Der ewige Krieg 3 - Preisaktion - Joseph R. Lallo - E-Book

Der ewige Krieg 3 - Preisaktion E-Book

Joseph R. Lallo

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Beschreibung

»Morgen geht es zu Ende. Aber wird es das Ende des Krieges, oder das Ende unserer Welt?« Myranda und ihren Gefährten steht ihre bislang größte Aufgabe bevor. Die Zeit des Versteckens ist vorbei. Die Generäle des Nordbunds sind nervös und angespannt. Jetzt scheint die Zeit zuzuschlagen. Die Erwählten mobilisieren alle, die gegen den Krieg sind, und ziehen nach Verril um ihr Land zurückzuerobern und den Krieg endlich zu beenden. Doch schon bald zeigt sich, dass Myranda und ihre Freunde die Macht ihrer Feinde weit unterschätzt haben.

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Die Schlacht von Veril
Kapitel 1
Kapitel 2

Die Schlacht um Veril

Joseph R. Lallo

Die Schlacht von Veril

Die Geschichte der Erwählten zu erzählen ist eine gewaltige Aufgabe, die nicht unvollendet bleiben darf. Wenn Ihr die ersten beiden Bücher gelesen habt, kennt Ihr die Schwierigkeiten, denen sich unsere Helden gegenübersahen. Es gab Siege und Niederlagen. Manche Freunde und Verbündete entkamen den Klauen der Verderbnis, doch andere hatten nicht so viel Glück. Trotz dieser Abenteuer muss über die wichtigsten Prüfungen der Erwählten erst noch berichtet werden. Auf diesen letzten Seiten werde ich das tun.

Dafür muss ich dort beginnen, wo mein letzter Bericht endete. Myranda, eine junge und engagierte Magierin, die von den anderen Erwählten für tot gehalten wurde, war zurückgekehrt und hatte ihre Freunde vor dem Untergang bewahrt. Als alle in Sicherheit waren und für eine kurze Weile ausruhen konnten, erzählte sie ihnen, was während ihrer Abwesenheit geschehen war. Ihre Geschichte begann dort, wo die anderen geglaubt hatten, dass sie gestorben war: im untersten Keller der persönlichen Menagerie von Demont, einem General des Nordbundes. Der teuflische Bau voller alptraumartiger Wesen brannte lichterloh. Mit der Stärke ihres Willens hielt sie die brennende Festung zusammen, bis sie spürte, dass ihre Freunde entkommen waren. Dann gab sie nach, in dem Wissen, dass das ganze Gebäude über ihr zusammenbrechen würde. Sie war bereit, sich ihrem Schicksal zu fügen. Doch das Schicksal hatte andere Pläne.

Kapitel 1

Als die Decke über Myranda einstürzte, gaben gleichzeitig auch die Dielen unter ihren Füßen nach und sie fiel in ein dunkles Loch. Blindlings krabbelte sie los, weg von der Festung, die über ihr mit einem gewaltigen Donnern einstürzte. Ihre Hände ertasteten einen Metallgriff. Sie zerrte daran, und etwas gab nach. Es war eine niedrige Tür, die offenbar in den Fels gesetzt worden war. Im letzten Moment schaffte sie es, hindurchzukriechen, und rettete sich in die Dunkelheit dahinter. Im schier endlosen Donnern des einstürzenden Gebäudes kroch sie durch einen stockfinsteren Tunnel. Nach und nach verebbte das Dröhnen, als sich die Trümmer über ihr festsetzten. Sie schob den Gedanken beiseite, dass sie lebendig begraben wurde. Auch was sie am Ende des Tunnels finden würde, war ihr gleich. Jetzt ging es nur darum, diese Hölle zu überleben - weg von dem Feuer, weg von der einstürzenden Festung. Alles andere konnte warten.

Sie versuchte aufzustehen, aber ihre Beine gaben immer wieder nach. Offenbar hatte das Feuer Myranda stärker zugesetzt, als sie gedacht hatte. Sie hörte, wie hinter ihr das Gestein nachgab und sah ein, dass es besser war zu kriechen, als bei ihren Gehversuchen zu sterben. Der Rauch der brennenden Trümmer hinter ihr brannte in ihrer Lunge. Sie kroch vorwärts, immer weiter, und kämpfte um jeden Zoll, den ihr Körper hinter sich bringen konnte, bevor er endlich seine Grenze erreichte. Dann brach sie zusammen und verlor das Bewusstsein, und das Donnern und Krachen verebbte in der Stille.

Vielleicht Stunden, vielleicht erst Tage später öffnete sie die Augen. Alles war dunkel. Der Rauchgestank hatte nachgelassen, doch die Luft war drückend und abgestanden. Sie hustete und spuckte, als sie sich auf den Rücken rollte. Ein stechender Schmerz in der Schulter stoppte die Bewegung. Sie griff hoch und zog das Ding, das sie gestochen hatte, von sich weg. Allmählich wurde ihr Kopf klarer, und nun kehrten die Gedanken zurück, die sie vorher ignoriert hatte. Was genau verbarg sich hier unten? Wenn schon die ganze Festung voller monströser Kreaturen war, was für Monster mochten dann hier in den tiefsten Katakomben versteckt sein?

Es war so dunkel, dass es keinen Unterschied machte, ob sie die Augen öffnete oder nicht. Kein Laut war zu hören. Die Stille war gespenstisch, bedrückend und vollkommen. Sie roch nichts als den beißenden Gestank von verkohltem Holz. Alles, was ihr blieb, war ihr Tastsinn. Aber was er verriet, verwirrte sie nur noch mehr.

Der Boden bestand aus… Kacheln mit einem komplexen, sorgfältig gearbeiteten Muster. Sie drehte sich wieder auf den Bauch und tastete nach der Wand. Auch dort fand sie das aufwändige Kachelmuster. Dann spürten ihre Finger etwas Glattes, einen Streifen aus Metall oder Glas, der sich an der Wand entlangzog. Als sie den Streifen berührte, begann er in einem weißlich-blauen Licht zu schimmern, und sie schrak zurück. Doch als sich das sanfte Schimmern entlang des Streifens ausbreitete, merkte sie, dass von dem Licht keine Gefahr ausging. Sein einziger Zweck war es wohl, den Gang zu beleuchten. Langsam wurde es heller, und sie konnte sehen, was sie vorher nur ertastet hatte.

Es war ein Mosaik, das sich über Wände, Boden und Decke des Ganges erstreckte, von dem eingestürzten Tunnel hinter ihr bis in die Tiefen des Tunnels vor ihr, weiter als ihre geröteten, ausgetrockneten Augen sehen konnten. Unregelmäßige, schwarze und weiße Kacheln, die sich zu Gestalten zusammenfügten. Manche Gestalten bestanden aus den schwarzen Kacheln, andere aus weißen, so dass jeder Zentimeter dieses Meisterwerks ein Teil einer Kreatur war, die wie die Teile eines Puzzles in einem immerwährenden Kampf oder Tanz mit den anderen verschlungen war. Die dargestellten Tiere reichten von Pferden, Vögeln, Drachen und anderen Wesen, die sie kannte, bis zu Tieren, die keine Augen oder keine Beine hatten und keinem Tier ähnlich sahen, das sie je gesehen hatte. Doch sie wusste, dass es Tiere waren, dass diese völlig fremden Gestalten irgendwo existierten.

Mühsam stand sie auf. Ihre Beine hatten starke Verbrennungen erlitten. Das Ding, das sie in die Schulter gestochen hatte, war, wie sie jetzt erkannte, die abgebrochene Spitze ihres Stabes. Der Rest war nirgendwo zu sehen. Sie hob die Spitze auf. Sie wünschte, der Stab wäre ganz geblieben, denn sie brauchte dringend etwas, worauf sie sich stützen konnte. Wenigstens konnte sie sich an die Wand lehnen.

Während sie unter Schmerzen den Gang entlanghumpelte, erschienen ihr die Bilder des Mosaiks immer bekannter. Die Kreaturen, die für Demonts Zwecke genutzt wurden, tauchten immer wieder auf, wobei sie jedes Mal ein wenig anders aussahen. Der Drache, den sie zuerst entdeckt hatte, war weiß gewesen, und als sie sich vorwärts arbeitete, sah sie ihn immer wieder - jedes Mal war mehr Schwarz in ihn gearbeitet und seine Form ein wenig verdrehter, bis am Schluss nur noch eine Dragoyle übrig war. Dann sah sie die Gestalt eines Mannes, der sich nach und nach in einen der Halbmänner verwandelte, die sie so oft bekämpft hatte. Es war eine Sache, etwas zu sehen, das so verdorben wurde; doch was sie wirklich verstörte, war, dass die Gestalt sich so unmerklich veränderte, dass sie die Veränderung vielleicht gar nicht wahrgenommen hätte, hätte sie die Unterschiede nicht so direkt nebeneinander gesehen.

Es schien ihr, als ob sich das Gleiche in der Welt um sie herum abspielte. Es gab so viele Halbmänner - bösartige Geschöpfe, die sich hinter einer menschlichen Maske versteckten. Mittlerweile bestand vermutlich ein großer Teil der nördlichen Armee aus ihnen. Doch sie selbst hatte erst vor so kurzer Zeit von ihrer Existenz erfahren. Merkten die anderen Soldaten es nicht? War es ihnen egal? Welche anderen Teile ihrer Welt wurden vor Myrandas Augen so unmerklich pervertiert, dass sie die Veränderung nicht wahrnahm? Was waren diese anderen Kreaturen?

Bald brannten die Gedanken in ihr so stark wie die Schmerzen an ihren Beinen. Vor ihr war eine Tür; sie humpelte darauf zu, so schnell sie konnte.

Als sie die Tür erreichte, blieb sie stehen. Sie sah weder ein Schloss noch irgendwelche Beschriftungen. Nichts schien sie zu versperren. Das machte Myranda stutzig. Es war nicht die Art der D’karon, so unvorsichtig zu sein. Auf der anderen Seite der Tür war etwas, das geheim genug war, es tief unter der Erde zu verstecken. Auf irgendeine Weise musste der Raum gesichert sein. Aber es machte keinen Unterschied. Hinter ihr war der Weg versperrt. Sie konnte nur vorwärtsgehen.

Sehr vorsichtig öffnete Myranda die Tür. Im gleichen Moment ging das Licht hinter ihr aus. Ein  gelbliches Licht wie von einer Fackel erleuchtete den Raum vor ihr. Ein einziger Blick verriet ihr, wem dieser Raum gehörte. Genau wie das Labor, das hinter ihr eingestürzt war, war dieser Raum tadellos aufgeräumt. Dünne, in Leder gebundene Bücher standen säuberlich aufgereiht in den Regalen an den Wänden. Es gab Tafeln mit Skizzen verschiedener Tierwesen. Eine Vitrine war mit Glasfläschchen angefüllt, die in einer unbekannten Sprache beschriftet waren. Überall lagen Papiere, fein säuberlich und ordentlich aufgestapelt oder in Mappen zusammengeheftet. Wenn die Festung das Labor von General Demont gewesen war, dem Erfinder dieser schrecklichen Bestien, dann musste dies hier sein Studierzimmer sein.

Zu einer anderen Zeit wäre sie vielleicht von all dem fasziniert gewesen, doch sie war erschöpft, verwundet und sicher, dass sie entdeckt würde, wenn sie sich hier länger aufhielt. Das Zimmer war nicht groß, und es gab nur noch eine andere Tür, unter der ein kalter Luftzug hereinwehte. Umso besser. Diese Tür musste nach draußen führen.

Ohne eine Wand, an die sie sich lehnen konnte, hatte sie Mühe, den Raum zu durchqueren. Sie hielt kurz an, um einen Zauber zu versuchen, der wenigstens einige ihrer Verletzungen heilen konnte. Er misslang. Um die Mauern der Festung aufrechtzuerhalten, bis ihre Freunde entkommen waren, hatte sie all ihre Kräfte verbraucht, und es würde Tage, vielleicht sogar Wochen dauern, bis sie sich erholt hatte. Und hier konnte sie nicht bleiben. Ihre beste Hoffnung war, ihre Freunde zu finden, damit sie der nächsten Gefahr nicht alleine entgegentreten musste. In ihrer Gegenwart würde sie sich ausruhen können, aber wenn Myranda sie einholen wollte, musste sie sich beeilen.

Als sie die zweite Tür erreichte, stellte sie fest, dass auch diese nicht verschlossen war. Sie konnte jedenfalls keinen magischen Schutz erkennen. Allerdings war ihr geistiger Tastsinn durch die Strapazen der letzten Stunden ebenso geschwächt wie ihre anderen Sinne. Sie zog die Tür auf und trat in den eisigen Wind und die beißende Kälte des Nordens hinaus. Als sie über die Schwelle trat, sah sie aus dem Augenwinkel einen Lichtblitz hinter ihr. Die Tür schlug zu. Sie warf sich dagegen, um sie aufzuhalten, doch die Kraft, die die Tür bewegte, war so stark, dass sie zurückgestoßen wurde und zu Boden fiel. Sie stützte sich mit den Händen auf den gefrorenen Boden und versuchte aufzustehen.

Links und rechts von der Tür ertönte ein klickendes Geräusch. Zwei Nischen öffneten sich. Heraus kamen zwei Bestien, die nur Demonts perverser Fantasie entstammen sein konnten. Die Tiere waren lang und geschmeidig, ihre Körper dem eines Panthers nicht unähnlich. Ihre Köpfe sahen allerdings eher aus wie ein Haufen Besteck, der auf die Hälse gepfropft war. Vier enorme, gezackte Kieferscheren schnappten mit einem bösartigen Geräusch aufeinander, dort, wo der Kopf hätte sein sollen. Aus der „Stirn” ragte ein gezacktes Horn wie eine Klinge, obwohl das Fehlen von Augen, Ohren und Ähnlichem, den Begriff „Stirn” hinfällig machte. Scharfe, gezackte Ränder liefen über die gesamte Länge der Körper. Die Bestien konnten Myranda nicht wirklich ansehen, aber ihre monströsen Gesichtswaffen zeigten auf jeden Fall in ihre Richtung.

In ihrem Schreck vergaß sie den Zustand ihrer Beine und hechtete zur Seite, als das erste Biest sie angriff. Das zweite rannte von der Tür weg. Als Myranda sich herumrollte, um wieder auf die Beine zu kommen, kam das erste Tier zum Stehen. Die Kreaturen bewegten sich so schnell und geschmeidig wie die Raubkatzen, von denen sie ihre Gestalt gestohlen hatten, und in Sekunden war das erste bereit für einen neuen Angriff. Das zweite war ein gutes Stück weggerannt, drehte um und rannte auf sie zu.

Myranda riss sich zusammen und brachte einen schwächlichen Schutzzauber zustande. Die pulsierende Energie hielt die Bestie nur kurz ab, als sie zu der Tür schlitterte und sich dagegenwarf. Doch die Tür gab nicht nach. Myranda drehte sich zu der Bestie um, deren gezackte, unnatürliche Kiefer aufeinanderkrachten, und hob ihren zerbrochenen Stab in einer nutzlosen Geste. Ihr Geist war erschöpft. Eine Niederlage war unausweichlich. Aber sie würde ihre ganze verbliebene Kraft nutzen, um den Bestien den Sieg wenigstens ein bisschen schwerer zu machen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Ihr Herzschlag klang laut in ihren Ohren. Wie schon so oft in den Schlachten zuvor schien die Zeit stillzustehen. Sie konnte vor Angst kaum noch denken. Ihre Haut kribbelte. Mit jedem Herzschlag wurde das Gefühl stärker. Es war nicht die Erwartung des Todes: Es war stärker.

Mit einem Geräusch, als ob die wirkliche Welt um sie herum zerreißen würde, zuckte ein Licht über ihr durch die Luft wie ein Blitz, der nicht zum Boden findet. Dann noch einer und noch einer. Aus den Blitzen wuchs ein federiges, zartes Gespinst von kleineren Blitzen, und in Sekundenschnelle hing über ihr ein dorniger Kranz aus purem weißen Licht. Sie schloss die Augen, um sie vor der Helligkeit zu schützen. Ein ferner Schrei ertönte, der plötzlich lauter wurde. Selbst mit fest geschlossenen Augen konnte Myranda noch das gleißende Muster sehen.

Dann verschwand das Licht mit einem gewaltigen Krach. Myranda öffnete ihre Augen. Vor ihr lag ein junger Mann mit ungekämmtem braunen Haar, der eine graue Tunika trug. Unter ihm zuckten die Überreste der Bestie. Der seltsame Neuankömmling stöhnte vor Schmerz, und langsam schlich sich Erkennen durch Myrandas Verwirrung. Sie kannte diesen Mann. Er war ein junger Zauberer, den sie in einem Ort namens Entwell getroffen hatte.

Deacon.

In der Ewigkeit, die seit ihrem letzten Treffen vergangen war, hatte sie unzählige Male an ihre gemeinsame Zeit gedacht. Und jetzt kam er völlig unerwartet zu ihr und hatte durch sein Erscheinen die Bestie getötet.

Tausend Fragen und verschiedene Gefühle kämpften um Myrandas Aufmerksamkeit, doch es gab etwas, das wichtiger war: das zweite Monster. Bevor sie Atem holen konnte, um eine Warnung zu schreien, ging ein zweiter Riss durch die Luft, und eine kleine weiße Tasche fiel heraus. Sie fiel mit unmöglich großer Wucht direkt auf das Monster, das nur noch ein paar Schritte davon entfernt war, ihre unerwartete Wiedervereinigung zu beenden. Und so wurde das Problem auf die seltsamste Art gelöst.

Myranda sah auf ihren verletzten Freund. Der Sturz und das, worauf er gefallen war, hatten ihm arg zugesetzt. Er stöhnte wieder und rollte von dem Biest herunter, stützte sich auf seine Hände und Knie, und endlich stand er unsicher mit zugekniffenen Augen da. Dann riss er sie auf und rief: „Myranda!”, als hätte er sich gerade erst an den Namen erinnert. Er blickte sich hektisch um, entdeckte Myranda und hastete auf sie zu. „Myranda! Gütiger Himmel. Es ist ein Wunder! Geht es dir gut?” Er kniete neben ihr nieder, die eigenen Verletzungen schon vergessen. „Nein, nein, es geht dir überhaupt nicht gut! Mein Kristall! Wo ist er?”

„Deacon… Deacon. Deacon!”, rief Myranda, die endlich klar genug denken konnte, um sich über die Ankunft ihres alten Freundes zu freuen.

„Ja, hier”, sagte Deacon, hob seinen Kristall auf und kehrte zu ihr zurück. „Was muss am dringendsten geheilt werden?” Seine Stimme war eindringlich.

„Bitte, Deacon, beruhige dich!“, sagte sie. „Dank dir ist die Gefahr vorüber. Wo kommst du her? Wie bist du hergekommen?”

„Direkt aus Entwell”, sagte er, während er seine lang vernachlässigten Kenntnisse der Weißen Magie hervorkramte und Myrandas verbrannte Beine zu heilen begann.

„Aber wie? Es ist so weit weg. Wann bist du dort weggegangen? Wie hast du mich gefunden?”

„Erst vor ein paar Minuten. Ich habe dich beobachtet, so gut ich konnte. Es war… nun, es war ein Teil meiner neuesten Studienrichtung.”

„Vor ein paar Minuten?”, fragte Myranda verwirrt.

„Ja. Sofortreise. Transport. Es spielt mit einer Reihe von Methoden, die wir verboten haben, aber die Prinzipien waren da. Ich musste nur ein bisschen graben. Neue Ansätze. Ein paar Wochen.”  Er heilte alle Verletzungen, die er sehen konnte, und begann dann mit seinen eigenen.

In Entwell war Deacon der örtliche Meister einer Magierichtung gewesen, die als Graue Magie bekannt war. Sie befasste sich mit allem, das nicht ausdrücklich heilte oder verletzte und nicht auf den Elementen basierte. Er hatte sein ganzes Leben der Beherrschung dieser Künste gewidmet, und so waren sie ihm zur zweiten Natur geworden. Er verstand sie so gut, dass er oft vergaß, dass es Leute gab, die das nicht taten.

„Wie konntest du mich beobachten?”, fragte Myranda, stand auf und belastete vorsichtig ihr geheilten Beine.

„Nun, Fernsicht ist eigentlich ziemlich einfache Magie. Um dich durch den verschleiernden Effekt zu sehen, den der Berg ausübt, war es nötig, dass du starke Magie ausstrahlst, aber das war ja nicht gerade selten. Ich musste recht sorgfältig vorgehen, aber ich habe dich ziemlich häufig aufspüren können”, sagte er. Dann begann er zu zittern.

„Was ist los?”, fragte sie.

„Nichts... Ich bin nur… ist es hier immer so kalt?”

Myranda begriff, dass er für das nördliche Klima völlig unpassend angezogen war. Die leichte graue Tunika, die für Entwell ausreichte, war völlig ungeeignet, den eisigen Wind abzuhalten.

„Um Himmels willen! Warum hast du dich nicht wärmer angezogen?”, fragte sie.

„I-ich habe in letzter Zeit nicht sehr klar denken können“, stotterte er. „Nicht s-seit… ist ja auch egal. Ich habe ein paar Sachen in meiner T-tasche, die v-vielleicht helfen k-können.” Schlotternd ging er zu dem Krater hinüber, in dem sein Beutel und die Überreste der zweiten Kreatur lagen. Als er das Biest sah, fuhr er zurück. „W-wa-was ist das?” Offensichtlich hatte er gerade erst bemerkt, wovor er Myranda gerettet hatte.

„Ich weiß es nicht, sie sind aus den Alkoven gekommen”, sagte Myranda. „Die hat sich bestimmt Demont ausgedacht.”

„Demont…”, sagte er nachdenklich, als ob er den Namen irgendwie kannte. „F-faszinierend. Ich habe noch nie etwas gesehen, das so aussieht.”

„Du kannst es später studieren. Du musst dich aufwärmen.”

„Ja, das sollte ich”, sagte er. Er griff nach dem Zugband des Beutels und zog daran, doch es bewegte sich kaum. „V-verdammt. Ich hatte befürchtet, dass so etwas passieren könnte. Der Transport hat die Verzauberungen beschädigt. Das h-h-haben wir gleich.”

Mit zitternden Händen hielt er seinen Kristall über den Beutel. Der Kristall strahlte hell auf und der Beutel erhob sich in die Luft, als sei er nicht länger schwer genug, um das zertrümmerte Biest niederzudrücken. Deacon griff erneut nach dem Beutel, und dieses Mal hob er ihn so mühelos hoch, als sei er leer. Er wühlte unbeholfen darin herum, und Myranda konnte es klappern und rasseln hören.

„H-hätte ich besser organisieren sollen”, sagte er und hustete trocken, als die beißende Kälte in seine Lunge fuhr. Als der Hustenanfall vorüber war, sah er gequält zu der Tür hinüber. „V-vielleicht ist es drinnen wärmer?”

„Ich würde es nicht riskieren”, sagte Myranda. „Da war ein Zauber auf der Tür, der diese Biester losgelassen hat.”

„Wenn er dort platziert wurde, kann er auch wieder abgenommen werden”, sagte Deacon, verschloss den Beutel und eilte zu der Tür.

Myranda sah ihm nervös zu, als er die Tür untersuchte. Er betrachtete sie von oben bis unten, und selbst ohne seinen Kristall schien er unsichtbaren Linien und Mustern mit dem Auge zu folgen, bis er sich zur Türschwelle hinabbeugte. „Hier. R-runen. Ich kenne sie nicht… aber… es scheint, als ob sie verbraucht wären. Wenn wir es s-schaffen, die Tür aufzustemmen, sollte der Zauber nicht noch einmal wirken können.”

Mit diesen Worten rammte er seine Schulter gegen die Tür und prallte mit einem Schmerzensschrei davon ab. Dann hob er seinen Kristall. Wieder pulsierte das Licht, und die Tür flog so heftig auf, dass sie fast aus den Angeln gerissen wurde. Er hastete hinein. Als die Tür nicht wieder zuschlug und keine weiteren Bestien auftauchten, folgte Myranda ihm und schloss die Tür hinter sich. Deacon rieb seine Arme und sah sich nach einer Wärmequelle um. Als er keine fand, hob er den Kristall noch einmal und ließ ihn los. Der makellos klare, eiförmige Fokusstein begann in einem warmen Orangeton zu schimmern, und fast sofort wurde die Raumtemperatur erträglich. Deacon lehnte sich gegen die Wand und seufzte vor Erleichterung.

„Wir müssen hier so schnell wie möglich weg”, warnte Myranda und schaute sich nervös um. „Dies ist Demonts Arbeitszimmer, glaube ich. Ich möchte nicht hier sein, wenn er zurückkommt.”

„Eine weise Entscheidung”, stimmte Deacon zu, während er wieder in seinem Beutel herumsuchte.

Der Beutel war wirklich nicht sehr groß. Er sah aus, als könnte er bestenfalls eine zusammengerollte Decke enthalten, doch er war mit Sicherheit nicht vollgestopft. Trotzdem zog Deacon einen bodenlangen weißen Umhang daraus hervor, und dann noch einen. Er ließ den Beutel auf den Boden fallen und hüllte sich eilig in den Umhang. Er würde der nördlichen Kälte auch nicht sehr gut trotzen können, doch vielleicht reichte es, wenn er die Tunika dazurechnete. Dann gab er den anderen Umhang Myranda und half ihr, ihn zu befestigen.

„Wie hast du die in dem kleinen Beutel untergebracht?”, fragte sie.

„Er ist innen ziemlich groß”, sagte er. „Ein kleiner Trick, den wandernde Magier benutzen. Ich könnte dir einen machen, wenn du willst, aber es würde ein bisschen dauern.” Er zeigte ihr den Beutel. Als er das Zugband weit aufzog, sah Myranda Glasfläschchen, Bücher, Werkzeuge an den Seiten festgemacht - es waren in der Tat sämtliche Gegenstände, die Deacon in seiner Hütte gehabt hatte. Sie waren auch nicht irgendwie kleiner geworden. In die Tasche zu schauen war wie der Blick in eine tiefe Grube.

„Ist schon gut. Deacon… ich…”, sagte Myranda und suchte nach den richtigen Worten. „Wie lange wirst du von Entwell weg sein?” Sie wollte ihm unbedingt sagen, wie oft sie an ihn gedacht hatte, wie sehr sie ihre gemeinsame Zeit geschätzt hatte, doch die Worte wollten nicht kommen. Es war, als ob es so lange her war, dass sie jemanden wie ihn in ihrem Leben gehabt hatte, dass sie sich einfach nicht mehr angemessen ausdrücken konnte.

„Für eine ganze Weile… eine ganze Weile”, sagte er. „Ich habe die Leute ein bisschen gegen mich aufgebracht. Ich bin nicht sicher, ob ich dort wieder willkommen wäre.“

„Was hast du getan?“

„Das ist jetzt unwichtig.“ Sein Blick wanderte über die Dinge in dem Arbeitszimmer. „Das Wichtigste ist, dass ich dich rechtzeitig erreicht habe. Du sagtest, dieser Raum gehört Demont. Er ist einer der Generale, oder?”

„Ja.”

„Dann… denke ich, dass es ganz gut ist, wenn wir ihn ein wenig aufhalten”, bemerkte er abwesend.

„Ja, das nehme ich an”, sagte Myranda.

„In dem Sinne… halte ich es für weise, wenn ich ein paar Dinge mitnehme… sozusagen Teile seines Puzzles wegnehme”, sagte er und begann die Regale und Tische genauer zu begutachten.

„Wenn es sein muss, aber beeil dich. Wir müssen die anderen finden. Und sei vorsichtig.”

Wie ein Kind, das die Erlaubnis bekommen hatte, die Regale eines Süßwarenladens auszuräumen, begann Deacon Artefakte, Schriften und Glasfläschchen einzusammeln. Nachdem ihm ein oberflächlicher Blick vermutlich sagte, dass es sicher sei, versenkte er sie in seinem scheinbar bodenlosen Beutel. Einen mit Kristallen gefüllten Koffer stecke er komplett in den Beutel, und ein Buch nach dem anderen folgte. Schließlich nahm er eine große Karte von der Wand, faltete sie und steckte sie ebenfalls ein.

Als er fertig war, waren die Regale praktisch leer, und der Beutel war nicht einmal ausgebeult. Myranda lächelte, als sie sah, mit welcher Begeisterung Deacon die Dinge in seinem Beutel herumschob. Er steckte den Arm fast bis zur Schulter hinein, um Dinge hochzuziehen, an denen er stärker interessiert war, und platzierte sie obenauf. Als er zufrieden war, zog er das Zugband zu und hängte den Beutel an den Gürtel seiner Tunika, als wiege er überhaupt nichts. „Nun, ich glaube, dass ich bereit bin, dem Wetter erneut zu trotzen”, sagte er. „Bist du sicher, dass es dir gut geht? Es ist eine Weile her, dass ich die Heilkunst praktiziert habe. Es könnte sein, dass ich eine Verletzung übersehen habe.”

„Es geht mir gut genug”, sagte sie. „Lass uns gehen, und zwar schnell. Ich weiß nicht, wie weit die anderen uns voraus sind.”

„Nun denn”, sagte er und wappnete sich gegen die Kälte, bevor er die Tür öffnete. Sobald er den scharfen Wind spürte, merkte er, dass der dünne Umhang bei weitem nicht ausreichte. Er überlegte kurz, ob er der Kälte trotzen konnte, dann entschied er, dass das keine gute Idee war.

„Einen Moment noch”, sagte er, nahm den Umhang ab, hielt ihn in der einen Hand und seinen Kristall in der anderen. Er schloss kurz die Augen kurz und wob einen Zauber. Zu dem schnellen, klaren Licht, das in dem Kristall pulsierte und all seine Zauber begleitete, gesellte sich eine Welle aus Licht, die von unten nach oben über den Umhang lief. Ein Schimmern folgte der Welle, blieb für kurze Zeit sichtbar und verblasste dann. Er trat wieder in den Wind hinaus, doch diesmal schien er ihm nichts auszumachen.

„Was hast du da gemacht?”, fragte Myranda.

„Ich habe den Stoff des Umhangs mit einer Verzauberung versehen, die die Kälte abwehrt, in dem sie meine eigene Wärme daran hindert, aus -”, begann er.

„Eine Verzauberung gegen die Kälte. Das reicht mir schon als Antwort”, sagte sie.

„Oh, äh, natürlich”, sagte er, sichtbar enttäuscht darüber, dass sie seine Erklärung unterbrochen hatte.

„Ist es wirklich so einfach, etwas zu verzaubern?”, fragte sie, als sie in die Kälte hinaustrat. Jahrelanger Umgang mit dem nördlichen Winter und ihre warme Kleidung machten eine solche Verzauberung für sie unnötig.

„Nun, normalerweise nicht. Die Stärke und Komplexität einer Verzauberung, die ein Kleidungsstück oder ein anderes Objekt annehmen kann, ist - wir stellen spezielle Umhänge her, die sich gut zum Verzaubern eignen”, unterbrach er sich schnell.

„Danke”, sagte Myranda grinsend.

Dann waren sie draußen. Als sie das letzte Mal hinausgegangen war, hatte sie solche Angst gehabt, dass sie sich nicht darum gekümmert hatte, wo die Tür hinführte. Sie standen an der Oberseite eines steilen, vereisten Abhangs. Der morgendliche Himmel erhellte eine Landschaft, die nur spärlich mit Bäumen bestanden war. Nach all dem, was in der Festung geschehen war, konnte Myranda sich kaum an die Reise hierher erinnern, aber ganz sicher waren sie nicht in der Nähe der Stelle, an der sie und die Erwählten die Festung betreten hatten.

Nichts, was sie sah, gab ihr irgendeinen Hinweis. Sie sah sich um und versuchte in der eintönigen Landschaft einen Anhaltspunkt zu finden, doch sie wusste nur, dass die Festung irgendwo im Südwesten lag. Dies verriet ihr eine stetige schwarze Rauchsäule, die dort hoch in den grauen Himmel stieg.

„Wohin gehen wir?”, fragte Deacon. Die endlose Weite dieser Landschaft faszinierte ihn. Entwell war seine ganze Welt gewesen, doch bei aller Perfektion war es doch nur ein kleines Tal zwischen Bergen und Meer. Diese Weite hier draußen, die sanften Hügel und die weißen Berge, die verstreuten schneebedeckten Bäume, die Lichter, die weit entfernte Feuerstellen sein mussten… alles war so weit auseinandergezogen, dass er fast benommen und orientierungslos davorstand.

„Wir müssen die anderen finden. Sie wollten in den Süden, nach Tressor. Ich… ich weiß nicht, welchen Weg sie genommen haben, oder wie weit sie gekommen sind. Kannst du sie finden?”

„Ich nicht, aber ich kann dir dabei helfen. Von der Gruppe habe ich nur Lain kennengelernt. Seine Seele ist mir nicht vertraut genug, dass ich sie entdecken könnte, aber ich könnte deine eigene Suche verstärken.”

„Das ist gut.” Sie schloss die Augen, hob ihren zerbrochenen Stab und begann ihren Geist auszusenden. Einen Moment später spürte sie, wie sich Deacons warme Finger um ihre Hand schlossen. Sofort wurde ihr Geist von einer kühlen, ruhigen Klarheit erfasst, ähnlich wie die durch einen Fokusstein bewirkte, doch wesentlich gehaltvoller. Sie streckte suchende Finger aus, doch sofort ließ Deacons Hand ihre los und die Ruhe verließ sie, so schnell sie gekommen war. Sie öffnete ihre Augen und sah, dass Deacon sie nervös anblickte.

„Das darfst du niemals tun”, warnte er. „In unserer Situation ist es das Schlimmste, was du machen könntest.”

„Was?“

„Deinen Geist auszusenden.“

Myranda blinzelte. „Ich weiß nicht, wie ich sie sonst finden könnte. Was ist daran gefährlich?”

„Du schickst einen Lichtstrahl aus, der von jedem gesehen werden kann. Vielleicht findest du diejenigen, die du suchst - doch diejenigen, die dich suchen, werden dich ohne Zweifel auch finden.”

„Aber was soll ich denn sonst tun?”

„Ich zeige es dir”, sagte er.

Er nahm ihre Hand und beide konzentrierten sich wieder. Deacon sprach, und seine Stimme klang so klar in ihrem Geist wie in ihren Ohren. Er sprach von den Mitteln, die er benutzt hatte, um sie zu finden. Diese Art Zauber war direkter, hatte ein Ziel und war praktisch unauffindbar. Bald schon spürte sie die Seelen der anderen so klar und stark, als ständen sie neben ihnen.

„Ich spüre sie. Ich weiß, wo sie sind”, sagte sie. „Fia… sie ist… ich spüre ihre Trauer. Sie glaubt, dass ich tot bin.”

„Sie wird bald genug die Wahrheit wissen”, sagte Deacon.

„Nein… du verstehst nicht”, sagte Myranda. „Ihre Trauer ist eine Gefahr, sowohl für sie als auch für die anderen. Ich muss sie wissen lassen, dass ich lebe!”

Deacon nickte nachdenklich.

„Mit den anderen wäre das nicht möglich - ihre Geister sind viel zu stark, um gegen ihren Willen eine Nachricht zu übermitteln - Fia aber ...  ich werde dich mit ihr verbinden”, sagte Deacon.

Sie spürte, wie sein Geist sich bündelte, und plötzlich sah sie Fia vor ihrem inneren Auge. Die Malthropin, ein Wesen, das zur Hälfte Mensch und zur Hälfte Fuchs war, stand vor ihr und schien so wirklich, dass sie sie fast greifen konnte. Ihr leuchtend weißes Fell und die Schnauze, ihre neugierigen rosafarbenen Augen, ihre spitzen Ohren und ihr Schwanz - alles schien völlig real zu sein.

„M… Myranda?!”, rief Fia in ungläubigem Entzücken.

„Fia, ich bin froh, dass es dir gut geht”, sagte Myranda.

„Du bist froh?! Ich dachte, du wärest tot! Die Festung ist doch eingestürzt! Du warst da drinnen!”, rief Fia und brach in Tränen aus. Durch die geistige Verbindung traf ihr Gefühlsausbruch Myranda wie ein Erdbeben. Sie musste darum kämpfen, dass die Verbindung nicht riss.

„Hör zu, Fia. Ich will dir jetzt nur sagen, dass ich bald bei euch sein werde. Sag es den anderen. Und sei vorsichtig!”

„Das werde ich, Myranda”, sagte Fia. Ihre Freude war so stark, dass sie das geistige Band zwischen ihnen zerriss.

Myranda ließ ihre Konzentration abflauen. Langsam konnte sie wieder den eisigen Wind hören, der ihr um die Ohren pfiff. Deacon hielt sie noch einen Moment fest, bevor er seinen Kristall senkte.

„Das war erstaunlich”, sagte Myranda. „Hast du so nach mir gesucht?”

„In jedem wachen Augenblick”, antwortete er. „Mit diesen verdammten Bergen zwischen uns war es etwas anstrengender, aber ich habe dich gefunden, und das macht all die Anstrengung wett.” Er starrte auf die Hand, mit der er die ihre berührt hatte. Als er hochsah und sich ihre Blicke trafen, fing er an zu stottern. „I-ich weiß, dass ich dir helfen musste. Deine Aufgabe ist v-v-viel zu wichtig. Bist du sicher, dass du weißt, wo die anderen sind? Können wir sie bald einholen?”

„Ich weiß, wo sie sind, aber ich bin mir noch nicht sicher, wo wir sind.”

„Orientierung… Navigationszauber. Ich habe mich nie… wirklich darum gekümmert, sie zu lernen. Es gibt sie, aber an einem Ort wie Entwell sind sie einfach überflüssig. Wie dumm von mir. Alle Zauber sind wichtig. Einen Moment, ich werde schon einen finden.” Er schimpfte leise mit sich selbst, während er in seiner Tasche suchte.

„Die Karte”, erinnerte Myranda ihn schmunzelnd.

„Ja, ja. Ich bin sicher, dass ich eine Karte erschaffen kann, ich brauche nur ein paar Worte, um meine Erinnerung aufzufrischen. Das Elementarbuch. Wo ist mein Elementarbuch?”

„Nein, Deacon, du hast doch drinnen eine Karte von der Wand genommen. Die können wir benutzen”, sagte Myranda geduldig.

„Oh… oh, ja, ja. Natürlich! Wo hab ich denn meinen Kopf?” Der junge Magier zog die Karte aus dem Beutel. Kaum war sie draußen, zerrte der Wind an ihr, doch Deacon bewegte die Hand und um sie herum wurde es windstill. Myranda staunte über die mühelose, lässige Art, in der Deacon in alles, was er tat, Magie einfließen ließ. Er nutzte sie, wie ein anderer ein Haar aus dem Gesicht streicht oder einen Knoten zuknotet, während er sich mit anderen Dingen beschäftigt.

Sie betrachtete die Karte. Wie alles, was Demont tat, war auch sie mit genauesten Details versehen. Die Beschriftungen waren in der fremden Sprache gehalten, die sie überall in seinem Labor und Arbeitszimmer gesehen hatte. Sie verstand keins der Wörter oder Symbole, doch das machte nichts. Hier lag die Festung. Dort war die dünne Linie, die den Tunnel bezeichnete, durch den sie gekommen war. Und hier war das Arbeitszimmer, das sie gerade verlassen hatte. Der Ort, an dem sie die anderen vermutete, war ein gutes Stück entfernt. Entweder waren Lain und die anderen sehr schnell gereist, oder sie war recht lange bewusstlos gewesen. Wahrscheinlich beides. Wie dem auch sei, sie würden die anderen nicht zu Fuß einholen können.

„Sie sind hier“, sagte sie und tippte auf die Karte. „Sie gehen auf die Berge zu oder sind schon da. Ich weiß nicht, wieso sie dorthin gehen. Wir wollten eigentlich nach Süden.”

„Was tun wir jetzt?”, fragte Deacon eifrig.

„Sie sind viel schneller als wir, und es ist zu viel Land zwischen uns”, überlegte Myranda laut. „Ist es möglich, dass du uns zu ihnen bringst, so wie du zu mir kamst?”

„Nein, nein, ganz bestimmt nicht“, erwiderte er entschieden. „Der Zauber ist zu unausgereift. Zu gefährlich. Ich habe weder die Kraft noch die Konzentration, um auch nur einen von uns sicher dorthin zu transportieren.”

„Wie bist du dann hergekommen?”, fragte sie.

„Ich brauchte eine Menge Hilfe von Azriel und mehr als nur ein bisschen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit.”

„Dann müssen wir diese Stadt dort erreichen. Wenn wir Glück haben, gibt es dort Pferde. Während wir wandern, musst du mir erklären, was ‚Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit‘ bedeutet”, sagte sie.

Sie faltete die Karte zusammen und gab sie Deacon, der sie in seinem Beutel verstaute. Eine Handbewegung und der Wind fegte wieder ungehindert über sie hinweg. Sie machten sich auf den Weg.

Kapitel 2

Während sie wanderten, erklärte Deacon in allen Einzelheiten die Methoden, die er benutzt hatte, um Myranda zu finden und zu ihr zu kommen. Er bediente sich verwirrender Analogien, verglich in einem Moment das Gewebe der Wirklichkeit mit einem gefalteten Papier, durch das ein Loch gestochen wurde und im nächsten mit einem vielseitigen Würfel, der in solcher Art gewichtet war, dass er so fiel, wie man es brauchte. Der Zauber, den er benutzt hatte, war nicht stark genug, um sicherzustellen, dass er tatsächlich transportiert wurde, wenn nicht eine unendliche Anzahl von Faktoren zu seinen Gunsten ausfielen, sagte er. Und er hatte weder die Stärke noch das Wissen, diese Faktoren zu beeinflussen. Stattdessen hatte er seine Kraft dahingehend eingesetzt, die Regeln, die die Realität bestimmen, zu verändern; die Wahrscheinlichkeit auf den Kopf zu stellen, bis irgendein spektakulär unwahrscheinlicher Umstand im richtigen Augenblick den gewünschten Effekt ergab. Anscheinend waren die drei Blitze, die sie gesehen hatte, der unwahrscheinliche Umstand, den er gebraucht hatte. Es klang komplett verrückt, aber Deacon sprach so darüber, als sei es das Einfachste der Welt.

Als er mit seinen Erklärungen fertig war, bat er Myranda zu erzählen, was ihr widerfahren war, seit sie seine Heimat verlassen hatte. Er hatte nur flüchtige Eindrücke erhaschen können, und obgleich er hin und wieder einen Gedanken von ihr aufgeschnappt hatte, wollte er doch unbedingt jedes Detail wissen. Myranda stimmte ihm zu. Sofort tauchte das dicke Buch, das er in Entwell immer bei sich getragen hatte, aus dem Beutel auf. Er schrieb ihre Worte sorgfältig auf, fragte hier und da nach Details und skizzierte hastig die Dinge, die sie gesehen hatte.

Sein Enthusiasmus für jede noch so kleine Information lenkte ihn gnädigerweise von der Kälte ab. Je weiter der kurze, kalte Tag voranschritt, desto öfter legte er Stift und Buch beiseite, um wieder Gefühl in die Finger zu kneten. Währenddessen schwebten das Buch und der Stift pflichtbewusst vor ihm in der Luft und schrieben Myrandas Worte alleine weiter, bis er sie wieder ergriff.

Myranda, der die Kälte nichts ausmachte, wollte unbedingt weitergehen, obwohl sie völlig erschöpft war. Ihr „Schlaf” in dem Tunnel hatte sie alles andere als erfrischt, und obwohl Deacon ihre Verletzungen geheilt hatte, hatte er weder ihre körperliche noch ihre geistige Verfassung gestärkt. Als es dunkel wurde, wurde offensichtlich, dass sie die Stadt nicht erreichen würden, bevor ihr die Beine versagten. Sie heftete den Blick auf eine kleine, dichte Baumgruppe, die ihnen Schutz bieten konnte - wenn schon nicht vor der Kälte, dann wenigstens vor neugierigen Augen.

Als sie dort ankamen, setzte Myranda sich unter einen Baum und lehnte sich an den Stamm. Deacon setzte sich ihr gegenüber unter einen anderen Baum. Er sah nervös aus, als hätte er – oder jemand anderes – etwas vergessen.

„Stimmt etwas nicht?”, fragte Myranda.

„Wir… übernachten hier”, sagte er, doch eigentlich war es eine Frage.

„Ich fürchte ja”, antwortete sie.

„Oh, kein Problem. Es ist nur, dass das Wetter ziemlich mies ist, und ich war mir nicht sicher, ob im Freien zu übernachten in unserem… ist ja egal. Ein Feuer? Soll ich Feuer machen?”, sagte er stockend.

„Es scheint nicht viel trockenes Holz zu geben”, sagte sie.

„Mach dir keine Sorgen.” Er machte eine Geste, und eine Flamme erschien vor ihnen, ein paar Zentimeter über dem Boden, der es anscheinend egal war, dass sie kein Holz hatte, von dem sie zehren konnte.

„Wird das bis zum Morgen halten?”, fragte Myranda.

„Es hält bis zum Ende der Woche, wenn ich es nicht ausmache”, sagte er.

„Wundervoll! Du hast nicht zufällig etwas zu essen in deinem Beutel?”

„Ich… ich hatte nicht darüber nachgedacht… Oh! Ich glaube, ich habe ein paar Äpfel dabei!”, sagte er und fing wieder an, in dem Beutel zu wühlen. „Hätte ich nachgedacht, hätte ich genug Essen mitgebracht, um eine Armee zu füttern. Und etwas, auf dem man schlafen kann! Verdammt, wo war denn mein Kopf?”

Schließlich fand er vier glänzende rote Äpfel, von denen er einen Myranda zuwarf.

„Es ist schon ein bisschen seltsam”, sagte Myranda. Sie schnupperte an dem duftenden, frischen Apfel, bevor hungrig hineinbiss.

„Ich habe mich hauptsächlich darauf konzentriert, dich zu erreichen. Was ich danach tun würde, hat mich kaum interessiert. Ich glaube, ich habe gar nicht erwartet, dass es überhaupt funktionieren würde, und deshalb nicht weiter geplant”, erklärte er.

„Du hättest so ein Risiko nicht eingehen dürfen”, sagte sie mit mildem Tadel.

„Ich möchte mir nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn ich dich nicht gefunden hätte. Du wärest umgekommen. Ich musste es versuchen. Das einzige, was ich riskiert habe, ist mein Leben. Verglichen mit der Aufgabe der Erwählten ist mein Leben bedeutungslos”, sagte er.

„Dein Leben bedeutet eine ganze Menge”, sagte Myranda daraufhin. »Jedenfalls mir.«

Sie schwiegen eine Zeitlang.

„Ich… du bedeutest mir… auch eine ganze Menge”, sagte Deacon stockend. Er rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her, als ob er sich in seiner Haut nicht so recht wohl fühlte.

„Und der Welt auch”, fügte er ungeschickt hinzu und verzog das Gesicht, als ob er diese Worte sofort bereute.

Nervös knabberte er an seinem Apfel und vermied es, sie anzusehen. Nach einer Weile unterbrach Myranda die Stille.

„Also, wenn du das Nötigste nicht dabei hast, was hast du denn sonst mitgebracht?”, sagte sie in dem Versuch, das Thema zu wechseln.

„Ich, äh, ich habe eine ganze Menge dabei. Ich hätte sie dir auch wirklich schon eher geben sollen”, sagte er, wobei er wieder in der Tasche zu wühlen begann. „Da war natürlich erst einmal der Umhang, aber außerdem habe ich einen Bogen und Pfeile für dich. Ein paar Dolche… Hier ist mein Elementarbuch… ein paar Heiltränke… und wo ist der… ? Ah! Hier.” Er zog einen Kristall aus dem Beutel, der ebenso klar leuchtete, wie sein eigener. „An dem Tag, als du deine Meisterprüfung abgelegt hast, begannen unsere Handwerker einen Kristall zu schleifen, der deinen Fähigkeiten entspricht, und einen entsprechend guten Stab zu machen, in den er eingefügt werden sollte. Du bist gegangen, bevor die Arbeit vollendet war, doch sie haben weitergemacht. Der Stab ist noch nicht fertig, und der Kristall wurde erst vor ein paar Tagen fertiggestellt. Ich habe ihn… an mich gebracht. Ich hatte das Gefühl, dass er in deinen Händen mehr nützt als in einem verstaubten Regal.” Er berührte das Kopfstück ihres zerbrochenen Stabes. Das Holz, das den Kristall beherbergte, bog sich auf wie eine lebende Ranke, akzeptierte das Ersatzstück und wand sich um den neuen Kristall. Er legte den alten Kristall, der nach all den Belastungen, die er ausgehalten hatte, fast nur noch aus Rissen und Brüchen bestand, in seinen Beutel.

Myranda konnte spüren, wie sich der neue Kristall auf sie auswirkte. Als sie den Stab in die Hand nahm, klarte ihr ermüdeter Geist auf, als ob der Stab ihr einen Teil der Belastung abnahm, die sie bedrückte.

„Ein Unterschied wie Tag und Nacht, nicht wahr?”, sagte Deacon. „Es ist gar nicht so lange her, dass ich meinen eigenen Meisterkristall erhielt. Erst ein paar Jahre. Warte bis zum Morgen, wenn du dich ein bisschen erholt hast. Dinge, die dir unmöglich waren, werden jetzt sehr gut möglich sein, und was dir vorher gelang, wird überhaupt keine Anstrengung mehr erfordern.”

„Das ist beeindruckend”, sagte Myranda gähnend und aß den Rest ihres Apfels. „Deacon, morgen sollten wir die Stadt erreichen. Du hast nicht zufällig etwas Gold bei dir?”

Sein Gesichtsausdruck war Antwort genug.

„Ist ja auch egal. Wir werden uns etwas ausdenken”, sagte sie, lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Deacon betrachtete sie, während sie einschlief. Er machte sich wegen dutzender verpasster Gelegenheiten und Fehler Vorwürfe. Nicht nur Dinge, die er vergessen hatte, mitzubringen, Pläne, die er nicht gemacht hatte, sondern auch Dinge, die er nicht gesagt hatte und Dinge, die er lieber nicht hätte sagen sollen. Selbst jetzt befand er sich noch in dem verwirrenden Geisteszustand, der ihn seit jenem schicksalsträchtigen Tag, an dem Myranda aus Entwell verschwunden war, geplagt hatte.

Er sprach einen kurzen Zauber, um einige seiner Schmerzen zu lindern, die er bei dem Sturz erlitten hatte. Seine linke Hand prickelte, denn sie war taub vor Kälte. Er spannte sie ein paar Mal an, bis das Gefühl verging. Vorsichtig formte er Sätze in seinem Kopf. Er musste vorsichtig sein. Es musste alles richtig sein. Morgen würde er seine Dummheit wiedergutmachen. Morgen…

Myranda erwachte lange vor dem Morgengrauen. Deacon hatte überhaupt nicht geschlafen. Sie aßen die beiden übrigen Äpfel und machten das Feuer aus. Myranda hängte sich den Köcher und den Bogen um und steckte die Dolche ein, und sie gingen weiter. Sie spürte, dass etwas anders war. Deacon war still, und das Buch und sein Stift blieben im Beutel. Er rollte seinen Kristall in einer Hand hin und her und blickte nachdenklich in die Ferne.

„Stimmt etwas nicht, Deacon?”, fragte sie.

„Da ist… etwas”, antwortete er zögernd.

„Was denn?”, fragte sie besorgt.

Deacon hielt an; Myranda drehte sich zu ihm um. „Ich bin nicht sicher, ob dies der richtige Zeitpunkt ist“, sagte er, „aber… seit ich dich getroffen habe… habe ich vieles getan, das ich nicht verstehe. Dinge, die keinen Sinn für mich ergaben. Dinge, die ich nicht hätte tun sollen. Ich wusste, dass sie falsch waren, töricht, unmöglich; aber ich konnte nicht anders. Ich habe nicht verstanden, was passiert. Du weißt, dass meine Wahl der grauen Magie dazu geführt hat, dass ich wenige Freunde unter den Magiern von Entwell fand. In der Tat habe ich dort mein ganzes Leben verbracht, doch es gibt nur eine Handvoll Menschen dort, denen ich mich anvertrauen würde. Ich habe lange mit ihnen über diese Krankheit gesprochen. Dieser elende Geisteszustand. Einige hörten mir nicht zu. Nur Calypso schien es irgendwie zu verstehen, doch sie war sehr vage in ihren Äußerungen. Sie schien zu denken, dass ich ihren Rat nicht akzeptieren würde, wenn sie ihn mir direkt geben würde. Sie hatte recht. Aber es ist auch egal…”

Myranda wurde nicht schlau aus seinen Worten. Sie klangen wie eingeübt, doch es schien ihn all seine Kraft zu kosten, sie auszusprechen. Während er sprach, spielte er immer weiter mit seinem Kristall, nahm ihn in die andere Hand, legte ihn in seinen Beutel, um seine Hände zu kneten, und zog ihn wieder heraus.

„Logik hat mein ganzes Leben bestimmt. Zauber folgten einer eleganten Ordnung. Ein Ding folgte auf ein anderes, und immer aus einem bestimmten Grund. Doch was mir geschah, war anders. Es hatte keinen Grund. Mein Mentor Gilliam hatte mich am Anfang meiner Lehre gewarnt, dass es ein Ding in der Welt gibt, das keiner Regel folgt und keinem Gesetz gehorcht. Dieses Ding, sagte er, sei die stärkste Kraft auf der ganzen Welt. Er hat mir nie erklärt, wovon er sprach, welche Kraft das sei. Ich weiß es jetzt. Myranda…”, sagte Deacon. Trotz der Kälte lief ihm Schweiß von der Stirn herab.

Der Kristall fiel zu Boden. Myranda beugte sich nieder, um den Stein für Deacon aufzuheben. Er streckte die Hand aus, um sie aufzuhalten. Sie schnappte nach Luft und fuhr zurück. „Deine Hand!”, schrie sie.

„Das macht nichts. Ich muss dir noch den Rest sagen!”, sagte er bittend.

„Deacon, deine Hand!”, wiederholte sie, griff nach seinem Handgelenk und zog seine linke Hand hoch.

„Myranda, ich… das… das ist interessant”, sagte er, als er den Grund für ihre Sorge sah.

Seine Hand war nur noch halb vorhanden. Der Rest war so verblasst, dass er kaum noch zu sehen war, wie eine schwache Spiegelung. Er versuchte, sie mit der anderen Hand zu ergreifen, doch er griff mitten durch seine eigene Hand durch, als wäre sie gar nicht mehr da. Hastig zog er seinen Ärmel hoch. Die Veränderung wuchs schon an seinem Arm empor. Myranda griff in Panik nach dem Kristall, der auf dem Boden lag, und drückte ihn Deacon in die rechte Hand. Mit Hilfe ihres verbesserten Stabes versuchte sie herauszufinden, was der Grund für diesen schrecklichen Vorgang war, doch sie konnte nichts entdecken. Auf der mystischen Ebene war alles, wie es sein sollte. Als ob es vollkommen natürlich sei.

„Was ist da los? Was kann ich tun?”, fragte sie.

„Ich bin mir noch nicht sicher”, antwortete Deacon.

Er klang ausgesprochen ruhig, und in seinen Augen stand nichts als Faszination. Er schloss sie und konzentrierte sich auf einen Zauber. Die Transparenz wuchs langsamer, bis sie sich zurückzuziehen begann. Doch als seine Handfläche endlich wieder kompakt war, schrie er auf. Seine Finger krümmten sich zu einer Klaue und wurden zu schwarzem Stein.

„Es scheint -”, sein Gesicht verzog sich vor Schmerz, „- dass der Beutel nicht das Einzige ist, was durch den unvollendeten Zauber beschädigt wurde.”

„Sag mir, was ich tun soll”, bat Myranda hilflos.

„Ich bin… nicht sicher”, sagte er.

Plötzlich verschwand das schwärzliche, steinerne Aussehen seiner Hand, doch stattdessen wuchsen ihr ein paar zusätzliche Finger. Deacon seufzte vor Erleichterung, als er begriff, was vor sich ging. „Der Schmerz ist verschwunden. Das ist… das ist Chaos. Natürlich. Chaosmagie ist der einzige Bereich, für den es in Entwell nie einen Meister gegeben hat. Die Beeinflussung der Wahrscheinlichkeit muss in diesen Bereich fallen. Natürlich tut sie das!”

„Kannst du es aufhalten?”, fragte sie.

Die überzähligen Finger verschwanden und die Hand verwandelte sich halb in etwas anderes, bevor sie ihre natürliche Form wieder annahm. Als das geschah, legte er sich seinen Kristall in die Hand. Augenblicklich begann er, von innen heraus hell zu leuchten. Ein Moment verging, dann noch einer. Die Hand blieb normal.

„Was hast du getan?”, fragte sie.

„Ich… erzwinge Normalität. Die Einflussnahme auf Wahrscheinlichkeit hat, wie es aussieht, meine Hand von Grund auf verändert. Es scheint, als ob sie den Gesetzen der Logik nicht mehr gehorcht. Sie springt von einer Seite der Unwahrscheinlichkeit zur nächsten. Sie ist jetzt von Natur aus unberechenbar”, erklärte er.

„Wie bist du so schnell zu einer Erklärung gekommen?”, fragte sie. Die Ausführlichkeit und Überzeugung seiner Erklärung verwirrte sie.

„Ich… hatte gefolgert, dass dies eine mögliche Folge des Zaubers sein könnte”, antwortete er.

„Und du hast es trotzdem getan? Warum würdest du so etwas tun?!”, schrie sie.

„Es war der einzige Weg, zu -”, begann er.

„Sag mir nicht so was! Wir wissen beide, dass du nichts als Zeit brauchtest! Du bist hochbegabt! Du hast dein Leben riskiert und dir diese… Verletzung zugefügt, und wofür? Weil du ungeduldig warst? Weil du nicht nachgedacht hast? Weil -”, brüllte Myranda.

„Weil ich dich liebe!”, rief Deacon zurück.

Myranda verstummte fassungslos.

„Deshalb konnte ich nicht klar denken! Das ist die Krankheit, von der Calypso gesprochen hat, die Kraft, von der Gilliam sprach! Alles, woran ich denken konnte, warst du! Ich musste bei dir sein. Alles andere war egal und ist es immer noch!”

Der Druck, unter dem er so lange gestanden hatte, entlud sich in seinen Worten. Myranda sah ihm in die Augen. Sie waren voller Gefühl – und Erleichterung.

„Wenn ich nicht so ein Narr wäre, hätte ich es früher gemerkt. Ich hätte es dir gesagt, bevor du weggingst. Ich wäre mit dir gegangen. Aber es war mir damals nicht klar. Jetzt ist es mir klar”, gab er zu.

„Deacon“, sagte sie, „… ich fühle das Gleiche. Natürlich tue ich das. Mein ganzes Leben habe ich mich danach gesehnt, jemanden wie dich überhaupt nur kennen zu dürfen. Ich hatte mir eingeredet, dass es so einen Menschen nicht gibt. Die Zeit, die ich mir dir in Entwell verbracht habe, war wie im Paradies. Mit jemand zusammen zu sein, der sich um mich sorgt, der intelligent ist… alles, was ich mir je erhofft hatte. Ich nehme an, ich habe es auch nicht begriffen, sonst wäre ich geblieben.”

„Nein. Du musstest gehen. So hat es sein sollen. Ich bedaure meine Entscheidung nicht, und du solltest es auch nicht”, sagte er.

Myranda trat auf ihn zu und umarmte ihn. Er schlang seine Arme um sie. Sie hielten einander für eine kleine Weile, bevor sie sich trennten. Die Aufgabe, die ihnen bevorstand, konnte nicht länger warten.

„Kannst du deine Hand heilen?”, fragte sie.

„Nun, wahrscheinlich nicht auf die gleiche Art, wie sie verletzt wurde. Wie du dir wahrscheinlich vorstellen kannst, ist die Chaosmagie von Natur aus unberechenbar. Es ist gut möglich, dass es ein Heilmittel gibt, aber fürs Erste muss ich mich mit dem behelfen, was ich habe”, sagte er und griff in seinen Beutel. „Eine zusätzliche Verzauberung sollte den Zweck erfüllen. Ich brauche nur etwas… etwas, das ich nicht festhalten muss, oder aus Versehen zurücklasse.”

„Einen Moment… vielleicht ist es Zeit, den neuen Kristall zu testen”, sagte Myranda.

Sie zog einen Pfeil aus dem Köcher und schnitt die Pfeilspitze mit dem Dolch aus seiner Halterung. Dann schwang sie ihren Stab und ließ die Pfeilspitze los. Sie hing vor ihr in der Luft. Sie erinnerte sich an einige der Lehren aus Entwell und erhitzte die Pfeilspitze, bis sie zu einem weißglühenden Tropfen zusammenschmolz. Mit ihren Gedanken formte sie den Tropfen zu einem Ring, gab ihm eine Verzierung, zog das überflüssige Metall von ihm ab und formte es zu einem zweiten, einfacheren und noch dünneren Ring. Dann kühlte sie die Ringe mit einem Gedanken und ließ sie in ihre Hand fallen.

„Genial. Und meisterhaft”, sagte Deacon bewundernd, als sie ihm den einen der beiden Ringe gab. „Damit hättest du in Entwell eine Prüfung bestanden, würde ich sagen. Du wärest eine gute Lehrerin geworden.”

„Ist das ausreichend? Wird er die Verzauberung annehmen?”, fragte sie.

„Eine normale Pfeilspitze vielleicht nicht, aber die, die wir in Entwell herstellen, eignen sich sehr gut”, sagte er und überlegte einen Moment, bevor er die passende Verzauberung über den Ring sprach. Er steckte ihn auf seinen Finger und nahm seinen Kristall langsam mit der anderen Hand. Selbst ohne den konstanten Gegeneinfluss des Kristalls blieb die Hand unverändert. Sie seufzten erleichtert. Myranda steckte sich den anderen Ring an.

„Nein. Warte einen Moment”, sagte Deacon und zog ihr den Ring ab. „Du hast mir ein Geschenk gemacht. Das Wenigste, was ich tun kann, ist die Geste zu erwidern.”

Er wob einen zweiten Zauber, dann nahm er ihre Hand in die seine. Mit all dem Respekt und der Ehrerbietung, die eine solche Tat verlangte, steckte er ihr den Ring an den Finger.

„Ein uralter Schutzzauber, einer der ältesten in der Geschichte von Entwell. Dieser Zauber lag auf Azriels Halskette, als sie mein Geburtsland entdeckte. Möge er dir das gleiche Glück bringen, das es ihr gebracht hat”, sagte er.

Als sie endlich aufbrachen, waren beide glücklicher als in all den Tagen zuvor. Die Kälte machte ihnen nichts mehr aus. Die Dunkelheit der Nacht war nicht länger bedrückend. Die Landschaft war noch genauso eisig und gnadenlos wie zuvor, doch jetzt gab es keinen Ort, an dem sie lieber gewesen wären. Sie unterhielten sich angeregt, als hätte es die Monate der Trennung nie gegeben.

Deacon war voller Staunen angesichts seiner ersten Schritte in diese riesige Welt, die ihm vollkommen neu war. Die Weite und Einsamkeit faszinierte ihn, und Myranda erzählte ihm Geschichten über Orte, die er wohl bald sehen würde. Er freute sich sehr auf ihre Ankunft in der Stadt.

Hin und wieder sahen sie auf die Karte, jedoch nicht, um den Weg zu finden. Ein Blick darauf hatte für Myrandas geübten Orientierungssinn ausgereicht, um die Richtung zu wissen. Es waren nicht die Städte auf der Karte, die sie interessierten, sondern die Beschriftungen. Deacon betrachtete die Formen und Symbole fasziniert. Es war ungewohnt für ihn, eine Sprache nicht zu kennen. Es waren dieselben Schriftzüge wie auf den Büchern und Notizen aus Demonts Arbeitszimmer, hin und wieder von bekannten Worten und Begriffen begleitet. Er warf sich kopfüber in die Entzifferung dieser neuen Runen.

„Ihre Struktur ist ganz anders als die aller anderen Sprachen, die ich je gesehen habe”; sagte er. Ein Haufen Bücher und verschiedener Notizen hingen vor ihm in der Luft, in ihrer Mitte die zusammengefaltete Karte. „Er benutzt sie für Ortsnamen, Fachausdrücke, Zauber… ja. Dies ist zweifellos ein Zauber. Ich denke, das könnte der wahre Zweck dieser Symbole sein. Bemerkenswert… eine Sprache, die zuerst für Zauber geschaffen wurde und danach erst für Kommunikation.”

„Wie ist das möglich?”, fragte Myranda.

„Nun, diese Runen hier besitzen unverkennbar mystische Kraft. Die restlichen sind anders. Schwach… es ist… es ist, als ob es nicht eine Sprache ist, sondern mehrere. Fünf… ein Dutzend… mehr als das. Ein Mischmasch aus Sprachen, von denen mir keine bekannt ist. Was wissen wir über diese Rasse, diese D’karon?”, fragte Deacon.

Schon bevor Myranda herausgefunden hatte, dass sie eine der Erwählten war, waren die D’karon ihre Feinde gewesen. Sie konstruierten Bestien, kommandierten Armeen und woben perverse und grausame Zauber. Von den fünf Generälen ihrer Heimat, des Nordbundes, schienen alle bis auf einen dieser dunklen Rasse anzugehören. Doch trotz ihres unübersehbaren Einflusses und Myrandas wiederholter Konfrontationen hatte sie nur eine schwache Ahnung über ihre Herkunft und ihre Natur.

„Nur, dass sie nicht von dieser Welt stammen”, sagte sie.

„Ich wage die Vermutung, dass sie nicht von einer einzelnen Welt kommen”, sagte er. „Die Art, wie diese Worte miteinander kollidieren, ungleichmäßige und unpassende Sätze bilden, weist auf eine Vermischung verschiedener Kulturen hin. Das ist fantastisch.”

„Das kannst du alles aus ihrer Schrift erkennen?”, fragte sie fasziniert.

„Es gibt nichts Verräterischeres als die Sprache eines Volkes. Einen Moment… Ja. Es ergeben sich Muster. Siehst du? Hier. Dies ist ein Zauberbuch, glaube ich, und alle Seiten enden mit diesem Symbol oder einer Variation davon. Dieses andere Buch - es sieht aus wie ein Notizbuch - trägt dieses Zeichen nicht. Es gehört ausschließlich zu den Zaubern. Wie eine Art Startsatz. Es ist möglich, dass dieses Zeichen, wenn es irgendeinen Satz in dieser Sprache begleitet, einen mystischen Effekt auslöst”, dachte er laut.

„Was ist das?”, fragte Myranda und zeigte auf eine Form mit Runen darunter auf der Karte, die sich tief in einer Bergreihe befand.

„Ich bin nicht sicher. Warum?”, fragte er zurück.

„Ich weiß, dass es dort nichts gibt. Keine Stadt. Nichts. Und es sieht genauso aus wie dieses andere Zeichen, hier in diesen Bergen. Das ist, wo ich Fia gefunden habe. Und das gleiche Zeichen hier, wo wir gerade weggegangen sind”, sagte sie.

„Die Festungen der D’karon!”, sagte er und faltete die Karte ganz auseinander.

Was sie sahen, war erschreckend. Sie waren überall. Wie schwarze Flecken auf der Karte prangten diese Zeichen in jedem Tal, auf jedem Berg, an jedem Ort, der weit genug von neugierigen Augen entfernt war. Manche Festungen, die sie als Stützpunkte der Nördlichen Armee kannte, trugen das Zeichen. Das Schlimmste war, dass es auch auf der Nördlichen Hauptstadt prangte. Viel weiter nördlich, am oberen Ende der Karte, fanden sie noch eins.

Die Festung, die sie gerade zum Einsturz gebracht hatten, hatte sie fast das Leben gekostet, und jetzt sahen sie so viele andere. Diese unerfreuliche Erkenntnis trieb sie mit neuerlicher Dringlichkeit an. Deacon hatte bis jetzt Glück gehabt. Er hatte noch vor keinem dieser Generäle gestanden, und er hatte ihre Bestien nur tot angetroffen, doch Myranda wusste nur zu gut über die Dinge Bescheid, derer sie fähig waren, und zu wissen, wie tief ihre Wurzeln gingen, erschreckte sie zutiefst. Sie lief so schnell, dass sie fast rannte, und dachte an nichts anderes als daran, wie sie die anderen einholen konnte. Deacon lief hinter ihr her, wobei er hin und wieder stolperte, da seine Aufmerksamkeit zwischen dem Boden und dem Haufen unentzifferbarer Notizen geteilt war.

Außer den Papieren und Artefakten, die vor ihm herschwebten, hatte er noch einige andere Dinge über seine Schultern gelegt und unter die Arme geklemmt, auf denen bekannte Symbole neben fremden gemalt waren. Vielleicht waren sie der Schlüssel zu den Geheimnissen dieser Sprache,  indem sie ihm ihre Gemeinsamkeiten aufzeigten und vielleicht einen Hinweis ergaben, wie er am besten vorgehen sollte.

Das Licht des Tages kam und ging. Der westliche Himmel leuchtete nur noch schwach, als Myranda und Deacon eine winzige Stadt erreichten. Ein Blick aus der Ferne genügte, um ihnen zu verraten, dass die Zerstörung der Festung die Kleinstadt in helle Aufregung versetzt hatte. Wahrscheinlich hatten die Stadtbewohner nicht einmal gewusst, dass eine Festung in ihrer Nähe lag, bis am vergangenen Tag die schwarze Rauchsäule aus dem Feld aufgestiegen war. Der Ort war viel zu klein für eine ständige Stadtwache, doch die Straßen wimmelten von Leuten, die sich hastig bewaffnet hatten. Selbst wenn Myranda keine gesuchte Feindin des Staates gewesen wäre, hätte sie nicht einfach so, wie sie jetzt aussah und gekleidet war, in die Stadt hineinwandern können. Außerdem schien es hier keinen Pferdehändler zu geben. Alle Pferde waren wahrscheinlich in Privatbesitz oder gehörten Besuchern. Jemand, dem sie ein Pferd abkauften, würde an diesem Ort festsitzen.

Myranda stand eine Weile still, während sie überlegte. Deacon nutzte die Gelegenheit erst einmal dazu, sich in Demonts neueste Notizen zu vergraben, doch bald fiel ihm auf, dass Myranda sorgenvoll dreinblickte. Als er nachfragte, erklärte sie ihm die Situation. Er konnte das Problem überhaupt nicht nachvollziehen, da sein Leben in Entwell völlig anders gewesen war. Dort fragte man einfach, wenn man etwas brauchte. Selbst das war selten nötig. Für alles war gesorgt. Er verstand auch nicht, warum ihnen die Stadtbewohner misstrauen sollten, wenn sie zu Fuß in die Stadt liefen und so aussahen, als hätten sie gerade Schlimmes durchgemacht. Vor allem eins wollte ihm nicht in den Kopf.

„Aber du bist eine Erwählte. Du versuchst doch nur, zu den anderen Erwählten zurückzukehren und dich wieder an deine Aufgabe zu machen, die Welt zu retten. Die Stadtbewohner würden dir doch sicher alles anbieten, was du brauchst?”

„In dieser Gegend gilt die Prophezeiung als ein Märchen”, erklärte Myranda.

„Ich… verstehe”, sagte Deacon. Er versuchte es tatsächlich, doch es fiel ihm schwer. „Nun, wie auch immer. Du solltest dir keine Sorgen machen. Wenn du es nicht riskieren kannst, dich in der Stadt zu zeigen, dann werde ich erledigen, was getan werden muss. Sag mir, was du brauchst, und ich werde es besorgen.”

„Deacon, ich weiß nicht, ob du dafür bereit bist. Wir müssen einfach eine andere Stadt finden”, sagte Myranda und dachte nach.

Deacon sah Myranda an und wurde ernst. „Myranda, ich bin hergekommen, um dir nützlich zu sein, und das werde ich auch tun. Sag mir, was du brauchst, und wo ich dich treffen soll. Du kannst mir vertrauen.”

Myranda zögerte, doch dann gab sie nach.

„Sei vorsichtig und steck den Kristall weg. Es gibt hier nicht viele Magier. Vermeide Magie, so gut du kannst”, warnte sie ihn. Dann erklärte sie, was sie brauchten.

Ein paar Minuten später ging Deacon in die Stadt. Er wusste, dass er wenigstens ein Pferd brauchte, besser noch zwei, und genug Essen für eine Woche. Er hatte keine Ahnung, wie er daran kommen sollte - doch das war ihm recht egal. Myranda sah ihm nervös nach, bevor sie sich auf Umwegen um die Stadt herum zu ihrem Treffpunkt aufmachte. Deacon war sicher ein fähiger Magier, doch hier war er nicht in seinem Element. Sie fing an zu planen, wie sie und Deacon den Leuten entkommen konnten, die ihn unweigerlich verfolgen würden, und wie sie die anderen erreichen konnten.