Teil I. Pachacuti, der Veränderer der Welt
Die dumpfen Schritte der Männer waren jetzt im Thronsaal deutlich zu vernehmen. Stark und selbstbewusst klangen sie. Wie eine Lawine, die auf ihrem Weg ins Tal alles mit sich riss und von keiner Macht aufzuhalten war. Immer näher kamen sie. Das Echo des drohenden Geräusches hallte durch die Gänge und verunsicherte die versammelten Männer. Dem Inka trat man barfuß gegenüber, die Fremden würden es doch nicht wagen, ihre Sandalen anzubehalten? Die schwüle Luft verstärkte noch die Spannung, die wie ein drohendes Gewitter in der Luft hing. Die große goldene Sonne, die an der Wand angebracht war, spendete mit ihren warmen Strahlen diesmal keinen Trost. Es schien, als ob dunkle Wolken des Zweifels, der Verunsicherung, ja der Angst die Kraft der Sonne zum Erliegen brachten. Alle Augen blickten erwartungsvoll zum großen Herrscher Viracocha, doch dessen Mienenspiel verriet nichts von den Gedanken, denen er gerade nachhing. Starr und ohne mit der Wimper zu zucken, blickte er auf die Tür. Da der Inka völlig regungslos saß, bewegte sich auch sein wunderbarer Kopfschmuck nicht, die Krone Mascapaicha, leuchtend rote Quasten, die an kleinen Goldröhrchen befestigt waren und an einem bunten Band hingen, welches fünfmal um den Kopf des Herrschers gewunden war. Nur wer genauer hinsah, bemerkte, dass sich die Hände des alten Mannes krampfhaft um die Lehne seines Stuhles schlossen.
Sein Lieblingssohn und Mitregent, Prinz Urcon, konnte seine wachsende Nervosität nicht so gut verbergen. Unruhig wippte er mit den Beinen auf und ab und spielte nervös mit dem goldenen Ohrstecker seines rechten Ohres. Der Schweiß brach in der schwülen Atmosphäre aus seinen Poren und die Feuchtigkeit auf seinem fetten Leib verstärkte noch sein Unwohlsein. Urcon mochte den Palast in Cuzco nicht. Er weilte viel lieber in Pisac, wo Viracocha auf einer Anhöhe eine uneinnehmbare Festung, Caquia Jaquiahuana, hatte erbauen lassen. Dort genoss der Prinz mit seinem alternden Vater die Freuden des Lebens. Urcon interessierte sich nicht besonders für die Geschäfte des Reiches, er hatte einzig und allein Liebesabenteuer im Sinn.
Doch jetzt erforderte es eine gefährliche Entwicklung der politischen Lage, dass Inka Viracocha und sein Sohn Urcon in Cuzco anwesend sein mussten. Die Chanca, die Todfeinde der Inka, hatten die Gunst der Stunde genützt. Während sich Viracocha und Urcon in ihrem Palast in Pisac mit ihren Konkubinen vergnügten, hielten die Chanca die Zeit für gekommen, den Entscheidungskampf gegen die Inka zu wagen. Ihre beiden Regenten, Hastu Huaranca und Tomayu Huaranca, gingen davon aus, dass die Macht ihres Volkes nun groß genug sei, um das Reich der verhassten Sonnensöhne zu vernichten. Deshalb hatten sie beschlossen, den Inka den Krieg zu erklären, und ein riesiges Heer aufgestellt.
Urcon biss sich krampfhaft angespannt auf die Lippe und zupfte wiederum an seinem Ohrläppchen. Boten aus den Grenzregionen sprachen von hunderttausend Kriegern. „Das kann einfach nicht stimmen! So viele Männer unter Waffen können die Chanca doch nicht aufbieten“, ließ Urcon seinen Gedanken freien Lauf. Energisch straffte er sich und musste plötzlich lächeln. „Die Bauern sind sicher beim Anblick der Feinde panisch davongelaufen und haben die Zahlen maßlos übertrieben.“ Aber dass die Chanca einen Angriff auf das mächtige Tahuantinsuyu, das Land der vier Weltgegenden, wie die Inka ihr Land nannten, wagten, stimmte Urcon doch nachdenklich. Und noch etwas beunruhigte ihn aufs Äußerste. Die Chanca hatten den strategisch wichtigen Vilcanoga-Pass überschritten und der Weg nach Cuzco stand für sie offen. Außerdem hatten sie so überraschend schnell angegriffen, dass noch nicht genügend Krieger in Cuzco versammelt waren, dass man erfolgreich an Widerstand denken konnte. Und jetzt erwarteten Urcon und sein Vater, der große Inka Viracocha, eine Gesandtschaft der Chanca. Was würden die Abgesandten von Hastu Huaranca und Tomayu Huaranca fordern? Urcon würde es bald erfahren, denn in diesem Augenblick betraten die Männer aus Chanca den Thronsaal.
Stolz und scheinbar ohne Furcht näherten sich zehn vor Selbstbewusstsein strotzende Männer dem Inkaherrscher. Ihre Augen versprühten die Blitze des nahenden Sieges und ihre Gesichtszüge waren starr und unnachgiebig. Sie trugen prächtige Gewänder aus Vikunjawolle, die mit Gold- und Silberschmuck sowie bunten Federn exotischer Vögel verziert waren. Diese Kleidung deutete auf die hohe gesellschaftliche Position der Abgesandten hin. Die sorgfältig gekämmten schwarzen Haare waren zu einem Zopf geflochten, der unter einem Kopfschmuck, welcher an eine Federkrone erinnerte, auf den Rücken der Männer fiel. Die Chancakrieger fühlten sich anscheinend nicht als Unterhändler, sondern schon als die zukünftigen Herren von Cuzco. Wie auf ein Kommando blieben jetzt alle gleichzeitig stehen, nur der Anführer, ein kraftvoller Recke, ging, ohne seine Schritte zu verlangsamen, weiter. Erst kurz vor dem Inkaherrscher deutete er eine leichte Verbeugung mit dem Kopf an. Welch eine Beleidigung für Viracocha, der es gewohnt war, dass sich seine Untertanen, ja selbst die hohen Würdenträger nur mit gebeugtem Rücken näherten. Wegen der tödlichen Gefahr für sein Reich saß er ausnahmsweise mitten unter seinen höchsten Ratgebern. Gewöhnlich verbarg ein Vorhang das Antlitz des Inkaherrschers, denn sein göttliches Angesicht durfte ein gewöhnlicher Sterblicher nur in Ausnahmefällen erblicken. Ein Leibwächter trat energisch vor, um den Frevler in die Schranken zu weisen, doch Viracocha winkte ärgerlich ab. Der Chanca straffte seinen Körper und begann mit lauter Stimme: „Ehrwürdiger Viracocha!Die mächtigen Herrscher des Chanca-Reiches, Hastu Huaranca und Tomayu Huaranca, senden Euch aufrichtige Grüße. Wir Chanca haben die Waffen gegen Euch erhoben und sind bisher auf keinen ernsthaften Widerstand gestoßen. Alle unsere Feinde sind beim Anblick unseres unbesiegbaren Heeres, dessen Krieger so zahlreich sind wie die Steine der Berge, Hals über Kopf davongelaufen, so wie das Lama, wenn es den Puma wittert. Wir haben uns unaufhaltsam wie eine Lawine den Weg über Gebirge und durch Täler gebannt und lagern nun am Vilcanoga-Pass. Der Weg nach Cuzco steht uns offen. Um ein sinnloses Blutvergießen zu vermeiden, fordern wir von Euch die bedingungslose Kapitulation. Ihr habt Eure Waffen niederzulegen, uns das Inkareich und Eure Hauptstadt Cuzco auszuliefern und die unumschränkte Oberherrschaft der Chanca anzuerkennen. Erfüllt Ihr diese Bedingungen, sind wir Euch wohlgesonnen und erlauben Euch, in einem Eurer Paläste außerhalb Cuzcos zu leben. Lehnt Ihr aber unser Angebot ab, werden wir mit unserem siegreichen Heer nach Cuzco marschieren, die Stadt dem Erdboden gleichmachen und alle Inka als Gefangene mit uns führen. Dies, ehrwürdiger Inka, ist die Botschaft, die unsere mächtigen Herrscher Euch mitzuteilen haben. Hastu Huaranca und Tomayu Huaranca bitten Euch, ihre Vorschläge anzunehmen, damit die Waffen ruhen mögen und alle Menschen friedlich im mächtigen Chanca‑Reich leben können. Wir erwarten morgen, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat, Eure Antwort.“
Die atemlose Stille, die dieser Rede folgte, war mit den Händen greifbar. Viracocha verriet mit keiner Miene, was er zu tun gedachte. „Wir werden das Angebot, welches Ihr uns überbracht habt, prüfen. Jetzt begebt Euch auf Eure Zimmer, stärkt Euch und ruht Euch aus. Morgen werdet Ihr erfahren, wie wir entschieden haben“, antwortete der Inka schließlich mit leiser Stimme. Schon der Klang seiner Worte ließ erkennen, dass Viracocha nicht kämpfen wollte. In diesem Augenblick hatte er das Reich seiner Ahnen bereits aufgegeben. Er wollte nur noch sein Leben und das seines Lieblingssohnes Urcon retten. Der Chanca verneigte sich kurz, drehte sich siegessicher um und verließ mit seinen Leuten den Thronsaal. Ihre Schritte klangen in der sich wieder ausbreitenden resignierenden Stille des Saales viel beschwingter als noch wenige Minuten zuvor. Minuten, die das Schicksal des Inkareiches besiegelt hatten. So dachten zumindest die meisten Anwesenden. Jeder hing bedrückt seinen Gedanken nach, alle blickten beschämt zu Boden. So war also das Ende.
„Nein, niemals!“, zerriss plötzlich ein Aufschrei die brütende Stille. „Wir dürfen das Erbe unserer Ahnen nicht ohne Gegenwehr aufgeben! Wir müssen kämpfen! Was ist mit unserer Ehre? Lieber sterben, als ein Sklave der Chanca zu sein!“ Alle Köpfe blickten in die Richtung des mutigen Sprechers. „Hat Cusi Yupanqui während der drei Jahre, die er als Lamahirte auf dem Lande zubringen musste, verlernt, dass auf dem Hofe in Cuzco Sitte und Anstand herrschen?“, zischte Urcon giftig seinen jüngeren Bruder an. „Unser weiser und gütiger Vater, Inka Viracocha, wird schon wissen, was zu geschehen hat. Schließlich hat er viel mehr Erfahrung in heiklen diplomatischen Angelegenheiten als du Lamahirte.“ Urcon hatte noch das selbstbewusste Auftreten der Chanca in unliebsamer Erinnerung. Er wollte sein Leben retten. Lieber auf das Reich Tahuantinsuyu verzichten als auf seine Vergnügungen. Regierungsgeschäfte und die Pflichten eines Herrschers waren Urcon seit jeher verhasst. Wenn er weiterhin mit seinen Frauen und Konkubinen in Frieden in Pisac das süße Leben genießen konnte, war er sogar bereit, die Herrschaft über sein Vaterland den Chanca zu überlassen. Die kühne und mutige Wortmeldung seines verhassten Bruders konnte ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Urcon wollte nicht kämpfen und sterben. Er musste seinen Vater überzeugen, dass die Flucht nach Pisac die beste Entscheidung war. Dort ließ es sich in Sicherheit leben, selbst wenn die Chanca Pisac angreifen würden. Der Caquia-Juquihuana-Palast bot allen erdenklichen Luxus und galt als uneinnehmbares Adlernest. Nein, Urcon durfte nicht zulassen, dass Cusi Yupanqui die zaudernden Inka überzeugte, dass sie kämpfen müssten.
„Hört auf, euch zu streiten!“, ergriff Viracocha das Wort, „die Lage ist ernst genug. Wir müssen einen kühlen Kopf behalten und in Ruhe überlegen, wie wir weiter vorgehen. Harte und unüberlegte Worte helfen uns nicht. Hier im Thronsaal ist die Luft zu stickig. Jeder soll auf sein Zimmer gehen und darüber nachdenken, was wir den Gesandten aus Chanca antworten sollen.“ „Ganz einfach, wir schlagen ihnen die Köpfe ab und schicken diese ihren Herrschern. Das wird die Chanca lehren, in Zukunft keine unverschämten Forderungen mehr zu stellen“, rief Cusi Yupanqui den Anwesenden zu. Ablehnendes Zischen, aber auch beifälliges Gemurmel war zu hören. „Schweig, Cusi!“, donnerte Viracocha „Verlass auf der Stelle den Raum! Wer hat dir übrigens die Erlaubnis erteilt, Chita zu verlassen und nach Cuzco zurückzukehren? Du bist immer noch ein Verbannter. Verschwinde aus meinen Augen! Urcon, du kommst mit mir. In meinen Privatgemächern können wir uns ungestört beraten.“ „Und unsere Heimat den Chanca ausliefern!“, schrie Cusi Yupanqui enttäuscht und verbittert seinem Vater nach, bevor er zornig seine Fäuste ballte und auf sein Zimmer stürmte. Panik brach im Thronsaal aus. Nachdem Inka Viracocha offensichtlich beschlossen hatte, sich den Feinden zu ergeben, dachten auch die meisten hohen Würdenträger nur noch daran, ihr Heil in der Flucht zu suchen.
Cusi Yupanqui fühlte sich elend. Cuzco sollte an die Feinde verloren werden. Nie würde er solch eine schmähliche Tat zulassen. Ja, er war unerlaubt aus Chita zurückgekehrt. Aber nur, weil er von Boten erfahren hatte, dass sich ein riesiges Heer der Chanca auf Cuzco zubewegte. In diesem Augenblick der höchsten Gefahr musste er einfach zurück in seine Heimatstadt. Und nun diese erniedrigende Beleidigung durch die Chanca. Aber was konnte er tun? Er war nur einer der vielen Söhne des Herrschers und hatte auf die Entscheidungen, die sein Vater treffen würde, keinen Einfluss. So zerwühlte er mit seinen kräftigen Fingern die wollene Bettdecke und warf sich unruhig auf seiner Lagerstatt hin und her. „Diese Feiglinge, die nur ihr Leben retten wollen! Ihre Weiber, mit denen sie sich vergnügen, haben wahrscheinlich viel mehr Ehre im Leib als mein Bruder und mein Vater. Ha, Bruder und Vater, wie ich die beiden verachte. Ich schäme mich dafür, ein Inka zu sein. Ehe ich mich als Gefangener von den Chanca abführen lasse, fliehe ich in die Berge. Hätte doch mein Vater so viel Mut wie früher. Aber Urcons Mutter, diese falsche Schlange Cori Chulpa, hat Viracocha verhext. Er ist völlig ihren Reizen verfallen. Nur so konnte es kommen, dass Vater diesen Bastard Urcon zu seinem Mitregenten ernannt und bereits jetzt zu seinem Nachfolger erklärt hat. Urcon aber genießt nur die schönen Dinge des Lebens, aufgeblasen und fett, wie er ist. Dass Vater nun auf diesen Feigling hört, hätte ich mir nicht träumen lassen. Tod und Schande über euch!“, keuchte Cusi Yupanqui und warf seine Decke mit einem zornigen Aufschrei gegen die Wand. Ein plötzlicher Schatten ließ ihn zusammenzucken. Da trat sein älterer Bruder, Tupac Huarochiri,der Huillac Umu, der Hohepriester des Sonnentempels, durch die Tür in Cusi Yupanquis Zimmer. „Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe, das war nicht meine Absicht. Darf ich eintreten? Ich muss unbedingt mit dir sprechen. Nach dem, was sich heute im Thronsaal ereignet hat, ist schnelles Handeln erforderlich. Vater will nicht kämpfen und wird Cuzco den Chanca ausliefern. Zurzeit hat er schon den Befehl erteilt, alle nötigen Dinge zusammenzupacken und nach Pisac bringen zu lassen. Er und Urcon werden wahrscheinlich heute im Schutz der Dunkelheit aus Cuzco fliehen. Cusi, ich denke so wie du! Wir dürfen unsere Heimat den Chanca nicht kampflos ausliefern. Aber ehe wir etwas unternehmen, müssen wir überlegen, ob es Sinn hat, den aussichtslosen Kampf zu wagen.“ „Danke, Bruder, dass du zu mir kommst. So gibt es wenigstens noch jemanden, der Ehre in seinem Herzen trägt. Aber was können wir zwei schon gegen diese Übermacht ausrichten? Wenn es doch mehrere Männer gäbe, die denken wie wir!“ Tupac Huarochiri ließ sich langsam auf dem niedrigen Hocker nieder, der im Zimmer stand, und musterte seinen Bruder. „Cusi, glaubst du wirklich, dass wir den Kampf gegen die Chanca wagen sollen? Oder hat dein unfreiwilliges Exil in Chita deine Sinne getrübt? Sprichst du vielleicht solch mutige Worte nur aus, um Vater und Urcon zu erniedrigen? Willst du ihren Tod, damit du in Cuzco herrschen kannst?“ „Etwa als Handlanger der Chanca! Tupac, was hältst du von mir? Was Viracocha und Urcon machen, ist mir gleichgültig. Sie sollen sich in ihrem Mauseloch in Pisac verkriechen. Wenn ich nur tausend tapfere Krieger hätte, würde ich Cuzco schon zu verteidigen wissen. Die Mauern unserer Stadt sind unüberwindlich, das weißt du so gut wie ich. Selbst wenn die Chanca tatsächlich hunderttausend Mann unter Waffen haben, mit tausend beherzten Männern ließe sich Cuzco so lange halten, bis aus den Provinzen genügend Krieger mobilisiert wären, um die Angreifer vertreiben zu können. Hätte ich doch nur tausend Gleichgesinnte!“ Cusi Yupanqui war aufgesprungen und wanderte ruhelos im Zimmer auf und ab. Immer wieder stieß er die Faust gegen seine offene Handfläche. Tupac Huarochiri erkannte den entschlossenen Ausdruck im Gesicht seines Bruders. Jetzt öffnete der Hohepriester seine Arme und sprach: „Du sollst die tausend Mann bekommen, Cusi!“ Ungläubig drehte dieser sich um: „Was sagst du da? Lüg mich nicht an!“ „Ich sagte, du sollst die tausend Mann bekommen. Mehr haben wir im Augenblick nicht. Aber Chasquis sind schon im ganzen Reich und zu unseren Verbündeten unterwegs, um alle verfügbaren Krieger nach Cuzco zu holen. Du hast in Chita zu Recht befürchtet, Vater könnte nichts gegen die Chanca unternehmen. Er hat bis zuletzt gezaudert und keine entsprechenden Befehle erteilt. Nur wegen seiner Untätigkeit hat es so weit kommen können, dass unsere Feinde jetzt den Vilcanoga‑Pass überschritten haben und Cuzco bedrohen. Aber nicht alle hier haben diese Politik ruhig hingenommen. Zwar durften ohne Vaters Zustimmung keine Männer alarmiert werden, aber die Vorkehrungen dafür wurden schon seit einiger Zeit heimlich getroffen. Unser besonnener Bruder Roca und die erfahrenen Feldherren Apo Mayta und Vicaquirao haben ebenfalls beschlossen, Widerstand bis zum Äußersten zu leisten. Du, als Angehöriger des Königsgeschlechtes, sollst die Verteidigung leiten. Ich habe den Auftrag erhalten, dich von unseren Plänen in Kenntnis zu setzen, falls ich dich für würdig erachte, unser Befehlshaber zu sein. Cusi Yupanqui, der Angesehene, mache deinem Namen alle Ehre und führe uns an. Wir wollen lieber sterben, als Sklaven der verhassten Chanca zu werden!“ Cusi Yupanqui riss erstaunt die Augen auf und stürzte seinem Bruder in die Arme. „Tupac, ich danke dir. Ich danke dir für dein Vertrauen. Zwar bin ich noch jung, Apo Mayta und Vicaquirao haben viel mehr Erfahrung im Kriegsdienst als ich. Aber wenn ihr meint, ich solle euch anführen, dann erfüllt mich dieser Auftrag mit großem Stolz und ich sehe es als eine große Ehre an. Das werde ich euch nie vergessen. Deine Worte erfüllen mich mit neuer Zuversicht. Nun, da ich weiß, dass es gleichgesinnte und zu allem entschlossene Männer gibt, bin ich überzeugt, dass es uns gelingen wird, Cuzco erfolgreich zu verteidigen und unsere Feinde zu besiegen.“ Cusi Yupanqui löste sich wieder von seinem Bruder. „Los, führe mich zu Apo Mayta und Vicaquirao, damit ich mit ihnen die ersten nötigen Schritte besprechen kann!“
Die beiden Inkabrüder verließen Cusi Yupanquis Zimmer und machten sich auf den Weg, die beiden in Ehren ergrauten und durch viele Schlachten gestählten Feldherren aufzusuchen. Überall im Palast war die Panik, die die meisten Inka erfasst hatte, mit den Händen greifbar. Hastende Männer und Frauen strebten mit ihren Dienern dem Ausgang zu und trafen Anstalten, Cuzco vor dem Eintreffen der Chanca zu verlassen. Die Gesandtschaft der Chanca war nirgendwo zu erblicken, doch Cusi Yupanqui konnte sich ausmalen, dass sie über die Entwicklung der Lage im Bilde waren. Wahrscheinlich würden sie mit reichlich Chicha, einer Art Maisbier, schon jetzt ihren Sieg feiern. „Sollen sie nur“, dachte Cusi, „dann merken sie nicht, dass es noch entschlossene Männer gibt, die ihnen einen Strich durch ihre Rechnung machen werden.“
Cusi Yupanqui und Tupac Huarochiri trafen ihren Bruder Roca und die beiden Feldherren auf einem Beobachtungsturm der mächtigen Stadtmauer. Zyklopische Felsblöcke waren in jahrelanger mühevoller Arbeit herangeschafft und aufgetürmt worden. Es schien, als ob die Götter den Inka Beistand geleistet hätten, um dieses gigantische Bauwerk zu vollenden. Hier heroben waren die Männer ungestört. Bevor er zu sprechen begann, blickte sich Cusi Yupanqui um. Die Häuser der Stadt sahen von diesem Aussichtspunkt aus, als ob sie nur Spielzeug wären. In den Straßen eilten verstörte Menschen umher. Die Bewohner Cuzcos spürten die Unruhe, die vom Palast ausging. Immer mehr hohe Beamte, ja selbst Anführer des Militärs bereiteten sich auf die Flucht vor. Die wichtigsten Ausfallstraßen der Stadt waren bereits verstopft. Aber so war es ja immer: Schlechte Nachrichten fanden ihren Weg selbst durch verschlossene Türen und waren schneller als ein Buschfeuer. Da erblickte Cusi Yupanqui die goldene königliche Sänfte. Inka Viracocha wollte tatsächlich die Flucht ergreifen. Eine große Anzahl von Leibwächtern bahnte dem Herrscher und seinem Gefolge einen Weg durch das Gedränge. „Der Inka flieht! Die Chanca kommen! Alles ist verloren! Rette sich, wer kann!“ Die verstörten Schreie, die die Einwohner von Cuzco ausstießen, als sie das Gefolge des Inka erblickten, konnten die Männer auf dem Befestigungsturm vernehmen. „Lauft nur davon, ihr Feiglinge“, murmelte Cusi Yupanqui leise vor sich hin, „wir werden den Chanca schon zeigen, dass es Inka gibt, die so tapfer kämpfen wie der Puma.“ Dann wandte er sich den Männern zu, die etwas abseits von ihm standen und ihn genau be-obachteten. „Seid gegrüßt, ehrenwerte Feldherren, Apo Mayta und Vicaquirao! Ebenso erfreut bin ich, dich zu sehen, mein geliebter Bruder Roca! Inti, unser mächtiger Sonnengott, möge euch beschützen.“ Die angesprochenen Männer erwiderten den Gruß und folgten seiner Handbewegung, näher zu treten. „Ich bedanke mich für die Ehre, die ihr mir erwiesen habt, indem ihr mich zu eurem Anführer auserkoren habt. Teilt mir bitte eure Vorschläge mit, wie wir unser geliebtes Tahuantinsuyu am besten retten können. Welche Maßnahmen sollen zuerst ergriffen werden?“ Cusi Yupanqui ermutigte die Feldherren zu sprechen. „Deine Worte im Thronsaal waren Balsam auf die Wunden der Schmach, die die Chanca mit ihren Beleidigungen meinem Herzen zugefügt haben“, begann Apo Mayta und Vicaquirao nickte zustimmend. „Ich bin schon alt und habe viele Jahre unserem Inka Viracocha und dessen Vater, Inka Yahuar Huacac,treu gedient. Doch heute vergoss meine Soldatenseele blutige Tränen. Unser Inka hat leider seinen ganzen Mut verloren. Ihr, Prinz Cusi Yupanqui, habt uns alle mit neuer Zuversicht erfüllt. Mein Arm ist vielleicht nicht mehr so stark, um die Streitaxt zu schwingen, und mein Auge nicht mehr so scharf, um mit einer Huaraca, der Wurfschleuder, einen gezielten Wurf zu tun, aber die Erfahrungen meiner jahrelangen Kriegszüge und die Ratschläge meines Freundes Vicaquirao werden dazu beitragen, die schamlosen Feinde zu besiegen. Viele Bewohner Cuzcos können sich noch an den tapferen und unbekümmerten Prinzen Cusi Yupanqui erinnern. Wenn die Leute erfahren, dass Ihr wieder in der Stadt seid, werden sie ihre verlorene Zuversicht wieder bekommen.“ „Ich danke Euch für die herzlichen Worte“, erwiderte der Prinz, doch was sollen wir Eurer Meinung nach zuerst tun?“
Ein bitterer Schrei der Verzweiflung ließ die Männer zusammenfahren und zur Stadt blicken. Inka Viracocha und sein Gefolge hatten soeben das Stadttor passiert und Cuzco verlassen. Doch nicht nur der Herrscher, sein Sohn Urcon und ihre vielen Frauen hatten die Flucht ergriffen, sondern auch viele hohe Würdenträger, zahlreiche Befehlshaber und Krieger schlossen sich dem fliehenden Inka an und schwächten dadurch die ohnehin geringe Verteidigungskraft Cuzcos. Wie eine kopflose Masse irrten zahlreiche Männer und Frauen durch die Straßen und Gassen. Es war selbst von hier heroben zu spüren, dass die Leute eines energischen Anführers bedurften, der ihnen sagte, was sie tun sollten. Langsam, wie ein gespenstischer Nebel, machte sich in der Stadt Panik breit. Eine zahllose Menge strömte zum Palast, während andere zum Sonnentempel zogen.
Vicaquirao räusperte sich: „Als Erstes müssen wir die aufkommende Panik im Keim ersticken. Wir müssen den Befehl geben, die Stadttore zu schließen und diese von zuverlässigen Kriegern bewachen lassen. Niemand darf ohne ausdrücklichen Befehl die Stadt verlassen oder betreten. Ich werde sogleich meiner Garde die entsprechenden Anweisungen erteilen. Diesen Männern kann ich bedingungslos vertrauen. Der Hohepriester des Sonnentempels soll zum Heiligtum eilen und durch ein Opfer die Gnade Intis erflehen. Seine Anwesenheit im Tempel wird auf die Menge beruhigend wirken. Prinz Roca, geht bitte zum Palast. Euer Erscheinen wird die Leute beruhigen. Sie werden dann wissen, dass nicht alle Ayllu, Angehörige der Inkafamilie, geflüchtet sind. Doch Prinz Cusi Yupanqui hat die gefährlichste Aufgabe vor sich. Er muss mit einem kleinen Gefolge durch die Straßen und Plätze der Stadt gehen und versuchen, die Frauen und Männer zu beruhigen. Viele Menschen haben Vertrauen zu ihm. Wenn ihn die Leute erkennen, wird sich die Lage wieder normalisieren. Prinz, sprecht zu ihnen, erteilt Befehle, vor allem aber verlangt, dass die Einwohner in ihre Häuser zurückkehren. Die Männer sollen ihre Waffen überprüfen und sich morgen eine Stunde nach Sonnenaufgang vor dem Sonnentempel einfinden. Euer Weg durch die Stadt ist nicht ungefährlich, denn in der sich ausbreitenden Panik ist es leicht möglich, dass ihr von der Masse nicht erkannt, niedergestoßen, verletzt oder sogar getötet werdet. Darum wird Euch Apo Mayta mit seinen besten Kriegern begleiten. Geht alles gut, treffen wir uns eine Stunde vor Sonnenuntergang im Königspalast wieder. Ich wünsche uns allen viel Glück!“ Die angesprochenen Männer eilten davon, in der Hoffnung, ihre Vorhaben würden gelingen.
Wenig später schritten Cusi Yupanqui und seine Begleiter durch die Straßen von Cuzco. In dem hektischen Gewühle war ein Fortkommen beinahe unmöglich. Der Inkaprinz rief allen Vorbeihastenden freundliche Worte zu. Bald zeigten sich die ersten positiven Anzeichen, denn einige Leute wurden aufmerksam. „Cusi Yupanqui ist zurück! Er wird uns helfen! Inti sei Dank, das ist unsere Rettung! Cusi, Cusi, Cusi!“, erscholl es von allen Seiten. Die Menschen drängten sich heran, um ihren Hoffnungsträger zu berühren. Cusi ging zielstrebig auf den großen Marktplatz und stellte sich auf den Rand eines Brunnens. Mit lauter Stimme sprach er von seiner erhöhten Position zu den versammelten Bewohnern Cuzcos und machte ihnen neuen Mut. „Jetzt, wo Cusi Yupanqui zurückgekehrt ist, wird alles gut gehen. Wir werden die Chanca schon besiegen.“ Mit diesen Worten der Zuversicht zerstreute sich einige Zeit später die Menge. Die waffenfähigen Männer hatten zugesagt, sich am nächsten Tag zeitgerecht zum Treffpunkt am Sonnentempel einzufinden. Auf dem Weg zum Palast spürten Cusi Yupanqui und Apo Mayta, dass sich die Stimmung in der Stadt langsam besserte. Die ärgste Panik wich langsam einer sich ausbreitenden Hoffnung, die Häuser strahlten wie ihre Bewohner wieder den Keim der Zuversicht aus. Man wollte sich nicht in das Schicksal fügen wie ein Opfertier, sondern sich seiner Stärken besinnen und den Angreifern mit der Waffe in der Hand entgegentreten.
Der riesige Königspalast wirkte verlassen. Hatte noch am Morgen geschäftiges Treiben die zahllosen Gänge und Räume erfüllt, herrschte nun gähnende Leere. Nur ab und zu sah man einen verlorenen Schatten durch die Anlage hasten. Die Abgesandten der Chanca saßen in ausgelassener Stimmung in einem Raum zusammen und begossen den Erfolg ihrer Mission mit Chicha. „Inka Viracocha und Urcon sind aus Cuzco geflüchtet. Wir sind praktisch schon die neuen Herren von Tahuantinsuyu. Unsere beiden Herrscher werden mit uns sehr zufrieden sein. Dass die Inka solche Feiglinge sind, hätte ich trotzdem nicht für möglich gehalten.“ Die Gespräche der Männer waren von freudiger Erwartung geprägt. Was sollte nun noch schiefgehen. Ja, bald würden die Chanca das mächtigste Volk unter der Sonne sein. Immer wieder riefen die Männer nach den Dienern, damit diese mehr Chicha brachten. Gerade war ein weiterer Krug geleert und der Anführer der Chanca brüllte: „Ihr Faulpelze dort draußen! Wir haben Durst! Bringt etwas zu trinken! Wir wollen feiern!“ Immer fordernder und bedrohlicher klangen seine Worte. Wer hätte es ihm verdenken können, schließlich war es nur noch eine Frage von Stunden oder höchstens Tagen, bis die Chanca die neuen Herren hier im Palast des Inka waren. „Wo bleibt die Chicha! Wenn nicht sofort etwas zu trinken gebracht wird, werdet ihr mich kennen lernen!“, grollte der Chanca.
Da betrat ein junger, hochgewachsener Mann den Raum. Sein ganzes Wesen erweckte nicht den Eindruck, dass es sich um einen Bediensteten handelte. Mit einem Male saßen die Männer ganz still und musterten den Fremden mit zusammengekniffenen Augen. Die feuchtfröhliche Ausgelassenheit wich einer nervösen Angespanntheit. „Was willst du hier? Bringst du uns etwas zu trinken?“, herrschte ihn der Anführer an, nachdem dieser seinen ersten Schrecken überwunden hatte. Irgendwie strahlte der Unbekannte eine unsichtbare Macht aus, die auf den Chanca bedrohlich wirkte. „Nein, Amaru, ich bringe keine neue Chicha, aber etwas anderes“, antwortete der Neuankömmling und um seine Mundwinkel huschte ein flüchtiges Lächeln. Er hatte bemerkt, dass die Stimmung im Raum nach seinem Auftauchen merklich abgekühlt war. Die Siegesgewissheit der Gesandten hatte sich jäh verflüchtigt. „Warum kennst du meinen Namen und was willst du hier? Scher dich fort oder du wirst unsere Macht kennen lernen!“ Mit einem betont strengen und forschen Auftreten wollte Amaru wieder Herr der Lage werden. Doch das gelang ihm nicht, denn der junge Fremde ließ sich nicht einschüchtern. „Los, Männer, ergreift ihn!“, brüllte Amaru, doch noch ehe einer seiner Begleiter auf die Beine kam, betraten einige gut bewaffnete Inkakrieger den Raum. „Wir sind Abgesandte der Herrscher von Chanca und genießen diplomatischen Schutz“, protestierte Amaru, der die gefährliche Entwicklung der Lage erkannt hatte. „Aber ihr benehmt euch nicht wie Unterhändler, sondern ihr stellt maßlose Forderungen. Eure Zeit in Cuzco ist abgelaufen. Ich, Prinz Cusi Yupanqui, toleriere euer Benehmen nicht mehr. Wenn die Chanca Krieg wollen, sollen sie ihn bekommen. Wir sind zum Kämpfen bereit und weisen eure Forderungen, die ihr dem Inka unterbreitet habt, auf das Energischste zurück. Wir Inka wollen lieber sterben als eure Sklaven werden. Sagt das euren Anführern. Verlasst innerhalb einer Stunde die Stadt. Wenn ihr nach Sonnenuntergang noch in Cuzco angetroffen werdet, behandle ich euch nicht mehr als Abgesandte, sondern als Kriegsgefangene. Ihr, Amaru, habt mein Volk und mich durch Euer Auftreten im Thronsaal tödlich beleidigt. Wenn ich Euch auf dem Schlachtfeld begegne, dürft Ihr von mir keine Gnade erwarten. Nun geht! Diese Krieger hier“, damit wies Cusi Yupanqui mit einer ausladenden Handbewegung auf die bewaffneten Inka, „werden euch sicher zum Stadttor geleiten.“ Noch ehe Amaru Protest einlegen konnte, drehte sich der junge Inkaprinz würdevoll um und verließ den Raum. Die Chanca sandten ihm aus ihren Augen giftige Blitze nach, aber sie hatten keine Wahl. Grollend standen sie auf, suchten ihre Habseligkeiten zusammen und machten sich auf den Weg. Nun würden sie mit ihrer riesigen Übermacht an Kriegern Cuzco angreifen und erobern müssen. „Diesem Cusi Yupanqui werden seine Worte noch leidtun“, dachte sich Amaru, während er und seine Männer durch die Straßen der Stadt schritten. Ihre Siegeszuversicht hatte allerdings einen kleinen Dämpfer erlitten.
Die Schreie der jungen Frau wurden stärker. Ihre Stirn war schweißgebadet. „Ja, weiter so, fest pressen, dann hast du es bald überstanden.“ Eine neuerliche heftige Wehe ließ Qoylyor schmerzhaft zusammenfahren. Aber sie presste tapfer weiter, so wie es ihr ihre Mutter Chanan Koka geraten hatte. „Gut, das machst du gut so, mein Stern“, ermunterte Koka ihre Tochter. Rund um die Liegestatt Qoylyors standen mehrere Frauen, die Tücher und Wasser bereithielten. Eine alte Frau trug die kleine Statue einer Schutzgottheit in den Händen und murmelte beschwörende Worte. Inmitten des ganzen Trubels huschten überall auf dem Boden Meerschweinchen umher und suchten nach Getreidekörnern. Eine weitere Wehe erschütterte die werdende Mutter. Qoylyor keuchte schwer und presste tapfer im Rhythmus der Wehen. Dann ließ sie sich erschöpft zurückfallen. „Nicht aufgeben, weitermachen!“ Beruhigend und zugleich fordernd tönte Kokas Stimme durch den Raum. Immer kürzer hintereinander stellten sich die Wehen ein. Chanan Koka konnte keinerlei Zeichen feststellen, dass Komplikationen zu befürchten wären. Den Göttern sei Dank. Was für ein Tag für eine Geburt! Überall außerhalb des Hauses waren Zeichen der Unruhe zu bemerken gewesen, seit die Unterhändler der Chanca aufgetaucht waren. Die schlimmsten Gerüchte schwirrten herum. Von der Flucht des Inka war die Rede gewesen. Doch für all das, was in der Stadt vor sich ging, hatte Chanan Koka keine Zeit, seit am frühen Nachmittag die ersten Wehen bei Qoylyor eingesetzt hatten. Ihre ganze Konzentration galt jetzt der bevorstehenden Niederkunft ihrer Tochter. Die Männer würden nachher schon erzählen, was im Palast des Inka und in Cuzco vorgefallen war. Wieder erschütterte eine heftige Welle den Körper der jungen Frau. „Ich kann den Kopf schon erkennen, nur noch ein klein wenig, dann hast du es geschafft! Bei der nächsten Wehe presst du so fest, wie du kannst!“ Wie hinter einem Nebelschleier vernahm Qoylyor die Stimme. Ihre Hände hielten sich krampfhaft an den Schultern ihrer Mutter fest. Eine Nachbarin stemmte sich gegen den Rücken Qoylyors, um diese bei ihren Bemühungen zu unterstützen. Da, eine weitere Wehe stellte sich ein. Qoylyor atmete stoßweise und hatte plötzlich das Gefühl, als ob ihre Gedärme zerrissen würden. Mit einem qualvollen Schrei auf den Lippen presste sie ein letztes Mal und dann überkam sie ein unbeschreibliches Glücksgefühl. „Es ist ein Junge. Ein hübscher kleiner Kerl“, hörte sie die Frauen freudig durcheinander rufen. Im selben Moment zeigte das Neugeborene, dass es auch gesund und kräftig war, denn sein lautes Protestgeschrei übertönte alle anderen Geräusche. Qoylyor lächelte erschöpft, aber überglücklich. Chanan Koka nahm den neuen Erdenbürger und wusch ihn sorgfältig mit kaltem Wasser. Das, so glaubte man, würde die Kinder an Kälte und Mühsal gewöhnen und ihre Glieder stärken. Aus demselben Grund wickelte man die Arme des Säuglings. Danach wurde der Junge in Schals gehüllt und in eine Wiege gelegt. Erst jetzt bekam die junge Mutter das Neugeborene, um es zu stillen. Doch selbst dabei blieb das Kind in der Wiege, denn eine Inkamutter nahm ihr Baby nie in den Arm oder auf den Schoß. Die erfahrenen Mütter meinten, intensive Zärtlichkeiten würden nur bewirken, dass die Kinder unablässig schreien würden. Qoylyor war versucht, ihr Baby ganz nah zu sich zu legen, aber die Vernunft siegte. So betrachtete sie ihren kleinen Sohn, während dieser gierig an ihren Brüsten saugte. „Was wird nur aus dir werden, wenn jetzt Krieg und Not herrschen“, dachte die junge Mutter bekümmert, „ich werde dich jedenfalls immer beschützen und nie verlassen.“
Eine der Frauen ging zur offenen Haustür und rief den nervösen Vater herein. Poma stürmte aufgeregt in das Zimmer, umarmte seine Frau und betrachtete stolz seinen Sohn. „Ist er nicht schön?“ Glückselig reichte Qoylyor die Wiege ihrem Mann. „Er sieht noch ein bisschen runzlig aus, aber das wird sich in ein paar Tagen legen.“ Erleichtert atmete Poma auf, als er die Worte seiner Schwiegermutter vernahm. „Er ist ganz der Vater. Er hat deine Gesichtszüge und wird dir sicher viel Ehre machen.“ Poma jubelte innerlich, dann stürzte er mit seinem Sohn ins Freie, zeigte ihn stolz seinen Freunden und rief: „Jetzt wird gefeiert! Alle sind zu einem großen Festmahl und reichlich Chicha eingeladen.“ Mit beifälligen Worten näherten sich die Männer und gratulierten dem jungen Vater. Poma brachte die Wiege ins Haus zurück und holte einen Krug voll mit Chicha. Bevor er den ersten Schluck tat, dankte er mit einer demütigen Bewegung den Göttern und vergoss einige Tropfen des Getränkes als Opfergabe an die Unsterblichen. Dann setzte er den Krug an die Lippen, trank mit tiefen Zügen und reichte schließlich das Gefäß dem Nächststehenden. Alle ließen der Reihe nach die jungen Eltern und das Neugeborene hochleben. Die Männer saßen auf dem sandigen Boden und zogen ihre Umhänge aus Lamawolle fest um sich. Sie hatten ein paar Fackeln angezündet, denn die Sonne war bereits hinter den Bergen verschwunden und in der Nacht konnte es in diesen großen Höhen empfindlich kalt werden. Noch bevor der Chicha zur Neige ging, erschien Chanan Koka mit einem weiteren Krug. „Trinkt nur und freut euch! Nur noch ein wenig Geduld, dann ist das Essen fertig. Wo ist eigentlich mein Mann?“, fragte sie, nachdem sie sich in der Runde umgeschaut hatte. „Curaca Huaranca hat das Warten nicht mehr ausgehalten und ist in die Stadt gegangen. Er wollte erfahren, welche Neuigkeiten es gibt. Hier in Quilliscancha schwirren die Gerüchte über den Angriff der Chanca und die Flucht des Inka nur so herum. Angeblich soll auch Cusi Yupanqui aus seiner Verbannung zurückgekehrt sein. Curaca Huaranca hat sich aufgemacht, damit er sich Klarheit verschaffen kann. Er hat versprochen, gleich zurückzukommen, wenn er etwas Neues erfahren hat.“ „Das sieht ihm wieder ähnlich. Was gibt es heute Wichtigeres als die Geburt seines Enkels. Nun gut, er ist der Häuptling und hat auch andere Pflichten. Auch ich bin schon gespannt, was an den Gerüchten dran ist. Wenn Cusi Yupanqui tatsächlich hier in Cuzco ist, scheint mir die Lage nicht allzu schlimm zu sein.“ Nach diesen Worten verschwand Chanan Koka wieder im Haus. Bald darauf brachten die Frauen den feiernden Männern einige Teller und Schalen mit dampfendem Mais, Kartoffeln und Quinoa, einer genügsamen Getreidesorte. Daneben wurden unterschiedliche Chilisorten, Guaven, Tomaten, Avocados, verschiedene Kürbissorten, Bohnen, Maniok und Erdnüsse aufgetragen. Zur Feier des besonderen Ereignisses wurde ausnahmsweise Fleisch gereicht, das nicht von den allgegenwärtigen Meerschweinchen stammte. Curaca Huaranca hatte den Befehl gegeben, ein Lama zu schlachten. Lamafleisch ist sehr wohlschmeckend, da aber die Lamas als Lasttiere gehalten und wegen ihrer Wolle kostbar waren, kamen die meisten Menschen nur äußerst selten zu diesem Genuss. Darum griffen alle herzhaft zu und lobten ihren großzügigen Gastgeber, der gerade rechtzeitig zum Essen erschien.
Nachdem sich alle die Bäuche vollgeschlagen hatten, begann der Häuptling zu berichten. Ja, Inka Viracocha und die meisten hohen Würdenträger hätten aus Angst vor den Chanca die Stadt verlassen. Mit deren Angriff sei in Kürze zu rechnen. Zum Glück sei Cusi Yupanqui tatsächlich nach Cuzco geeilt. Er habe ihn selbst gesehen und sprechen gehört. Alle waffenfähigen Männer sollten sich morgen nach Sonnenaufgang zum Sonnentempel begeben. Cusi Yupanqui, seine Brüder Roca und Tupac Huarochiri und die beiden Feldherren Apo Mayta und Vicaquirao hätten sich entschlossen, Widerstand zu leisten und das Reich Tahuantinsuyu zu verteidigen. Diese Nachricht stimmte die Männer nachdenklich. Das bedeutete Krieg. Noch schlimmer aber war, dass die Übermacht der Chanca beinahe erdrückend war. Wie sollten so wenige gegen so viele etwas ausrichten können? Trotzdem, es war noch immer besser, einen ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfeld zu finden, als ein Leben unter der Knute der Chanca zu führen. Oder sollte man dem Beispiel des Herrschers folgen und Cuzco verlassen? Diese Möglichkeit verwarfen die Männer sogleich wieder. Früher oder später wäre man in diesem Fall doch ein Gefangener der Chanca geworden. Die Männer versprachen Curaca Huaranca, sich rechtzeitig am nächsten Morgen einzustellen. Nach Feiern war niemandem mehr zumute. Auch Poma dachte sorgenvoll an die Zukunft und wie das Leben seines Sohnes werden würde. Als hätte er die Gedanken seines Schwiegersohnes erraten, trat Curaca Huaranca zu ihm, packte in an der Schulter und sprach: „Wir sorgen schon dafür, dass deinem Sohn nichts passiert. Hier in Quilliscancha werden sich die Chanca die Zähne ausbeißen. Wir werden jedes Haus erbittert verteidigen. Die Gassen sind eng, da können die Chanca mit ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit nicht so viel ausrichten. Nun lasst uns schlafen gehen, wir werden unsere Kräfte in den nächsten Tagen noch brauchen.“
Da drängte sich die alte Wahrsagerin Tanta Carhua nach vorne. „Ich kann ergründen, ob die Götter uns gewogen sind. Curaca Huaranca erlaubt mir bitte, dass ich einen Blick in die Zukunft werfe.“ Die Männer schauderten vor diesem Gedanken, aber schließlich überwog die Neugier und man forderte die Wahrsagerin auf, die übernatürlichen Mächte zu befragen. Tanta Carhua setzte sich und füllte mit geheimnisvoll beschwörenden Worten und Gesten zwei kleine, mythisch verzierte Gefäße mit Kohle und zündete diese an. Mit leisem Gesang versuchte die Alte, die Geister zu rufen. Unentwegt kaute sie dabei Kokablätter und atmete den Rauch ein, der von den brennenden Gefäßen aufstieg. Die Männer und Frauen umstanden sie ehrfurchtsvoll. Durch kein noch so leises Geräusch wagte man die magische Handlung zu stören. Immer schneller wurde der Gesang der Alten. Die Flammen züngelten in der Dunkelheit. Alle Augen waren auf die beiden hellen Feuerscheine gerichtet. Da vernahmen plötzlich alle Anwesenden eine geheimnisvolle, übernatürlich klingende Stimme. Die Geister sprachen zu Tanta Carhua. Atemlose Stille herrschte. Nur das Knistern des Feuers und die leisen Worte waren zu hören. Einige nervenaufreibende Augenblicke später war der Spuk vorbei. Die Wahrsagerin erhob sich vom Boden und sprach zu der vor Spannung reglos lauschenden Menge: „Die Götter sind uns gnädig gestimmt. Cusi Yupanqui wird Cuzco retten und zum Herrscher aufsteigen.“ Allen fiel dank dieser guten Nachricht ein Stein vom Herzen. Doch was war, mit dem zweiten Teil der Botschaft? Hatten sich die Götter geirrt oder die Leute verhört? Cusi Yupanqui konnte doch nicht der neue Inka werden. Wenn sein Vater starb, würde sein Bruder Urcon der alleinige Herrscher sein. Schon jetzt war er der Mitregent seines Vaters. Doch das war nicht das Problem der Einwohner von Quilliscancha. Zuerst musste man die Chanca vertreiben, dann würde man schon sehen, was die Zukunft brachte. Mit neuer Zuversicht erfüllt, aber auch ein bisschen nachdenklich, zerstreuten sich die Leute und suchten ihre Häuser auf.
Zur selben Zeit versammelten sich Tupac Huarochiri, Roca, Apo Mayta, Vicaquirao und Cusi Yupanqui im Königspalast. Apo Mayta blickte zufrieden drein. „Die Stimmung in der Stadt hat sich gebessert, als die Leute Prinz Cusi Yupanqui erkannt haben. Viele sehen in ihm den Hoffnungsschimmer, um die Chanca zu besiegen. Trotzdem wird der Sieg nur äußerst schwer zu erringen sein, denn die Übermacht der Feinde ist erdrückend. Aber ich glaube, wir werden es schaffen.“ Die Übrigen nickten zustimmend. „Wie gehen wir weiter vor?“ Diese Frage plagte den jungen Inkaprinz. Vicaquirao antwortete: „Zunächst einmal müssen wir die Götter befragen, ob sie uns für den bevorstehenden Krieg gewogen sind. Ich bitte den Hohepriester, alles dafür vorzubereiten. Da die Abgesandten der Chanca heute noch die Stadt verlassen mussten, gehe ich davon aus, dass der Angriff sehr bald erfolgen wird. Den morgigen Tag müssen wir daher nützen, um uns auf den Kampf vorzubereiten. Wir haben den Vorteil, das Gelände genau zu kennen. Da uns die Feinde zahlenmäßig überlegen sind, halte ich es für das Beste, die Entscheidung vorerst nicht auf dem Schlachtfeld zu suchen, sondern im Schutz der Stadt abzuwarten, ob wir von unseren Bundesgenossen Hilfe bekommen. Die Stimmung in Cuzco hat sich durch Cusi Yupanquis Erscheinen gebessert, doch könnten viele Krieger dem Beispiel Viracochas gefolgt sein und die Stadt verlassen haben. Darum hoffe ich, dass sich morgen möglichst viele Männer vor dem Sonnentempel einfinden werden. Je mehr waffenfähige Männer erscheinen, desto größer ist die Chance eines Erfolges für uns.“ Apo Mayta unterbrach jetzt seinen Freund und Kampfgefährten: „Die feigen Schwächlinge sind geflüchtet. Morgen werden nur mutige Krieger anwesend sein. Diese sind unsere besten Kämpfer. Daher bin ich optimistisch, dass wir die Chanca abwehren können. Wir müssen den Leuten befehlen, keine unbedachten Handlungen zu wagen, sondern sich auf den Stadtmauern zu verteidigen. Einige tapfere Kundschafter sollen zuvor ausgesandt werden, um alles Wissenswerte über den Gegner zu erfahren.“ Cusi Yupanqui fuhr mit seiner Hand zum Kinn und überlegte. „Eure Ratschläge sind weise. Ich werde sie befolgen. Wir verteidigen die Stadt mit all unseren Kräften. Die Zeit spielt für uns. Je länger die Chanca vergeblich angreifen, desto eher werden uns unsere Verbündeten zu Hilfe eilen. Morgen werde ich den Männern die entsprechenden Befehle erteilen. Doch nun wollen wir die Götter befragen, was die Zukunft bringen wird.“
Die Männer erhoben sich und folgten Tupac Huarochiri in den Sonnentempel. Der Hohepriester hatte bereits die Anweisung gegeben, ein makelloses Lama für die Opferung vorzubereiten. Ein schwarzes männliches Jungtier wurde von einem Priester in den Tempel geführt. Es schien sein Schicksal zu ahnen, denn es zerrte ängstlich an seinem Strick. Doch die Beine des Tieres waren so eng zusammengebunden, dass es keine hastigen Bewegungen machen konnte, sondern nur kleine Schritte. So brachte man es vor die Opferstätte. Auf dem steinernen Altar brannte ein Feuer, das die Szene nur spärlich erhellte. Die Gesichter der Männer leuchteten im flackernden Feuer gespenstisch rot, während goldene Verzierungen an den Wänden immer wieder aufblitzten. Rund um den Opfertisch spielten jüngere Priester einfühlsame Melodien mit ihren Blockflöten. Der aufsteigende Rauch der brennenden Kokablätter und die sanften Töne der Musikinstrumente machten Cusi Yupanqui leicht benommen. Nur mehr leicht verschwommen konnte er die Bewegungen des Hohepriesters wahrnehmen. Dieser ergriff eben ein scharfes Steinmesser, welches man für solche Zeremonien verwendete. Er betete zu Inti, dem Sonnengott, und beschwor ihn, den Inka im Krieg gegen die Chanca beizustehen. Cusi Yupanqui wagte, genau wie die übrigen Männer, kaum zu atmen, denn er wollte die heilige Handlung nicht entweihen. Plötzlich stieß Tupac Huarochiri blitzschnell zu und schnitt die linke Flanke des noch lebenden Lamas auf. Dann riss er mit einer geschickten Bewegung Herz und Lunge des Tieres heraus. Das Blut besudelte das Gewand des Hohepriesters und spritzte auf den Altar und den Boden. Das Herz und die Lunge zuckten wild, als sie in die vorbereiteten Opferschalen gelegt wurden. „Das ist ein besonders günstiges Zeichen“, versprach der Huillac Umu, „der allmächtige Inti verheißt uns den Sieg.“ Zufrieden wendete sich der Hohepriester um und betrachtete die anwesenden Männer. In ihren Gesichtern spiegelte sich die Freude über die erfolgversprechende Prophezeiung. Über ihren Köpfen strahlte eine vergoldete Sonnenscheibe an der Tempelwand und versprach einen großartigen neuen Morgen.
Am nächsten Tag hatten sich zahlreiche Männer vor dem größten Heiligtum Cuzcos, dem Sonnentempel, eingefunden. Natürlich waren auch Curaca Huaranca, Poma und viele andere aus der Vorstadt Quilliscancha gekommen. Im dichten Gedränge machte sich gespannte Stimmung breit und die Gesprächsfetzen, die man vernehmen konnte, drehten sich um den geflohenen Inkaherrscher, um den bevorstehenden Angriff der Chanca und um Cusi Yupanqui. Der ohrenbetäubende Lärm verstummte ganz plötzlich, als der Huillac Umu aus dem Inneren des Tempels trat. Ihm folgten seine Brüder, die Prinzen Roca und Cusi Yupanqui sowie die beiden Feldherren Apo Mayta und Vicaquirao. Der Hohepriester wirkte schon auf den ersten Blick höchst würdevoll. Er trug eine prächtige, ärmellose Tunika und als Zeichen seines hohen Amtes zierte seinen Kopf eine Krone, Vilachuco genannt, auf der das Bild der Sonne prangte. Zusätzlich hatte sich der Huillac Umu mit einem Figürchen der Mondgöttin Quilla geschmückt. Zu dem besonderen Anlass des heutigen Tages waren seine Wangen mit dem bunten Gefieder von Papageien bedeckt. Der Hohepriester schritt gemessen nach vorne, hob den Arm und begann zu sprechen: „Unser geliebtes Tahuantinsuyu schwebt in großer Gefahr. Zürnen uns die Götter und haben sie unseren Untergang beschlossen? Die Chanca sind mit einer mächtigen Kriegerschar aufgebrochen und wollen uns vernichten. Inka Viracocha hat uns schmählich in Stich gelassen und ist mit den Seinen geflohen. Doch in dieser Stunde der höchsten Not ist Prinz Cusi Yupanqui aus seinem Exil zurückgekehrt und möchte unsere Heimat retten. Alle, die ihm im Kampf gegen die Feinde beistehen wollen, mögen das jetzt mit einem Handzeichen kundtun.“ Dabei wies Tupac Huarochiri mit einer beschwörenden Handbewegung auf Cusi Yupanqui. Ein vielstimmiger Schrei als Antwort ließ den Platz erbeben. Curaca Huaranca, Poma und all die anderen Männer fuhren mit ihren Händen in die Luft und riefen: „Prinz Cusi Yupanqui soll unser Anführer sein! Es lebe Cusi Yupanqui!“ Die Rufe donnerten über alle Köpfe hinweg und verdichteten sich zu einem einzigen ohrenbetäubenden Laut. Die Männer brüllten vor Begeisterung, bis ihre Kehlen heiser klangen. Da hob Cusi Yupanqui beide Arme und trat einige Schritte vor. Langsam verebbten die Rufe und atemlose Spannung machte sich breit. Der Prinz verneigte sich leicht vor den versammelten Männern und begann mit lauter, klarer Stimme: „Ich danke euch, ihr tapferen Männer! Wir sind nicht viele, die dem Feind entgegentreten werden. Unsere Bundesgenossen haben Hilfe versprochen. Aber bis diese eintrifft, müssen wir alleine Widerstand leisten und Cuzco mit unserem Blut verteidigen. Ihr habt den Göttern soeben bewiesen, dass es noch mutige Krieger bei den Inka gibt. Deswegen werden sie uns im Kampf beistehen. Der Huillac Umu hat gestern die Götter um ihren Beistand gebeten. Die Zeichen waren günstig, die Götter haben uns den Sieg prophezeit. Mag der Feind noch so zahlreich sein, unsere Herzen sind stark und wir werden so unbarmherzig und furchtlos kämpfen wie ein Puma.“ Die Männer schrien begeistert auf: „Wir werden kämpfen wie der Puma! Führe uns an und wir werden siegen!“ Dann trommelten alle mit den Keulen auf ihre Schilde. Cusi Yupanqui wartete einige Augenblicke, dann machte er wieder ein Zeichen, dass er weitersprechen wollte. Die Männer hielten in ihren Bewegungen inne. „Tapfere Inkakrieger! Geht nun zurück in eure Häuser und bereitet euch auf den Kampf vor. Die Häuptlinge und Anführer erwarte ich nach dem Opfer, das wir dem Sonnengott Inti darbringen wollen, im Palast. Dort werden sie die entsprechenden Befehle erhalten. Jetzt gibt es nur noch Sieg oder Tod!“ Nach diesen Worten trat Cusi Yupanqui zurück und neuerlich brandete der ohrenbetäubende Lärm der Zustimmung gegen den Himmel. Dann verbeugten sich die Männer tief und streckten dabei ihre Arme gerade nach vorn aus. Sie hielten diese einige Zentimeter über ihren Kopf und wendeten die Handflächen nach außen. Nun formten sie ihre Lippen zum Kuss, wobei sie ihre Hände an den Mund führten und die Fingerspitzen küssten. Dieses Zeichen der größten Ehrerbietung galt ihrem Idol Prinz Cusi Yupanqui. Anschließend verließen die Menschen langsam den Platz und gingen zurück in ihre Häuser. Curaca Huaranca und andere Anführer bewegten sich Richtung Palast.
Cusi Yupanqui, Roca, Apo Mayta und Vicaquirao folgten Tupac Huarochiri in das Innere des Sonnentempels. Dort hatten einige Priester bereits alles für die Zeremonie vorbereitet. Wie am vorigen Abend wurde auch diesmal ein Lama geopfert. Danach nahm der Huillac Umu ein Gefäß mit Chicha und reichte dieses Cusi Yupanqui. Der Prinz tauchte einen Finger in das Getränk und versprengte einige Tropfen in Richtung der Sonne und auf die Erde, bevor er selbst einen Schluck trank. „Großmächtiger Inti, verleihe unseren Herzen Mut und Stärke, damit wir die Feinde besiegen können“, betete er um den Beistand des Sonnengottes.
Doch Cusi Yupanqui war selbst die Hilfe Intis zu wenig. In seinem Exil hatte er erfahren, dass viele Indianer dem alten Schöpfergott Pachacamac aus Tiahuanaco eine besonders innige Verehrung entgegenbrachten. Aus diesem Grund beugte er seine Knie und wandte den Blick, nachdem er mit seinem Gefolge den Sonnentempel verlassen hatte, Richtung Himmel und flehte voller Inbrunst zu Pachacamac: „Schenke deinem unwürdigen Diener deinen Segen und beschütze Cuzco vor dem schrecklichen Feind. Ich gelobe dir feierlich, oh großer Schöpfergott des Lebens, dir und deinem Kult in Tahuantinsuyu eine besonders große Wertschätzung entgegenzubringen. Falls du uns den Sieg schenkst, dann verspreche ich, für dich einen Tempel errichten zu lassen, der sich deiner himmlischen Macht würdig erweist. Rette uns vor dem Feind und gewähre uns deine Hilfe, darum bitte ich dich von ganzem Herzen.“ Der Schutz und die Unterstützung Pachacamacs und Intis waren bitter nötig, denn trotz der Bereitschaft der Männer aus Cuzco zu kämpfen, blieben Cusi Yupanqui kaum tausend Krieger, um den Chanca entgegenzutreten. Dann machte er sich mit seinen Feldherren auf den Weg, um zu seinen Anführern zu sprechen.
Cusi Yupanqui redete mit überzeugender Stimme. Diejenigen Unterführer, die noch Zweifel in ihren Herzen gehegt hatten, wurden durch die Ausführungen des Prinzen mit neuer Siegeszuversicht erfüllt. „Wer meldet sich freiwillig, um die Absichten der Chanca auszuspionieren?“ Viele Männer waren dazu bereit, doch Poma schrie am lautesten: „Lasst mich gehen! Gestern haben mir die Götter einen Sohn geschenkt. Das war ein gutes Zeichen. Meine Mission wird deshalb sicher gelingen.“ Cusi Yupanqui winkte den jungen Vater zu sich. „Keine voreiligen Heldentaten! Nimm dir ein paar Männer und dann sieh zu, was du Wichtiges über die Feinde herausfinden kannst. Bringe uns dann davon auf dem schnellsten Weg Kunde!“ Poma verneigte sich gehorsam, suchte sich eine Handvoll Begleiter aus und machte sich auf, um seinen Auftrag zu erfüllen. Die übrigen Männer verließen, nachdem sie ihre taktischen Anweisungen erhalten hatten, ebenfalls den Palast und teilten den Untergebenen mit, wie man den Angriff der Feinde abzuwehren plante.
Einige Stunden später erreichten Poma und seine Begleiter die Ausläufer der Berge. Die Männer nützten die Geländeformen aus, um sich nahezu unsichtbar zu machen. Bis hierher waren sie in einem leichten Laufschritt unterwegs gewesen, doch nun bestand große Gefahr, von den Angreifern entdeckt zu werden. Die Sonne verschwand mit einem dunklen Rot hinter den Kämmen der Anden. Die Kundschafter rasteten einige Minuten, tranken ein paar Schluck Wasser und stärkten sich mit Maisbrot und Dörrkartoffeln. Nachdem die Helle des Tages der Dunkelheit gewichen war, schlichen sie vorsichtig weiter Richtung Vilcanoga-Pass. Die Chanca mussten sich ihres Sieges vollkommen sicher sein, denn nirgends waren Wachtposten aufgestellt. Sie rechneten einfach nicht damit, dass es die Inka wagen würden, in ihre Nähe zu kommen. Poma und seine Leute konnten solche Nachlässigkeiten einfach nicht fassen. Trotzdem blieben sie auf der Hut und vermieden sorgfältig jedes Geräusch. Da hoch am Himmel der Mond stand, trachteten sie danach, im Schatten zu bleiben. Immer höher stiegen die Männer, die schon lange die gut ausgebaute Straße verlassen hatten. Alle waren von Kindheit an gewohnt, sich wie Lamahirten zu bewegen. Darum kamen sie auch im unwegsamen Gelände gut voran.
Schließlich überquerten sie den letzten Hügelkamm und konnten das Heerlager der Chanca überblicken. Was sie sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. So weit das Auge reichte, erblickten sie brennende Lagerfeuer und dicht gedrängt stehende Zelte. „Die ersten Berichte waren leider nicht übertrieben“, flüsterte Poma, „hier sind tatsächlich an die hunderttausend Mann versammelt.“ Wie kann man es nur mit solch einer Übermacht aufnehmen? Dieser Gedanke kreiste in den Köpfen der Kundschafter. Gebannt blickten sie auf die versammelte Macht der Feinde. Lautes Gegröle drang an ihre Ohren. „Wir haben genug gesehen, machen wir, dass wir wieder fortkommen“, meinte einer der Männer. Doch Poma widersprach: „Nein, wir bleiben noch bis morgen Früh. Vor den Chanca sind wir vorläufig sicher. Es dauert sicher Stunden, bis ihr Heer marschbereit ist. Ich möchte abwarten, ob wir bei Tageslicht mehr erkennen.“ Dieser Vorschlag fand die Zustimmung der Männer. Sie hüllten sich eng in ihre Umhängetücher, rollten sich zusammen und schliefen auf dem Boden bis zum Sonnenaufgang.
Die ersten zaghaften Sonnenstrahlen weckten die Schläfer. Bei Tageslicht sah das Feldlager der Feinde noch imposanter aus. Langsam entstand zwischen den Zelten Bewegung. Es ging so geschäftig zu wie in einem Ameisenhaufen. Befehle wurden gebrüllt und die Chanca begannen, ihre Zelte abzubauen. Nachdem dies geschehen war, stellten sich die Krieger marschbereit auf. Da bewegte sich ein seltsamer Zug von der Mitte des Lagers an die Spitze des Heeres. Poma und seine Männer sahen genau hin, um das rätselhafte Schauspiel deuten zu können. Einige kostbar gekleidete Männer trugen eine prächtige Sänfte. Darin saß eine reglose Gestalt, die in Goldgewänder gekleidet und mit funkelnden Smaragden geschmückt war. Wer mochte das nur sein? Die Chanca hatten zwei gleichberechtigte Herrscher, doch von diesen konnte keiner in der Sänfte sitzen, das hätte nur zu Eifersucht, Zank und Hader geführt. Die Chanca mussten jemand anders an der Spitze ihres Heeres tragen. „Wir müssen herausfinden, wer das ist. Das kann für die Kämpfe von entscheidender Bedeutung sein“, besprach sich Poma mit seinen Leuten. Dann erteilte er seine Befehle: „Titu und Huaman laufen zurück und erstatten Bericht. Das Heer der Chanca wird frühestens übermorgen kampfbereit vor Cuzco versammelt sein. Wir anderen versuchen, einen der Chanca gefangen zu nehmen. Dann werden wir erfahren, wer die prächtig gekleidete Person in der Sänfte ist.“ Titu und Huaman brachen sogleich auf, die übrigen Männer be-obachteten den ganzen Tag über das feindliche Heer, das ohne Zwischenfall die weite Ebene vor Cuzco erreichte.
Noch vor der Abenddämmerung errichteten die Chanca bei Ichupampa, ungefähr eineinhalb Tupu von Cuzco entfernt, einen Stützpunkt. Morgen, ja morgen würde man es diesen stolzen Inka schon zeigen. Dann würden die Chanca keine Feinde mehr zu fürchten haben und die unumschränkten Herrscher der Anden sein. Eine Nacht galt es noch zu schlafen, dann würde man den Lohn für die Mühsal dieses Feldzuges erhalten. Viele anstrengende Wochen waren sie unterwegs gewesen, jetzt lag das Ziel greifbar nahe. Wenn die wenigen Inka, die noch nicht geflüchtet waren, das mächtige, unbesiegbare Heer vor ihrer Stadt sahen, dann würden sie sich sogleich ergeben. Der Sieg war schon so gut wie sicher. Wie gesagt, einmal musste man noch schlafen.