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Was bedeutet es, unter chronischem Schmerz zu leiden? Welche Auswirkungen hat er auf Identität, Selbstverständnis und Lebensfreude? Celia Svedhem gibt tiefe Einblicke in ihre Suche nach einem Weg mit Migräne zu leben in einer Gesellschaft, die auf Leistung und Perfektion ausgerichtet ist, und erzählt eine spannende Kultur- und Medizingeschichte der Krankheit. Celia Svedhem leidet seit ihrer Jugend an Migräne. Sie ist Anfang dreißig, Psychotherapeutin und Mutter zweier kleiner Kinder, als die Anfälle immer extremer werden. Sie nimmt starke Schmerzmittel, doch diese zeigen kaum Wirkung. Ihren Alltag kann sie kaum noch bewältigen. Die rasenden Schmerzen, die ihr Umfeld nicht nachvollziehen kann, zwingen sie dazu, einen Großteil ihres Tages in einem abgedunkelten Raum zu verbringen. Sie fühlt sich isoliert, hat Schuldgefühle ihrer Familie, ihren Patient:innen gegenüber. Doch der Druck verstärkt die Schmerzen nur – ein Teufelskreis. Vom Durchbohren der Schädeldecke über Aderlass und Senfkuren bis hin zu Botox – vieles wurde im Laufe der Jahrhunderte versucht, um die bis heute mysteriöse Erkrankung zu bewältigen; Virginia Woolf, Salvador Dalì, Joan Didion und viele andere Kunstschaffende litten daran. Svedhem beschäftigt sich mit deren Aufzeichnungen, taucht tief ein in die Geschichte der Migräne, probiert verschiedene psychosomatische und medikamentöse Therapien aus – und findet dabei nicht nur ihren eigenen Weg, die Schmerzen zu lindern, sondern auch einen neuen Zugang zu sich selbst.
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Seitenzahl: 200
CELIA SVEDHEM
Die Geschichte der Migräne und mein Weg zur Linderung
Aus dem Schwedischen
von Hanna Granz
Verlag Antje Kunstmann
1 Sumatriptan
2 Virginia Woolf und das Problem der Unterdiagnostik
3 Botox
4 Fermentierter Urin, Blutegel und Opium
5 CGRP-Hemmer
6 Carroll, Dalí und die Inspiration
7 Änderung des Lebensstils
8 Nietzsche, Darwin und die Bedeutung von Sinn
9 Akzeptanz
10 Sigmund Freud und die Psychosomatik
11 ISTDP
12 Zwei Säulen und die multifaktorielle Zukunft
Quellenverzeichnis
Dank
… da war Alice mit einem Satz auf den Beinen, denn mit einemmal war ihr klargeworden, daß sie noch nie zuvor einKaninchen mit einer Westentasche gesehen hatte, am allerwenigsten eins mit einer Uhr darin; und außer sich vor Neugier rannte sie ihm, so schnell sie konnte, über den Ackernach, wo sie es zum Glück noch gerade unter die Hecke in einen großen Kaninchenbau hineinspringen sah.
Carroll, Lewis: Alice im Wunderland
Ich erwache mit diesem metallischen Hämmern im Kopf. Sigge hat sich aufgesetzt und schlägt mit dem Schnuller gegen die Stäbe seines Gitterbetts.
»Mamm mamm mamm«, macht er im Takt. Ich sehe ihn an und verziehe die Lippen, es ist als Lächeln gemeint.
»Sollen wir dir ein Fläschchen machen?« Beim Aufstehen fährt mir die Übelkeit in den Hals. Ich hebe Sigge hoch. Konzentriere mich auf dem Weg in die Küche auf den warmen, kompakten kleinen Körper an meinem. Mein Kopf dröhnt, ich messe Wasser und Pulver für das Fläschchen ab. Während die Mikrowelle läuft, lehne ich meine Stirn vorsichtig an die Kühlschranktür. Aus dem Wohnzimmer ist das Trappeln kleiner Füße zu hören und Elsa taucht auf, verstrubbelt und verschlafen. Ich nehme sie in den Arm. Dann öffne ich die kindersichere Schublade mit den Medikamenten und drücke eine Sumatriptan aus der Metallverpackung. Spüle sie mit einem Glas Wasser hinunter. Die zehnte in dieser Woche? Als das Fläschchen fertig ist, landen wir alle drei auf dem Sofa. Elsa lehnt sich an meine Schulter. Sigge legt den Kopf auf meinen Schoß, das Fläschchen fest im Griff seiner kleinen runden Fäuste. Er schließt die Augen und ich streiche ihm das feuchte Haar aus der Stirn. Mir ist übel und ich schlucke und schlucke. Ich brauche mehr. Zurück in der Küche, nehme ich das Röhrchen Citodon heraus. Es ist nur noch eine drin. Ich sehe zu, wie sich die Tablette in einem halben Glas Wasser auflöst, dann kippe ich es hinunter. Beim Gedanken, dass ich nächste Woche wieder arbeiten soll, dreht sich mir der Magen um. Zwar erst mal nur donnerstags und freitags – aber wie soll das gehen, mit dieser Migräne?
Während ich in der Warteschleife des Gesundheitszentrums meine Versicherten- und meine Telefonnummer angebe, überlege ich, wann die Kopfschmerzen eigentlich so dermaßen überhandgenommen haben. Seit Herbst habe ich sie permanent. Oder schon länger? Im Sommer hatte ich noch gedacht, es würde besser, wenn ich erst mit dem Stillen aufhörte. Dass es vielleicht daran läge, dass ich zu wenig schlief, oder dass ich komisch lag, wenn ich nachts stillte. Den Arm nach oben verdreht und auf die Seite gekauert, damit Sigge gut an die Brust kam.
Das Gesundheitszentrum ruft zurück, als ich mit den Kindern auf dem Spielplatz bin. Ich sitze mit einer anderen Mutter am Sandkasten und sehe zu, wie die Kinder gelbes und rotes Laub sammeln, das zu Boden gefallen ist. Unser Atem bildet beim Sprechen kleine weiße Wolken vor dem Mund.
»Gesundheitszentrum hier – Sie hatten versucht, uns anzurufen?«
Ich entschuldige mich, stehe auf und gehe ein Stück beiseite, zu den Rutschen.
»Ja, hallo, es geht um meine Migräne. Zum einen bräuchte ich ein neues Rezept für Sumatriptan und Citodon.«
»Rezeptwünsche können Sie auf unserer Homepage eingeben«, sagt die Sprechstundenhilfe und klingt wie ein automatischer Anrufbeantworter.
»Ich weiß, aber ich hätte auch noch eine Frage. Wie viele Sumatriptan darf man am Tag nehmen? Ist es okay, wenn man eine morgens nimmt und noch eine am Nachmittag, wenn die Migräne zurückkommt?«
»Ich glaube schon.«
»Mir kommt es seltsam vor, dass ich zwei davon brauche. Vielleicht sollte ich es doch noch mal mit einem anderen Medikament versuchen?«
Am anderen Ende bleibt es kurz still, ich höre, wie die Sprechstundenhilfe über die Tastatur etwas eingibt, mit der Maus klickt.
»Ich sehe mir gerade Ihre Patientenakte an. Sie waren wegen dieser Beschwerden ja bereits mehrmals bei Doktor Olof. Und Sie haben sowohl Präventiv- als auch Akutmedikamente verschrieben bekommen.«
»Das stimmt, aber irgendwie wird es immer schlimmer. Heute ist der achtzehnte Tag in Folge mit Migräne, so schlimm war es noch nie. Vielleicht könnte ich doch noch mal mit Doktor Olof sprechen?«
»Ich kann Ihnen leider keinen Termin mehr geben, Sie bekommen bereits alles, was wir in so einem Fall verschreiben können.«
Ich seufze und knete meine Stirn. Mein Hals fühlt sich plötzlich dick und zugeschwollen an.
»Außerdem sehe ich gerade, hier ist ein Vermerk in Ihrer Akte: Wir dürfen Ihnen dieses Jahr kein Citodon mehr verschreiben. Es besteht das Risiko einer Abhängigkeit.«
»Aber was soll ich denn dann nehmen?«
»In der Apotheke bekommen Sie rezeptfrei Ibuprofen und Paracetamol.« Ihre Stimme ist um eine Oktave höher geworden.
»Aber ich glaube nicht …«
»Und das Rezept für Sumatriptan liegt ab 17 Uhr für Sie bereit.«
»Okay, aber …«
»Das wär’s dann. Tschüss, und machen Sie’s gut.
Am Nachmittag treffen wir uns mit Irina und ihren Kindern. Jeden Montag gehen wir zusammen zur offenen Geschwistergruppe in Elsas Kindergarten. Den ganzen Weg dorthin erzählt Irina von den Hausbesichtigungen, an denen sie und ihr Mann teilgenommen haben.
»Und wie geht es dir so?«, fragt sie schließlich, als wir bereits auf den Hof des Kindergartens einbiegen.
»Ich habe Migräne.«
»Mhm, lästig. Ach, übrigens, gehst du Samstag zu Natalie?«
»Ich weiß noch nicht, ob ich es schaffe.«
Sie sieht mich fragend an.
»Ich habe die ganze Zeit solche Kopfschmerzen.«
»O Gott, das klingt ja anstrengend. Hast du das mal untersuchen lassen?«
»Ja, aber es heißt immer, man könne da nicht mehr tun«, antworte ich frustriert.
»Echt? Wie ätzend. Jedenfalls habe ich gedacht, wir könnten ihr vielleicht gemeinsam was schenken? Was meinst du?«
Am Abend zähle ich die Minuten, bis Jonas von der Arbeit kommt und ich mich endlich hinlegen kann. Mein Kopf dröhnt so heftig, dass ich mir nicht mehr zu helfen weiß. Und so mache ich einfach weiter, wechsle Windeln, brate Fischstäbchen, puste auf Elsas Finger, nachdem sie ihn sich zwischen zwei Legosteinen geklemmt hat. Als Jonas endlich kommt, gehe ich auf direktem Weg ins Schlafzimmer, mache die Tür zu, schalte das Licht aus, lasse die Jalousie herunter, steige ins Fegefeuer hinab. Der Schmerz explodiert in meinem Kopf. Roter und beigefarbener Dampf hinter meinen Lidern. Wie habe ich noch mal bei den Geburten geatmet? Durch die Nase ein. Den Schmerz annehmen. Keinen Widerstand leisten. Ausatmen und ihm nachgeben.
*
Ich sitze zum Kick-off-Gespräch bei meiner Chefin. Ein leichtes Stechen im Kopf. Als ich nach dem Mittagessen meine Einträge in die Krankenakten mache, hat das Stechen sich zu einem starken Pochen entwickelt. Aber ich habe nur noch eine Patientin, dann kann ich nach Hause. Im Laufe des Termins werden die Schmerzen so heftig, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Ich, die ich normalerweise so strukturiert bin, schaffe es nicht, einem roten Faden zu folgen. Die Patientin spricht, und ich strenge mich wirklich an, zu verstehen, was sie sagt. Als mir übel wird, schaue ich auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Schweiß tritt mir auf die Stirn und ich muss immer wieder schlucken, um mich nicht auf den kleinen Tisch zwischen uns zu übergeben. Als der Termin endlich vorbei ist und ich mich von ihr verabschiedet habe, renne ich auf die Personaltoilette, ohne hinter mir abzuschließen, reiße den Toilettendeckel auf und kotze. Mein Kopf dröhnt. Als mein Magen endlich leer ist, vermag ich kaum aufzustehen, um abzuschließen. Nachdem ich eine Weile auf der Toilette vor mich hin gedöst habe, kehre ich ins Sprechzimmer zurück und rufe Jonas an. Er packt die Kinder ins Auto und holt mich ab.
Am nächsten Morgen ist die Migräne immer noch da. Ich melde mich krank und rufe anschließend im Gesundheitszentrum an, bestehe darauf, einen Termin beim Arzt zu bekommen. Ich könne nicht arbeiten, wenn ich keine weitere Unterstützung bekäme. Diesmal wird mir ein Telefontermin mit dem Arzt zugestanden. Ein paar Tage später ruft er zurück, ich liege gerade mit den Kindern in einem Meer von Spielzeugautos, Barbies und Bauklötzen auf dem Wohnzimmerboden.
»Helfen Sie mir«, flehe ich ihn an.
»Sie nehmen das Metoprolol genau nach Anweisung ein?«
»Ja, absolut! Aber es hilft nicht. Ich kann so nicht arbeiten gehen. Ich glaube, ich muss mich krankschreiben lassen.«
Er räuspert sich und seufzt.
»Da sind die Kassenvorschriften leider sehr streng. Melden Sie sich am besten jeweils an den Tagen krank, an denen Sie Migräne haben. Sie können allerdings bei der Krankenkasse einen Hochrisikoschutz beantragen. So bekommen Sie wenigstens zehn Krankheitstage im Jahr bezahlt.«
»Okay, da erkundige ich mich mal. Aber irgendwie muss es doch besser werden. Wenn Sie nichts mehr für mich tun können, können Sie mich dann vielleicht irgendwohin überweisen?«
Wieder seufzt der Arzt.
»Klar, wir können versuchen, Sie zum Neurologen zu schicken. Aber machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen. Als Migränepatientin bekommen Sie dort schwer einen Termin.«
*
Während ich auf einen Termin beim Neurologen warte, überlege ich, wie andere eigentlich mit dieser Art von Migräne umgehen, wie sie es schaffen, im Alltag zu funktionieren. Eines Vormittags, als ich in der Personalteeküche auf den Kaffee warte, sehe ich dort eine Kollegin, die allein etwas abseits in einer Sitzgruppe sitzt. Sie gehört zu einem anderen Team und ich kenne sie nicht wirklich, habe aber gerüchteweise gehört, dass sie jahrelang an Migräne gelitten und wirklich alles versucht hat. Als der Kaffee durchgelaufen ist, gehe ich mit der Kanne zu ihr, frage, ob ich ihr nachschenken darf, und setze mich zu ihr.
»Ich habe gehört, Sie leiden furchtbar unter Migräne. Ich auch.«
»Ach ja?« Ihr Blick ist kühl.
»Haben Sie einen Tipp, wie man damit leben kann?«
»Ähm, entschuldigen Sie, aber darüber möchte ich nicht reden.«
Das hatte ich nicht erwartet.
»Ach so«, stammele ich. »Ich habe inzwischen jeden Tag Migräne und kenne niemanden mit so heftigen Symptomen. Ich hatte gehört, dass Sie auch … Und da dachte ich, ich frag Sie einfach mal …«
Ich lächele, um meine Aufdringlichkeit und die Anspannung zu überspielen.
»Ich versuche mich einfach auf das zu konzentrieren, was nicht Migräne ist. Deshalb rede ich nicht darüber. Wenn Sie mich also bitte entschuldigen«, diesmal betont sie entschuldigen, knüllt ihre Serviette zu einer Kugel zusammen und drückt sie in ihre Kaffeetasse. Dann nickt sie mir zu und geht.
Normalerweise arbeitet Jonas den Großteil der Woche in einer anderen Stadt, jetzt aber ist er halbtags in Elternzeit. Jede Nacht, die er zu Hause schläft, steht er auf, sobald die Kinder weinen, damit ich durchschlafen kann. Dennoch hört die Migräne nicht auf. Sie ist da, schwer und dumpf, die ganze Zeit. Gegen Nachmittag und Abend geht sie meist in diesen stechenden, noch intensiveren Schmerz über. Ich nehme weiter Sumatriptan und ergänze mit hohen Dosen Paracetamol und Ibuprofen. Es macht jedoch keinen Unterschied. Wenn die Migräne auf der Arbeit zuschlägt, setze ich mich sofort ins Auto und fahre nach Hause – aus Angst, es könnte wieder so schlimm werden wie das eine Mal, als ich mich gezwungen habe zu bleiben, bis ich mich auf der Toilette übergeben musste. Dass ich mich so oft bereits nach einem halben Arbeitstag krankmelden muss, ist natürlich ein Problem. Bevor ich nach Hause gehe, rufe ich meine Patientinnen und Patienten an, um die Termine abzusagen. Ich biete ihnen Ersatztermine an, aber dann ist in der Woche darauf schon alles voll und ich muss sie auf mehrere Wochen vertrösten. Wenn ich neue Termine vereinbare, versuche ich mir den Vormittag frei zu halten für diejenigen, die ich vertrösten musste; es soll möglichst niemand mehrfach von meinen Krankmeldungen in Mitleidenschaft gezogen werden. Dennoch wird die Schlange der Wartenden immer länger.
In meinem Kopf wiederholen sich die immer gleichen Fragen in Endlosschleife. Wie soll das bloß weitergehen? Wie kriegen andere Leute ihre Migräne in den Griff? Nachdem mir die Kollegin im Pausenraum eine solche Abfuhr erteilt hat, traue ich mich wochenlang nicht, diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Erschrocken darüber, dass das Thema anscheinend so heikel ist. Migräne – das hat doch jeder, alle reden darüber. Dennoch fällt mir im Moment kein einziges konkretes Beispiel ein, wer diese »alle« sind.
An einem Samstag kommt Jonas’ Freund Linus auf einen Kaffee zu Besuch. Er erzählt, dass seine Mutter ebenfalls an Migräne gelitten habe. In seiner Erinnerung hat sie seine gesamte Kindheit hindurch das abgedunkelte Schlafzimmer nicht verlassen. Dann hellt sich seine Miene plötzlich auf.
»Aber als ich ungefähr fünfundzwanzig war, kam sie in die Wechseljahre, und da wurde es deutlich besser!«
Die Teamleiterin auf der Arbeit mailt mir einen Artikel über eine Frau, die ihr Leben komplett umgestellt hat. Und jetzt nicht mehr jeden, sondern nur noch jeden zweiten Tag Kopfschmerzen hat.
Gierig sauge ich diese Geschichten in mich auf – und ärgere mich gleichzeitig darüber. Was soll ich denn dazu sagen? Soll ich etwa dankbar dafür sein und in Freudentaumel ausbrechen, nach dem Motto: »Oh, cool – wenn ich richtig Glück habe, könnte ich vielleicht jeden zweiten Tag keine Migräne mehr haben! Oder spätestens in fünfzehn Jahren überhaupt nicht mehr!«
Aber wo finde ich die anderen Geschichten? Es muss doch noch mehr geben? Von Menschen, die von ihrer Migräne geheilt wurden. Oder die eine Strategie gefunden haben, trotzdem arbeiten und sich um ihre Kinder kümmern zu können. Mir fällt ein, dass ich bei Joan Didion einmal etwas zum Thema gelesen habe. Ich muss ein wenig suchen, finde es dann aber wieder – einen Essay von 1979 über ihre Migräne. In einem Absatz gegen Ende fasst sie noch einmal das Wesentliche zusammen:
Und wenn er [der Migräneanfall] kommt, jetzt, nachdemich mit seiner Art vertraut bin, wehre ich mich nicht mehrdagegen. Ich lege mich hin und lasse es geschehen.
Ich stelle fest, dass auch Siri Hustvedt einen Essay über ihre Migräne geschrieben hat, »Mein seltsamer Kopf« von 2012, in dem sie zu demselben Schluss kommt wie Joan Didion:
Aber bei meinen Migränen, die weiterhin kommen, und daszweifellos immer tun werden, habe ich herausgefunden, dass Kapitulation dem Kämpfen vorzuziehen ist. Wenn icheine kommen fühle, gehe ich ins Bett und mache (…) meineEntspannungsübungen.
Ich schlage Hustvedts Essay-Band mit einem Knall, der in meinem Kopf schmerzhaft widerhallt, zu. Wie soll das gehen: sich hinlegen und kapitulieren? Was ist mit den Kindern, die vom Kindergarten abgeholt werden müssen? Mit den Babys, die die Windel voll haben? Patientinnen und Patienten, die im Wartezimmer sitzen?
Was ist das eigentlich für ein Leben, das diese Texte beschreiben? Ich google und stelle fest, dass Hustvedts Tochter bereits erwachsen war, als sie ihren Essay schrieb. Und Didions Tochter war im Teenageralter. Außerdem waren beide mit Schriftstellern verheiratet, die wahrscheinlich von zu Hause aus arbeiteten und einspringen konnten, wenn die Migräne zuschlug. Kann sein, dass sich hinzulegen und es »geschehen lassen« funktioniert, wenn man eine freie Schriftstellerin mit erwachsenen Kindern ist. Aber was ist mit uns anderen? Denen mit den normalen Jobs, der Stechuhr, den kleinen Kindern und dem Partner, der unter der Woche in einer anderen Stadt arbeiten muss? Wie sollen wir damit zurechtkommen?
*
Endlich landet ein Brief vom Neurologen in meinem Briefkasten. Sie haben meine Überweisung akzeptiert und bieten mir einen Termin im April an.
April. Das sind noch fünf Monate.
Ich war sechzehn, als ich in unserem Urlaub an der Westküste eines Morgens mit heftigen Kopfschmerzen aufwachte. Nach dem gemeinsamen Frühstück in der Sonne verschlimmerten sich die Schmerzen noch einmal gravierend. War es zunächst nur ein dumpfer, pochender Schmerz gewesen, so war es jetzt, als würden Blitze durch meinen Schädel zucken. Ich legte mich hin und hoffte, ein wenig Schlaf würde helfen. Doch als mich meine Mutter Stunden später weckte, war es nicht besser, sondern schlimmer geworden: Mir war zusätzlich schlecht. Meine Mutter, selbst Ärztin und Migränikerin, untersuchte mich kurz und kam zu dem Schluss, dass es ein erster Anfall von Migräne sein könnte. Sie gab mir eine Citodon und meinte, gegen Abend würde es mir wieder besser gehen. Meine Familie ging daraufhin Krebse fischen, während ich mit einem Eimer neben dem Bett liegen blieb. Stunden vergingen, und es wurde und wurde nicht besser. Von Zeit zu Zeit zog ich den Eimer zu mir heran und versuchte mich zu übergeben, denn ich hoffte, dadurch ein wenig Erleichterung zu finden. Stattdessen wurden die Kopfschmerzen nur noch heftiger. Im verzweifelten Wunsch, irgendetwas zu tun, kroch ich mit dem Eimer nach draußen und legte mich auf den Balkon.
Gegen Abend war es tatsächlich vorbei. Ich aß gemeinsam mit den anderen, überglücklich, die Schmerzen und die Übelkeit überstanden zu haben. Als die Anfälle sich wenig später mit gewisser Regelmäßigkeit einstellten, erhielt ich meine offizielle Diagnose. Mein Allgemeinarzt schickte mich ins MRT, und als man dabei nichts anderes fand, bestätigte er: Migräne.
Eine so rasche Diagnose stellt eher die Ausnahme dar. Weltweit leiden Schätzungen zufolge fast eine Milliarde Menschen an Migräne. Allein in Schweden sind es fast eine halbe Million. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet Migräne als eine der Erkrankungen, die den Menschen am meisten einschränken, und stuft sie damit ein wie eine Psychose oder Demenz. Dennoch, und obwohl so enorm viele Menschen betroffen sind, gilt sie wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge als extrem unterdiagnostiziert. Man geht davon aus, dass mindestens einer beziehungsweise eine von drei Betroffenen trotz starker Symptome keine gesicherte Diagnose erhält.
Die Gründe dafür sind vielfältig, ein entscheidender Faktor ist jedoch Unwissenheit. Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter Migräne lediglich einseitigen Kopfschmerz. Punkt. Dabei kann die Krankheit sich vollkommen unterschiedlich darstellen. Als ein Schmerz, der im ganzen Kopf, lediglich im Nacken oder direkt unter der Schädeldecke wahrgenommen wird, bei manchen Betroffenen wandert er auch. Tatsache ist, dass der Schmerz an sich oft gar nicht mal das Schlimmste ist. Viele Betroffene nennen Muskelschwäche oder Übelkeit als auffälligste Symptome. Andere erleben plötzlich einsetzende, lähmende Müdigkeit, Schwindel oder Sprachfindungsstörungen als besonders einschränkend. Bei manchen Migränikern beginnen die Anfälle stets mit einer Aura, also Seh- oder Wahrnehmungsstörungen, die je nach Intensität und Ausprägung von den Betroffenen ebenfalls als mehr oder weniger stark einschränkend erlebt werden.
Hinzu kommt, dass nicht jeder, der Symptome hat, sofort zum Arzt geht. Auch dafür gibt es verschiedenste Gründe. Manche Betroffene verzichten darauf, weil die Krankheit als schwer zu behandeln gilt. Sie glauben, das wäre sowieso sinnlos oder haben erlebt, dass bei Verwandten oder Freunden eine Behandlung nicht angeschlagen hat. Ein weiterer Grund ist sicherlich auch das Stigma, das der Krankheit anhaftet. Wie bei anderen unsichtbaren Schmerzzuständen, machen Betroffene oft die Erfahrung, nicht ernst genommen zu werden. Wissenschaftliche Studien belegen ein weitverbreitetes Misstrauen gegenüber Menschen, die angeben, Schmerzen zu haben – sowohl was das Ausmaß als auch was die Intensität derselben angeht. Seit über zweihundert Jahren hält sich hartnäckig die Überzeugung, bei Migräne handle es sich lediglich um eine Ausrede, um unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen.
Ein weiterer Grund dafür, dass Migränepatientinnen und -patienten keine Diagnose erhalten, ist, dass ihr Leiden einfach falsch interpretiert wird. So war etwa die Schriftstellerin Virginia Woolf aller Wahrscheinlichkeit nach Migränikerin, ohne es je gewusst zu haben. Aus Briefen und Tagebüchern in ihrem Nachlass geht hervor, dass sie ihr Leben lang unter starken Kopfschmerzen gelitten hat, denen zudem oft Schwindel, Übelkeit und Wortfindungsschwierigkeiten vorausgingen und aufgrund derer sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Während der Anfälle wollte sie nichts als still in einem abgedunkelten Zimmer liegen. Jegliches Geräusch war ihr unerträglich, manchmal stopfte sie sich deshalb sogar Radiergummis in die Ohren. Häufig waren ihre Attacken auch von Schlafstörungen begleitet, was wiederum Reizbarkeit und Niedergeschlagenheit zur Folge hatte. Anders ausgedrückt: Virginia Woolfs Leiden erfüllte sämtliche Kriterien einer klassischen Migräne ohne Aura. Dennoch benutzt Woolf nirgendwo das Wort »Migräne«, sondern spricht lediglich allgemein von »Kopfschmerzen«, manchmal auch von ihrer »Krankheit«. Wahrscheinlich, weil man ihr stets erklärte, dass ihre Symptome einer anderen Krankheit zuzuordnen seien, der Neurasthenie. Vom 19. bis hinein ins 20. Jahrhundert war dies eine gern gestellte Diagnose, vor allem bei weiblichen Patienten, und man ordnete ihr eine Vielzahl von Symptomen wie etwa Panik, Niedergeschlagenheit, Erschöpfung sowie verschiedene Formen von Schmerz zu.
Heutzutage gibt es die Diagnose Neurasthenie nicht mehr, dennoch vermuten viele Ärzte bei Migräne nach wie vor irgendeine andere Erkrankung. Am häufigsten werden Studien zufolge »Spannungskopfschmerzen« diagnostiziert. In den USA ist auch der »Sinuskopfschmerz« geläufig, ein Begriff, der in Europa so nicht verwendet wird und sich dadurch definiert, dass als Ursache und Ort des Schmerzes die Nebenhöhlen vermutet werden. Eine amerikanische Studie hat gezeigt, dass achtundachtzig Prozent der Menschen, bei denen Sinuskopfschmerz diagnostiziert wurde, in Wirklichkeit an Migräne litten.
Doch damit ist das Thema Differenzialdiagnostik noch lange nicht erschöpft. 2022 veröffentlichte die New York Times eine umfangreiche Reportage über einen Fünfzigjährigen, der dreißig Jahre lang die verschiedensten Allgemeinärzte und Psychiaterinnen aufsuchen musste, bevor er endlich seine Migränediagnose bekam. Zuvor hatte man ihm alles Mögliche zugeschrieben, von Depressionen über episodische Muskelschwäche oder Paralyse bis hin zu Chronischer Müdigkeit (ME). Ein wesentlicher Grund für die Fehldiagnosen war sicherlich, dass dieser Mann nicht primär unter Kopfschmerzen litt. Vielmehr äußerten sich seine Anfälle in plötzlichen Schwäche- und Erschöpfungszuständen, verbunden mit Muskelversteifungen. Kopfschmerz und Sehstörungen waren bei ihm lediglich Teil des Krankheitsbildes, nicht aber das, weswegen er vordringlich Hilfe suchte. In den ersten zwanzig Jahren seiner Odyssee kamen die Anfälle etwa einmal im Monat. Im weiteren Verlauf traten sie immer häufiger auf, am Ende bis zu einmal pro Woche. Umso verzweifelter bemühte er sich darum, Hilfe zu finden, und endlich, nach drei Jahrzehnten, überwies man ihn zu einem Neurologen, der erkannte, dass er an Migräne litt.
Allgemein lässt sich festhalten, dass die Chance auf eine korrekte Migränediagnose umso größer ist, je mehr Wissen und Bewusstsein in einer Gesellschaft bezüglich dieser speziellen Erkrankung herrschen. Der globale Vergleich zeigt dabei noch heute große Unterschiede. Die USA und Europa befinden sich in diesem Ranking relativ weit oben, im Gegensatz etwa zu Südostasien. Aus einer Studie zu Migräne in Südkorea, Japan und China geht hervor, dass über die Hälfte der dort von Symptomen Betroffenen weder eine Diagnose noch eine entsprechende Behandlung erhält. Auch ist die Behandlung mit Triptanen dort nicht üblich, stattdessen besorgen sich die Patientinnen und Patienten rezeptfreie Medikamente, wie zum Beispiel Aspirin. Wozu diese Unterschiede führen, veranschaulicht eine Berechnung staatlicher Ausgaben für Migräniker. In Asien machen Krankschreibungen den absolut größten Kostenpunkt bei der entsprechenden Patientengruppe aus. Im Westen dagegen sind es die Medikamentenverordnungen.
Was aber bedeutet es, wenn eine Migräne nicht richtig diagnostiziert wird? In erster Linie bleibt dem oder der Betroffenen eine adäquate Behandlung vorenthalten und er oder sie riskiert eine Fehlmedikation, die im besten Fall weder schadet noch nutzt, im schlimmsten aber die Migräne noch verstärkt oder heftige Nebenwirkungen verursacht. Virginia Woolf wurden trotz ihrer ständigen Kopfschmerzen nie irgendwelche Schmerzmittel verordnet, und sie erhielt auch keine andere Behandlung, die ihre Beschwerden gelindert hätte.
Ihr Hausarzt George Savage, der bei ihr Neurasthenie diagnostiziert hatte, verschrieb ihr stattdessen in Übereinstimmung mit den damals gängigen Maßnahmen sogenannte »Rest Cures«. Weil man davon ausging, dass Neurasthenie auf eine Überlastung des Nervensystems zurückzuführen sei, also auf eine tiefgreifende, von zu viel intellektueller, aber auch physischer Stimulanz verursachten Erschöpfung, wurde den Betroffenen strenge Bettruhe verordnet. Im Extremfall durften sie sich während so einer Kur, die meist sechs bis acht Wochen dauerte, ohne ärztliche Zustimmung weder aufsetzen noch umdrehen. Um Muskelschwund und Dekubitus zu verhindern, erhielten sie tägliche Massagen, Mahlzeiten waren im Abstand von drei Stunden einzunehmen und hatten vor allem aus Fleisch und Milch zu bestehen. Jeglicher Umgang, außer mit dem Pflegepersonal, war strikt verboten, ebenso wie Lesen, Schreiben, Handarbeit oder andere Ablenkung. Diese Ruhekuren lassen sich anhand immer wiederkehrender zeitlicher Unterbrechungen in Virginia Woolfs Tagebuch nachvollziehen. Am Montag, den 8. August 1921, schrieb sie:
Was für eine Lücke! Wie erstaunt wäre ich gewesen, wennman mir am 7. Juni, als ich hier das letzte Wort schrieb, gesagt hätte, daß ich mich noch in derselben Woche ins Bett