Rabenprinz - Margaret Rogerson - E-Book
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Rabenprinz E-Book

Margaret Rogerson

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Beschreibung

»Wir mögen ewig leben, aber Ihr blüht heller und Eure Stacheln hinterlassen blutige Spuren.«

Die 17-jährige Isobel ist eine begabte Porträtmalerin mit einer gefährlichen Klientel: das unheimliche Volk der Elfen; unsterbliche Wesen, die nichts erschaffen können, ohne zu Staub zu zerfallen. Doch als Isobel ihren ersten royalen Kunden empfängt – Rook, den Prinz des Herbstlandes – begeht sie einen fatalen Fehler. Sie malt den menschlichen Schmerz in seinen Augen – eine Schwäche, die Rook das Leben kosten könnte. Um sein Leben zu retten, müssen Isobel und Rook lernen, einander zu vertrauen. Doch als aus Vertrauen langsam Liebe wird, brechen die beiden ein Gesetz des Elfenvolkes, das gnadenlose Konsequenzen nach sich zieht …

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Seitenzahl: 439

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MARGARET ROGERSON

Aus dem Amerikanischen

von Claudia Max

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© 2020 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Copyright © 2017 by Margaret Rogerson

Published by Arrangement with Margaret Rogerson

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem

Titel »An Enchantment of Ravens« bei Margaret K. McElderry Books,

an imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division, New York, USA.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Übersetzung: Claudia Max

Umschlaggestaltung und Artwork: © Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung mehrerer Bilder von © Shutterstock (Marcin Perkowski; Sahara Prince)

sh • Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-23118-7V003

www.cbj-verlag.de

Für meine Eltern, in Liebe

Eins

Der Geruch nach Leinöl und Breitblättrigem Lavendel erfüllte die Stube, auf der Leinwand glänzte ein Tupfer Bleizinngelb. Ich hatte den Farbton von Gadflys seidenem Gehrock fast perfekt getroffen.

Das wahre Kunststück bei Gadfly bestand allerdings darin, ihn davon zu überzeugen, bei jeder Sitzung dieselben Kleider zu tragen. Die Ölfarbe brauchte Tage, bis sie trocken war, und es wollte ihm nicht in den Kopf, dass ich nicht auf eine Laune von ihm sämtliche Kleidungsstücke ändern konnte. Selbst für einen Elf war er ungewöhnlich eitel – also in dem Sinne, als würde man einen Teich als ungewöhnlich nass bezeichnen oder einen Bären als überraschend haarig. Für ein Geschöpf, das mich umbringen konnte, ohne deshalb seinen Tee verschieben zu müssen, war es allerdings eine charmante Eigenschaft.

»Vielleicht lasse ich die Manschetten noch mit Silberstickereien verzieren«, sinnierte er. »Was meint Ihr? Das ließe sich doch noch nachträglich hinzufügen, oder?«

»Selbstverständlich.«

»Und wenn ich ein anderes Halstuch wählen würde …«

Innerlich verdrehte ich die Augen. Äußerlich schmerzte mein Gesicht schon von dem höflichen Dauerlächeln, das ich seit zweieinhalb Stunden aufrechterhielt, doch Unhöflichkeit zählte zu den Fehlern, die ich mir nicht erlauben durfte. »Solange das Tuch ungefähr gleich groß ist, kann ich es ändern, allerdings wäre dazu eine weitere Sitzung nötig.«

»Ihr seid wahrhaftig ein Ausnahmetalent. Viel besser als der letzte Porträtmaler – dieser Warzenbursche, den wir kürzlich hier hatten. Wie hieß er doch gleich? Sebastian Manywarts? Oh, ihn mochte ich ganz und gar nicht, er roch immer ein wenig streng.«

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass Gadfly von Silas Merryweather sprach, einem Meister der Malkunst, der schon vor dreihundert Jahren gestorben war. »Vielen Dank«, sagte ich. »Ein sehr aufmerksames Kompliment.«

»Es ist fesselnd zu sehen, wie sich die Kunst im Laufe der Zeit verändert.« Er hörte kaum zu und wählte von dem Tablett neben der Chaiselongue ein Törtchen. Doch er verzehrte es nicht sofort, sondern saß erst einen Moment da und starrte es wie ein Insektenforscher an, der einen Käfer mit nach hinten zeigendem Kopf entdeckt. »Man denkt immer, man habe bereits das Beste gesehen, was Menschen zu bieten haben, doch dann gibt es plötzlich eine neue Methode, Porzellan zu glasieren, oder diese fantastischen kleinen Törtchen mit Zitronencremefüllung.«

Mittlerweile war ich an die Eigenarten der Elfen gewöhnt. Ohne den Blick von seinem linken Ärmel zu heben, tupfte ich weiter an dem glänzenden gelben Schimmer der Seide. Nur allzu gut konnte ich mich an die Zeit erinnern, als mich das Verhalten der Elfen verunsichert hatte. Ihre Bewegungen waren anders als die der Menschen: geschmeidig, abgezirkelt, ihre Haltung hatte bis in die Fingerspitzen etwas seltsam Steifes. Sie konnten stundenlang dasitzen, ohne zu blinzeln, oder sich mit derart furchterregender Geschwindigkeit bewegen, dass sie einen am Wickel hatten, bevor man auch nur überrascht nach Luft schnappen konnte.

Ich lehnte mich mit dem Pinsel in der Hand zurück und betrachtete das fast vollendete Porträt als Ganzes. Dort war Gadflys starres Ebenbild, ebenso unveränderlich wie er selbst. Warum die Elfen so versessen auf Porträts waren, gab mir Rätsel auf. Vermutlich hatte es mit ihrer Eitelkeit zu tun und ihrem unersättlichen Durst, sich mit menschlicher Kunst zu umgeben. Sie würden nie an ihre Jugend zurückdenken, denn sie kannten nichts anderes, und wenn sie starben, falls dies überhaupt je geschah, wären ihre Porträts längst verrottet.

Gadfly wirkte wie ein Mann von Mitte dreißig. Wie alle seinesgleichen war er groß, schlank und schön. Seine Augen leuchteten im klaren Blau eines Himmels, von dem der Regen die Sommerhitze weggespült hat, sein Teint war so blass und makellos wie Porzellan, sein Haar besaß das strahlende Silber-Gold von Tau, der von der aufgehenden Sonne angestrahlt wird. Ich weiß, es klingt lächerlich, aber Elfen verlangen nach solchen Vergleichen. Man kann sie nicht anders beschreiben. Ein verschrobener Dichter starb einst aus Verzweiflung, weil er außerstande war, die Schönheit eines Elfen in einem Vergleich einzufangen. Ich halte es zwar für wahrscheinlicher, dass er mit Arsen vergiftet wurde, aber so wird es erzählt.

Doch ihr müsst wissen: Ihr Äußeres ist nur Glimmer, schöner Schein, darunter sehen Elfen nicht wirklich so aus.

Sie sind begabte Heuchler, jedoch unfähig zu lügen. Außerdem hat ihr Glimmer immer einen Makel. Bei Gadfly waren es die Finger, die entschieden zu lang waren, um menschlich zu sein, und an manchen Tagen wirkten die Gelenke merkwürdig miteinander verbunden. Blickte jemand zu lange darauf, verschränkte er die Hände und schob sie wie zwei Spinnen hastig unter eine Serviette, um sie zu verbergen. Er war von den Elfen, die ich kannte, der sympathischste und was Manieren anbelangte, sehr viel entspannter als die anderen, trotzdem war es nicht ratsam, ihn anzustarren – es sei denn, man hatte wie ich Grund dazu.

Nach einer Weile aß Gadfly sein Törtchen. Ich sah ihn nicht kauen, bevor er einen Bissen herunterschluckte.

»Für heute sind wir fast fertig«, ich wischte meinen Pinsel an einem Lappen ab und ließ ihn in das Glas mit Leinöl neben meiner Staffelei fallen. »Möchtet Ihr einen Blick darauf werfen?«

»Warum fragt Ihr überhaupt? Isobel, Ihr wisst doch, dass ich mir keine Gelegenheit entgehen lasse, Eure Kunst zu bewundern.«

Ehe ich mich’s versah, beugte sich Gadfly über meine Schulter. Obwohl er einen Höflichkeitsabstand einhielt, wurde ich von seinem unmenschlichen Duft umhüllt: einem farnähnlichen grünen Wohlgeruch nach Frühlingslaub, dem süßen Parfüm von Feldblumen. Darunter etwas Wildes – etwas, das seit Jahrhunderten durch den Wald streifte und dessen lange, spinnenähnliche Finger eine menschliche Kehle zusammenpressen konnten, während ihr Besitzer ein freundliches Lächeln zur Schau trug.

Mein Herzschlag setzte aus. Hier im Haus bin ich sicher, rief ich mir in Erinnerung.

»Ich glaube, dieses Halstuch ist wirklich mein liebstes«, sagte er. »Exquisit gemalt, wie immer. Welche Bezahlung hatten wir doch gleich vereinbart?«

Ich musterte verstohlen sein elegantes Profil. Aus dem blauen Band, das seine Haare im Nacken zusammenhielt, war wie zufällig eine Strähne herausgerutscht. Ich fragte mich, ob es Absicht war. »Wir hatten uns auf einen Zauber für die Hennen geeinigt«, erinnerte ich ihn. »Jede soll für den Rest ihres Lebens sechs Eier pro Woche legen und sie sollen lange leben.«

»Pragmatisch wie immer.« Er seufzte, als sei es eine Katastrophe. »Ihr seid die am meisten bewunderte Künstlerin Eurer Zeit. Stellt Euch all die Dinge vor, die ich Euch geben könnte! Ich könnte Perlen statt Tränen aus Euren Augen fallen lassen. Ich könnte Euch ein Lächeln verleihen, dem die Herzen der Männer verfallen, oder ein Kleid zaubern, das niemand, der es einmal gesehen hat, je wieder vergessen wird. Doch Ihr verlangt nach Eiern.«

»Ich finde Eier sehr schmackhaft«, erwiderte ich standhaft, wohl wissend, dass die Zauber, die er vorschlug, irgendwann alle seltsam und schal würden, am Ende sogar tödlich. Und was in aller Welt sollte ich mit irgendwelchen Männerherzen anfangen? Daraus ließ sich kein Omelett zubereiten.

»Nun denn, wenn Ihr darauf besteht. Der Zauber wird morgen in Kraft treten. Und jetzt, fürchte ich, muss ich mich wohl verabschieden – und mich um die Stickereien kümmern.«

Als ich mich erhob, knarzte mein Stuhl; Gadfly blieb an der Tür stehen und ich machte einen Knicks, den er mit einer eleganten Verbeugung quittierte. Wie die meisten Elfen war er ein Meister darin, so zu tun, als erwidere er die Höflichkeit aus freien Stücken, nicht aus diesem strengen inneren Zwang heraus, der für ihn ebenso notwendig wie Atmen war.

»Ach«, fügte er hinzu und richtete sich auf. »Beinahe hätte ich es vergessen. Am Frühlingshof kursierte das Gerücht, der Herbstprinz wolle Euch einen Besuch abstatten. Stellt Euch nur vor! Ich freue mich schon zu hören, ob er es schafft, eine ganze Sitzung still zu halten, oder ob er gleich nach seiner Ankunft wieder der Wilden Jagd hinterherstürmt.«

Mein Gesichtsausdruck entgleiste, als ich die Neuigkeit vernahm. Ich stand da und starrte Gadfly an, bis ein verdutztes Lächeln über seine Lippen huschte und er eine bleiche Hand nach mir ausstreckte, vielleicht, um herauszufinden, ob ich im Stehen gestorben war. Keine unbegründete Sorge, aus seiner Sicht schienen Menschen schon aus nichtigstem Anlass zu sterben.

»Der Herbst…« Meine Stimme war rau. Ich schloss den Mund und räusperte mich. »Seid Ihr ganz sicher? Ich dachte, er besuche Whimsy nicht mehr. Seit Hunderten von Jahren hat ihn niemand mehr …« Ich fand keine Worte.

»Ich darf Euch versichern, dass er am Leben und wohlauf ist. Ich habe ihn erst gestern auf einem Ball getroffen. Oder war es letzten Monat? So oder so, er soll morgen hier eintreffen. Richtet ihm Grüße von mir aus.«

»Es … Es wird mir eine Ehre sein«, stammelte ich und krümmte mich innerlich, weil ich so derart die Fassung verlor. Mit einem Mal hatte ich das Bedürfnis nach frischer Luft, ich öffnete die Tür. Nachdem ich Gadfly hinausbegleitet hatte, blieb ich stehen und beobachtete über das Feld mit Sommerweizen hinweg, wie sich seine Gestalt auf dem Weg entfernte.

Eine Wolke zog unter der Sonne vorbei und warf Schatten auf das Haus. In Whimsy blieb die Jahreszeit stets gleich, doch als erst ein Blatt von dem Baum an der Straße fiel und dann noch eines, wurde mir unmissverständlich klar, dass sich Veränderungen anbahnten. Ob ich sie gutheißen würde oder nicht, war abzuwarten.

Zwei

»Morgen! Gadfly sagte morgen. Aber ihr kennt ja ihr Verhältnis zur Zeit von uns Sterblichen. Was, wenn er eine halbe Stunde nach Mitternacht aufkreuzt und verlangt, dass ich im Nachthemd arbeite? Mein bestes Kleid hat einen Riss, so schnell kann ich es nicht flicken – das blaue wird genügen müssen.« Während ich sprach, massierte ich Leinöl in meine Hände und rieb sie mit einem Waschlappen ab, bis meine Finger wund waren. Normalerweise machte ich mir nicht die Mühe, sie von Farbe zu säubern, aber normalerweise arbeitete ich auch nicht für eine Hoheit des Elfenvolks. Ich konnte nicht einschätzen, welche banalen Kinkerlitzchen ihn womöglich beleidigen würden. »Und zu allem Übel habe ich auch kaum noch Bleizinngelb und werde deshalb heute Abend noch in die Stadt müssen – Mist. Mist! Tut mir leid, Emma.«

Ich hob meinen Rock, um dem Wasser zu entgehen, das sich auf dem Boden ausbreitete, dann bückte mich nach dem Henkel des umgestürzten Eimers.

»Himmel, Isobel, es wird schon alles gut werden. March« – meine Tante schob die Brille nach unten und kniff die Augen zusammen – »nein, May, würdest du das bitte für deine Schwester aufwischen? Sie hat einen schwierigen Tag.«

»Was bedeutet Mist eigentlich?«, fragte May verschmitzt und sprang mit einem Lappen um meine Füße.

»Es ist das Wort dafür, wenn man aus Versehen einen Eimer Wasser umstößt.« Mir war klar, dass sie die Wahrheit gefährlich inspirierend finden würde. »Wo ist March?«

May grinste mich mit ihrer Zahnlücke an. »Auf den Schränken.«

»March! Komm sofort da runter!«

»Aber sie hat Spaß dort oben, Isobel«, erwiderte May und spritzte Wasser über meine Schuhe.

»Der Spaß hat ein Ende, wenn sie tot ist«, gab ich zurück.

Mit einem fröhlichen Meckern sprang March von den Schränken, stieß einen Stuhl um und kam durchs Zimmer auf uns zu gehüpft. Ich hob abwehrend die Hände. Doch sie hatte es nicht auf mich abgesehen, sondern auf May, die genau in dem Moment aufstand, damit ihre Köpfe gegeneinanderstießen. Dass sie von der leichten Gehirnerschütterung benommen herumstolperten, gab mir einen kleinen Aufschub. Ich seufzte. Emma und ich versuchten, ihnen diese Angewohnheit auszutreiben.

Genau genommen waren meine Zwillingsschwestern keine Menschen. Sie hatten ihr Leben als Ziegenlämmer begonnen, doch dann hatte eines Tages ein Elf zu viel Wein getrunken und sie aus Spaß verzaubert. Sie machten nur langsam Fortschritte, aber ich redete mir immer wieder zu, dass sie zumindest Fortschritte machten. Letztes Jahr um diese Zeit waren sie noch nicht einmal stubenrein gewesen. Der Verwandlungszauber hatte allerdings auch seine guten Seiten, er hatte sie nahezu unverwüstlich gemacht. March hatte vor meinen Augen unbeschadet einen zerbrochenen Topf gegessen, außerdem Gifteiche, tödlichen Nachtschatten und mehrere unglückliche Salamander. Ich mochte besorgt sein, aber March war, wenn sie von den Schränken sprang, eine größere Gefahr für die Kücheneinrichtung als für sich selbst.

»Isobel, komm mal her.« Die Stimme meiner Tante riss mich aus meinen Gedanken. Sie beobachtete mich über ihre Brille hinweg, bis ich ihrer Aufforderung nachkam, dann rieb sie einen Fleck von meiner Hand, den ich übersehen hatte.

»Du wirst das morgen gut machen«, sagte sie entschieden. »Bestimmt ist der Herbstprinz wie alle anderen Elfen, und selbst wenn er es nicht ist, denke daran, in diesem Haus kann dir nichts passieren.« Sie nahm meine Hände in ihre und drückte sie. »Denke daran, was du für uns erreicht hast.«

Ich erwiderte ihren Händedruck. Vielleicht hatte ich es verdient, dass sie wie mit einem kleinen Mädchen zu mir sprach. Als ich ihr antwortete, versuchte ich, das Jammern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Ich kann es einfach nicht leiden, wenn ich nicht weiß, was mich erwartet.«

»Das mag ja sein, aber du bist auf eine solche Situation besser vorbereitet als jeder andere in Whimsy. Das wissen wir, und die Elfen wissen es ebenfalls. Auf dem Markt gestern habe ich Leute sagen hören, dass du, wenn du so weitermachst, schnurgerade auf den Grünen Brunnen zusteuerst.«

Ich zog erschrocken die Hand zurück.

»Nein, natürlich nicht. Ich weiß, dass du dich niemals dafür entscheiden würdest. Ich wollte nur sagen – wenn die Elfen irgendeinen Menschen für unentbehrlich halten, dann dich, und das ist viel wert. Es wird alles gut gehen morgen.«

Ich atmete tief aus und strich meinen Rock glatt. »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte ich, innerlich nicht überzeugt. »Wenn ich vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein will, sollte ich mich jetzt besser auf den Weg machen. March, May, treibt Emma nicht in den Wahnsinn, während ich weg bin. Ich erwarte, dass die Küche tadellos aussieht, wenn ich nach Hause komme.«

Beim Hinausgehen warf ich einen vielsagenden Blick auf den umgekippten Stuhl.

»Wenigstens haben wir nicht überall auf dem Boden Mist zurückgelassen!«, rief mir May hinterher.

Als ich ein kleines Mädchen gewesen war, hatte jeder Gang in die Stadt ein Abenteuer für mich bedeutet. Nun konnte ich nicht schnell genug von dort wegkommen. Bei jedem Passanten, der vor dem Fenster vorbeiging, zog sich mein Magen ein wenig fester zusammen.

»Nur Bleizinngelb?«, fragte der Junge hinter dem Verkaufstresen und wickelte das Pigmentstäbchen ordentlich in Kraftpapier. Phineas arbeitete erst seit einigen Wochen hier, aber er kannte bereits meine Gewohnheiten.

»Wenn ich es mir recht überlege, nehme ich noch ein Stück Grüne Erde und zweimal Zinnoberrot. Oh! Und außerdem bitte sämtliche Zeichenkohle, die ihr vorrätig habt.« Während ich ihm beim Zusammensuchen meiner Bestellung zusah, wurde ich immer verzweifelter, wenn ich an all die Arbeit dachte, die an diesem Abend noch auf mich wartete. Ich musste die Pigmente mahlen und mischen, meine Palette vorbereiten und einen neuen Keilrahmen mit Leinwand bespannen. Ich würde zwar aller Wahrscheinlichkeit nach bei der Sitzung morgen nicht mehr als eine Skizze des Prinzen schaffen, aber ich wollte trotzdem auf alle Möglichkeiten vorbereitet sein.

Als Phineas sich unter den Tresen bückte, spähte ich aus dem Fenster. Die Scheibe war mit einer Staubschicht bedeckt, die Lage zwischen zwei größeren Gebäuden verlieh dem Laden etwas Düsteres, Heruntergekommenes und Entlegenes. Kein einziger simpler Zauber sorgte dafür, dass die Lampen heller schienen oder beim Öffnen der Tür eine Glocke bimmelte oder sich kein Staub in den Ecken festsetzte. Man sah dem Laden an, dass das Elfenvolk ihn nie eines zweiten Blickes gewürdigt hatte. Die Materialien, aus denen Kunstwerke gefertigt wurden, interessierten sie nicht, nur die fertige Arbeit.

Mit den Geschäften auf der anderen Straßenseite verhielt es sich völlig anders. Als der Rock einer Frau in Firth & Maester’s verschwand, genügte mir ein kurzer Blick, um zu wissen, dass sie eine Elfe sein musste. Die Spitzengewänder, die dort verkauft wurden, konnte sich kein Sterblicher leisten. Ebenso wenig kauften Menschen in der Zuckerbäckerei nebenan ein, deren Schild für Marzipanblumen warb, einem Konfekt aus Mandeln, das mit großem Kostenaufwand aus der Anderwelt importiert wurde. Für Kunstwerke dieses Kalibers waren Zauber, und wirklich nur Zauber, die einzig angemessene Bezahlung.

Als Phineas sich aufrichtete, hatten seine Augen den allzu bekannten Glanz. Nein – »bekannt« war nicht das richtige Wort. Ich verabscheute diesen Glanz. Als Phineas sich verlegen eine Locke aus der Stirn strich, wurde mir schwerer und schwerer ums Herz. Bitte, dachte ich, nicht schon wieder.

»Miss Isobel, würde es Euch etwas ausmachen, einen Blick auf meine Kunst zu werfen? Ich weiß, ich kann Euch nicht das Wasser reichen«, fügte er hastig hinzu und nahm seinen ganzen Mut zusammen, »aber Master Hartford hat mich ermuntert – nur deshalb hat er mich eingestellt – und ich habe all die Jahre geübt.« Er hielt ein Bild mit der Rückseite nach außen vor sich, als sei es keine Leinwand, sondern sein Innerstes, das er zu entblößen fürchtete. Obwohl ich das Gefühl nur allzu gut kannte, machte es den nächsten Schritt nicht einfacher.

»Aber gern«, erwiderte ich. Wenigstens hatte ich ausgiebig Erfahrung damit, ein Lächeln aufzusetzen.

Er reichte mir das Bild und ich drehte es um, im schwachen Licht des Ladens erkannte ich eine Landschaft. Erleichterung überkam mich. Zum Glück war es kein Porträt. Bestimmt klinge ich entsetzlich arrogant, wenn ich das sage, aber meine Kunst wurde von den Elfen so hoch geschätzt, dass sie, bevor ich nicht tot wäre – und sie es tatsächlich bemerken würden, dass ich tot war, was allerdings etliche Jahrzehnte in Anspruch nehmen konnte –, nie jemand anderen beauftragen würden. Mir tat jeder neue Porträtmaler leid, der im Kielwasser meines Ruhms auftauchte. Doch vielleicht hatte Phineas ja eine Chance.

»Das ist sehr gut«, erklärte ich ihm ehrlich, als ich ihm sein Bild zurückgab. »Du hast ein hervorragendes Gefühl für Farben und Komposition. Übe weiter, aber vielleicht ist deine Kunst« – ich zögerte – »sogar schon jetzt verkäuflich.«

Er bekam rote Wangen und wurde ein paar Zentimeter größer, als er da vor mir stand. Meine Erleichterung verschwand. Oft war das, was danach kam, noch schlimmer. Ich wappnete mich, als er genau die Frage stellte, die ich fürchtete. »Könntet Ihr … Könntet Ihr mich vielleicht einem Eurer Auftraggeber empfehlen, Miss?«

Mein Blick wanderte zum Fenster zurück, wo Mrs. Firth im Schaufenster von Firth & Maester’s höchstpersönlich ein neues Kleid drapierte. Als Kind war ich felsenfest überzeugt gewesen, dass sie eine Elfe war. Ihre Haut war makellos, ihre Stimme lieblicher als Vogelgezwitscher und ihre dunkelbraune Lockenpracht glänzte zu sehr, um echt zu sein. Sie musste auf die fünfzig zugehen, sah aber kaum einen Tag älter als zwanzig aus. Erst später, als ich lernte, die Glimmer zu durchschauen, wurde mir klar, dass ich mich geirrt hatte. Im Laufe der Jahre verloren die Zauber, die nichts weiter als Lügen waren, ihre Magie für mich. Ganz gleich wie ausgefeilt sie formuliert waren, bis auf die ausgesprochen weltlichen, pragmatischen bekamen sie alle mit der Zeit einen schalen Beigeschmack. Und so hatte Mrs. Firth zwar eine Wespentaille, konnte jedoch kein Wort aussprechen, das mit einem Vokal begann. Letzten Oktober hatte der Meister der Zuckerbäckerei drei Jahrzehnte seines Lebens gegen blauere Augen eingetauscht und seine Frau zur Witwe gemacht. Und trotzdem wurden die Verlockungen von Reichtum und Schönheit, das Bild des Grünen Brunnens, der wie der Inbegriff des Paradieses am Ende wartete, in Whimsy begeistert aufgenommen.

Als Phineas mein Zaudern spürte, fügte er hastig hinzu: »Keinem wichtigen Auftraggeber, natürlich. Dieser Swallowtail könnte vielleicht der Richtige sein. Ich sehe ihn manchmal in der Stadt Kunstwerke auf der Straße kaufen. Außerdem stehen die Elfen des Frühlingshofes im Ruf, freundlicher im Umgang zu sein.«

Was das anbelangte, lautete die Wahrheit, dass kein Elf, ganz gleich welchem Hof er angehörte, freundlich war. Sie taten nur so.

Bei der Vorstellung, Swallowtail könne auch nur in die Nähe von Phineas kommen, kam mir die Galle hoch. Er war bei Weitem nicht der schlimmste Elf, der mir einfiel, aber er würde dem armen Jungen so lange die Worte im Mund herumdrehen, bis dieser seinen Erstgeborenen gegen ein paar Pickel weniger eintauschte.

»Phineas … Du weißt bestimmt, dass ich durch meine Kunst mehr Zeit mit den Elfen verbracht habe als jeder andere in Whimsy.« Ich schaute ihm über den Verkaufstresen in die Augen. Seine Miene verdüsterte sich; bestimmt dachte er, ich wolle ihm seine Bitte abschlagen, doch ich kämpfte mich weiter durch sein Elend. »Vertrau mir deshalb, wenn ich dir rate, im Umgang mit ihnen vorsichtig zu sein. Ihre Unfähigkeit zu lügen macht sie noch lange nicht ehrlich. Sie werden auf Schritt und Tritt versuchen, dich zu betrügen. Wenn etwas, das sie dir anbieten, einfach zu gut klingt, um wahr sein zu können, dann ist es genau so. Der Wortlaut des Zaubers darf keinen Platz für Streitigkeiten enthalten. Absolut keinen.«

Phineas’ Miene hellte sich dermaßen auf, dass ich schon dachte, meine Anstrengungen seien vergeblich gewesen. »Bedeutet das, dass Ihr mich empfehlen werdet?«

»Vielleicht, aber nicht Swallowtail. Lass dich nicht auf Geschäfte mit ihm ein, bevor du nicht ihre Gewohnheiten verstanden hast.« Ich biss mir in die Wange, aus dem Augenwinkel sah ich einen Mann aus Firth & Maester’s kommen. Gadfly. Selbstredend ließ er seine Stickereien dort anfertigen. Obwohl ich hier im dunklen Laden auf der anderen Straßenseite eigentlich unsichtbar sein sollte, blickte er zielsicher in meine Richtung und hob mit einem strahlenden Lächeln die Hand zum Gruß. Jeder auf der Straße – einschließlich der schnatternden Schar junger Frauen, die vor dem Geschäft auf ihn gewartet hatte – drehte eifrig den Hals, um herauszufinden, wer wichtig genug war, um Gadflys Aufmerksamkeit zu verdienen.

»Er ist der Richtige«, erklärte ich. Ich legte meine Münzen auf den Tresen und schwang die Tasche über meine Schulter, ohne mich weiter um die freudige Erregung zu kümmern, die sich auf Phineas’ Gesicht abzeichnete. »Gadfly ist mein meistgeschätzter Auftraggeber und er genießt es, als Erster neue Kunst zu entdecken. Bei ihm wirst du die besten Chancen haben.«

Davon war ich aus mehr als einem Grund überzeugt. Bei Gadfly würde Phineas am sichersten sein. Wäre ich im zarten Alter von zwölf nicht an ihn geraten, hätte ich, selbst mit Emmas Unterstützung, meinen siebzehnten Geburtstag wohl kaum erlebt. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich Phineas mit der Erfüllung seines innigstenWunsches einen zwiespältigen Gefallen tat. Am Ende würde er ihn entweder zerstören oder enttäuschen. Schuldgefühle trieben mich ohne Abschiedsgruß zur Tür. Doch als ich die Hand auf den Türknauf legte, erstarrte ich.

An der Wand neben dem Eingang hing ein Gemälde. Im Laufe der Zeit verblasst, stellte es einen Mann auf einem Hügel dar, der von Bäumen in seltsamen Farben umgeben war. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, doch er hielt ein Schwert, das selbst im grauen Licht hell glänzte. Im Sprung dargestellte helle Jagdhunde kamen den Hügel hinauf auf ihn zu. Auf meinen Armen stellten sich die Härchen auf. Ich kannte diese Gestalt. Der Mann war bis vor über dreihundert Jahren ein beliebtes Motiv für Gemälde gewesen, dann hatte er ohne Erklärung aufgehört, Whimsy zu besuchen. In jedem Bild, das noch von ihm existierte, kämpfte er stets in der Ferne gegen die Wilde Jagd.

Morgen würde er in meiner Stube sitzen.

Ich stieß die Tür auf, knickste vor Gadfly und eilte mit gesenktem Kopf durch die Menge neugieriger Gaffer. Hinter mir waren Ausrufe zu hören. Jemand rief meinen Namen, vielleicht erhoffte er sich den gleichen Gefallen wie Phineas. Nachdem Emma es angesprochen hatte, sah ich bei jedem die Wahrheit auf der Stirn geschrieben. Sie beobachteten mich, warteten darauf, dass ich eine Einladung annähme, aber ich wäre lieber gestorben, als nur eine halbe Sekunde darüber nachzudenken. Niemals könnte ich einem von ihnen erklären, dass ich den Lohn des Grünen Brunnens nicht als Paradies betrachtete. Sondern als Hölle.

Als ich mich auf den Heimweg machte, stand die Sonne bereits tief am Himmel. Ich tappte im Takt der rhythmisch zirpenden Heuschrecken den Pfad hinunter; der spitze Winkel des Lichts machte die Sommerhitze noch glühender, nach einer Weile klebte mein Nacken von Schweiß, blies der Wind meine Haare zur Seite wurde er kühl. Die windschiefen, leuchtend bunt gestrichenen Dächer der Stadt verschwanden hinter den sanften Hügeln, die wie das Haar einer Frau von einem schmalen Pfad geteilt wurden. Wenn ich schnell lief, konnte ich es in haargenau zweiunddreißig Minuten nach Hause schaffen.

In Whimsy war immer Sommer. Die Jahreszeiten wechselten hier nicht wie in der Anderwelt – allein die Vorstellung überstieg meine Fantasie. Während ich meinen immer gleichen Weg lief, verfolgten mich die seltsam gefärbten Bäume des Gemäldes wie ein vor Kurzem geträumter Traum. Der Herbst war dem Hörensagen nach eine trostlose Zeit, ein Verwelken der Welt, die Vögel zogen davon und das Laub verlor seine Farbe und fiel wie tot von den Ästen. Was wir in Whimsy hatten, war eindeutig besser. Sicherer. Endlos blaue Himmel und ewig goldener Weizen mochten langweilig sein, doch ich redete mir – nicht zum ersten Mal – zu, dass es kindisch war, sich nach etwas anderem zu sehnen. Es gab schlimmere Schicksale für einen Menschen als Langeweile – ein Leben in der Anderwelt.

Ein Hauch von Fäulnis riss mich aus meinen düsteren Gedanken. Dieser Teil des Pfades schlängelte sich am Waldrand entlang, ich spähte wachsam in den Schatten. Wie eine Schranke wucherten dichtes Geißblatt und Dornengebüsch unter den Ästen. In längst vergangenen Tagen, in weniger friedlichen Zeiten, bevor Eisen geächtet worden war, hatten Bauern ihr Leben riskiert, als sie gegen die Niedertracht der Elfen Eisennägel in die äußersten Bäume geschlagen hatten. Beim Anblick der alten krummen Nägel, die verrostet und fast bis zur Unkenntlichkeit verbogen waren, überkam mich jedes Mal ein unbehagliches Kribbeln.

Doch auch bei einem zweiten Blick auf das Unterholz konnte ich nichts Außergewöhnliches entdecken. Bestimmt wurden meine Wahnvorstellungen nur von einem toten Eichhörnchen ausgelöst, das irgendwo in der Nähe verweste. Halbherzig beruhigt überprüfte ich zum vierten oder fünften Mal meine Tasche, ob ich auch nichts im Laden vergessen hatte – ein seltsamer Tick von mir, derartige Fehler unterliefen mir nie. Als ich aufblickte, stimmte irgendetwas nicht. Auf dem Hang des nächsten Hügels stand neben der einsamen Eiche, die die Hälfte des Heimwegs markierte, ein Geschöpf.

Zunächst hielt ich es für einen Hirsch. Einen unglaublich großen zwar, aber die Gestalt passte mehr oder weniger: vier Beine, zwei Geweihstangen. Doch als sich das Wesen drehte und in meine Richtung blickte, wusste ich sofort, dass es kein Hirsch war.

Von einem Moment auf den anderen breitete sich ein irritierendes Gefühl aus. Der Wind ließ nach und die Luft glühte drückend heiß. Die Vögel hörten auf zu singen und die Heuschrecken zirpten nicht mehr, selbst der Weizen hing schlaff in der stehenden Luft. Der Verwesungsgestank wurde unerträglich. Ich kniete mich auf den Boden, doch es war zu spät.

Der Nicht-Hirsch stand da und beobachtete mich.

Trotz der Hitze lief ein Fieberschauer über meine Haut und bildete Kristalle in meinem Magen. Ich wusste, was er war, dieser Nicht-Hirsch. Und ich wusste auch, dass ich so gut wie tot war. Vor einer Elfenbestie konnte man sich nicht verstecken, es gab kein Entkommen. Dieses Geschöpf hatte sich aus einem Grabhügel erhoben, es war eine groteske Verbindung aus Elfenmagie und steinzeitlichen menschlichen Überresten. Einige von ihnen verhielten sich ihren Herren gegenüber wie Sklaven und Wächter. Andere krochen unaufgefordert aus der Erde. Als ich ein kleines Mädchen gewesen war, hatte ein solches Monster meine Eltern auf so bestialische Weise getötet, dass Emma mir nicht erlaubt hatte, ihre Leichen zu sehen. Ich würde denselben Tod sterben. Mein Gehirn schien mit der Vorstellung überfordert, mir ging durch den Kopf, dass ich das Geld für den Kauf von Pigmenten hätte sparen können; nun würde ich sie nie benutzen.

Die Elfenbestie senkte den Kopf und brüllte über das Feld, es war ein tiefes, gewaltiges und abstoßendes Geräusch – als habe jemand in ein uraltes, einst exquisites Jagdhorn voller Moos gestoßen. Die Bestie warf, die Geweihstangen voraus, ihren massigen Körper hin und her und kam den Hügel heruntergesprungen.

Ich schnellte aus der Hocke hoch und rannte los. Nicht auf unser sicheres Haus zu, das einen knappen Kilometer entfernt war, sondern in die entgegengesetzte Richtung, ins Feld. Wenn ich meine letzten Momente sinnvoll nutzen wollte, musste ich versuchen, die Bestie so weit wie möglich von meiner Familie wegzulocken.

Der Weizen teilte sich um meinen hochgerafften Rock. Stängel knackten unter meinen Stiefeln und juckende Ähren kratzten beim Vorbeilaufen Striemen auf meine nackten Arme. Die Tasche auf meinem Rücken schlug sperrig gegen meine Oberschenkel und bremste mich. Heuschrecken sprangen beiseite, als würden sie von unsichtbarer Hand aus dem Feld geschnipst. Anfangs hörte ich nur meinen eigenen rasselnden Atem. Die ganze Situation fühlte sich unwirklich an. Ich hätte an diesem schönen Tag ebenso gut aus Spaß unter makellos blauem Himmel über das Feld rennen können.

Doch dann berührte die Kühle eines Schattens meinen verschwitzten Nacken und Dunkelheit hüllte mich ein. Der Weizen peitschte wie Wellen in einem tosenden Ozean. Ein Huf schlug neben mir auf und grub sich tief in die Erde. Ich machte einen Satz nach hinten, stolperte und stürzte und lag strampelnd zwischen den Stängeln. Die Elfenbestie richtete sich drohend vor mir auf.

Wie eine im Wasser widergespiegelte Sonne schimmerte die Gestalt eines stolzen Hirsches auf ihr. In den dunklen Zwischenräumen des Trugbildes lag eine skelettierte Gestalt aus faulender Rinde, die von Ranken zusammengehalten wurde, die sich wie Sehnen bewegten: ein ausgemergeltes totenkopfähnliches Gesicht, Geweihstäbe, die nicht wirklich ein Geweih waren, sondern zwei gebogene Äste, umrankt von Dornengestrüpp, jeder von ihnen so lang wie ein Mann. Das Geschöpf verströmte etwas Krankes; als es schnaubte und ein zitterndes Bein hob, löste sich Rinde ab und verteilte sich auf der Erde. Glänzende Käfer schwärmten aus den Borkenstücken und krabbelten bei ihrer Flucht über meine Strümpfe. Der Geschmack von Fäulnis breitete sich in meinem Mund aus und ließ mich würgen.

Die Elfenbestie bäumte sich auf und verdeckte die Sonne. Schon glaubte ich, die Gruppe Maden, die aus ihrem Bauch krabbelte, sei das Letzte, was ich von der Welt sehen würde. Als das Monster einfach vor meinen Augen zu einem weichen, wimmelnden Haufen wurmstichigen Holzes zusammenfiel, wusste ich deshalb nicht, was ich tun sollte. Tausendfüßler, länger als meine Hand, wanden sich ins Gras. Zwei große gefleckte Motten flatterten davon. Die Heuschrecken begannen augenblicklich wieder zu zirpen, als sei nichts geschehen, ich jedoch lag schweißnass und zitternd auf der Erde, das Blut pochte in meinen Ohren. Mit einem angewiderten Schrei trat ich nach dem Haufen. Außer der Borke flogen Knochenstücke auf die Erde. Der menschliche Leichnam, der der Bestie Leben verliehen hatte, war zerbrochen.

»Ich habe diese Bestie zwei Tage lang verfolgt und hätte sie vermutlich nie eingeholt, wenn Ihr nicht ihre Aufmerksamkeit erregt hättet«, sagte eine freundliche, lebhafte Stimme. »Man nennt diese Wesen Thane oder Gehörnte, falls es Euch interessiert.«

Ich blickte von den Überresten der Elfenbestie auf. Vor mir stand ein Mann, doch die Sonne hinter ihm tauchte ihn in Schatten, sodass ich seine Gesichtszüge nicht erkennen konnte, sondern nur, dass er groß und schlank und im Begriff war, ein Schwert in die Scheide zu stecken.

»Ihre Aufmerksamkeit …«, ich sprach nicht weiter, ich war verwirrt und ziemlich gekränkt. Er redete, als ginge es hier um Sport und mein Leben sei ohne jede Bedeutung; doch es verriet mir alles, was ich wissen musste. Er mochte wie ein Mann aussehen, aber er war keiner.

»Habt Dank«, erwiderte ich einlenkend und schluckte meine Empörung herunter. »Ihr habt mich gerettet.«

»Habe ich das? Vor dem Thane? Vermutlich schon. Wenn dem so ist, gern geschehen. Ich weiß übrigens gar nicht, wie Ihr heißt.«

Ein Schauer durchfuhr mich wie ein Donnerschlag in der Nacht. Dass er mich nicht erkannte, ließ vermuten, dass er noch nicht oft in Whimsy gewesen war, vielleicht sogar noch nie. Wer immer er auch sein mochte, er war bestimmt gefährlicher als die Elfen, mit denen ich normalerweise zu tun hatte. Und wie alle seiner Art konnte er der Versuchung nicht widerstehen, meinen wahren Namen herausfinden zu wollen. Ich sprach nicht weiter, sondern verließ mich auf meinen Verstand und meine Sinne und kam zu dem erleichternden Schluss, dass er mich mit keinem bösartigen Zauber belegt hatte, der mich veranlassen würde, offener zu sprechen oder Geheimnisse preiszugeben, die ich besser für mich behalten sollte. In Whimsy benutzte niemand seinen Geburtsnamen. Es machte einen anfällig für die Zauberei, mit der ein Elf – und zwar einzig durch die Macht dieses einen geheimen Wortes – Körper und Seele eines Sterblichen für immer beherrschen konnte, ohne dass dieser es mitbekam. Es war die hinterhältigste Form von Elfenmagie und die gefürchtetste.

»Isobel.« Ich rappelte mich auf und knickste.

Falls er merkte, dass ich ihm meinen falschen Namen genannt hatte, ließ er es sich nicht anmerken, sondern stieg mit einem langbeinigen Schritt über den Haufen und ergriff mit einer tiefen Verbeugung meine Hand. Er hob sie an die Lippen und küsste sie. Ich unterdrückte ein Stirnrunzeln. Wenn er mich schon anfassen musste, hätte ich es vorgezogen, dass er mir aufhalf.

»Sehr erfreut, Isobel«, sagte er.

Seine Lippen fühlten sich kühl an auf meinen Fingerknöcheln. Weil er den Kopf gesenkt hielt, sah ich nur seine Haare, sie waren zerzaust – wellig, nicht richtig lockig, und dunkel, mit einem rötlichen Schimmer, wenn die Sonne darauf fiel. Das Unbändige erinnerte mich an Falken- oder Rabenfedern, die ein starker Wind gegen den Strich gepustet hatte. Und wie bei Gadfly nahm ich seinen Geruch wahr: die Würzigkeit von hartem trockenem Laub, von kalten Nächten unter einem klaren Mond, eine Wildheit, eine Sehnsucht. Mein Herz pochte – von der Angst vor der Elfenbestie, aber auch von der Gefahr, einem Elfen allein auf dem Feld zu begegnen. Entschuldigt deshalb meine Dummheit, wenn ich sage, dass ich diesen Geruch mit einem Mal mehr wollte, als ich je etwas gewollt hatte. Ich wollte ihn mit einem erschreckenden Durst. Nicht direkt ihn, sondern eher die große, geheimnisvolle Veränderung, für die er stand – das Versprechen einer anderenWelt.

Nein, es war nicht nur das. Ich hisste meinen Ärger von Neuem – wie eine Flagge am Mast. »Mir wäre nicht bekannt, dass ein Handkuss jemals so lange gedauert hat, Sir.«

Er richtete sich auf. »Einem Elfen erscheint nichts lang«, erwiderte er mit der Andeutung eines Lächelns.

Ich schätzte, dass er ein oder zwei Jahre älter war als ich, doch sein wahres Alter konnte natürlich hundertmal mehr betragen. Er hatte feine aristokratische Gesichtszüge, die nicht zu seinem unbändigen Haar passen wollten, und einen ausdrucksvollen Mund, den ich am liebsten auf der Stelle gemalt hätte. Die Schatten in seinen Mundwinkeln, das leichte Grübchen auf der einen Seite, das sein Lächeln schief wirken ließ …

»Ich sagte«, bemerkte er, »dass einem Elfen nichts lang erscheint.«

Als ich aufblickte, wurde mir bewusst, dass er mich mit verblüffter Faszination anstarrte, auf seinem Gesicht lag immer noch dieses erstarrte Lachen. Und nun sah ich auch seinen Makel: die Farbe seiner Augen, sie hatten einen merkwürdigen Amethystton, der von seinem goldbraunen Teint abstach und mich an Sonnenlicht auf heruntergefallenen Blättern am späten Nachmittag erinnerte. Seine Augen machten mich sofort unruhig, es lag nicht an ihrer ungewöhnlichen Farbe, doch ich konnte den Grund beim besten Willen nicht benennen.

»Verzeiht mir. Ich bin Porträtmalerin und habe die Angewohnheit, Menschen anzustarren und dabei alles um mich herum zu vergessen. Ich habe gehört, was Ihr gesagt habt. Mir fällt nur keine Antwort darauf ein.«

Der Blick des Elfen wanderte zu meiner Tasche. Als er sich danach wieder zu mir wandte, war sein Lächeln verschwunden. »Natürlich.Unser Leben übersteigt vermutlich die menschliche Vorstellungskraft.«

»Wisst Ihr, warum der Thane aus dem Wald nach Whimsy kam, Sir?« Er schien zu erwarten, dass ich auf seine geheimnisvollen Andeutungen einging, aber ich wollte das Gespräch sowohl kurz als auch sachlich halten. Elfenbestien wurden hier so gut wie nie gesichtet, ihr plötzliches Auftauchen war höchst beunruhigend.

»Das kann ich nicht sagen. Vielleicht wurde der Thane von der Wilden Jagd aufgescheucht, vielleicht hatte er einfach bloß Lust umherzulaufen. In letzter Zeit sind mehrere von ihnen unterwegs und sie sind äußerst unerfreulich.«

»In letzter Zeit« konnte bei einem Elfen alles einschließen, auch den Tod meiner Eltern. »Ja, tote Menschen neigen dazu, unerfreulich zu sein.«

Zwischen seinen leicht gerunzelten Augenbrauen bildete sich eine Falte, sein Blick wurde prüfend. Ihm war bewusst, dass er mich irgendwie verärgert hatte, doch wie alle Elfen konnte er den Grund nicht erahnen. Er war ebenso wenig in der Lage, den Schmerz über den Tod eines Menschen nachzuvollziehen, wie ein Fuchs bedauern konnte, eine Maus getötet zu haben.

Ich wusste nur eines: Ich wollte nicht so lange verweilen, dass er seine Verwirrung irgendwann als Kränkung auffassen würde, deren Verursacherin Rache in Form eines unangenehmen Zaubers verdient hatte.

Ich senkte den Kopf und knickste noch einmal. »Die Bewohner von Whimsy sind dankbar für Euren Schutz. Ich werde niemals vergessen, was Ihr heute für mich getan habt. Guten Tag, Sir.«

Ich wartete seine nächste Verbeugung ab, dann wandte ich mich wieder zum Pfad.

»Wartet«, sagte er.

Ich erstarrte.

Hinter mir war das Wogen des Weizens zu hören. »Ich habe etwas Unpassendes gesagt. Ich entschuldige mich.«

Als ich langsam über meine Schulter blickte, stellte ich fest, dass er mich seltsam verunsichert beobachtete. Was sollte ich davon halten? Elfen waren bekannt dafür, Entschuldigungen gelegentlich in die Länge zu ziehen – sie hielten viel auf gute Manieren –, die meiste Zeit jedoch maßen sie mit zweierlei Maß und erwarteten von den Menschen Höflichkeit, während sie ihr eigenes Fehlverhalten geflissentlich ignorierten. Ich war verblüfft.

Ich sagte deshalb das Einzige, was mir in den Sinn kam. »Ich nehme Eure Entschuldigung an.«

»Sehr gut.« Sein schwaches Lächeln kehrte zurück und von einem Moment auf den anderen wirkte er nicht mehr unsicher, sondern ziemlich selbstzufrieden. »Dann sehe ich Euch morgen, Isobel.«

Es dauerte einen Moment, bis ich die Bedeutung der Worte begriff. Ich wirbelte noch einmal herum, doch der Elf, der kein anderer sein konnte als der Herbstprinz, war bereits verschwunden: Weizen wiegte sich entlang des einsamen Pfades, und ein einzelner Rabe auf dem Feld, der auf den Wald zuflog, war das einzige Anzeichen von Leben; das schwindende Licht verlieh seinen Federn einen rötlichen Schimmer.

Drei

Da ich nach wie vor nicht wusste, wann der Prinz erscheinen würde, und meine Tante einen Hausbesuch in der Stadt machte, lag es an mir, die Ziegenkinder aus der Küche zu scheuchen.

»Er fand es seltsam, dass wir nach Monaten benannt sind! Man könne nicht einfach Mai und März heißen«, quiekte May, während March neben dem Ofen leise vor sich hin schluchzte. Noch nie hatte ich solche Abscheu für den Bäckerjungen empfunden, der mit seiner Meinung durchaus recht hatte.

Ich ging in die Hocke und nahm die beiden in den Arm. »Wisst ihr, als Tante Emma und ich euch eure Namen gaben«, sagte ich vernünftig, »da wart ihr Ziegen. Ihr habt damals schon auf March und May gehört und da wir nicht sicher waren, ob ihr für immer verzaubert wart, beschlossen wir, sie nicht zu ändern.«

March gab ein ersticktes Schluchzen von sich. Ich musste eine andere Taktik anwenden. »Hört mal, ich muss euch etwas Wichtiges fragen. Was macht ihr am liebsten?«

»Leuten einen Schreck einjagen«, antwortete May nach kurzer Überlegung.

March öffnete den Mund und deutete hinein.

Oh je. »Das sind seltsame Vorlieben, findet ihr nicht?«

May beäugte mich misstrauisch. »Kann sein …«

»Ja, sie sind eindeutig seltsam«, erklärte ich entschieden. »Also ist seltsam nicht wirklich schlimm, oder? Es ist gut, genau wie Leute zu erschrecken oder Salamander zu essen. Harold hat euch ein Kompliment gemacht.«

»Hmmm«, erwiderte May. Sie schien nicht überzeugt. Doch March hatte zumindest zu weinen aufgehört und um nicht vollends den Verstand zu verlieren, erklärte ich diese Runde zum Teilsieg.

»Und jetzt sputet euch. Solange unser Gast hier ist, müsst ihr beiden draußen spielen. Denkt daran, geht nicht weiter als bis zum Rand des Weizenfelds.« Als ich sie auf die Tür zuschob, hatte ich ein ungutes Gefühl. Wenn noch eine Elfenbestie aus dem Wald käme …

Doch derartige Vorfälle waren äußerst selten, und ich musste daran denken, mit welcher Leichtigkeit der Prinz das Monster gestern getötet hatte. Solange er sich bei uns aufhielt, waren wir sicher. Allerdings änderte es nichts an meinem unguten Gefühl und so fügte ich hinzu: »Sobald ihr hört, dass die Heuschrecken nicht mehr zirpen, kommt ihr sofort ins Haus zurück.«

May sah mit gerunzelten Augenbrauen zu mir auf. »Warum?«

»Darum.«

»Warum können wir nicht einfach im Haus spielen?«

Ich trieb sie die Verandatreppe hinunter, die altersschwache Küchentür knallte hinter mir zu. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass draußen alles völlig normal aussah. Die Hühner stolzierten gackernd durch den Hof, die Bäume bogen sich im lebhaften Wind und über die sanften Hügel fegten Schatten. May starrte mich trotzdem weiter an. Offenbar sah man mir an, dass sich mein Magen noch immer wie eine geballte Faust zusammenkrampfte.

»Du weißt ganz genau, warum«, sagte ich energisch und verdrängte mein ungutes Gefühl.

Ehrlich gesagt, gab es mehrere Gründe. May hatte mehr als einmal meine Staffelei umgerannt. March zeigte einen unersättlichen Appetit auf Preußischblau. Vor allem aber hatten die Elfen die beiden nicht gern um sich. Vermutlich waren ihnen die Zwillinge peinlich, schließlich waren sie ein sichtbarer Beweis einer ihrer Fehler, noch dazu ein unbeabsichtigt kräftiger Beweis. Ich war mir sicher, dass sie nicht verzaubert werden konnten: March und May waren ihre richtigen Namen. Hätten die Elfen dieses Wissen gegen sie einsetzen können, hätten sie es längst getan.

March ließ ein erfreutes Meckern hören und sprang in großen Sätzen zum Holzstoß, doch May wandte den Blick nicht ab. »Mach dir keine Sorgen, uns passiert schon nichts«, sagte sie schließlich ruhig und tätschelte mir das Knie. Dann hüpfte sie ihrer Schwester hinterher.

Meine Augen brannten. Geschäftig strich ich meinen Rock glatt und schob einige lose Haarsträhnen hinters Ohr. Sie sollten nicht sehen, wie sehr mich das alles mitnahm, ich wollte es mir nicht einmal selbst eingestehen. Wenn ich mich darauf konzentrierte, dass alles seine Ordnung hatte, brauchte ich nicht darüber nachzudenken, was meinen Eltern widerfahren war, oder warum mich der Vorfall, den ich weder persönlich miterlebt, noch gehört oder gesehen hatte, auch zwölf Jahre später noch in Panik versetzte. Doch offenbar verbarg ich meine Furcht nicht gut genug. Selbst May konnte sie sehen.

Aus dem Baum, der im Garten Schatten spendete, kam das heisere Krächzen eines Raben.

»Kschsch!« Ich rief es, ohne aufzublicken. Raben erschreckten die Singvögel, die in unserem Gebüsch nisteten, und Emma und ich gaben unser Bestes, uns dafür bei ihnen zu revanchieren.

Die warme Sonne und der Anblick von March und May, die auf den Holzscheiten herumturnten, sorgten dafür, dass mein ungutes Gefühl nachließ. Aus der Ferne konnte man sie nur an den weißen Flecken auf ihrer ansonsten rosigen Haut auseinanderhalten; bei May lief der Fleck über die linke Wange und die halbe Nase. Sie hatten beide dasselbe lockige schwarze Haar, dieselbe Lücke zwischen den Vorderzähnen und dieselben auffallend unmenschlichen Augenbrauen. Sie sahen aus wie ein Puttenpärchen, das beschlossen hatte, statt mit Liebespfeilen lieber mit echten Pfeilen auf Menschen zu schießen. Sie waren schrecklich. Ich hatte sie so lieb.

Doch ich musste unablässig daran denken, dass der Prinz kommen würde, dunkle Vorahnungen plätscherten unablässig gegen die Ufer meines Unterbewusstseins.

Der Rabe krächzte noch einmal.

Dieses Mal blickte ich auf. Der Rabe drehte den Kopf und beäugte meine gerunzelte Stirn. Er plusterte die Federn und hüpfte geschickt den Ast entlang. Als er ins Licht kam, stockte mir der Atem. Sein Rücken hatte einen rötlichen Schimmer und seine Augen schienen von ungewöhnlicher Farbe.

Ich verbeugte mich prompt mit einem Knicks und eilte ins Haus, hin und her gerissen zwischen der Hoffnung, der Rabe möge doch nicht der Prinz sein, und dem Wissen, dass falls dem so war, ich soeben vor einem Vogel geknickst hatte und gleich darauf vor ihm geflüchtet war. Die klapprige Küchentür hinter mir knallte mit einem dumpfen Klong, Klong, Klong zu.

Ein viertes Klong war zu hören, aber es war nicht die zuschlagende Tür. Es war ein Klopfen.

»Herein!«, rief ich. Doch als ich mich in der Küche umblickte, wünschte ich sogleich, ich hätte es nicht getan.

Ich ergriff aufs Geratewohl einen Topf und schleuderte ihn in den Ausguss, auch wenn ich nicht einmal sicher war, ob er tatsächlich schmutzig war. Doch zu mehr blieb mir keine Zeit, denn schon öffnete sich die Tür und der Herbstprinz trat herein.

Er musste sich bücken, um sich nicht den Kopf am Türsturz anzuschlagen, der nur für durchschnittlich große Menschen gedacht war.

»Einen schönen Nachmittag, Isobel«, grüßte er und verbeugte sich galant.

Noch nie zuvor war ein Elf in unserer Küche gewesen. Es war ein kleiner Raum mit unbehauenen Steinwänden und vom Alter ausgetretenen Dielen, die sich in der Mitte durchbogen, einem hohen Fenster, das ein wenig Licht hereinließ, jedoch genug, um besondere Aufmerksamkeit auf die ungespülten Teller neben dem Schrank und den trostlos aussehenden Torfbrocken zu lenken, der noch in unserem kleinen, brusthohen Herd glomm.

Der Prinz hingegen sah aus, als sei er gerade aus einer vergoldeten Kutsche gestiegen, die von einem halben Dutzend weißer Hengste gezogen wurde. Ich konnte mich zwar nicht mehr genau erinnern, was er am Vortag getragen hatte, doch wenn er so ausgesehen hätte, wäre es mir bestimmt in Erinnerung geblieben. Sein gut sitzender dunkler Seidenmantel, der mit kupferfarbenem Samt gefüttert war, schleifte fast wie ein Umhang über den Boden. Um die Stirn trug er einen dazu passenden Kupferreif und obwohl seine wilde Haarmähne ein Eigenleben entwickelt zu haben schien und den größten Teil des Reifs verdeckte, sah ich, dass dieser aus ineinander verschlungenen Blättern bestand und mit Grünspan gesprenkelt war. Der Kragen wurde von einer Fibel in Rabenform zusammengehalten, zweifellos ein Relikt eines anderen Zeitalters. An seiner Taille hing noch das Schwert vom Vortag.

Ja, da stand er, nur Zentimeter von der schimmeligen Zwiebelschale entfernt, die ich morgens nicht wegräumt hatte.

Ich hatte bereits gegen die Etikette verstoßen. Meine nächsten Worte mussten wohlüberlegt sein und selbstsicher klingen. Stattdessen platzte ich heraus: »Was tut Ihr eigentlich, wenn Ihr eine Verbeugung nicht erwidern könnt?«

Während ich meinen Mut zusammennahm, hatte der Prinz eingehend eine Schöpfkelle angestarrt. Nun starrte er mich an.

Was bist du?, schienen seine verwirrten Amethystaugen zu fragen. »Ich glaube, das verstehe ich nicht.«

Irgendwann mussten die durchhängenden Dielenbretter doch nachgeben. Vielleicht taten sie mir ja den Gefallen, es genau in diesem Moment zu tun.

»Wenn sich jemand vor Euch verbeugt oder knickst, und Ihr könnt es nicht umgehend erwidern«, hörte ich mich erklären.

Seine Miene hellte sich auf, er verstand, was ich meinte, sein gewohntes leichtes Lächeln kehrte zurück. Er beugte sich zu mir vor und blickte mir in die Augen, als würde er mir ein großes Geheimnis verraten. Vielleicht tat er das ja. »Das ist schrecklich unangenehm«, erwiderte er ruhig. »Wir müssen so lange nach demjenigen suchen, bis wir ihn finden, vorher können wir an nichts anderes denken.«

Oh. »Vermutlich habe ich das gerade getan, als ich ins Haus gerannt bin. Es tut mir leid.«

Er richtete sich auf und schien mich für einen Moment zu vergessen. »Nach Euch zu suchen war mir ein Vergnügen«, antwortete er freundlich, wenn auch recht distanziert und hob einen Fleischspieß hoch. »Ist das eine Waffe?«

Ich nahm ihm den Spieß vorsichtig aus der Hand und legte ihn wieder hin. »Zumindest ist er nicht dafür gedacht.«

»Verstehe«, antwortete er, und bevor ich ihn aufhalten konnte, durchmaß er mit drei großen Schritten die Küche, um eine Kasserolle zu inspizieren, die an einem Nagel an der Wand hing. »Aber das hier ist doch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Waffe.«

»Nein, ist es nicht …« So sprachlos war ich einem Elfen gegenüber noch nie gewesen. »Nun ja – man könnte die Kasserolle sicher als solche benutzen, aber sie ist eigentlich zum Kochen gedacht.« Er blickte an mir vorbei. »So nennt man die Kunst, Essen zuzubereiten«, erklärte ich, denn die höfliche Bestürzung, mit der er die Stirn runzelte, grenzte schon an Angst.

»Ja, ich weiß, was Kochen bedeutet«, sagte er. »Ich war nur erstaunt, wie viele Werkzeuge Eurer Kunst gleichzeitig als Waffen eingesetzt werden können. Gibt es etwas, das ihr Menschen nicht einsetzt, um euch gegenseitig umzubringen?«

»Vermutlich nicht«, räumte ich ein.

»Wie eigenartig.« Er hielt inne, um die Decke zu betrachten. Voll Sorge vor seinem nächsten Kommentar räusperte ich mich und knickste.

Er drehte sich mit einem leichten Stirnrunzeln um und antwortete mit einer Verbeugung.

»Normalerweise empfange ich meine Kunden in der Stube, bitte hier entlang. Wollen wir anfangen? Ich möchte Eure Zeit nur ungern übermäßig in Anspruch nehmen.«

»Ja, selbstverständlich«, erwiderte er, doch als wir den Flur hinunterliefen, spähte er weiter an die Decke, bis er schließlich abrupt stehen blieb und die Hand auf die weiße verputzte Wand legte. Ich blieb ebenfalls stehen und wartete darauf, dass er seinen Satz beenden würde. Das angestrengte Lächeln auf meinem Gesicht war nur ein Mittel, mich von einem verzweifelten Schrei abzuhalten.

»Auf diesem Haus liegt ein sehr starker Zauber, noch dazu ein sehr seltsamer«, stellte er schließlich fest.

»Das ist richtig.« Ich begann weiterzugehen und war erleichtert, als ich das Rascheln seines Mantels hinter mir vernahm. »Es war das Erste, worauf ich hinarbeitete, als ich diese Porträts zu malen begann – der Zauber ist der Verdienst eines ganzen Jahres. Kein Elf …«

»Kann, solange Ihr am Leben seid, den Bewohnerinnen dieses Hauses Schaden zufügen«, beendete er vor sich hinmurmelnd. »Beeindruckende Arbeit. Von Gadfly?«

Ich nickte und widerstand dem Bedürfnis, über die Schulter zu blicken. Als mir der charakteristische Geruch der Stube entgegenschlug, nahm ich aus Gewohnheit einen formelleren Ton an. »Ich genieße seit vielen Jahren sein Vertrauen. Darf ich fragen, warum Ihr ihn seltsam findet?«

»Ich habe noch nie zuvor einen solchen Zauber gesehen. Abgesehen davon hätte ich Gadfly nichts dergleichen zugetraut.«

Nun war ich knapp davor, abrupt stehen zu bleiben. Ich musste mich körperlich anstrengen weiterzugehen, und als ich in die Stube trat, legte ich mechanisch die Zeichenkohle bereit, die ich für die Skizze an diesem Tag benötigen würde. Hatte der Zauber einen Haken? Hatte ich vor all den Jahren etwas Falsches zu Gadfly gesagt und versehentlich ein Schlupfloch in unseren Vereinbarungen zugelassen? Die Vorstellung löste solche Übelkeit bei mir aus, dass meine Hände und Füße taub zu werden begannen.

»Als Prinz kann ich, wenn ich will, die meisten Zauber aufheben«, fuhr er fort und musterte weiter etwas, das ich nicht sehen konnte. »Doch als ich sagte, dass dieser Zauber stark sei, meinte ich das auch so. Er übersteigt sogar meine Macht. Gadfly muss über gewaltige Kräfte verfügt haben, um ein solches Werk zu vollbringen. Das ist wirklich außergewöhnlich, vor allem, weil er sich sonst nur aus seinem Sessel erhebt, wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt. Er muss von Eurer Malkunst außerordentlich angetan sein. Allmählich verstehe ich, warum er mir mit solchem Nachdruck empfohlen hat, mein Porträt malen zu lassen.«

Ich atmete aus, um mich zu beruhigen.

Ein Punkt, den der Prinz angesprochen hatte, klang merkwürdig – Gadfly hatte sich mir gegenüber den Anschein gegeben, er habe mit dem Termin nichts zu tun gehabt – doch ich war so erleichtert, dass ich den Gedanken nicht weiter verfolgte.

»Davon wusste ich nichts«, sagte ich. »Ihr seid der Erste, der mir das erzählt – bisher hat es noch nie jemand erwähnt.«