vom Gang waren Stimmen zu hören, der Türknauf wurde gedreht.

»Bitte sehr, Magister Thorn«, sagte der Aufseher. »Die Direktorin wird jeden Moment kommen, um Euch in den Tresorraum zu begleiten.«

Elisabeths Magen schlug einen Salto, als eine hochgewachsene Gestalt mit einer Kapuze über dem Kopf hereinkam. Sein smaragdgrüner Umhang bauschte sich um die Knöchel. Der Magister. Er ging zum Fenster, zog die Vorhänge beiseite und schaute zu den Türmen der Bibliothek hinüber.

»Was passiert gerade?«, flüsterte Katrien unter Elisabeths Schulter. »Von hier unten sehe ich nichts.«

Elisabeths Perspektive bestand aus einem horizontalen Streifen über den Buchrücken. Auch sie konnte kaum etwas erkennen. Langsam und vorsichtig bewegte sie sich zur Seite, um einen besseren Blick zu haben. Die blasse Nasenspitze des Magisters kam in Sicht. Er hatte seine Kapuze heruntergezogen. Seine welligen Haare waren rabenschwarz, länger, als die Männer in Summershall sie trugen, und mit einer lebhaften Silbersträhne an der linken Schläfe. Noch ein Stück zur Seite und …

Er ist kaum älter als wir, ging ihr überrascht durch den Kopf. Sowohl die silberne Strähne als auch der Titel hatten sie jemand wesentlich Älteren erwarten lassen. Aber womöglich täuschte sein Aussehen. Vielleicht hatte er sich seine Jugendlichkeit durch ein Bad in Jungfrauenblut bewahrt – davon hatte sie einmal in einem Roman gelesen.

Sie antwortete Katrien mit einem leichten Kopfschütteln. Seine Haare waren zu dick, um bestätigen zu können, dass er spitze Ohren hatte. Eventuelle Pferdehufe wurden vom Saum seines Umhangs verdeckt.

Erneut schüttelte sie den Kopf. Jetzt blickte der Magister auf die Regale. Das Grau seiner Augen war außerordentlich hell und ähnelte Quarz. Der Ausdruck, mit dem sie die Grimoires absuchten, ließ Elisabeths Blut gefrieren. Noch nie hatte sie derart grausame Augen gesehen.

Sie teilte Katriens Zuversicht nicht, dass er ihnen nichts tun würde, wenn er sie fand. Schließlich war sie mit Geschichten über Zauberei aufgewachsen: Armeen, die sich aus Massengräbern erhoben, um für Könige zu kämpfen; Unschuldige, die bei blutrünstigen Ritualen geopfert wurden; Kinder, die als Gaben für die Dämonen gehäutet wurden. Außerdem hatte sie im Tresorraum gesehen, was die Hände eines Zauberers geschaffen hatten.

Als der Magister näher kam, stellte Elisabeth entsetzt fest, dass sie sich nicht rühren konnte. Ein Grimoire hatte ihren Kittel zwischen seinen Seiten festgeklemmt. Es knurrte um den Stoff herum und zerrte wie ein wütender Terrier daran. Die Augen des Zauberers wurden schmal und suchten nach der Ursache des Geräuschs. Verzweifelt zerrte Elisabeth an ihrem Kittel, doch genau in dem Moment ließ das Grimoire los und schleuderte sie gegen die Regalbretter …

Das Regal kippte um und riss sie mit.

3

ELISABETHHATTEOHRENSAUSEN. SIE würgte eine Staubwolke hinunter. Als sie wieder klar sehen konnte, stand der Magister über ihr. »Was ist das hier?«, fragte er.

Ihr verängstigter Schrei kam als Krächzen heraus. Sie kroch eilig in den Haufen aus Büchern und zerbrochenen Brettern. Halb blind vor Angst begriff sie nur langsam, dass es ihr bis auf ein paar höchst unmagische Splitter gut ging. Er hatte sie nicht mit einem Bann belegt. Sie kroch langsamer, hielt dann inne und blickte über die Schulter.

Sie erstarrte.

Der Zauberer war auf ein Knie gesunken und verschränkte die Hände auf dem anderen. Der Schein des Feuers flackerte über sein bleiches Gesicht, die markanten Züge. Sie versuchte, die Augen niederzuschlagen, aber es gelang ihr nicht. Ihr Herz pochte gegen die Rippen. Benutzte er Magie, dass sie den Blick nicht abwenden konnte, oder war sie bloß zu verängstigt, um wegzusehen? Alles an ihm strahlte Niedertracht aus, von den dunklen geschwungenen Augenbrauen bis hin zu dem süffisant verzogenen Mund.

»Habt Ihr Euch verletzt?«, fragte er schließlich.

Sie schwieg.

»Könnt Ihr sprechen?«

Wenn sie nicht antwortete, würde er ihr womöglich Schmerzen zufügen, um ihr eine Reaktion zu entlocken. Mit großer Anstrengung brachte sie ein weiteres Krächzen heraus. Seine Augen funkelten amüsiert.

»Man hat mich gewarnt, dass ich einige Merkwürdigkeiten auf dem Land sehen würde«, sagte er, »aber ich muss zugeben, dass ich nicht erwartet habe, eine wild gewordene Bibliothekarin zwischen den Regalen anzutreffen.«

Elisabeth hatte nur eine sehr vage Vorstellung, wie sie wohl gerade aussehen mochte. Ihre Fingerspitzen waren tintenverschmiert, der Kittel war voller Staub. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal die Haare gebürstet hatte. In verfilzten kastanienbraunen Büscheln standen sie ihr um den Kopf herum. Ihre Stimmung besserte sich ein wenig. Wenn sie schmutzig und unscheinbar genug aussah, erachtete er sie vielleicht seiner Zauberkunst für unwürdig.

»Ich hatte auch nicht erwartet, dass Ihr mich finden würdet«, hörte sie sich sagen. Sofort schlug sie sich die Hand vor den Mund.

»Ihr könnt also doch sprechen. Ihr zieht es bloß vor, nicht mit mir zu reden?« Er zog eine Augenbraue hoch, als sie nickte. »Eine weise Vorsichtsmaßnahme. Schließlich sind wir Zauberer alle furchtbar gemein. Streifen durch die Wildnis, rauben Jungfrauen für unsere ruchlosen Rituale …«

Elisabeth blieb keine Zeit für eine Antwort, es klopfte an die Tür. »Ist alles in Ordnung dort drinnen, Magister? Wir hörten es poltern.«

Diese tiefe harsche Stimme gehörte Aufseher Finch. Elisabeth wich entsetzt zurück und umfasste schützend ihre Handgelenke. Wenn Finch sie in diesem Raum fand – unerlaubterweise und mit einem Magister sprechend –, würde er sich nicht die Mühe mit der Rute machen, sondern sie mit einem Stock halb tot schlagen. Die Striemen würden Tage brauchen, um abzuheilen.

Der Magister musterte sie abschätzend, bevor er sich wieder zur Tür wandte. »Alles bestens«, erwiderte er. »Wenn Ihr gestattet, wünsche ich, nicht gestört zu werden, bis die Direktorin Zeit hat, mich in den Tresorraum zu begleiten. Zaubererangelegenheiten. Äußerst privat.«

»Sehr wohl, Magister.« Finchs Antwort klang widerwillig, aber seine Schritte entfernten sich.

Zu spät wurde sich Elisabeth ihrer Dummheit bewusst. Sie hätte nach Finch rufen sollen. Ihr fielen gleich mehrere Gründe ein, warum der Magister mit ihr allein sein wollte – Stockschläge waren da nichts dagegen.

»Also.« Der Magister drehte sich wieder zu ihr. »Vermutlich räume ich dieses Durcheinander besser auf, bevor man mir die Schuld daran gibt. Ihr werdet Euch also bewegen müssen.« Er löste die Hände vom Knie und streckte ihr eine entgegen. Seine Finger waren lang und schlank wie die eines Musikers.

Sie starrte sie an, als hätte er einen Dolch auf sie gerichtet.

»Na los«, sagte er mit zunehmender Ungeduld. »Ich werde Euch schon nicht in einen Salamander verwandeln.

»Könnt Ihr das?«, flüsterte sie. »Wirklich?«

»Selbstverständlich.« Ein hinterhältiges Glänzen trat in seine Augen. Aber ich verwandle Mädchen immer nur dienstags in Salamander. Zu Eurem Glück ist heute Mittwoch, an diesem Tag trinke ich gewöhnlich einen Kelch Waisenblut zum Abendessen.«

Er wirkte vollkommen ernsthaft. Ihr Kittel, der sie als Auszubildende auswies und somit als Waise, schien ihm entgangen zu sein.

Um ihn abzulenken, ergriff sie seine Hand. Sie hatte ihren Auftrag von Katrien nicht vergessen. Als er sie hochzog, gab sie vor zu stolpern und griff nach seinem schwarz-silbernen Haar. Überrascht zwinkerte er sie an. Er war beinahe genauso groß wie sie, ihre Gesichter berührten sich fast. Seine Lippen teilten sich, als wolle er etwas sagen, aber es kam kein Laut heraus.

Ihr Atem ging schneller. Mit dieser verblüfften Miene sah er weniger wie ein mit Dämonen feilschender Zauberer, sondern eher wie ein ganz gewöhnlicher junger Mann. Seine Haare waren weich und fühlten sich seidig an. Sie hatte keine Ahnung, warum ihr so etwas auffiel. Hastig zog sie die Hand weg und wich zurück.

Zu ihrer Bestürzung grinste er. »Keine Sorge«, versicherte er und strich sich die zerzausten Haare glatt. »Junge Damen haben mich schon an sehr viel kompromittierenderen Stellen gepackt. Ich verstehe, dass der Impuls überwältigend sein kann.«

Ohne ihre Reaktion abzuwarten, drehte er sich zu dem Trümmerhaufen um. Nach kurzem Überlegen hob er die Hand und sprach eine Reihe Wörter, die es in ihren Ohren surren ließen und ihren Kopf von innen nach außen kehrten. Benommen bekam sie mit, dass er Henochisch sprach. Noch nie hatte sie eine Sprache gehört, die so klang. Sie hatte das Gefühl, die Worte zu erkennen, doch in dem Moment, in dem sie sie zu wiederholen versuchte, sickerten die Silben aus ihrem Kopf und ließen eine nackte widerhallende Stille zurück, ähnlich wie die Luft nach einem ohrenbetäubenden Donnerschlag.

Beim Wispern von raschelndem Papier kehrte ihr Hörvermögen zurück. Der Stapel herausgefallener Grimoires hatte sich zu erheben begonnen. Eines nach dem anderen erhoben sie sich in die Luft und schwebten vor der ausgestreckten Hand des Zauberers in smaragdfarbenen Lichtwirbeln. Sie drehten und wendeten und durchmischten sich, sortierten sich wieder in alphabetischer Reihenfolge, während sich das Bücherregal hinter ihnen mit einem schwerfälligen Knarren aufrichtete. Die zerbrochenen Regalbretter verbanden sich; die Grimoires flatterten an ihren ursprünglichen Standort zurück, ein paar zögerliche Nachzügler wechselten in letzter Sekunde die Plätze.

Zauberei, dachte Elisabeth. So sieht Zauberei aus. Und dann, bevor sie sich bremsen konnte: Wunderschön.

Niemals würde sie wagen, einen solchen Gedanken laut auszusprechen. Es grenzte an Betrug, sie hatte der Großen Bibliothek den Eid geschworen.

Doch ein Teil von ihr rebellierte gegen die Vorstellung, dass sie, um eine gute Auszubildende zu sein, die Augen schließen und so tun sollte, als habe sie nichts gesehen. Wie sollte eine Aufseherin vor etwas schützen, das sie nicht verstand? Bestimmt war es besser, dem Bösen ins Auge zu blicken, als sich davor wegzuducken und unwissend zu bleiben.

Noch immer tanzten Smaragdfunken über die aufgeräumten Regalbretter. Als sie einen Schritt vortrat, um die Grimoires zu berühren, spürte sie die Magie über ihre Haut gleiten, hell und kribbelnd, als habe sie die Hände in einen Eimer Champagner getaucht. Überraschenderweise war das Gefühl nicht schmerzhaft. Ihr Körper blieb unversehrt – ihre Hände veränderten weder die Farbe, noch verschrumpelten sie wie Pflaumen.

Doch als sie aufblickte, starrte der Zauberer sie an, als sei ihr ein zweiter Kopf gewachsen. Er hatte erwartet, dass sie Angst haben würde.

»Wo bleibt der Geruch?«, fragte sie ermutigt.

Einen Moment lang schien es ihm die Sprache zu verschlagen. »Der was?«

»Dieser Geruch – nach verbranntem Metall. Das ist Zauberei, oder?«

»Ah.« Zwischen seinen dunklen Brauen bildete sich eine Falte. Vielleicht war sie einen Schritt zu weit gegangen. Doch dann sprach er weiter. »Nicht exakt. Ist die Formel mächtig genug, zeigt er sich als Begleiterscheinung beim Zaubern. Genau genommen ist es nicht der Geruch der Magie, sondern eine Reaktion, wenn die Materie der Anderwelt – also das Reich der Dämonen – mit der unsrigen in Berührung kommt …«

»Vergleichbar mit einer chemischen Reaktion?«, fragte Elisabeth.

Nun sah er sie noch merkwürdiger an. »Ganz richtig.«

»Gibt es einen Namen dafür?«

»Wir bezeichnen es als ätherische Entzündung. Aber woher wusstet Ihr …«

Er sprach nicht weiter, weil an die Tür geklopft wurde. »Wir sind bereit für Euch, Magister Thorn«, sagte die Direktorin draußen.

»Ja«, erwiderte er. »Ja, ich – einen Moment.«

Er warf Elisabeth einen Blick zu, als habe er erwartet, dass sie wie eine Fata Morgana verschwinden würde, sobald er sich umdrehte. Seine blassen Augen durchbohrten sie. Einen Moment lang sah es aus, als könne er noch etwas tun. Einen Abschiedsgruß murmeln oder einen Zauber heraufbeschwören, um sie für ihre Anmaßung zu bestrafen. Sie straffte die Schultern und machte sich auf das Schlimmste gefasst.

Doch dann lief ein Schatten über sein Gesicht und er schloss die Augen. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging wortlos zur Tür. Eine letzte Erinnerung daran, dass er ein Magister und sie eine einfache Bibliotheksauszubildende war, keiner weiteren Beachtung würdig.

Sie schlüpfte atemlos hinter die Regale zurück. Eine Hand schnellte heraus und ergriff ihre.

»Elisabeth, du bist absolut wahnsinnig!«, zischte Katrien und tauchte aus der Dunkelheit auf. »Ich kann nicht glauben, dass du ihn angefasst hast. Ich war die ganze Zeit kurz davor herauszuspringen und ihn mit einem Grimoire niederzuschlagen. Und? Was gibt es zu berichten?«

Elisabeths Nerven vibrierten aufgeregt. Sie lächelte, dann begann sie aus irgendeinem Grund zu lachen. »Keine spitzen Ohren«, keuchte sie. »Sie sind völlig normal.«

Die Tür des Lesezimmers öffnete sich knarrend. Katrien presste eine Hand auf Elisabeths Mund, um ihr Lachen zu ersticken. Und zwar keinen Augenblick zu früh – draußen wartete die Direktorin. Sie wirkte streng wie immer, ihr roter Haarschopf stach wie geschmolzenes Kupfer vom Dunkelblau ihrer Uniform ab. Sie warf einen Blick in den Raum und blieb stehen. Nach kurzem Suchen fanden ihre Augen zielsicher die von Elisabeth, die durch die Regalbretter spähte. Elisabeth erstarrte, doch die Direktorin sagte nichts. Ihr einer Mundwinkel zuckte und zupfte an der Narbe auf ihrer Wange. Danach fiel die Tür zu. Der Magister und die Direktorin waren verschwunden.

4

DERBESUCHDESMAGISTERS war das letzte aufregende Ereignis der Jahreszeit. Der Sommer hatte mit überwältigender, glühender Hitze eingesetzt. Kurz darauf ließ eine Epidemie von Sprödbruch alle erschöpft und elend zurück, weil die betroffenen Grimoires wochenlang mit einem übel riechenden Balsam massiert werden mussten. Elisabeth wurde die Pflege einer Klasse Zwei mit dem Titel Die Erlasse des Benjamin Trout anvertraut, das allerdings die Angewohnheit entwickelte, proaktiv herumzuwackeln, sobald es sie sah. Als der erste Herbststurm über Summershall hinwegfegte, wollte sie nie wieder einen Topf Balsam sehen. Sie wollte sich einfach nur noch ins Bett fallen lassen und jahrelang schlafen.

Stattdessen fuhr sie mitten in der Nacht hoch. Da war ein Geräusch. Draußen peitschte der Wind auf die Bäume ein und heulte durch die Dachvorsprünge. Zweige trommelten im Staccato gegen die Fenster. Der Sturm war zwar laut, trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, aus einem anderen Grund aufgewacht zu sein. Sie setzte sich auf und warf den Quilt beiseite.

»Katrien?«, flüsterte sie.

Katrien drehte sich um und murmelte im Schlaf. Selbst als Elisabeth über den Spalt zwischen ihren Betten langte und sie an der Schulter schüttelte, wachte sie nicht auf. »Erpresse ihn«, brabbelte sie noch immer träumend in ihr Kissen.

Stirnrunzelnd glitt Elisabeth aus dem Bett. Sie zündete die Kerze auf dem Nachttisch an und sah sich um, ob irgendetwas anders war.

Das Zimmer, das sie sich mit Katrien teilte, befand sich ganz oben in einem der Bibliothekstürme. Es war klein und kreisrund, das schmale Fenster, durch das es bei Ostwind immer zog, ließ an eine Burg denken. Alles sah noch genauso aus wie zu dem Zeitpunkt, als Elisabeth ins Bett gegangen war. Auf der Kommode lagen aufgeschlagene Bücher. Andere lehnten in windschiefen Stapeln an den konkaven Steinwänden, auf dem Teppich waren Notizen zu Katriens letztem Experiment verteilt. Elisabeth achtete darauf, nicht auf sie zu treten, als sie zur Tür und auf den Gang lief. Ihre Kerze hüllte sie in einen diffusen Schimmer. Die dicken Wände der Bibliothek dämpften das Heulen des Windes zu einem entfernten Murmeln.

Barfuß und nur mit einem Nachthemd bekleidet, schlich Elisabeth wie ein Geist die Treppe hinunter. Bald stand sie vor einer bedrohlichen mit Eisenbeschlägen verstärkten Eichentür. Die Tür trennte die Bibliothek von den Wohnbereichen und war grundsätzlich abgeschlossen. Bis sie dreizehn gewesen war, hatte sie sie nicht selbstständig öffnen können, sondern musste darauf warten, dass Bibliothekare vorbeikamen und sie hereinließen. Mittlerweile besaß sie einen Großschlüssel und konnte die Außentüren jeder Großen Bibliothek im Königreich aufschließen. Sie trug ihn immer um den Hals; selbst wenn sie schlief oder badete. Schließlich war er ein greifbares Symbol ihres Eids.

Sie hob den Schlüssel, doch dann hielt sie inne und fuhr mit den Fingerspitzen über die raue Tür. Eine Erinnerung blitzte auf: die Klauenspuren auf dem Tisch im Tresorraum. Sie hatten sich in das Holz geschlagen, als sei es Butter.

Nein – unmöglich. Grimoires verwandelten sich nur in Maleficte, wenn sie beschädigt waren. Und so etwas passierte nicht mitten in der Nacht, wenn keine Besucher anwesend und alle Grimoires sicher verwahrt waren. Zumal Aufseher durch die abgedunkelten Gänge patrouillierten und die gewaltige Alarmglocke der Großen Bibliothek bewegungslos von der Decke hing.

Entschlossen, ihre kindischen Ängste zu verscheuchen, schlüpfte sie durch die Tür und schloss sie hinter sich. Die Lampen im Lichthof waren für die Nacht heruntergedreht worden. Ihr Licht schimmerte auf den Goldbuchstaben der Buchrücken und spiegelte sich in den Messinggeländern wider, die die rollbaren Leitern mit den oberen Regalbrettern verbanden. Obwohl Elisabeth die Ohren spitzte, konnte sie nichts Ungewöhnliches feststellen. Rings um sie herum lagen Tausende von Grimoires in friedlichem Schlummer, ihr Schnarchen ließ die Samtbänder zwischen ihren Seiten flattern. In einem Glaskasten ein Stück weiter räusperte sich wichtigtuerisch ein Klasse Vier namens Lord Fustians Anthologie, um auf sich aufmerksam zu machen. Lobte man es nicht mindestens ein Mal am Tag, schnappte es wie eine Muschel zusammen und ließ sich jahrelang nicht mehr öffnen.

Sie schlich weiter und hielt ihre Kerze höher. Alles ist in Ordnung. Geh wieder ins Bett.

Genau in diesem Moment nahm sie ihn wahr – den unverkennbaren Geruch, der ihre Augen tränen ließ. Die letzten Monate fielen von ihr ab und einen Moment lang stand sie wieder in dem Lesezimmer und beugte sich über den Sessel. Ihr Herzschlag setzte aus, um kurz darauf in ihren Ohren zu pochen.

Ätherische Entzündung. Irgendjemand hatte ein Zauberritual in der Bibliothek durchgeführt.

Hastig blies sie die Kerze aus. Ein Knallen ließ sie zusammenzucken. Sie wartete, bis sie es erneut hörte, dieses Mal leiser, fast wie ein Echo. Da sie einen Verdacht hatte, was es sein könnte, schlich sie sich um ein Bücherregal, bis sie das Eingangsportal der Bibliothek sehen konnte. Jemand hatte die Türen offen gelassen und nun schlugen sie im Wind.

Wo waren die Aufseher? Mittlerweile hätte sie jemandem begegnet sein sollen, doch die Bibliothek wirkte verlassen. Kalt vor Angst ging sie auf die Türen zu. Obwohl jeder Schatten nun etwas Unheilvolles barg und sich fingerähnlich über den Boden reckte, wich sie den Mondlichtstreifen aus, um nicht gesehen zu werden.

Als sie halb durch den Lichthof war, spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem nackten Zeh. Sie war gegen etwas auf dem Boden gestoßen. Gegen etwas Kaltes und Hartes – etwas, das im Dunklen glänzte …

Ein Schwert. Und zwar nicht irgendeines – sondern Dämonenschlächter. Die Granate auf dem Knauf glitzerte in der Düsternis.

Benommen hob Elisabeth es auf. Das Schwert zu berühren, fühlte sich falsch an. Dämonenschlächter steckte immer im Gürtel der Direktorin. Sie würde die Waffe nur aus den Augen lassen, wenn …

Mit einem erstickten Schrei eilte Elisabeth zu der zusammengesackten Gestalt ein paar Schritte weiter. Rotes Haar lag aufgefächert im Mondschein, eine blasse Hand war ausgestreckt. Als Elisabeth die Schulter packte und den Körper umdrehte, leistete er keinen Widerstand. Die Augen der Direktorin starrten blind an die Decke.

Der Boden tat sich unter Elisabeth auf; die Bibliothek drehte sich schwindelerregend schnell. Das konnte nicht sein. Es war nur ein schlechter Traum. Sie würde jeden Augenblick in ihrem Bett aufwachen und alles wäre wieder normal. Während Sekunden verstrichen und sie darauf wartete, dass genau das eintreten würde, revoltierte ihr Magen. Sie torkelte von der Leiche der Direktorin zu den Türen, wo sie einen sauren Strahl Galle erbrach. Als sie sich am Türrahmen abstützen wollte, rutschte ihre Handfläche ab.

Blut, dachte sie automatisch, doch die Substanz auf ihrer Hand war etwas anderes – sie war dicker, dunkler. Es war kein Blut, sondern Tinte.

Elisabeth wusste sofort, was das bedeutete. Sie wischte sich die Hand an ihrem Nachthemd ab und umfasste Dämonenschlächters Knauf mit beiden Händen. Sie zitterten zu heftig, um die Waffe mit nur einer Hand zu halten. Dann trat sie in die Nacht hinaus. Der Wind schlug ihr entgegen und zerzauste ihre Haare. Anfangs erkannte sie nur einige funkelnde Lampen, die noch unten in Summershall brannten. Die hin und her peitschenden Bäume des Obstgartens ließen ihr Licht flackern. Der mit Schotter bestreute Innenhof der Bibliothek war zwar von einem hohen schmiedeeisernen Zaun umgeben, dessen scharfe Spitzen in den ruhelosen Himmel ragten, doch das Tor stand offen. Von den verbogenen Angeln tropfte Tinte.

Und dort in der Ferne bewegte sich eine massige Silhouette zwischen den Bäumen. Mondschein erhellte ihre fettige Oberfläche. Sie hinkte wie ein missgestalteter Bär, der schwerfällig auf zwei Beinen zu laufen versucht, mit schlingernden unbeholfenen Schritten auf das Dorf zu. Es bestand kein Zweifel, was hier vor sich ging. Ein Grimoire war aus dem Tresorraum geflohen. Es zog Kraft aus der Magie zwischen seinen Seiten und war zu einem schauerlichen Monster aus Tinte und Leder angeschwollen.

Elisabeth hatte Anweisung, sofort einen Aufseher zu alarmieren, wenn sie ein Malefict sichtete. Sollte das unmöglich sein, musste sie die Treppe hinaufrennen und an der Alarmglocke der Großen Bibliothek ziehen. Die Glocke rief die Aufseher zu den Waffen und war das Zeichen für die Dorfbewohner, unverzüglich Schutz im Rathaus zu suchen. Doch Elisabeth blieb keine Zeit, noch die Treppe hochzurennen. Das Ungeheuer würde Summershall erreichen, bevor dort auch nur jemand die Chance hatte, das Bett zu verlassen. Zahllose Menschen würden sterben. Es würde ein Blutbad geben.

Officium adusque mortem. Pflicht bis zum Tod. Sie war schon tausendmal unter der Inschrift hindurchgegangen. Noch mochte sie keine Aufseherin sein, doch das würde sie auch nicht werden, wenn sie jetzt davonlief. Es war ihre Verantwortung, Summershall zu schützen, selbst wenn es ihren Tod bedeutete.

Elisabeth stürzte durch das Tor und den Hügel hinunter. Der spitze Schotter wich einem weichen feuchten Teppich aus Moos und Laub, der im Nu den Saum ihres Nachthemdes durchnässte. Sie stolperte über eine Wurzel auf dem Weg und hätte beinahe das Schwert fallen lassen, während das Malefict unverdrossen und schwerfällig weiterrannte und seinen Vorsprung vergrößerte.

Nun war sie so nah, dass sein Gestank einen Würgereiz bei ihr auslöste. Und dass sie sah, wie groß es war: wesentlich größer als ein Mensch und mit Gliedmaßen so dick und knorrig wie Baumstämme. Lähmende Angst überlief Elisabeth. Dämonenschlächter wurde immer schwerer in ihren Händen. Sie war keine Heldin, sondern bloß ein Mädchen im Nachthemd, das zufällig ein Schwert hielt. Hatte sich die Direktorin so gefühlt, als sie ihrem ersten Malefict gegenüberstand?

Ich muss es nicht besiegen, dachte sie. Wenn sie es lange genug ablenken und dabei genug Tumult verursachen konnte, war sie vielleicht in der Lage, das Dorf zu retten. Für Unruhe zu sorgen, ist schließlich ein Talent von mir. Meistens brauche ich mich dafür nicht mal anzustrengen. Ihr Mut kehrte zurück und löste ihre erstarrten Glieder. Sie holte tief Luft und brüllte unartikuliert in die Nacht.