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Der Bestseller aus den Niederlanden: Ein junger Altenpfleger über das Leben im Pflegeheim Jeder fünfte von uns wird am Ende seines Lebens an Demenz erkranken – und womöglich in einem Pflegeheim landen. Wie aber werden wir dort leben? Dieser Gedanke trieb auch Teun Toebes, 22, um. Er ist gelernter Altenpfleger, der auf Demenzkranke spezialisiert ist. Seit er seinen Beruf gewählt hat, fragt er sich, wie alte Menschen möglichst würdevoll ihren Lebensabend verbringen können. Um noch genauer zu verstehen, wie es den Alten im Pflegeheim geht, zieht er kurzerhand dort ein und lebt mit ihnen Tür an Tür. Es entstehen wunderbare Freundschaften, aber auch Innenansichten aus dem Alltagsleben im Heim, von denen er in seinem Buch erzählt. Getragen wird Teun Toebes dabei von einer Vision, wie wir besser mit Demenzkranken umgehen und ihnen ein besseres Leben ermöglichen könnten. Denn eines Tages werden wir womöglich selbst betroffen sein. Der inspirierende Erfahrungsbericht eines jungen Altenpflegers, der seinen Beruf leidenschaftlich lebt und liebt - und ein wertvoller Beitrag in der sich verschärfenden Pflegedebatte, auch in Deutschland
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Seitenzahl: 208
Teun Toebes
Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke
Knaur eBooks
Motto
Vorwort
I Das Licht sehen
Mein Herz gestohlen
Mit offenem Visier
Die ersten kleinen Schritte
II Zwischen Hoffen und Bangen
Leben nach dem Tod
Die große Frage
III Sicherheit über alles
Realitätscheck
Besonders normal
2017. Kapitel
IV Ich denke, also bin ich
Früher war alles besser
Stille Nacht
Ich bin doch nicht verrückt
Verhalte dich einfach normal
Bildteil
V Für immer Mensch
Ein Fazit
Aus tiefstem Herzen
Dank
Freundschaftsbuch
Tineke
Leny
Muriel
Ad
Jeanne
Eugenie
Elly
Ethische Verantwortung
Das letzte Kapitel
»Das Leben hier hat keinen Sinn, wir gehören nicht mehr dazu, also wäre es besser, wirklich tot zu sein.«
Muriel Mulier – Mitbewohnerin
Mein Name ist Teun Toebes. Ich bin der Meinung, dass den Menschen, die mit Demenz leben, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das macht mich unglaublich traurig. Nicht nur, weil ich meine Mitbewohner mit Demenz sehr mag. Vor allem denke ich daran, dass so meine Zukunft aussehen wird, sollte bei mir selbst irgendwann Demenz diagnostiziert werden. Wer will schon nach einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung in einem System voller Geringschätzung und Ausgrenzung landen? Wer will schon seine letzten Jahre als jemand verbringen, der nicht mehr als Individuum, sondern als Teil einer Gruppe kranker Menschen gesehen wird, die ohnehin nichts mehr mitbekommen? Wer freut sich schon darauf, in einem Haus zu leben, in dem die Einsamkeit durch lange Flure hallt und der Lärm eines dröhnenden Fernsehers im Gemeinschaftsraum das einzige Lebenszeichen ist? Können Sie sich eine solche Zukunft für sich vorstellen? Nein? Ich auch nicht! Es muss sich etwas ändern. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.
Dieses Buch ist eine aus tiefstem Herzen kommende Anklage, die sich nicht gegen die Pflege an sich richtet, sondern gegen die Art, wie unsere Gesellschaft Menschen mit Demenz betrachtet.
Ist es eine harte Anklage? Ja. Denn das Leben in einem Pflegeheim ist hart, das spüre ich tagtäglich. Es ist nicht die Wahrheit, es ist meine Wahrheit, mit der ich Sie konfrontiere. Ich hoffe vor allem, dass meine Geschichte zu Dialog und neuen Erkenntnissen führt, damit wir gemeinsam die Betreuung von Menschen mit Demenz verbessern können. Das ist nämlich dringend nötig. Wir müssen als Gesellschaft begreifen, wie wertvoll ein Leben mit Demenz noch sein kann. Nur dann hat das Pflegeheim, mein Zuhause, eine hoffnungsvolle Zukunft.
Eine bessere Zukunft, das hört sich natürlich gut an, aber wie sieht es heutzutage aus? Wird heute eine Form von Demenz diagnostiziert, beginnt für die betroffene Person eine Phase, in der sie als »Patient« mit viel medizinischer Aufmerksamkeit betrachtet und in der häufig über sie gesprochen wird. Sie wird so lange zu Hause leben, bis der Krankheitsverlauf dies aus medizinischer oder sozialer Sicht nicht mehr wünschenswert erscheinen lässt. Oder bis die Person, die die heimische Pflege ermöglicht – oft der Partner oder die Partnerin –, aufgibt. Dann landet der Mensch mit Demenz im Pflegeheim und damit in einer Miniaturgesellschaft, die sich am ehesten mit einem totalitären Regime vergleichen lässt. Behaupte ich das wirklich? Ja, es ist mein voller Ernst, aber wie jeder und jede, der oder die in der Pflege arbeitet, sage auch ich es mit guten Absichten. Denn die Tatsache, dass mein Leben und das meiner Mitbewohner vollständiger Kontrolle unterstellt ist, hat meiner Meinung nach grotesk wenig mit einer demokratischen und gleichberechtigten Gesellschaft zu tun.
Nur um das klarzustellen: Ich schreibe dieses Buch nicht, um meine Kolleginnen und Kollegen in der Pflege anzuprangern oder als einen Haufen herzloser Pflegebürokraten darzustellen, denn das sind sie ganz und gar nicht. Ich möchte erreichen, dass gerade sie den Raum bekommen, anders zu denken und zu handeln, den Raum, miteinander zu besprechen, wie wir Pflege leisten und vor allem, warum wir das so tun, wie wir es heute tun. Denn als junger Pfleger bin ich so frustriert über die gegenwärtige inhumane Pflege von Menschen mit Demenz, dass meine Motivation, diese Arbeit zu machen, wie Schnee in der Sonne hinwegschmilzt.
Trotz unseres Bemühens um eine liebevolle Betreuung scheinen wir als Pflegekräfte das Wesentliche aus den Augen verloren zu haben. Das derzeitige System untergräbt beständige menschliche Beziehungen, es neigt zur Medikalisierung; die Personen werden in ihrer Authentizität nicht ausreichend wahrgenommen. Es hat den Anschein, als wären hauptsächlich Geld, Positionen und Wissen von Interesse, sodass wir die Menschen, die uns am Herzen liegen, aus dem Blick verlieren. Ich denke, dass wir den wirklichen Bedürfnissen der Menschen mit Demenz Beachtung schenken müssen und dass sich deren Betreuung ändern muss – denn das ist möglich.
Um eine echte Veränderung bewirken und die Pflege humaner gestalten zu können, müssen wir uns selbst zunächst die grundlegende Frage stellen: Welchen Sinn hat ein Leben mit Demenz?
Mit dieser Frage im Hinterkopf bin ich vor mehr als einem Jahr in ein Pflegeheim gezogen, in dem ich das Leben mit Demenz aus unterschiedlichen Perspektiven miterleben konnte. Als Pfleger und als Student der Pflegeethik und Pflegepolitik, vor allem aber als Mensch. Meine Mitbewohner und ich haben gemeinsam besondere Erinnerungen geschaffen, und es hat sich eine mitreißende Dynamik entwickelt. Mit ihnen habe ich meinem Gefühl nach erfahren, was den Kern der menschlichen Existenz ausmacht.
Diesen Lebensraum mein Zuhause nennen zu dürfen, ist etwas ganz Besonderes. Ich fühle mich privilegiert, von diesen wunderbaren Menschen lernen und gemeinsam mit ihnen »diese große innere Welt« entdecken zu dürfen. Aber das Außergewöhnlichste ist die Möglichkeit, das alltägliche Glück von Menschen zu teilen, denen die Gesellschaft dieses Glück nicht mehr zutraut.
Dieses Buch ist daher jenen gewidmet, die wir oft vergessen: den Menschen, die mit Demenz leben.
Jeder fünfte Mensch über achtzig ist an Demenz erkrankt.1
Zurzeit haben ca. 1,8 Millionen Menschen Demenz.2
Im Jahr 2050 werden es voraussichtlich über 2,5 Millionen sein.3
Über 800000 Menschen (die meisten mit Demenz) leben in einem Pflegeheim.4
Die Wartezeit für einen Platz im Pflegeheim beträgt durchschnittlich 1,5 Jahre.5
Fast 800000 Menschen arbeiten in einem Pflegeheim.6
Die Pflege in Pflegeheimen kostet jährlich über 40 Milliarden Euro.7
»Redest du mit Teun, geht es bestimmt um Demenz«, sagen die Leute in meinem Umfeld oft. Täglich werde ich gefragt, woher meine Leidenschaft für Menschen mit Demenz kommt. Das ist nicht verwunderlich, schließlich ist es nicht gerade ein Thema, über das man für gewöhnlich auf der Geburtstagsparty eines Zweiundzwanzigjährigen spricht. Alle gehen davon aus, Demenz müsse wohl in meiner Familie vorkommen. Das stimmt zwar, war aber sicher nicht der Hauptgrund für mich. Mein Interesse wurde während eines Pflichtpraktikums im Rahmen meines Pflegestudiums geweckt. Ich arbeitete in der geschlossenen Abteilung eines Pflegeheims, die speziell für Demenzkranke eingerichtet worden war. Ich muss ehrlich zugeben, was ich dort zu sehen bekam, hat mich ziemlich aus der Fassung gebracht. Es entsprach nicht unbedingt dem Bild, das ich im Kopf hatte, als ich mich für diesen Studiengang entschied.
Vielleicht war ich ein wenig naiv, denn auch ich bin mit amerikanischen Serien aufgewachsen, in denen attraktive Ärzte und junge Krankenschwestern die Welt retten, während sie hauptsächlich damit beschäftigt sind, miteinander zu flirten. Dass diese Vorstellung gesundheitlicher Fürsorge nicht ganz zutraf, war mir schon klar, aber die Realität fand ich so enttäuschend, dass ich das Studium eigentlich direkt abbrechen wollte. Ich fühlte mich bedrückt beim Anblick all der Menschen, die den ganzen Tag an langen Tischen vor sich hin dämmerten und benommen ins Leere starrten. Sah so meine Zukunft aus?, fragte ich mich. Wie um Himmels willen konnte ich in dieser tristen Welt hinter verschlossenen Türen etwas Sinnvolles tun?
So lieb meine Mutter meistens ist, so leidenschaftlich und energisch kann sie reagieren. Als sie mitbekam, dass ich über die Wahl meines Studienfachs klagte, machte sie mir unmissverständlich klar, dass ein sofortiges Aufgeben keine Option war. »Gute Pflege kann nur von lieben Menschen geleistet werden, und wenn ich eines ganz sicher weiß, mein Junge, dann, dass du ein solcher Mensch bist.« Obwohl mir klar war, dass meine Mutter, die übrigens auch in der Pflege tätig ist, ziemlich voreingenommen war, nahm ich das Kompliment doch gern an und betrat eine Woche später mit einer gesunden Portion Widerborstigkeit die Abteilung.
Ich schaute mich um, hielt ein Schwätzchen, trank hier und da eine Tasse Tee, und plötzlich begriff ich, was ich als pubertierender Teenager nicht hatte wahrhaben wollen: Meine Mutter hatte recht! Ich fand den Kontakt zu den dort lebenden Menschen gleich sehr angenehm, vor allem mit John Francken, einem ehemaligen Bauleiter. Er brachte mich dazu, nicht nur die Pflege, sondern auch die Menschen mit Demenz zu mögen, und nicht zuletzt ihn. Er machte mir siebzehnjährigem Jungen bewusst, dass wir als Gesellschaft »die Pflegeheimbewohner« noch überhaupt nicht gut kennen, weil wir nicht begreifen wollen, dass »sie« in dieser besonderen Innenwelt, in der sie leben, genau die gleichen Bedürfnisse haben wie »wir« in der Außenwelt.
»Hör ma’ zu, Teun«, sagte John mit seinem Amsterdamer Akzent. »Mein ganzes Leben lang hat sich jeder mir gegenüber normal verhalten, bis sie mir beim Arzt sagten: ›Du hast Parkinson-Demenz.‹ Von da an ging’s bergab, nicht so sehr mit mir selbst, sondern besonders damit, wie alle mit mir umgegangen sind und mit mir geredet haben. Der Kontakt zu meinen alten Arbeitskollegen hat sich verändert, die Leute in der Nachbarschaft haben mich anders angesehen, weil sie mich bemitleidet haben. Und ich wurde ständig gefragt, ob es mir noch gut ging. Kurz gesagt: Mein Leben als normale Person war vorbei … Und ich kann es ihnen nicht verdenken, mein Junge, denn niemand da draußen weiß etwas über diese verfluchte Krankheit. Was ich aber ganz schlimm finde, Teun«, fuhr er fort, »ist, wie ich hier behandelt werde, wo es doch lauter Menschen gibt, die an etwas leiden und das verdammt gut wissen. Hier sollten sie doch kapieren, dass wir nicht verrückt sind, dass wir nicht alle gleich sind oder uns im selben Stadium der Krankheit befinden. Sollten wir denn nicht gerade hier normal sein dürfen? Aber sie behandeln mich, als wäre ich verrückt, als wüsste ich nicht mehr, was ich tue, als wäre ich zu nichts mehr zu gebrauchen. Sie vergessen, dass es sich bei dem Mann, den sie vor sich sehen, um John Francken handelt, und dass dieser Mann ein schönes Leben gehabt hat und jeden Tag kleine menschliche Freuden genießen konnte, ein Gespräch, einen Witz oder einfach nur Menschen, die fröhlich an der Baustelle vorbeigingen. Sie vergessen, dass diese Dinge denselben Mann immer noch glücklich machen, auch wenn ich manchmal verwirrt bin und Dinge vergesse. Es mag sein, dass ich Dinge vergesse, aber seit ich hier lebe, haben sie mich vergessen, Junge, so sieht’s aus …«
Schluck. Einen Moment lang sahen wir uns schweigend und mit Tränen in den Augen an. Plötzlich saß mir kein harter Kerl gegenüber, sondern ein Mensch mit dem liebsten und zugleich traurigsten Blick, den ich je gesehen hatte. Ich räusperte mich und sagte vorsichtig: »Ich werde mich nicht so verhalten, John. Ich vergesse dich nicht, versprochen.«
Wegen meines Versprechens hatte ich das Gefühl, John etwas beweisen zu müssen: nämlich, dass wir als Gesellschaft ihm und den Tausenden anderen Johns, die mit Demenz leben, sehr wohl zuhören können. So wurde John nicht nur zu meinem Kumpel, sondern auch zur Inspirationsquelle für meine Mission, die Lebensqualität von Menschen mit Demenz zu verbessern. Und diese Mission begann sofort.
In meiner Freizeit ging ich mit John vergnügt Eis essen. Wir lachten gemeinsam über die manchmal etwas sexistischen »Männerwitze vom Bau«, und wir rasten mit meinem Oldtimer durch das Dorf, zumindest so weit das mit meiner alten rostigen Karre überhaupt möglich war. Zu allem Überfluss war ich, der leicht eitle angehende Pfleger, der Einzige im Team, der Johns Schnurrbart stutzen durfte. Auf den ersten Blick mag das nicht als besondere Ehre erscheinen, aber wer John gekannt hat, weiß es besser. John hat mir nicht nur beigebracht, Menschen mit Demenz wahrzunehmen und ihnen zuzuhören, sondern mir auch etwas vor Augen geführt, was ich bei meinem ersten Besuch noch nicht hatte entdecken können: den Menschen hinter der Krankheit.
Der zweite Beweggrund, warum ich Menschen mit Demenz so gern helfen will, ergab sich Jahre später. Bei Greet, der jüngsten Schwester meiner Großmutter, wurde Alzheimer, die häufigste Form von Demenz, diagnostiziert. Ich erinnerte mich an Greet von den Geburtstagsfeiern meiner Großmutter, auf denen sie für gewöhnlich ziemlich viel herumnörgelte und sich über alles, jede und jeden beschwerte. Ich weiß auch noch, wie gut gekleidet sie immer war und dass sie eine Perlenkette trug. Der Begriff »alleinstehend« charakterisierte Greets Leben recht gut: Ihr Mann starb früh, und so blieb sie ungewollt kinderlos. Um trotzdem für etwas sorgen zu können, hatte sich Greet zwei Hunde angeschafft, kleine Schoßhündchen oder »Schrotthündchen«, wie sie selbst sie nannte, die sie jedes Jahr mit einer roten Schleife fotografieren ließ, um das Bild dann in einem prächtigen Rahmen an ihre Wand zu hängen.
Zu ihrer Verwandtschaft hatte Greet kaum Kontakt, aber mit zunehmendem Alter entwickelte sie eine immer engere Beziehung zu ihrer Cousine, meiner Tante. Als bei Greet nach einer langen Phase der Scham und des Vertuschens der Symptome Alzheimer diagnostiziert wurde, übernahm meine Tante ihre gesetzliche Vertretung und bekam die Vollmacht über Greets Angelegenheiten. Eine Formalität, an die ich damals nicht einmal einen Gedanken verschwendet habe, die aber genau definiert, wie das eigene Leben von nun an aussehen wird: ein Leben ohne formale Stimme, ohne eigenen Willen und ohne Selbstbestimmung. Ein Leben, in dem man gesetzlich kein Gehör mehr findet, weil man einfach kein Recht mehr hat, für sich selbst zu sprechen, egal was man sagt. Ein Federstrich, der vielleicht unbeabsichtigt die Grundlage dafür bildet, wie wir als Gesellschaft Menschen mit Demenz betrachten.
Vom Zeitpunkt ihrer Diagnose an isolierte sich Greet noch stärker. Die Fensterläden blieben geschlossen, und die Mahlzeiten, die ihr die Familie vorbeibrachte, verfütterte sie direkt an die Hunde weiter, denn für die musste schließlich gut gesorgt werden. Was sie unter anderem manchmal vergaß, war, dass sie neben Demenz auch an Diabetes litt, eine gefährliche Kombination. Das zeigte sich, als die Polizei zweimal ihre Tür aufbrechen musste, weil Greet bewusstlos auf dem Boden lag. Es wurde offenkundig, dass sie allein zu Hause nicht mehr sicher war – in dem Haus, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Eine Feststellung, die wie eine Bombe einschlug, denn ein Leben in eigener Regie war für sie doch das Allerwichtigste – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass sie den größten Teil ihres Lebens alles selbst hatte regeln und entscheiden müssen. Aber nach einem guten Gespräch mit meiner Tante sah Greet selbst ein, dass ihre Sicherheit zunehmend in Gefahr geriet. Ein Risiko, das sie im Nachhinein wahrscheinlich lieber in Kauf genommen hätte, als sich auf das einzulassen, was ihr bevorstand.
Es bedurfte nur noch einer richterlichen Verfügung, um den Umzug in ein Pflegeheim einzuleiten, was bald geschah. Vielleicht lag es daran, dass es nun ein Familienmitglied betraf, oder auch daran, dass ich zum ersten Mal sah, wie der Weg ins Pflegeheim verlief: Die Tatsache, dass eine Frau nach achtundfünfzig Jahren ihr Zuhause verlassen musste, ließ mich nicht mehr los. Wie fühlte sich das an, vor allem wenn man sich nicht jeden Tag darüber im Klaren war, warum man denn eigentlich fortsollte? Es ist kein Wunder, dass die meisten Menschen, die in einem Pflegeheim ankommen, Todesängste ausstehen. Das berührt mich bis zum heutigen Tag jedes Mal wieder tief. Ließe sich das nicht auch anders arrangieren? Ein Pflegeheim unterscheidet sich allein schon in seiner Bauweise und Ausstattung so sehr von einem Wohnhaus, dass sich die Menschen darin fast nie heimisch fühlen. Ich will damit nicht sagen, dass es keine Pflegeheime mehr geben sollte, denn weiterhin zu Hause zu wohnen war für Greet keine Option. Aber auch ein Leben in Angst ist aus meiner Sicht keine Option.
Der Zufall wollte es, dass ich in dem Pflegeheim arbeitete, in das Greet gehen sollte. Hand in Hand betraten wir den Gemeinschaftsraum, wo sie sich auf den Stuhl direkt am Fenster setzte. Sie wählte ihn offensichtlich nicht zufällig aus. »Also, das ist mein Platz, mein Junge. Da habe ich doch noch etwas selbst entscheiden können«, sagte sie sarkastisch, während ihr Blick über den eingezäunten Garten schweifte.
Schon sehr bald wurde ich zum Ansprechpartner meiner Tante in allem, was die Pflege betraf. Ich hatte eine eigentümliche Doppelrolle: Im einen Moment war ich ihr Pfleger, und im nächsten kümmerte ich mich aus Liebe um meine Großtante. Das Schöne daran war, dass sie sich auch um mich kümmerte. Sie merkte genau, wenn ich viel zu tun hatte oder Probleme mir zu schaffen machten, und gab mir passende Ratschläge. Es war faszinierend, wie perfekt sie sich in mich einfühlte, und das bestätigte meine Vermutung aufs Neue, dass es nicht nur gut möglich ist, mit einer dementen Person in Kontakt zu treten, sondern dass man auch eine dauerhafte und auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehung aufbauen kann – wenn auch anders als früher.
Diese Erkenntnis musste ich erst einmal verinnerlichen, denn sie entsprach ganz und gar nicht dem, was ich in meiner Ausbildung gelernt hatte. Dieses Bewusstsein löste erneut etwas in mir aus, wodurch ich in meinem Wunsch, die Lebensqualität von Menschen wie meiner Großtante zu verbessern, noch weiter bestärkt wurde.
Ich erlebte die beiden unterschiedlichen Rollen des Pflegers und des umsorgenden Angehörigen als schöne wechselseitige Ergänzung, auch wenn es manchmal schwierig war. Vor allem dann, wenn ich bei wichtigen Entscheidungen um Rat gefragt wurde, beispielsweise bei der Frage, wie lange wir mit der medizinischen Behandlung fortfahren sollten, wenn sich das Krankheitsbild verschlechtert. Solche Fragen sind für eine zwanzigjährige Pflegekraft ohnehin schon knifflig, erst recht jedoch, wenn es sich um ein Familienmitglied handelt. Ein pflegender Angehöriger zu sein war für mich etwas vollkommen Neues, und ich habe versucht, dieser Aufgabe so gut wie möglich gerecht zu werden – wie viele andere auch. An meine Rolle als Pflegekraft, die für die Körperpflege meiner Tante zuständig war, musste ich mich dagegen überhaupt nicht gewöhnen. Zu meiner Überraschung empfand ich es eher als etwas Besonderes, Greets Körperpflege übernehmen zu dürfen, und überhaupt nicht als heikel. Glücklicherweise dachte Greet genauso darüber. Noch bevor ich ihr einen Waschlappen reichte, ließ sie ihre Hose fallen und sagte: »Gut waschen, mein Junge.«
Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich eine starke Bindung zwischen uns, und sie sprach oft von »ihrem Jungen«. So stolz sie immer war, so eifersüchtig konnte sie dreinblicken, wenn ich mich auch um ihre Mitbewohner kümmerte. In den folgenden Monaten verwandelte sie sich von einer vernachlässigten und verbitterten Frau in die Dame, die ich von früher her kannte. Sie sah wieder tadellos aus und war überglücklich, wenn die Hunde, ihre »süßen Schätzchen«, zu Besuch kamen. Ihr Charakter war von der Demenz so gut wie unberührt, auch das Nörgeln hatte sie nicht verlernt. Ging es um ihre alltägliche Entscheidungsfreiheit oder passte ihr etwas nicht, konnte sie für die diensthabenden Pflegekräfte ganz schön schwierig sein.
Die meisten Menschen, die das lesen, werden daran nichts Seltsames finden, ich aber schreibe das hier mit Absicht so. Denn genau darin kommt die Realität der Pflege zum Ausdruck: Wehren sich Menschen gegen etwas, werden sie fast sofort als »schwierig« abgestempelt. Diese Realität sorgt dafür, dass viele »schwierige« Menschen sediert werden, bis sie wie Pflanzen im Gewächshaus vor sich hin dämmern. Denn jetzt mal ehrlich: Mit einem Menschen mit Demenz ein Gespräch zu führen oder ein offenes Ohr für ihn zu haben, das ist doch sinnlos, oder …?
Diese Realität schmerzt mich entsetzlich, denn seit wann bestimmt die Diagnose einer Form von Demenz das Lebensglück eines Menschen? Bedeutet eine solche Diagnose, dass man nun gottergeben stundenlang André Rieu im Gemeinschaftsraum hören muss, obwohl man immer die Rolling Stones geliebt hat und diese Art von süßlicher Musik – bei allem Respekt, André – nicht ausstehen kann? Bedeutet eine solche Diagnose, dass man sich damit beschäftigen muss, Blumen zu binden, obwohl man das Gärtnern hasst, oder dass man dem x-ten Männer- oder Frauenchor bei seinen Schnulzengesängen zuhören muss, obwohl man in seinem Zimmer lieber laut Whitney Houston oder die Beastie Boys hören würde? Erklären Sie mir, warum eine Diagnose dergleichen rechtfertigt, und vor allem, warum sie bedeutet, dass man einem Menschen, der für sich selbst eintritt, durch medizinische oder andere Maßnahmen die Stimme nimmt. Das klingt nicht nur idiotisch, es ist idiotisch! In was für einer Welt wird man denn dafür bestraft, dass man für sich selbst eintritt? Das Schlimme daran: Es ist alltägliche Realität. Ich habe sie bei John und später bei Greet erlebt, und zu meinem großen Bedauern erlebe ich sie bis heute.
Dies ist kein Angriff auf die Pflegekräfte, sondern eine Anklage gegen ein System, das eine so große Distanz zwischen der Gesellschaft und den Menschen mit Demenz geschaffen hat. Ein System, das nicht nur Gesetze erlassen hat, nach denen Menschen mit Demenz ausgeschlossen und ignoriert werden dürfen, wenn es um wesentliche oder persönliche Angelegenheiten geht, sondern das auch für ein entsprechendes Pflegeklima gesorgt hat, in dem ein solcher Ausschluss die Regel und nicht die Ausnahme ist. Es liegt am System, dass sich nichts ändert. Wenn die Politik das Absurde zur Normalität erklärt, kann man von Menschen, die in der Pflege arbeiten, nicht erwarten, gegen diese Regeln zu verstoßen. Denn sie würden selbst schnell als »schwierig« eingestuft, und das … das will niemand.
Im Laufe der Monate verschlechterte sich Greets Gesundheitszustand zusehends. Sie war immer häufiger verwirrt und fragte sich, wo ihre Eltern waren. Ich spürte ihren Schmerz, als sie mir erzählte, dass ihre Eltern gestorben waren und sie ihrer Erinnerung nach nicht bei ihrer Beerdigung gewesen war. Neben ihrem Gehirn verschlechterte sich auch ihr körperliches Befinden. Sie klagte viel über Schmerzen. Wegen der Nebenwirkungen der Medikamente, die sie dagegen bekam, verschlief sie die meiste Zeit des Tages. Ihre Lunge machte langsam nicht mehr mit. Mit pfeifendem Atmen umklammerte sie den Vernebler.
Einige Wochen später, nachdem die stolze Frau, als die ich sie erneut kennengelernt hatte, immer häufiger abwesend war, bekam ich einen Anruf vom Pflegedienst. Greet ging es schlecht, ob ich kommen wolle, um eine Entscheidung zu treffen. Nach Rücksprache mit dem Arzt und der Pflegekraft, die für den Kontakt zu den Angehörigen zuständig war, rief ich meine Tante als ihre gesetzliche Vertreterin an und sagte ihr, dass es vielleicht besser wäre, die lebensverlängernden Maßnahmen zu beenden. Unserer Auffassung nach stand Greets Leiden nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu ihren guten Momenten; der Tod würde für sie eine Erleichterung bedeuten. Dennoch war es schwer, das zu entscheiden, denn Greet konnte nicht mehr sagen, was sie wollte, sie lag in tiefem Schlaf. Aber meine Tante stand auch hinter der Entscheidung. So fuhr ich zu meiner Großmutter und teilte ihr mit, dass die letzte Person der Familie, in der sie aufgewachsen war, sterben würde. Sie konnte das alles gut verstehen, und gemeinsam fuhren wir zum Pflegeheim zurück.
Wenig später war der Moment gekommen, an dem Greet sediert wurde; ihr wurden Medikamente verabreicht, durch die sie in einen tieferen Schlaf versank und keine Schmerzen mehr verspürte. Im Prinzip kann man aus einem solchen Schlaf noch erwachen, wenn das Medikament abgesetzt wird, bevor das Herz aufhört zu schlagen.
Meine Großmutter war ziemlich erstaunt, als wir ihr das erklärten: »Warum ist es nicht einfach zu Ende, wenn man das Medikament verabreicht? Ist es denn nicht unnötig, jemanden noch tagelang sterben zu lassen?«
Ich nickte, denn ich verstand ihre Argumentation. Es sind oft sehr lange und seltsame Tage des Wartens, in denen jemand im Sterben liegt, das spürt man an allem. Die Atmosphäre im Raum hat etwas Unheilvolles und zugleich Überirdisches. Man befindet sich in einer Art surrealem Niemandsland und wird hin und wieder von den rasselnden Atemgeräuschen, die in immer längeren Abständen aufeinander folgen, auf den Boden zurückgeholt. Manchen Menschen kann diese Zeit Ruhe bringen, denn sie bietet die Möglichkeit, ausführlich Abschied zu nehmen. Ich selbst hoffte aber, dass Greet schnell auf die andere Seite gelangen würde.
Ich legte noch einmal meinen Kopf an ihren und dankte ihr dafür, dass ich sie noch einmal neu hatte kennenlernen dürfen. »Ruhe sanft«, flüsterte ich ihr ins linke Ohr, woraufhin sich auch meine Großmutter auf ihre eigene Art von ihrer Schwester verabschiedete. »Tschüss, mein Mädchen«, sagte sie zärtlich.
In meinem Beisein wurden Greet mittels einer Spritze Morphium und ein Schlafmittel mit dem passenden Namen Dormicum injiziert. Zwei Nächte später wurde ich von meiner Mutter geweckt. Es war so weit, Greets Herz hatte aufgehört zu schlagen.
In den folgenden Monaten vermisste ich sie schrecklich. Ich fragte mich täglich, ob ich im Pflegeheim zum bestmöglichen Leben für sie beigetragen hatte oder ob ich doch von den erlernten Verhaltensmustern, die meine Großtante zur »Patientin« gemacht hatten, geblendet gewesen war. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, dass ich immer Greet gesehen hatte, diese einzigartige Person mit ihren guten und