Der erste Stein - Carsten Jensen - E-Book

Der erste Stein E-Book

Carsten Jensen

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Beschreibung

Im Herz der Finsternis – Der große Antikriegsroman von einem der schärfsten Gegner des militärischen Engagements des Westens in Afghanistan

In einem Militärcamp in Afghanistan trifft ein Zug dänischer Soldaten ein, 24 Männer und die Soldatin Hannah unter Führung des charismatischen Rasmus Schrøder. Alle sind hochmotiviert, hervorragend ausgebildet und abenteuerhungrig. Doch die Tage fließen monoton dahin, bis durch eine Landmine zwei Männer sterben und eine sich immer schneller drehende Spirale der Gewalt in Gang setzt. Als schließlich Schrøder die Truppe verrät, gerät alles außer Kontrolle.

„Der erste Stein“ ist ein großes Epos über Menschen in den Fängen des Krieges und über Freundschaft, Liebe, Verrat und den Tod.

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Seitenzahl: 1156

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Über das Buch:

In einem Militärcamp in Afghanistan trifft ein Zug dänischer Soldaten ein. 27 Männer und die Soldatin Hannah haben sich unter Führung des charismatischen Rasmus Schrøder aus unterschiedlichsten Gründen hierher versetzen lassen. Alle sind hochmotiviert, hervorragend ausgebildet und abenteuerhungrig. Doch die Tage fließen monoton dahin. Nichts geschieht. In diesem Krieg, das verstehen sie bald, geht es nicht um Konfrontation, sondern um demonstrierte Präsenz. Dann verliert der Zug bei einer Patrouille zwei Männer durch eine Landmine, Auftakt einer immer schrilleren Spirale der Gewalt. Als Schrøder sich schließlich gegen seine Truppe stellt und die Hälfte des Zuges massakriert wird, begibt sich der Rest auf einen Rachefeldzug in unbekanntes Feindesland. Alles gerät außer Kontrolle.

Der neue Roman des Bestsellerautors Carsten stellt sich in die Tradition der großen Antikriegsromane und -filme (Im Westen nichts Neues, Apokalypse Now) und zeigt uns die Sinnlosigkeit militärischer Auseinandersetzungen. Ein großes Epos über Menschen in den Fängen des Krieges und über Freundschaft, Liebe, Verrat und den Tod.

Über den Autor:

Carsten Jensen, geboren 1952 auf Æro, gelang mit seinem Bestseller Wir Ertrunkenen der internationale Durchbruch. Er ist einer der profiliertesten politischen Journalisten Dänemarks. Daneben arbeitet er auch als Literaturkritiker und schreibt Bücher. Für die Recherche an Der erste Stein verbrachte er längere Zeit in Afghanistan. Der Roman und das Hörbuch wurden mit zahlreichen dänischen Preisen bedacht. Veröffentlichungen in mehrere Sprachen sind in Vorbereitung.

Carsten Jensen

DER ERSTE STEIN

RomanAus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg

Knaus

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Den første sten« bei Gyldendal, Kopenhagen.

Copyright © 2015 by Carsten Jensen og Gyldendal

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 beim Albrecht Knaus Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Covermotive: plainpicture/Magnum/Thomas Dworzak; Shutterstock/Militarist

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-20558-4V003

www.penguin.de

Ich traf Shah Wali 1988 in einem Mudschaheddin-Lager im Arghestan-Tal, als die russischen Truppen noch in Afghanistan standen. Er fiel mir auf, weil sein Kindergesicht sich ununterbrochen zusammenzog, ein Tick, der eigentlich erst bei weit älteren Menschen vorkommt, die von traumatisierenden Ereignissen gequält werden. Die Mudschaheddin erzählten mir, dass man Shah Wali als Meuchelmörder ausgebildet hatte. Obwohl er erst zwölf Jahre alt war, hatte er bereits sechs Menschen getötet.

Dieses Buch ist Shah Wali und allen andern gewidmet, deren Leben von einem Krieg gestohlen wurde, der niemals endet.

Es ging Manuel auf, dass Krieg heißt, sein Äußerstes zu tun, um einige kleine Brocken Eisen in lebendiges Fleisch eindringen zu lassen.

André Malraux, Die Hoffnung

Prolog

Ich gehe zwischen belegten und leeren Gräbern umher. Wer kontrolliert den Inhalt der Särge? Wer überprüft die Inschriften der Grabsteine? Wer waren sie, als sie lebten? Wer sind sie, wenn sie sterben?

I

3. Zug

Weisse Zone

Der weiß-blaue Augusthimmel ist flach wie eine Zimmerdecke. Die Wüste auf der anderen Seite der Mauern können sie nicht sehen. Sie wissen, dass sie dort ist, in gewisser Weise unendlich, nur haben sie nicht die Fantasie, es sich vorzustellen. Sie sollen nach dem Feind suchen, während der Feind nach ihnen sucht. Ein Versteckspiel in der Leere erwartet sie.

Es gibt kein Fließband, das sie ihrem Schicksal entgegenträgt, keinen unaufhörlich grollenden Donner, der eine nahe Front ankündigt, keinen großen hämmernden Rhythmus, der sie verschlingen will. In vier Monaten sollen sie Urlaub bekommen, in sechs werden sie wieder draußen sein. Der Krieg ist lediglich eine Episode in ihrem Leben.

Der Zugführer sieht seine Männer an. »Ihr habt euch aus freien Stücken entschieden hierherzukommen. Niemand hat euch gezwungen. Vergesst das nicht. Ihr seid freiwillig hier. Eines Tages wird eure Wahl eine Auszeichnung oder eine Anklage sein.«

Sie hören Lärm, doch er kommt aus den eigenen Reihen. Dieses Dröhnen in der Luft verrät die Nähe eines großen Flughafens, startende und landende Transportflugzeuge, mit ihren Rotorblättern schaufelnde Helikopter, über die Startbahn donnernde Jagdflieger. Es scheint, als wäre dieser Krieg ein großes Kommen und Gehen, als hätte er keinen Ort.

»Du kannst nicht selbst entscheiden, ob du schwitzen willst«, fährt der Zugführer fort. »Du kannst nicht selbst beschließen, ob du Dünnschiss oder Verstopfung hast. Dein Körper ist wie ein Auto ohne Lenkrad. Es gibt weder Schaltknüppel noch Kupplung, weder Bremsen noch Gaspedal. Du bist Passagier in einem Fahrzeug, über das du keine Kontrolle hast.«

Rasmus Schrøder hat leuchtend blaue Augen, in denen, sieht man genauer hin, sich ein dunkler Ton verbirgt, marineblau oder vielleicht purpurn. Seine flammend roten Lippen haben einen perfekten Amorbogen, der von einer kleinen Narbe entstellt wird. Er hat sich an diesem Morgen nicht rasiert. Wie viele andere Soldaten will er sich einen Vollbart wachsen lassen, als würde ihnen die Wüste persönlich diktieren, dass sie dem Feind, der nur mit größter Mühe zu finden ist, ähnlich sehen sollen.

Er nennt Dänemark die Weiße Zone, einen Ort, an dem das Herz sechzig- bis achtzigmal pro Minute schlägt, in träger, taktfester Harmonie, und wo das Leben im Halbschlaf gelebt wird, zufrieden und wehrlos. Du stehst einem bewaffneten Mann gegenüber und bettelst um dein Leben, statt ihm den Kehlkopf zu zerschmettern. Die Weiße Zone ist die Zone der Schafe.

Sie haben einen Kontinent verlassen und einen weiteren halb überflogen. Berge, Wüsten, Flüsse und Seen. Punkte in der Ödnis verweisen auf Dörfer. Dänemark könnte in einer Falte zwischen zwei Bergketten liegen. Sie wissen nicht, wann sie den Luftraum über dem Iran verlassen und die Grenze nach Afghanistan überquert haben. Was ist eine Grenze, aus einer Höhe von zehn Kilometern gesehen?

»Ihr seid Soldaten. Ihr gehört zur Gelben Zone, in der eure Herzen einhundertmal pro Minute schlagen. Die Zone der Wachsamkeit. In der Roten Zone kämpft ihr um euer Leben. In der Grauen Zone habt ihr eine Mauer im Rücken.« Hier macht Schrøder immer eine Pause. »In der Schwarzen Zone wartet die Panik. Wenn die meisten von euch sagen, ich kann nicht mehr, dann nicht, weil ihr kurz davor seid zusammenzubrechen. Es ist einfach so, weil es hart ist. Erst wenn ihr Blut schmeckt und euer Herz in den Ohren hören könnt – erst dann seid ihr am Ende.«

Camp Bastion erstreckt sich in alle Richtungen. Schotterwege treffen in rechten Winkeln aufeinander und setzen sich bis zum nächsten rechtwinkligen Aufeinandertreffen fort. Es gibt Baracken, Container und Zelte in der Farbe des Schotters. Weit entfernt stapeln sich die Hesco bags, Körbe voller Steine, die von Filz und einem galvanisierten Stahlnetz zusammengehalten werden; schnell aufzubauen, schnell wieder abzubauen. Es gibt nichts, woran der Blick hängenbleibt oder sich begeistert. In der Hitze zittert die Luft wie eine Vorwarnung auf kommende Fata Morganas.

Als der 3. Zug sich bereitmacht, in die Wüste auszurücken, um nach Camp Price verlegt zu werden, hängen die Splitterschutzwesten, die Gewehre und die Ausrüstungstaschen mit einem neuen Gewicht an ihnen, das sie während des vorbereitenden Trainings nicht bemerkt haben.

Jetzt wird es ernst, denken sie. Hoffnungsvoll horchen sie auf den Schlag ihrer Herzen.

Gelbe Zone

1

Hannah trägt ein militärgrünes Tanktop, die Oberkörper aller anderen Soldaten im 3. Zug sind nackt. Zu Hause in Dänemark haben sie den ganzen Sommer über an ihrer Bräune gearbeitet, die weißglühende Sonne von Helmand stört sie nicht. Einige Körper sind über und über tätowiert. Andere haben noch freie Flächen am Rücken, dem Rumpf und den Armen, die darauf warten, mit Kreuzen, Dannebrog-Flaggen, Totenköpfen oder Liebeserklärungen an die Kameradschaft und abstrakten Prinzipien auf Latein bedeckt zu werden – gern in verschlungenen Buchstaben. Die leeren Flächen werden gebraucht für Treueeide an das Absolute oder entsprechende Symbole. Sie sind eine Gemäldegalerie auf dem Marsch, Leinwände, die auf einen Pinsel warten.

Sie alle sind Sieger. So denken sie über sich, nicht weil sie davon ausgehen, einen Krieg zu gewinnen, der bereits seit vielen Jahren geführt wird. Sie sind Sieger, weil sie so weit gekommen sind. Sie haben die Ausbildung überstanden. Sie sind gut genug. Verloren haben die, die unterwegs aufgeben mussten, weil sie nicht die nötige Ausdauer hatten. Oder die Disziplin einfach nicht begriffen haben. Möglicherweise konnten sie gut mit einem automatischen Gewehr umgehen, doch wenn es darauf ankommt, reicht das nicht, dann muss man wissen, dass man auch die Verantwortung für den Mann neben sich trägt.

Der 3. Zug hat Camp Bastion hinter sich gelassen und gewöhnt sich an das neue Lager, Forward Operation Base Price, das wie so viele andere Camps nach einem gefallenen Soldaten benannt worden ist. In den Zelten und Containern von Camp Price gibt es Platz für fünfhundert Männer. Dreihundertfünfzig Dänen, der Rest sind Briten. Mitten im Lager ist hinter einer Einzäunung eine Gruppe amerikanischer Spezialtruppen stationiert. Es kommt vor, dass die Amerikaner im cookhouse auftauchen, umgekehrt finden keine Besuche statt. Es ist verboten, sich in Klein-Amerika aufzuhalten. Die Ausnahme ist der Wachturm, der mit Aussicht auf ferne Bergketten zwischen den Zelten der Spezialtruppe emporragt. Camp Bastions Baracken sind abgelöst durch geräumige dunkelbraune Zelte, ausgerüstet mit Klimaanlagen und untereinander verbunden durch schwarze Kunststoffgitter, die als Wege auf den Schotter gelegt wurden.

Sie waren auf ihrer ersten Patrouille, aber noch nicht im Kampf. Die Landschaft ist eintönig, mit Ausnahme der Flussufer, wo sich die dicht bevölkerte greenzone befindet, der Kampfplatz mit den von Mauern umsäumten Höfen, den Maisfeldern und Schutzhecken; ein lehmverputztes Labyrinth voller Möglichkeiten für einen Hinterhalt. Mündungsfeuer gehört zu dieser abweisenden Eisenzeit-Architektur, Schusssalven sind ein ebenso fester Bestandteil der Lautkulisse wie das Meckern der Ziegen und das Geschrei der Kinder. Sie haben sich daran gewöhnt. Der Lärm des Krieges ist ein Lebenszeichen.

Sind sie unterwegs zu einer Patrouille, fahren sie in der Mitte des Highway 1. Alle anderen Fahrzeuge müssen am Straßenrand halten. Sonst werden erst Leuchtraketen abgefeuert, dann Warnschüsse. In ihren gepanzerten Mannschaftswagen dröhnen sie durch zwei Reihen haltender Fahrzeuge. Die Angst vor Auto- und Straßenminen bestimmt ihre Vorgehensweise.

»Im Irak konnten wir den Verkehr nicht zum Stehenbleiben zwingen«, erzählt Robert, einer der drei Unteroffiziere des Zugs. Er war im Irak, aber nicht in den Sandkästen im Süden, Camp Eden oder Camp Danevang, Robert war Angestellter einer amerikanischen Sicherheitsfirma in Bagdad. Leibwache, Eskorte, Transporte, diese Art von Arbeit. Darksky heißt die Firma. Keiner der anderen hat je von ihr gehört. »Contractor«, nennt er es selbst. »Söldner«, sagt Schrøder.

Im Irak fuhren sie in ihren silberglänzenden Mitsubishi Pajeros auf der Überholspur. Die Angriffe kamen stets von hinten, der Fahrer war der verwundbare Punkt. Angreifer wurden daher auf die Beifahrerseite gezwungen. Die Heckklappe stand offen, dort hielt sich ein Maschinengewehrschütze bereit.

»Menschliche Schutzschilde«, sagt Robert, der schon bald den Spitznamen Irak-Robert bekommt. Sein Ton signalisiert Erfahrung. »Alle haben menschliche Schutzschilde benutzt. Wir auch. Wenn wir uns einer Kreuzung näherten, von der wir wussten, dass es dort einen Hinterhalt oder eine Straßenmine geben könnte, winkten wir immer den Verkehr durch. Autos, in denen Familien saßen, Frauen, Kinder, alles. Dann bekamen die den Mist ab. Das war die Standardprozedur. Es geht ums Überleben. Sei ein Schwein oder stirb.«

Roberts Gesichtsausdruck hätte hart sein können, wäre da nicht dieser leicht schielende, nicht zu fokussierende Blick, der ihn verletzlich erscheinen lässt. Wenn er sich konzentriert, verschärft sich das Schielen. »Ich bin zumindest ein ehrliches Schwein.« Er fährt sich mit der Hand über das Kinn mit den stachligen Bartstoppeln.

»Das machen wir hier nicht.« So hat Schrøder reagiert, als er Robert zum ersten Mal über den Krieg im Irak erzählen hörte.

»Weiß ich doch«, erwiderte Irak-Robert. »Afghanistan ist der gute Krieg.«

Es sind die Menschen in der Landschaft, an die sie sich nicht gewöhnen können. Düstere Gesichter mit hervorstechenden Nasen, gewaltigen Bärten und tiefliegenden Augen, die sie zu ignorieren und gleichzeitig zu verurteilen scheinen. Faltenreiche Kleidung, Turbane, Kaftane, Schals, weite Hosen, meterweise Stoff, der ihre Träger verbirgt und ihnen doch ein Gewicht verleiht, als würden sie wie Feldfrüchte aus der Landschaft herauswachsen. Dishdash heißt diese Tracht, meinen sie. Doch so werden die knöchellangen Gewänder in Saudi-Arabien genannt. »Salwar kamiz«, korrigiert Schrøder. Es gibt kein dänisches Wort für die befestigten Höfe, sie benutzen das englische compounds. »Qalat«, sagt Schrøder, der auch Sprachoffizier ist und Paschtu spricht. »Es heißt Qalat.« Zwei weitere wichtige Wörter sind badal, Rache und nang, Ehre. Werden sie es je lernen?

Die Menschen stehen regungslos in der Landschaft. Sie müssen diese Worte auch nicht aussprechen. Sie strahlen sie aus. Sie sehen biblisch aus, Überlebende eines anderen Zeitalters mit einer Beharrlichkeit, die nur schwer von Feindseligkeit zu unterscheiden ist. Dass sie hinter dem Steuer von verbeulten, weiß lackierten Toyota Corollas sitzen oder ein Mobiltelefon am Ohr haben, lässt sie nicht weniger fremdartig erscheinen. Die Dänen rauchen eine Zigarette mit ihnen. Man hat ihnen ein Wörterbuch mit einhundert Wörtern und Ausdrücken ausgehändigt. Wie geht’s? Mir geht es gut. Hast du Waffen? Öffne den Kofferraum. Hände hoch. Leg dich auf den Bauch. Ergebt euch.

Die Briten nennen die Taliban ragheads oder shitheads. Die Dänen sagen Lappenkopp oder Tali-Bob. Die örtliche Bevölkerung heißt nur LN, eine Abkürzung für local nationals. Sie selbst werden als ferangi bezeichnet, als die aus dem Westen. Sie reden nie mit Afghanen, ohne das Gewicht ihres automatischen Gewehrs in der Hand zu spüren. Noch gibt es niemanden im Zug, der einen bestätigten Treffer vorweisen kann.

»Schrøder, sag die Wahrheit. Warum bist du hier?«

Jakobs Tonfall ist frotzelnd. So redet man nicht mit einem Vorgesetzten. Aber die Soldaten sind sich in den acht Monaten ihrer Ausbildung sehr nahegekommen und glauben, sie wüssten alles über ihren Zugführer. Er hat eine Karriere in der Armee hinter sich, die nicht sonderlich von der üblichen Laufbahn abweicht, obwohl sie auch nicht ganz wie im Lehrbuch verlaufen ist. Er ist mit anderen Einheiten schon früher in Afghanistan gewesen. Aber sie interessiert sein Beruf im zivilen Leben.

Jakob ist der Jüngste des Zugs, neunzehn Jahre alt. Die anderen ziehen ihn mit seinem Alter auf. Jakob sagt laut, was er denkt, außerdem ist er hemmungslos neugierig. Er ist rothaarig und hat Sommersprossen auf der Nase. Als Einziger von ihnen sitzt er im Hemd in der auch jetzt Mitte September noch immer kräftigen Sonne. Er hat sich den Nacken und die Arme verbrannt. Sein Gesicht liegt im Schatten einer knallroten Baseballkappe.

»Haben sie dich gefeuert? Hast du in die Kasse gegriffen?« Jakob hört mit seiner Frotzelei nicht auf.

»Ich bin hier, um etwas zu verändern.« Schrøders Stimme trieft vor Ironie, von vornherein ist klar, dass sie ausgerechnet diese Antwort nicht ernst nehmen sollen.

»Das nehmen wir dir nicht ab.« Michael ist vier, fünf Jahre älter als Jakob, ein Gewehrschütze, Mitte zwanzig und eine Art großer Bruder für Jakob. Immer nimmt er Jakob in Schutz und sorgt dafür, dass die Hänseleien der anderen nicht ausarten. Er grinst Jakob aufmunternd an, der mit seinem Gewehr im Schoß auf einem Stuhl sitzt. Sie bereiten ihre Ausrüstung vor. Michaels rechte Schulter bedeckt ein Leopard mit gefletschten Zähnen. InOmnia Paratus steht darunter. Zu allem bereit.

»Okay«, sagt Schrøder. »Die Erde unter den Nägeln spüren. Etwas bewirken. Deshalb bin ich hier.« Er zögert einen Moment. »Inspiration.«

Schrøder hat im zivilen Leben an Videospielen gearbeitet. Sie kennen mehrere Spiele, deren Design er mitentwickelt hat. Meist geht es um kahlgeschorene Auftragskiller mit einem tätowierten Code im Nacken und einem Gesicht, das ebenso viele Ausdrucksformen kennt wie die Kuppe eines Daumens. Deshalb gehört Schrøder zu den beliebtesten Gesprächsthemen unter den Männern des Zugs. Sie haben es wieder und wieder diskutiert. »Wenn du Schrøder wärst, hättest du dann getauscht und wärst hierhergekommen? Stell dir vor, du sitzt vor einem Bildschirm, spielst den ganzen Tag die geilsten Spiele und wirst dafür auch noch bezahlt.«

Aber die Diskussion endet immer an der gleichen Stelle, mit einem zögernden Eingeständnis. Doch, sie würden tauschen. Ganz sicher wissen sie nicht, wie es ist, Schrøder zu sein. Aber sie wissen, wie es ist, hier zu sein. Im Augenblick langweilen sie sich. Aber es wird etwas passieren. Jakob spürt es, wenn er das Gewehr in der Hand hält. Das ist kein Joystick, mit dem er gerade herumfummelt. Das hier ist the real thing.

Jakob hatte einen ähnlichen Job. In der neunten Klasse hat er ein Praktikum bei einer Mediengesellschaft absolviert, die auf Kalvebod Brygge in Kopenhagen Spiele entwarf. Zuerst musste er eine Erklärung unterschreiben, in der er sich verpflichtete, niemandem zu erzählen, was er auf den Bildschirmen sah, auf denen neue Spiele entwickelt wurden. Aber die Klausel umfasste nicht die Wandmalerei in der Kantine, die zwei Chicks in langschäftigen Stiefeln, Handschuhen und Leder-BHs zeigte, die beide eine Peitsche in ihren Händen hielten.

»Ihre Lederhöschen saßen einfach so stramm«, so Jakob, »dass man den Fotzensaft riechen konnte.«

Das Detail mit dem Fotzensaft erwähnt er nur einmal. Mads mit dem Grübchen am Kinn, der, wie alle wissen, der größte Frauenheld des Zugs ist, schaut Jakob an und runzelt fragend die kräftigen, dunklen Augenbrauen. Mads rasiert sich jeden Tag. Das Grübchen ist wichtiger als ein Bart. »Fotzensaft?«, wiederholt er. »Hast du Fotzensaft gesagt?« Jakob nickt, bereits unsicher. »Jetzt hört euch nur diesen Experten an«, fordert Mads die anderen in einem unglaublich herablassenden Ton auf. »Wie riecht denn Fotzensaft so? Ich weiß es nicht. Und ich hatte die Nase schon ziemlich oft nah dran. Aber ausgerechnet diese Besonderheit ist mir entgangen.«

»Ach, komm schon, Mads.« Jakob bettelt beinahe. »Jeder weiß doch, wie Fotzensaft riecht.«

»Tja, ich nicht. Riecht eine Möse nach Zimt? Oder nach Fisch? Vielleicht nach gekochtem Dorschrogen?«

»Hey, Mann, reiß dich mal zusammen. Hier sind Frauen im Raum«, unterbricht ihn Hannah und wendet sich an Jakob. »Du bist doch garantiert für diese Fotos auf den Computern verantwortlich, oder? Tittenfick.dk, Popogeil.dk, Epicboobs. Müssen wir uns wirklich sämtliche feuchten Fantasien von dir ansehen?«

Jedes Mal, wenn Hannah sich in dem Container einloggt, in dem die Streitkräfte den Soldaten Computer mit Internetzugang zur Verfügung gestellt haben, tauchen diese Bildschirmschoner auf, und sie hat Jakob im Verdacht, dass er sie programmiert hat: jene Menge Frauen, die auf den Knien hocken, ihre gewaltigen Hintern in die Luft recken und freie Sicht auf ihre feuchten, glänzenden, glattrasierten Mösen bieten.

Hannah ist athletisch gebaut, ein Gummiband hält ihr halblanges blondes Haar im Nacken zusammen. Bei ihr sitzt ein Sixpack dort, wo Mädchen normalerweise eine weiche Rundung haben. Sie selbst ist der Ansicht, dass ein gut trainierter Körper immer auch ein Beweis von Einsamkeit ist. So ist sie jedenfalls zu ihrem Körper gekommen, bevor sie Soldatin wurde, allein auf steilen Rampen mit einem Paar anderthalb Kilo schweren Aggressive-Inline-Skates an den Füßen; allein auf der Kante, die Sekunde vor dem Sprung über die fünf Meter hohe, beinahe senkrechte Wand der Halfpipe; allein mit einem gerissenen Gelenkband, schmerzenden Knien, verstauchten Knöcheln: allein auch mit dem Triumph, wenn ein 720er gelang.

Hier trainieren sie gemeinsam, nicht weil sie Bodybuilder-Freaks sind, sondern weil der Körper sonst das Gewicht nicht ertragen würde, das sie auf den Patrouillen mit sich schleppen müssen. Mit vierzig Kilo auf dem Rücken müssen sie schießen und ausweichen können. Das ist ohne den regelmäßigen Einsatz von Beinpressen und Hanteln nicht zu schaffen.

Viktor ist der Oberfeldwebel des Zugs und Schrøders Stellvertreter. Mitte dreißig mit einer Vergangenheit als Sozialpädagoge. Er hat in ganz Dänemark auch als Crossfit-Lehrer gearbeitet, in Trainingszentren, die Namen trugen wie Siederei, Druckerei, Schmiede oder Molkerei; aufgelassene Werkstätten mit rohen Betonfußböden und bröckelnden Wänden, die irgendwann einmal weißgekalkt waren. Viktor trägt eine Tätowierung mitten auf der Brust, einen Würfel mit sechs Augen. Er weiß, dass es bei Crossfit auch um Gefühle geht. Es ist nicht nur die physische Anstrengung, die die Männer während der harten Übungen brüllen, stöhnen und japsen lässt, wenn jeder Muskel im Gesicht vor Konzentration angespannt ist und der Puls rast. Es gibt auch Menschen mit einem inneren Schmerz. Es hilft nichts, darüber zu reden. Das soll man auch nicht. Man muss ihn herausbrüllen. Beim Crossfit-Training stöhnen sie im Chor.

Was hat Hannah dazu gebracht, sich freiwillig zu melden? Eine Frage, die sie sich auch selbst oft stellt. Warum Kampf- statt Kommunikationstruppe?

Sie hat an einem Schnuppertag in der Kaserne von Antvorskov teilgenommen. Sie bekamen ziemlich weite Uniformen und wurden aufgefordert, sich Tarncreme ins Gesicht zu schmieren. Die Haut sollte die gleiche Farbe annehmen wie die Tarnuniformen, die aussahen, als wären sie für den dänischen Buchenwald entworfen worden und nicht für ferne Sandwüsten. Sie sah sich die anderen Mädchen an. Einige von ihnen waren ebenso groß wie sie, auffällig viele, fand sie. Sie kletterten in gepanzerte Mannschaftswagen und erhielten schließlich eine Waffe. Einige nahmen die Waffen eher linkisch entgegen. Andere griffen wie selbstverständlich zu. Sie gehörte zur zweiten Kategorie. Das Metall in den Händen gab den Ausschlag, dieses totbringende Gewicht, das ein Gegenpol zu ihrem eigenen Körper zu sein schien und ihn in eine Balance brachte, die sie lange nicht mehr gespürt hatte.

Ihr gefiel die Ausbildung, vor allem die letzten acht Monate, als das Training zielgerichteter wurde. Es war hart, aber daran war sie gewöhnt. Es wurde Disziplin verlangt, aber solange sie deren Notwendigkeit einsah, hatte sie nichts dagegen.

Sie denkt oft an den Skater Danny Way, der mit einem Sprung über die Chinesische Mauer den Stunt seines Lebens ausführte. Sie stellt sich nicht nur das harte Training vor, das diesem Sprung vorausgegangen sein musste. Sie sieht auch diese enormen Rampen vor sich, die auf beiden Seiten der Mauer errichtet wurden. Ohne sie hätte es keinen Sprung gegeben. Und so sieht sie auch die Armee: als eine Art Megarampe, die sie in die Lage versetzt, mit einem gewaltigen Satz über die Chinesische Mauer in ein neues Leben zu springen.

Jakob bekommt sofort einen roten Kopf, als Hannah ihn beschuldigt. Rot! Hat der Bengel keine Selbstbeherrschung? »Das war ich nicht«, behauptet er ausweichend. Er wirft einem der anderen Soldaten aus dem Zug einen raschen Seitenblick zu, einem dünnen Burschen mit einem langen Hals und einem verblüffend kleinen Kopf. »Das war Nebenperson.«

Nebenperson ist ein Spitzname. Sein richtiger Name lautet Andreas, er ist der Internet-Nerd des Zugs. Nebenperson schüttelt resignierend seinen vogelartigen Kopf und antwortet nicht einmal.

»Ganz ehrlich.« Um Hannahs Mund spielt ein Lächeln. »Habt ihr da im Container so ’ne Art Happy Hour, wo nur Männer Zugang haben? Holt ihr euch da im Takt einen runter?«

»Halt die Klappe, Hannah. Alle holen sich hier einen runter. Ihr Mädel liegt doch auch mit dem Finger in der Keksdose im Bett.« Mads sieht als Einziger nicht verlegen aus.

Årslev spuckt einen braunen Strahl Snus in den Schotter. Er gilt als der Lokalpatriot des Zugs, genannt nach seiner Heimatstadt, und er wird nicht müde, immer wieder von deren Brauerei zu erzählen, dem Midtfyns Bryghus. Er hat vor allem eine Vorliebe für Rough Snuff, ein verdammt gutes Skipper-Ale, das mit Blasentang und Snus gebraut ist. Årslev ist ein großer Anhänger von Snus. Auf die schwedische Art stopft er sich den Tabak unter die Oberlippe und spuckt immer wieder mit einem genießerischen Gesichtsausdruck aus.

»Ihr habt gefragt, warum ich hier bin.« Schrøder unterbricht sie. »Ich war die Ballerspiele und kahlköpfigen Psychopathen leid. Ich wollte etwas Großes entwerfen, so im Stil von World of Warcraft oder Halo. Ein Spiel, das dir das Gefühl gibt, an etwas teilzunehmen, das größer ist als du. Versteht ihr, was ich meine?«

»Ja, klar.« Jakob ist wieder so vorlaut wie zuvor. »So viele wie möglich umnieten. Was sonst?«

Michael verbirgt sein Gesicht in den Händen. Der kleine Bruder hat sich schon wieder blamiert. Die anderen lachen. Jakob sieht sich verwundert um.

»Genau darum geht es gerade nicht.« Schrøder schüttelt lächelnd den Kopf. »Sag mal, Jakob … glaubst du wirklich, es geht bei dieser Mission darum, so viele wie möglich abzuknallen? Ist das Helmand für dich? The Helmand Killing Games? Wie stellst du dir eigentlich die Wüste vor? Als eine Playstation? Das kannst du auf der Stelle vergessen – zumindest mit mir als Zugführer.«

»Natürlich müssen wir gegenseitig gut auf uns aufpassen.« Simon hat sich zu Wort gemeldet, der Sanitäter des Zugs. Ein schmächtiger Bursche, dessen schwarze Haare im Kontrast zu seinen blauen Augen stehen. Wenn er sich ein paar Tage nicht rasiert hat, sprießt ein bisschen einsamer Flaum an der Spitze seines Kinns. Mehr wird es nicht.

»Dämmert es allmählich? Gibt es etwa jemanden, der euch bei call of duty den Rücken freihält? Nein, oder? Ihr steht allein, und derjenige, der hier draußen allein steht, kommt nicht wieder nach Hause. Kapiert? Ich weiß, dass ich etwas sage, was ihr schon tausendmal gehört habt. Hier geht es nicht darum, so viele wie möglich umzulegen. Es geht darum, aufeinander aufzupassen. Aber wir sind nicht wegen uns hier. Wir sind hier wegen der Afghanen. Versucht, sie euch als Teil eurer Gruppe vorzustellen. Was passiert dann?«

»Meinst du, diese hoffnungslosen afghanischen Soldaten, die wir ausbilden sollen?« Michael hebt die breiten Schultern, einen müden Ausdruck im Gesicht. Jakob feixt.

»Nein, ich meine die Bevölkerung. Die Zivilisten. Die Bauern. Die Frauen.«

»Verflucht, dann wird’s verzwickt.«

»Genau, dann wird’s verdammt noch mal verzwickt. Aber das bedeutet nicht, dass es weniger herausfordernd ist. Es wird sogar zu einer noch größeren Herausforderung. Man kann sich das gut als Videospiel vorstellen. Aber denkt an ein Spiel, das nicht nur schnelle Reflexe fordert. Es bezieht auch das Hirn und das Herz mit ein. Hearts and minds! Kapiert? Jetzt kommen wir der Sache schon näher!«

»Du warst doch auf Grönland, Mann.« Michael schaut hinüber zu Adam.

»Nicht auf Grönland, in Grönland. Nordostgrönland. Dort, wo kein Mensch lebt. So gesehen war ich nicht in Grönland. Ich bin bloß auf irgendwelchem Eis herumgelaufen.«

Adam ist einer der drei Unteroffiziere des Zugs, nahezu zwei Meter groß, mit einer struppigen, kastanienfarbenen Mähne und einem dichten Vollbart in einem noch dunkleren Ton. Er hat zwei Jahre als Mitglied der Sirius-Patrouille in Nordostgrönland verbracht. Adam sieht aus wie ein Polarforscher, und tatsächlich sind Polarforscher aus einem anderen Jahrhundert auf den Umschlägen der Bücher abgebildet, die sich neben seinem Feldbett stapeln – mit zugewachsenen Gesichtern, die von Seehundfellmützen eingerahmt werden. Er hat etwas Verschlossenes, als hätte er die Stille der eisigen Einöde mitgebracht.

»Wenn es jetzt ein Spiel wäre, wärst du im Vergleich mit uns anderen bereits ein Level weiter. Du könntest dir neue Eigenschaften aussuchen, in der Dunkelheit sehen oder einer Duftspur folgen. Oder deine Waffen upgraden.«

»Ich kann bereits in der Dunkelheit sehen«, winkt Adam ab. »Hast du nie etwas von Infrarot-Ferngläsern gehört? Riechen Taliban anders als andere Afghanen? Ich glaube kaum. Und Waffen? Fehlen mir auch nicht gerade.«

»Nein, dir fehlt nur die Genehmigung, sie zu benutzen.« Michael sieht hinüber zu Schrøder, als wollte er den Zugführer herausfordern.

Schrøder nimmt die Herausforderung an. »Solch einen Befehl werdet ihr von mir niemals hören, wenn ihr einen Taliban im Visier habt. Ich werde niemals sagen, ihr sollt euch bloß vorstellen, einen Joystick in den Händen zu halten. Es sind niemals nur ein paar Pixel auf einem Display. Ihr schießt, ihr vernichtet. Es ist ein Mensch.«

»Ja, ja«, erwidert Michael. »Ein Mensch, der nur eins im Kopf hat: uns die Eier abzuschießen.«

»Ein Mensch, der einen Vater hat, Brüder, Vettern, vielleicht sogar eine Frau und ein paar Söhne, eine ganze Liste kommender Rächer. Erschieß einen Taliban, und du hast einer Hydra einen Kopf abgehackt – drei neue werden nachwachsen.«

»Was ist eigentlich besser? Mit Spielen arbeiten oder beim Militär sein?« Jakob kehrt zu seinem Lieblingsthema zurück.

»Der Unterschied ist nicht sonderlich groß. Hier wie dort lernt man, in einem Team zu arbeiten. Stellt euch die ganze Schufterei vor, die dazugehört, um auch nur das simpelste Bild auf dem Schirm zu erzeugen. Stellt euch die tausend Möglichkeiten vor, wie eine Geschichte sich entwickeln kann. Wir sind zweihundertfünfzig Angestellte in der Firma, etwas weniger als hier im Lager. Es gibt Regisseure und Zeichner, einige konzentrieren sich auf die Haupt-, andere auf die Nebenpersonen. Wieder andere sind Background-Zeichner oder Spezialisten für Bewegungen. Habt ihr eine Vorstellung, wie schwer es ist, eine Figur natürlich eine Treppe hinaufgehen zu lassen? Es gibt Caster, Studiochefs, technische Chefs, kreative Chefs, außerdem outsourcen wir eine Menge. Es gibt Firmen, die nichts anderes produzieren als Fabrikhallen und Polizeireviere, unaufgeräumte Schreibtische oder Bürostühle mit zerrissenen Bezügen. Das ist vor allem eine Spezialität der Chinesen. Anspruchsvolle Bewegungen – das ist Hollywood. Und mittendrin sitzen wir. Wir sind Experten, jeder Einzelne von uns, zweihundertfünfzig Mann, drei Jahre.«

»Meine Fresse, wenn wir die gleiche Zeit benötigen würden, um uns vorzubereiten …« Nebenperson seufzt, als wäre er am falschen Ort gelandet.

»Ja, wenn’s so weitergeht, kommen wir nie auf Patrouille!«, unterbricht ihn Mads.

»Oh, Scheiße!«

Michael sieht Jakob an. »Was ist denn los?«

Jakob hat seine Splitterschutzweste auf dem Schoß und ein Tourniquet in der Hand. »Ich weiß nicht, was ich mit diesem Ding machen soll.« Er sieht sich appellierend um, als wäre nicht er dafür verantwortlich, sondern die anderen.

»Hörst du eigentlich nie zu?« Michael sieht ihn resigniert an. Jakobs Nase leuchtet rot. »Mann, und du hast auch vergessen, dich einzucremen.«

Jakob ignoriert ihn. »Kann mir irgendjemand den Nutzen dieser Scheiße hier erklären?« Er hält ein schwarzes Klettband mit einem kleinen Plastikstift hoch.

»Du liegst auf dem Schlachtfeld. Du bist getroffen. Du blutest. Du brauchst das Tourniquet, um die Blutung zu stoppen. Du legst das Klettband um den Arm oder das Bein, direkt über der Wunde, und dann drehst du es mit Hilfe des Stifts zusammen.« Hannah ist zu ihm gegangen und legt ihm das Band um den Arm an. »So.«

Jakob blickt lächelnd zu ihr auf. »Du riechst gut«, sagt er.

»Halt die Klappe und hör mir zu.« Hannah dreht den Stift noch einmal um.

»Au!«, lacht Jakob. »Warum muss ich das selbst machen? Wieso kann Hannah das nicht übernehmen?«

»Weil Mutti nicht immer in der Nähe ist«, antwortet Mads in dem gelangweilten Tonfall, in den er immer verfällt, wenn er mit Jakob redet.

»Weil du vermutlich in einem Feuergefecht verwundet wirst«, ergänzt Simon geduldig. »Du liegst mitten in einem Minenfeld, und die Kugeln fliegen dir um die Ohren. Wenn dir da jemand helfen soll, setzt er sein eigenes Leben aufs Spiel, und dann gibt’s zwei Kandidaten in der Todeszelle. Zuallererst haben wir den Feind zu bekämpfen. Dann müssen Sørensen und Sylvester die Gegend säubern, bevor ich anrücke. Das kann gut und gerne eine Stunde dauern. In der Zwischenzeit bist du am Blutverlust gestorben, weil du beim Erste-Hilfe-Kurs nicht richtig zugehört hast.«

Schrøder sieht mit einem anerkennenden Nicken hinüber zu Simon. »Ich fürchte, du musst unserem Schwachkopf hier einen Extrakurs in Erste Hilfe geben.«

»Wieso spendieren wir ihm nicht einfach eine Fahrkarte nach Hause?« Wieder ist es Mads.

»Halt dich zurück.« Michael wendet sich mit einem wütenden Gesichtsausdruck an Mads. Der Leopard auf seiner Schulter dreht sich mit ihm und sieht aus, als öffnete er das Maul zu einem Fauchen.

Mads zuckt die Achseln. »Dann erzählt ihm zumindest nichts vom Lutscher.«

»Lutscher? Meinst du den Morphium-Lutscher? Den hab ich längst verbraucht. Kann ich noch einen haben?«

Simon fasst sich an den Kopf. »Das darf doch nicht wahr sein! Wie blöd bist du eigentlich? Scheiße, der ist für eine Situation gedacht, in der du ganz allein irgendwo liegst, dir deine Eingeweide aus dem Bauch quellen und du nirgendwohin kannst, weil es so scheißweh tut. Glaubst du, dies alles hier ist ein Witz? Nein, ich gebe dir bestimmt keinen neuen!«

»Bleib ruhig. Ich habe nur mal dran geleckt.« Jakob sieht sich um. »Wir könnten einen Film über unsere Erlebnisse drehen. Wir könnten uns selbst filmen.«

»Ja, warum nicht! Aber dann müssen wir auch was erleben, dann muss irgendetwas passieren.« Mads sieht aus, als fände er die Idee hervorragend. Es kommt selten vor, dass er Jakob überhaupt unterstützt. Auf Jakobs Gesicht strahlt sein ewiges Lächeln. Sein Ablenkungsmanöver ist gelungen.

»Ach, das klappt doch nie.«

Jakob blickt verwirrt von einem zum anderen. Jetzt ist Michael plötzlich dagegen.

Mads wendet sich an Michael. »Musst du unbedingt immer die Spaßbremse spielen?«

»Wir sitzen doch die meiste Zeit nur auf unseren Ärschen herum. Wir kommen doch nie raus, um zu schießen. ›Sie saßen auf ihren Ärschen!‹ Wer will denn so einen Film sehen? Was ist die größte Gefahr hier draußen? Dass wir vor Langeweile krepieren!« Michael faltet die Hände und blickt in den Himmel von Helmand. »Lieber Gott, zum Teufel, verschaff uns ein bisschen Action!« Er sieht sich grinsend um. »Jetzt habe ich sämtliche Götter angerufen. Jetzt muss doch irgendwas passieren.«

»Dafür würde ich nicht beten, wenn ich du wäre.« Schrøders Stimme klingt ungewohnt ernst.

2

Unter den Männern des Zugs sind Lasse, Nikolaj und Daniel die kampflüsternsten. Die ganze Zeit schreien sie nach TICs, troops in contact, Feindberührung. Um ihre Kampfbereitschaft zu unterstreichen, tragen sie Glock-Feldmesser mit sechzehn Zentimeter langen Klingen quer über der Brust. Um sie problemlos zur Hand zu haben.

»Die werdet ihr nicht brauchen.« Viktor schüttelt den Kopf. »Zum Nahkampf kommt es doch nur, wenn uns die Munition ausgegangen ist, und dann würde ich empfehlen, Tali-Bob das Gewehr an den Kopf zu knallen und nicht zu versuchen, ihn mit diesen Obstmessern zu schälen.«

Die Kampflüsternen sammeln sich um Dennis, der immer wieder erzählt, dass er aus einer Familie von Offizieren stammt. Nicht dass er darauf besonders stolz wäre, im Gegenteil. Das dänische Offizierskorps war viele Generationen nichts anderes als ein Haufen kapitulationsbereiter Weicheier, die sich besser für einen Job als Wärter im Zeughausmuseum geeignet hätten. »Geh auf Google«, erklärt er, am liebsten, wenn Viktor in Hörweite ist. »Der 9. April 1940. ›Stunde für Stunde‹ heißt die Homepage. Die Deutschen beginnen um vier Uhr morgens mit der Besetzung Dänemarks. Und zwei Stunden später ergibt sich die dänische Regierung. Das ist unsere gesammelte Kriegserfahrung in einhundertvierzig Jahren. Zwei Stunden! Wenn du Amerikaner wärst, hätte dein Vater in Vietnam gekämpft, dein Opa in der Normandie, dein Uropa in den Schützengräben von Verdun und dein Ururgroßvater im Bürgerkrieg. Das amerikanische Marinekorps hat ein Motto: Semper fidelis. Was haben wir, um treu ergeben zu sein? Einhundertvierzig Jahre weinerliche Passivität.«

Der Gedanke an seinen Vater, den Schreibtischmajor aus der Kaserne von Holstebro, dessen Kampferfahrung aus einer unglücklichen Begegnung mit einem elektrischen Rasenmäher besteht, lässt Dennis unter seinem dichten blonden Bürstenschnitt rot vor Erregung werden. »›Erschieß einen Taliban für mich‹, hat der Idiot gesagt, als wir uns verabschiedeten. Vorher hat er mich gebeten, ihm zu zeigen, wie schnell ich mein Gewehr auseinandernehmen und wieder zusammensetzen kann. Er stand da und glotzte, als hätte er irgendeine Ahnung. ›Zeigt mir, wie schnell du deine Schuhe putzen kannst, du Scheißzivilist‹, habe ich zu ihm gesagt.«

»Und du bildest dir ein, du könntest jetzt all das tun, was deine warmduschenden Vorväter nicht geschafft haben«, unterbricht ihn Viktor, wenn Dennis die Regeln in Zweifel zieht, unter denen die Nato-Truppen kämpfen: Sie schreiben den Soldaten vor, das Feuer nur in Selbstverteidigung zu eröffnen und nie auf einen unbewaffneten Gegner zu schießen.

»Das ist doch genauso, als würde man mit auf dem Rücken gefesselten Händen kämpfen«, entgegnet Dennis. »Diese Bauernärsche hier sind doch alle bewaffnet. Sie verstecken ihre Waffen, wenn wir uns nähern, und holen sie wieder raus, sobald wir ihnen den Rücken zudrehen. Alle wissen das. Ich bin nicht gekommen, um für afghanische Schulmädchen den Babysitter zu spielen. Ich bin hier, um zu kämpfen.«

»Pass bloß auf mit deinen Wünschen. Sie könnten in Erfüllung gehen«, sagt Viktor. Er hat mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen in Heimen gearbeitet und versäumt nie, es denen zu erzählen, die seiner Ansicht nach in die Schranken gewiesen werden müssen. Er erklärt sie zu Verhaltensauffälligen. Es ist bereits seine dritte Entsendung nach Afghanistan. »Ich komme hierher, wenn ich das Bedürfnis habe, mich zu entspannen. Und ich habe keine Lust, mich mit den gleichen Problemen wie an meinem Arbeitsplatz herumzuärgern.«

»Ich kenne Typen wie dich«, sagt er zu Dennis. »Scheißübermütig zu Beginn. Ihr wollt am liebsten Blut sehen. Aber früher oder später kommt ihr immer runter. Dass dein Vater ein Scheißkerl ist, bezweifle ich nicht. Aber das verschafft dir nicht die Lizenz, auch einer zu sein. Du bist nicht beim Militär, um den Helden zu spielen. Du bist nicht hier, um all die Kriege zu gewinnen, an denen dein Ururgroßvater und all seine Nachkommen nicht beteiligt waren. Du bist beim Militär, um zu lernen, normal zu bleiben. Tu deine Pflicht, nimm Befehle ernst, und benutz deinen Kopf nicht nur als Megaphon für deinen privaten Mist.«

»Ach, vergiss es!« Dennis grinst und blinzelt Lasse, Nikolaj und Daniel zu, die ebenfalls grinsen und zurückblinzeln. »Scheißsozialpädagoge!«, sagt er, als Viktor gegangen ist.

Dennis gilt als Ausrüstungsnutte. Wenn die anderen sich ins Internet einloggen, um an ihre Eltern oder die Freundin zu schreiben, geht er auf die Seiten von grejfreak.dk und shopusa.com, um zusätzliche Ausrüstungsgegenstände zu suchen. Er hat ein Tripicon-Zielfernrohr für sein automatisches Gewehr, eine Oakley-Schutzbrille, einen Magpul-Gewehrriemen und mit Kevlar verstärkte Blackhawk-Handschuhe. Einmal in der Woche öffnet er ein Päckchen und zeigt eine neue Trophäe herum, die er im Netz bestellt hat. Viktor nennt ihn die Königin der Ausrüstungsnutten.

Dennis gibt die Trends vor. Lasse, Nikolaj und Daniel leihen sich seine Neuanschaffungen oder surfen selbst im Netz. Sie haben nur nicht das Geld, um mit Dennis gleichzuziehen, der ihr unbestrittener Anführer bleibt, wenn es darum geht, modisch korrekte Ausrüstung vorzuführen. Tobias, Jonas, Sebastian, Mathias und Gustav betreiben fanatisch Crossfit mit Viktor und teilen die Sicht des Oberfeldwebels auf Dennis und seine Nachahmer, die sie verächtlich Gucci-Bengel taufen. Dennis nennt sie dafür Hähnchen.

Während die meisten Soldaten des 3. Zugs erst einmal abwarten und sehen wollen, wie sich alles entwickelt, bevor sie sich entscheiden, ob sie beim Militär bleiben und sich wieder nach Helmand schicken lassen wollen, sind die fünf, die Viktor um sich versammelt hat, sicher, dass hier eine lebenslange Karriere auf sie wartet. In Omnia Paratus. So sehen sie ihren Job als Soldaten. Es ist kein Abenteuer, sondern eine Arbeit, der man nachgeht. Langsam werden sie in der militärischen Hierarchie aufsteigen, in der Beförderungen und schließlich eine Pension auf sie warten.

Allerdings hat weder Dennis noch sonst jemand aus dem kampflüsternen Trio den ersten bestätigten Treffer. Stattdessen gebührt diese Ehre Adam, dem ruhigen, verschlossenen Adam, dem Schrecken Nordostgrönlands oder dem Hundeführer, wie Dennis ihn nennt, wenn Adam nicht in der Nähe ist.

Im Laufe des ersten Monats sind die Patrouillen zu Fuß am Ufer des Helmand-Flusses zur Routine geworden. Wenn sie nach Osten in Richtung der nahegelegenen Stadt Gereshk gehen, ist das Gelände einigermaßen sicher. Die lokale Bevölkerung verhält sich ihnen gegenüber freundlich oder zumindest neutral. Der Fluss fließt träge dahin, hat eine blanke, glatte Oberfläche, die so weiß-blau ist wie der Himmel über ihnen. Es herrscht permanentes Niedrigwasser. Durch die sommerliche Trockenheit sind die lehmgrauen Ufer kahl und zerfurcht.

Gehen sie in Richtung Westen, geraten sie mit der Vorhersehbarkeit eines Uhrwerks in einen Hinterhalt. Sie erleben es wie ein Ritual, nennen es »Tali-Bob Beschäftigung verschaffen«. Sie schießen auf Qalats, in Büsche und staubige Schutzhecken und gehen davon aus, dass sie irgendjemanden töten. Irgendeinen Beweis ihrer Effektivität finden sie allerdings nie. Sie haben keine Ahnung, ob ihre Kugeln von einer Mauer aufgehalten werden, im Stamm einer Pappel enden oder einen menschlichen Körper treffen. Tali-Bob nimmt seine Toten immer mit.

Einmal geraten sie allerdings auch unter Beschuss, als sie nach Osten gehen. Es ist kein sonderlich gut vorbereiteter Hinterhalt, nur vereinzelte Schüsse, aber es ist schwer, das Feuer zu lokalisieren. Der ganze Zug läuft zum nächsten Graben. Dort bleiben sie eine Weile liegen, ohne dass etwas passiert. Dann sind wieder ein paar Schüsse zu hören, und Simon schwört, er habe das Mündungsfeuer aus einem nahegelegenen Qalat kommen sehen. Es gibt auf dem ganzen Weg gute Deckungsmöglichkeiten, daher beschließen sie, das Qalat einzunehmen. Vornübergebeugt laufen sie auf die Lehmmauer zu, die den Hof umgibt, und bringen eine Sprengladung an.

»Taktisches Atmen«, befiehlt Schrøder. Sie ziehen Sauerstoff in die Lungen und zählen im Geist bis vier. Sie halten die Luft an und wiederholen die Übung. Es ist nicht leicht, durch ein Loch in einer Mauer zu springen, wenn man nicht weiß, ob man auf der anderen Seite von konzentriertem Feuer erwartet wird. Sie befinden sich in der Gelben Zone. Jetzt sind sie bereit.

Einige sind auf die Knie gegangen und haben sich Finger in die Ohren gesteckt. Dann ertönt die Explosion, Lehmklumpen und Steinchen fliegen umher. Sie sind drin. Sie stoßen auf keinen Widerstand.

Die zahlreichen Räume rund um den ersten Hofplatz sind voller Frauen und Kinder, die ihre Gesichter verbergen und sich an den Wänden drängen. Auf einem der inneren Hofplätze steht eine Gruppe Männer mit erhobenen Händen. Die schussbereiten Gewehre auf sie gerichtet, befehlen ihnen Lasse und Nikolaj, sich auf die Knie zu hocken. Mathias und Dennis durchwühlen das Stroh in den Ställen. Waffen finden sie nicht. Es riecht nach Kühen und durch die Explosion auch nach Trotyl, hauptsächlich nach Trotyl. Dichter Staub hängt in der Luft. Sie tragen Schutzbrillen.

Unter den Burkas könnten sich durchaus Kämpfer verbergen. Es ist die übliche Geschichte. Ein Bauer, der in einem Kaftan daherkommt, könnte ein ganzes Waffenlager mit sich führen. Sie haben Anweisung, auf die Schrittlänge zu achten. Geht jemand mit langen, zielgerichteten Schritten, ist er vermutlich ein Kämpfer. Nur kann man keinen Mann aufgrund seiner Schrittlänge erschießen. Diese Teufel sind schlau.

»Wir können nicht den ganzen Haufen zusammentreiben und eine nach der anderen einer Leibesvisitation unterziehen«, sagt Schrøder. »Wenn die Männer bisher keine Taliban waren, werden sie es garantiert, wenn wir das mit ihren Frauen machen.« Nein, es geht einfach nicht. Das sehen alle ein.

»Uns fehlt noch ein Hof«, meldet Michael. Sørensen, der Minensucher, geht mit seinem Minensuchgerät voraus. Auf beiden Seiten des Hofes gibt es eine grünlackierte Holztür. Der Hofplatz ist fünf, sechs Meter lang. Sie treten die erste Tür auf. Sie fliegt aus der oberen Angel und schwingt hin und her. Sie gehen hinein. Nichts. Dann die nächste. Adam und Aske drängen hinein, die Automatikgewehre im Anschlag. Es fällt ein Schuss, und Aske taumelt rückwärts aus der Türöffnung. Er hat sein Gewehr verloren und fasst sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den rechten Oberarm. Sein blondes Haar ragt unter dem Kevlar-Helm hervor, er ist blass geworden. Der Mund steht offen, als bräuchte er zusätzliche Luft. Einen Augenblick schwankt er. Dann lehnt er sich an die weißgekalkte Hausmauer und rutscht zu Boden.

»Ups«, sagt er blöde, als wäre die Ursache der Schmerzen der plötzliche Kontakt seines Hinterns mit der Erde. Sein Blick ist entrückt.

Simon rennt mit der Sanitätstasche zu ihm. Schrøder brüllt wie ein Rasender, dass Adam aus dem Gebäude kommen soll. Er will ein paar Handgranaten hineinwerfen, bevor sie hineingehen und aufräumen. Sie starren auf die Türöffnung. Dann ertönt eine Schusssalve. Das Geräusch wird durch die dicken Lehmmauern gedämpft.

»Adam, Adam – verflucht!«

Sie sind vollkommen gelähmt. Einer ihrer Kameraden ist da drin. Wenn sie klug sind, nehmen die Lappenköppe ihn als Geisel – wenn er nicht bereits tot ist. Aber sie können auch nicht einfach losfeuern, sowie sich jemand an der Tür zeigt. Es könnte sich um Adam handeln, mit einem Messer an der Kehle.

Dann ertönt eine Stimme aus dem Raum. »Ich hab ihn … ich hab ihn tatsächlich erwischt.« Es ist kein Siegesgeheul. In Adams Stimme liegt kein Triumph. Er klingt eher erschöpft. Aber auch verwundert. Rotz wird laut und vernehmlich hochgezogen, dann ist ein Stöhnen zu hören. Sie sehen sich an. Ist er verletzt?

»Komm raus! Auf der Stelle!«, brüllt Schrøder.

Adam taucht in der Tür auf. Er stützt sich mit einem Arm gegen die Mauer. Ein leichtes Beben geht durch seinen Oberkörper unter der Splitterschutzweste. Die Hand, die das Gewehr hält, zittert unkontrolliert. Die Knie schlagen gegeneinander. Er hat einen dunklen Fleck zwischen den Beinen. Ist er getroffen? Er geht ein paar Schritte und fällt beinahe über Askes ausgestreckte Beine. Dann setzt er sich auch auf die Erde.

»Ich hab ihn erwischt«, wiederholt er, mit der gleichen Verblüffung wie zuvor. Er legt sein Gewehr beiseite. Simon sieht ihn prüfend an. Adam hebt abwehrend die Hand. Sie zittert noch immer. »Ich bin nicht verletzt. Ich habe mir nur in die Hose gepisst.« Auf seinem Gesicht zeigt sich ein schiefes Lächeln. Er hat auch in die Schutzweste gebrochen, doch das hat er nicht einmal bemerkt.

»Dein Atemtraining«, fordert Schrøder ihn auf.

Adam gehorcht. Er schließt die Augen und atmet tief aus, bevor er seine Lungen wieder füllt. Etwas verändert sich in ihm. Die Aufregung ebbt ab. Die Hände hören auf zu zittern.

Viktor ruft einen Hubschrauber. Aske soll ausgeflogen werden. Sørensen und Sylvester treten durch das Loch, das sie in die Mauer gesprengt haben, um mit ihren Minensuchgeräten einen Landeplatz auf dem Feld zu säubern. Viktor befiehlt Mathias und Dennis, eine Notbahre vorzubereiten. Er sieht den kampfeslustigen Dennis an, der endlich sein erstes Scharmützel erlebt hat. »Na«, sagt er, »amüsierst du dich?« Aske hat Schwierigkeiten, auf die Beine zu kommen. »Ich will da nicht liegen«, sagt er. »Ich kann allein gehen.« Simon stützt ihn mit einem Arm.

»Noch zwei Mann gehen rein!« Schrøder sieht Adam an, als würde er seiner Beurteilung der Situation nicht recht trauen. »Bist du sicher, dass es nur einer war?« Er zeigt auf Hannah und Nebenperson. »Beendet den Job. Und seid vorsichtig. Schießt lieber einmal zu viel als zu wenig.«

Nebenperson hat eine Videokamera vor dem Auge. Er filmt Adam, dann die Türöffnung. »Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?«, sagt er zu Schrøder.

»Das habe ich jetzt nicht gehört! Was glaubst du eigentlich, was das hier ist, Andreas? Ein Volkshochschulkurs? Oder die Filmfachschule?«

Es gab eine lange Diskussion über Nebenpersons Bedürfnis, alles zu dokumentieren, was auf den Patrouillen passiert. Schließlich tragen alle GoPro-Helmkameras. Aber Nebenperson hält sie für nicht gut genug. Schrøder hat ihm zögernd erlaubt, seine eigene Sony Handycam mitzunehmen. Jetzt sieht es so aus, als würde der Zugführer es bereuen. Er zeigt auf die Türöffnung, an der Hannah bereits wartet. »Schwing deinen Arsch da rüber! Aber sofort!«

Nebenperson steckt die Kamera in die Ausrüstungstasche. Widerwillig geht er hinüber zu Hannah.

»Rein mit euch!«

Sie verschwinden durch die Türöffnung. Neue Schusssalven ertönen. Einen Augenblick später sind sie wieder draußen. »Da gab’s für uns nicht mehr viel zu tun. Wir wollten nur ganz sicher sein. Gute Arbeit!« Hannah hebt anerkennend den Daumen in Adams Richtung.

Adam reagiert nicht. Er hat das Erbrochene bemerkt, das an der Splitterschutzweste klebt. »Ich stinke«, sagt er.

Lasse, Nikolaj und Daniel, die drei Kampflüsternen, starren ihn an. Neid ist aus ihren Blicken herauszulesen. Aber auch ein wenig Verachtung. Sie sehen sich an, als wollten sie sagen, sie hätten die Sache eleganter gelöst. Der Hundeführer, der Schrecken Nordostgrönlands, hat gekotzt!

Daniel reicht ihm eine Flasche Wasser. Adam nimmt sie dankbar entgegen und spült sich den Mund aus, bevor er den Rest über das Erbrochene schüttet und versucht, die Weste sauber zu reiben.

Troels und Clement ziehen die Leiche des getöteten Feindes zuerst aus dem Gebäude und legen den Toten mitten auf den Hof. Endlich sehen sie den Feind aus der Nähe. Zum ersten Mal hat der Zug einen Beweis, dass sie jemanden getötet haben. Über dem Hof ist eine Minidrohne aufgetaucht. Lasse und Mads zeigen das V-Zeichen in Richtung Drohne. Das Siegeszeichen gilt den Männern, die im Lager an den Bildschirmen sitzen.

»Seht mal, was ich gefunden habe.« Schrøder tritt aus dem Gebäude. Ein tragbarer Granatwerfer hängt über seiner Schulter. In der Hand hält er eine staubige Tasche. »Ihr werdet es nicht glauben!« Sie starren auf die Tasche, einen kleinen rechteckigen Rucksack mit einem Henkel. Ein Lederemblem zeigt einen sitzenden Fuchs mit buschigem Schwanz.

»Was ist daran so besonders?«, fragt Hannah.

»Siehst du das nicht? Das ist ein Fjällräven, der meistverkaufte Rucksack in Dänemark!«

Ein Fjällräven? Trägt Tali-Bob Fjällräven? Sie staunen.

Schrøder geht zu dem am Boden liegenden Körper. »Seht mal.« Er nimmt dem Toten den Turban ab. Das Haar ist hellbraun, ebenso wie der dünne Bart, der die eingefallenen Wangen bedeckt. Die tiefliegenden Augen sind graugrün. Die Lippen haben sich zu einer Grimasse verzogen, sie entblößen den Gaumen und entstellen das Gesicht des Toten. Dennoch haben seine Züge etwas unverkennbar Europäisches.

»Besser, ihr gewöhnt euch daran.« Schrøder zeigt auf den Toten. »Einige von ihnen sehen uns ziemlich ähnlich.«

Der Tote soll ins Lager mitgenommen und der afghanischen Armee übergeben werden.

Adam ist aufgestanden. Er beugt sich über die Leiche. »Er könnte ebenso gut ein Däne sein«, sagt er. Er weiß nicht, warum er es sagt. Er würde den Toten gern bei den Schultern packen, um ihn ins Leben zurückzuschütteln. Was treibst du hier bloß?

Adam hat gerade einen Menschen getötet. Es hieß wir oder sie, er oder ich, ein reiner Klassiker wie aus dem Lehrbuch. Er hat lediglich getan, was er sollte. Er hat sich verteidigt und einen Feind unschädlich gemacht. Sein erster bestätigter Volltreffer. Das hier sollte ein großer Augenblick sein. Und dann sieht der Idiot aus wie ein Däne!

Sie hören das laute Geräusch doppelter Rotorblätter, die durch die Luft schaufeln. Der Chinook nähert sich. Er wird auf dem Feld vor dem Qalat landen.

»Der Lappenkopp hatte einen beschissenen Fjällräven«, sagt Adam.

3

Der tote Taliban mit dem Rucksack geht Adam nicht aus dem Kopf. Er spricht nie über ihn. Aber er ist da wie ein sperriges Fragezeichen. Nur weiß Adam nicht, wie die Frage lautet. Es ist der verdammte Fjällräven. Es sind die graugrünen Augen, die helle Haut, das Haar. Verflucht, wieso konnte er nicht die übliche Matte aus glänzenden schwarzen Haaren und einen ganzen Kissenbezug verfilzter Barthaare haben? Warum konnte der Idiot nicht einfach dem Feind ähnlich sehen?

Bis zu dem Moment, in dem das Gewehr lärmend losging und der Lappenkopp mit einer großen roten Blume auf seinem bestickten Kaftan an die Wand geschleudert wurde, kannten sie sich nicht. Jetzt sind sie so eng miteinander verbunden, wie man es nur mit einem Menschen sein kann, dessen Leben man beendet und dessen Gesicht man gesehen hat. Warum musste er sich auch über ihn beugen und ihn sich ansehen? Es müsste eine Regel für Soldaten im Kampf geben: Sieh dir deinen Feind niemals an, wenn du ihn erst einmal getötet hast. Er darf keinen anderen Namen haben, keine andere Identität als die, die sich in einem einzigen Wort zusammenfassen lässt: Feind. Auf wen schießen sie? Dieselbe Antwort. Den Feind. Immer wieder dieselbe Antwort. Es ist das einzige Wörterbuch, das man braucht, wenn man in den Krieg zieht, ein Ein-Wort-Wörterbuch.

Adam steht unter Beschuss seines eigenen schwarz-weißen Gewissens, das nur darauf aus ist, alles zu vereinfachen. Was weiß das Gewissen über Krieg? Nichts. Es ist sein erster Toter, aber insgeheim wünscht er sich, dass es auch sein letzter sein möge.

Er hat sich übergeben, als er den Afghanen erschoss. Denn er hat es beendet. Aske hat gar nicht feuern können, bevor er getroffen wurde. Es ist sicher normal, sich beim ersten Mal zu übergeben, wenn man so nah dran ist wie in dem engen Raum. Im Kampf kann es zu allen möglichen Reaktionen kommen. Das haben sie gelernt. Ein Viertel scheißt in die Hosen, wenn sie in Lebensgefahr sind. In dem Qalat hat sich niemand in die Hose geschissen. Mit Ausnahme des Toten. Er hat alle Hemmungen fahren lassen. Du pisst, du scheißt, alles verlässt dich, wenn du stirbst. Der Körper wird evakuiert, das Mietverhältnis ist gekündigt, die Würmer, die wahren Eigentümer der Wohnung, bereiten sich auf den Einzug vor.

Es gibt zwei Geschichten zu erzählen, als sie zurück ins Lager kommen. Die Helmkameras sind die ganze Zeit gelaufen, und bevor sie die Aufnahmen abliefern, überspielen sie sie auf ihre Notebooks. Dann schicken sie die Aufnahmen Nebenperson, der sie auf seinem Mac schneidet. In der einen Geschichte sprengen sie sich den Weg in den Qalat frei, gehen durch die kleinen geschlossenen Höfe und treten die Türen ein, dann ertönt plötzlich ein Schuss. Aske kommt heraus, an der Schulter verwundet. Dann folgt Adam. Ein toter Taliban wird auf den Hof geschleppt. Das V-Zeichen. Sie stehen Schulter an Schulter, die eroberte Beute tragen sie auf den Schultern, den tragbaren Granatwerfer, eine Kalaschnikow. Der Helikopter kommt. Ein Tag im Krieg.

Die andere Geschichte stammt von Nebenpersons Handycam: Sie sprengen sich den Weg in den Qalat frei, überqueren die Hofplätze, treten die Türen ein. Schusssalven sind zu hören, Aske kommt heraus, seine Splitterschutzweste öffnet sich, eine Hand schneidet den Ärmel und die Brustpartie der Uniform auf, nackte Haut, Blut, das aus einem schwarz umrandeten Loch tropft, ein Stück Gaze bedeckt es und färbt sich rot, ein blasses Gesicht mit erstarrten Zügen, dann der missglückte Versuch eines Lächelns. Danach Fokus auf eine Schutzweste, an der Erbrochenes klebt, das wie ein zusätzliches Tarnmuster aussieht, ein feuchter Schritt, ein lebloser Körper, der aus einer Türöffnung geschleppt wird. Die Kamera zoomt auf das Gesicht des Toten, die helle Haut, das hellbraune Haar, die graugrünen Augen, die nichts mehr sehen, ein dünner Bart. Dann ein Fjällräven ohne Besitzer, der mitten auf dem Hofplatz steht, die Marke am Rucksack, ein sitzender Fuchs mit buschigem Schwanz. Wieder das Gesicht, die Kamera gleitet über den Körper, die Arme des Toten liegen hinter dem Kopf, sein staubiger weißer Kaftan ist blutverschmiert, wieder das Gesicht, dann noch einmal der Körper, als würde die Kamera eine plötzliche Unruhe oder vielleicht ein Staunen überkommen.

Der Militärseelsorger Lukas Møller behauptet, Heldenmut sei der strahlende Triumph der Seele über das Fleisch. Davon handelt die erste Geschichte. Die zweite handelt vom Gegenteil: von einem mit Blut durchtränkten Verband, von Erbrochenem, vollgepissten Hosen und einem toten Körper. Der Triumph des Fleisches über die Seele. Der Krieg ist beides.

Ein Tag im Krieg. Die erste Geschichte sieht Adam nur einmal. Die zweite schaut er sich oft an. Und jedes Mal, wenn er sie gesehen hat, sitzt er stumm vor seinem Notebook. Ein Tag im Krieg. Ja, aber welchem Krieg?

Dann sieht er sich den Film noch einmal an.

4

Der dänische Oberkommandierende Ove Steffensen sieht nicht aus wie ein Anführer von Männern. Der Battlegroup-Chef der Truppe, wie er in einer Mischung aus Englisch und Dänisch genannt wird, die sehr gut die Zusammensetzung des Lagers widerspiegelt, hat kein Charisma und wünscht sich auch keines. Steffensen ist ein untersetzter Mann mit einer braunen Hornbrille, einer breiten, zum Teil von kurzen Stirnhaaren bedeckten Stirn und einem gestutzten Schnurrbart, der sich zwischen eine spitze Nase und einen kleinen Mund mit weichen, fleischigen und ständig feuchten Lippen geschoben hat, den die Witzigeren unter den Soldaten als Schnullermund bezeichnen. Er kann sich nicht wie der amerikanische General Stanley McCrystal mit nur einer Mahlzeit am Tag begnügen, er joggt auch nicht jeden Morgen zehn Kilometer. Die Mannschaft sieht ihn nur bei seltenen Gelegenheiten. Bisweilen spaziert er aus dem Hauptquartier quer über den mit Zement gepflasterten Fahnenplatz, stets umgeben von einem kleineren Gefolge. Schon oft hat er die Warnung gehört – natürlich immer scherzhaft vorgetragen ‒, dass man sich von kleinen Offizieren fernhalten solle. Sie seien unberechenbar und missbrauchten ihre Macht. Aber Steffensen missbraucht seine Macht nicht. Er verbirgt sie.

Ins Cookhouse kommt Steffensen nie. Seine Mahlzeiten werden ihm gebracht. Sein Stellvertreter muss für ihn die Reden halten, die gehalten werden müssen. Nur wenn ein Minister oder eine Politikerdelegation offiziell zu Besuch kommt, zeigt sich Steffensen. Geschäftsmäßig führt er seine Gäste herum, erläutert dies und weist auf jenes hin, bevor man zu einem Lunch im Hauptquartier verschwindet. Immer loben die Gäste das Essen und erfahren dann, dass die Soldaten das Gleiche bekommen. Beim Essen werden sie auch über die Situation informiert. Steffensen sagt einige Worte, dann sein Stellvertreter, und danach redet eine kleine Gruppe dänischer Offiziere und Polizisten, die als Berater der örtlichen Behörden arbeitet. Der Begriff Fortschritt ist obligatorisch.

Die Gespräche werden von Steffensen und dem dänischen Botschafter Kai Carstensen überwacht, der mit den Gästen aus Kabul gekommen ist. Der distinguierte Diplomat mit den grauen Schläfen hat eine besondere Art, sich zu räuspern, wenn einer der Berater sich in einem frustrierten Ton über Probleme beschwert.

»So ist nun einmal die Kultur der Afghanen«, erklärt der Botschafter dann und wirft den Politikern einen wissenden Blick zu, den sie mit einem ähnlich wissenden Blick beantworten.

Der Besuch endet stets mit einem Gruppenfoto: die Politiker, umgeben von optimistisch lachenden einfachen Soldaten mit dem dänischen Markenzeichen, den blonden Haaren, die in der Wüstensonne beinahe weiß geworden sind. Dann werden die Gäste zu dem wartenden Hubschrauber geführt. Wenn sie gegen Abend von Kabul nach Dubai fliegen, haben sie sich weniger als vierundzwanzig Stunden in Afghanistan aufgehalten.

Neben seiner Arbeit beim Militär saß Steffensen viele Jahre auf Bornholm im Gemeinderat, in den er für die ehemalige Regierungspartei Venstre gewählt wurde. Nach sechzehn Jahren Kommunalpolitik ist er stolz auf seine Fähigkeit, das Spiel zu kennen. In langweiligen Sitzungszimmern mit Nadelfilz auf dem Boden, unbequemen Stühlen, lackierten Tischen und Thermofenstern mit der Aussicht auf Einfamilienhäuser und überfüllte Parkplätze hat er gelernt, dass man sich über alles verständigen kann und kein Prinzip in Beton gegossen ist. Diese Erfahrungen hat er nach Afghanistan mitgenommen. Oberst Steffensen ist in die Wüste gekommen, um die Dinge zum Laufen zu bringen.

Es geht überhaupt nicht um militärische Überlegenheit. Käme es auf die Feuerkraft an, wäre er zweifellos der stärkste Kriegsherr der Region, aber das bedeutet nicht, dass er irgendetwas zu sagen hätte. Er könnte die gesamte Distrikthauptstadt Gereshk kurz und klein bomben lassen, wenn er wollte. So haben es die Briten in Musa Quala und Sangin gemacht. In beiden Städten bestehen die Zentren nur noch aus einem Haufen Ruinen, und die Soldaten sprayen »Welcome to Hell-mand!« auf die Mauern, die noch stehen.

Steffensen ist klüger. Er weiß, dass die Macht nicht in den Waffen liegt, nicht einmal in den Gebieten, die offiziell zur Kriegszone gehören. Als er erfährt, dass das Wort für Feindschaft, tuburgunay, sich vom Wort für Vetter, tubur, ableitet, begreift er, dass Feindschaft auch innerhalb der engsten Familie gedeiht. Doch so gesehen kann der Fremde auch dein Freund sein. Es gibt Raum zum Manövrieren.

Und genau hier kommt Steffensen ins Spiel. Alles hängt vom Verhandeln, von Allianzen und Absprachen ab, und die kann man schließlich mit jedem eingehen.

Auch mit ihm, dem Kriegsherrn aus Dänemark.

Es ist ein Spiel, das er kennt.

Najib Atmar kommt Steffensen immer barfuß entgegen. Sein leichtfüßiger Gang erinnert an Tanzschritte. Sein gekräuselter, wild wuchernder Bart steht in Kontrast zu seinem schmalen Gesicht und den schweren Augenlidern, die ihm ein vornehmes, aristokratisches Aussehen verleihen.

Noch vor ein paar Monaten war Najib Atmar für den nächtlichen Beschuss der dänischen Truppen mit Mörsergranaten verantwortlich gewesen – allerdings ohne dass jemand zu Schaden kam. Das feindselige Verhalten machte Atmar nicht gerade zu einem bevorzugten Gesprächspartner. Doch der dänische Oberbefehlshaber interpretierte das Bombardement richtig. Es war nicht die Eröffnung einer neuen Front, sondern der Auftakt von Verhandlungen. Er lud den Afghanen zu einem Treffen ein, und als Atmar erschien, wusste er, dass er Recht hatte.

Atmar hatte mit einem ehemaligen britischen Kommandanten eine einigermaßen fragwürdige Vereinbarung, nach der Mitglieder seiner zerlumpten, schlecht ausgerüsteten und von Opium betäubten Miliz acht Checkpoints bemannen durften, die rund um das Lager verteilt liegen. Die fadenscheinige Truppe sollte angeblich das ohnehin stark befestigte Lager schützen, und für diesen offensichtlichen Schwindel erhielt Atmar einen ansehnlichen monatlichen Betrag in amerikanischen Dollars. Steffensens Vorgänger, ein gradliniger dänischer Oberst, der das Kommando über das Lager von den Briten übernahm, war darüber so empört, dass er den Vertrag kündigte und Atmars Männern befahl, die acht Checkpoints zu räumen. Danach begann der nächtliche Mörserregen.

Steffensen bot Atmar an, die monatlichen Zahlungen wiederaufzunehmen. Der Granatregen hörte in der darauffolgenden Nacht auf.

So einfach ist das.

Nicht alle Probleme können auf dem Schlachtfeld gelöst werden. Aber am Verhandlungstisch.

Atmar liebt es, seinen dänischen Partner über die Geschichte von Helmand zu belehren. Wenn diese endlose Wüstenlandschaft überhaupt eine Geschichte hat, dann nur eine militärische, sagt der Kriegsherr. Heere sind hier erst von der einen, dann von der anderen Seite durchmarschiert, nicht seit hundert, sondern seit mehreren tausend Jahren. Sie wollten nichts, nur weiter. »Wir standen einfach im Weg. Das wurde unser Schicksal. Wir sind diejenigen, die den Plänen anderer im Weg stehen.«

Steffensen ist geneigt, ihm Recht zu geben. In den Büchern, die er über Afghanistan gelesen hat, steht dasselbe. Dieser unfruchtbare Landstrich hat mehr Eindringlinge erlebt als irgendein anderer Ort auf der Welt. Und er antwortet jedes Mal mit dem gleichen Versprechen: »Ihr steht nicht im Weg. Wir sind nicht gekommen, um zu erobern, sondern um euch zu einem besseren Leben zu verhelfen.«

Najib Atmar nickt und lächelt. »Ich vertraue dir. Du bist nicht wie die anderen.«