Der Figaro - Lutz Spilker - E-Book

Der Figaro E-Book

Lutz Spilker

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Beschreibung

Auf dem Dachboden des elterlichen Bauernhofs fällt Adrian beim gemeinsamen Spiel mit seiner Zwillingsschwester eine Schere in die Hände. Er findet heraus, dass sie mit den Haaren auch Lebensjahre abschneidet, wodurch eine spontane Verjüngung stattfindet. Diese bestimmbare Rückversetzung betrifft lediglich die Person, deren Haare geschnitten werden. Nur sie wird umgehend jünger. Alles andere, wie die aktuelle Zeit, die individuelle Erfahrung und auch das Gedächtnis, ändern sich nicht. Sowohl Adrians Kindheit als auch seine Jugend verlaufen unglücklich, weil ihn sein äußerst gewalttätiger Vater wegen jeder Kleinigkeit misshandelt. Auf dieser Welt war er nicht willkommen, seine Zwillingsschwester hingegen schon. Sie wurde in jeder Weise bevorzugt und wusste diese Position auch auszunutzen. Selbst als junges Ding gab sie sich schon sehr aufreizend. Adrian tritt im Dorf eine Lehrstelle als Friseur an. Es war sein Wunsch, seitdem er die Schere fand. Er hielt es für einen Wink des Schicksals. Später, während eines Besuchs in der Stadt, lernt er die bezaubernde Marielle kennen. Sie heiraten und sie beziehen ein Haus. Marie, wie Marielle allgemein genannt wird, stammt aus einer vornehmen und begüterten Familie. Dadurch erfährt Adrians Leben einen drastischen Kurswechsel, war er doch stets der Bauernbursche. Rasch passt er sich dieser Veränderung an. Mittlerweile hat ihn die Spielsucht fest im Griff. Die aus dieser Leidenschaft entstehenden Verpflichtungen sind immens. Er besinnt sich auf die Fähigkeiten der Schere, die er seit dem Zeitpunkt des Fundes stets bei sich trägt und entwickelt eine Idee.

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Ein Roman

von

Lutz Spilker

DER FIGARO – WAS IST SCHON EIN JAHR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Softcover ISBN: 978-3-384-02475-6

Ebook ISBN: 978-3-384-02476-3

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Die im Buch verwendeten Grafiken entsprechen den Nutzungsbestimmungen der Creative-Commons-Lizenzen (CC).

Sämtliche Orte, Namen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind daher rein zufällig, jedoch keinesfalls beabsichtigt.

Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mit Hilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, sind ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Autors oder des Verlages untersagt.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Vorwort

Kapitel 1 – Volle Kraft rückwärts

Kapitel 2 – Weiter, höher, schneller

Vor einiger Zeit an einem anderen Ort

Zurück zum Geschehen

Kapitel 3 – Streuselkuchen und Kakao

Viele Jahre zuvor

Kapitel 4 – Hörbare Stille

Kapitel 5 – Was nicht tötet, härtet ab

Kapitel 6 – Lolitas neue Kleider

Kapitel 7 – Wärme und Geborgenheit

Einige Zeit später

Kapitel 8 – Strenge Blicke

Kapitel 9 – Rätselhafte Wege

Kapitel 10 – Was ist normal

Kapitel 11 – Kopfkino und Lippenstift

Kapitel 12 – Verstärkung

Wenige Jahre später

Kapitel 13 – Ein Traum wird wahr

Kapitel 14 – Der pferdelose Ritter

Kapitel 15 – Nicht nur Bluff

Kapitel 16 – Der Unfall

Wenige Tage später

Kapitel 17 – Pflicht und Kür

Einige Tage später

Kapitel 18 – Mann und Frau

Kapitel 19 – Onkel Bert

Kapitel 20 – Alles Einbildung

Kapitel 21 – 10 Jahre zurück

Kapitel 22 – Wunder über Wunder

Kapitel 23 – Poolparty

Kapitel 24 – Erkenntnisse

Kapitel 25 – Zur rechten Zeit

Kapitel 26 – Kollateralschaden

Kapitel 27 – Las Vegas und Benzin

Kapitel 28 – Erinnerungen

Kapitel 29 – Im Eifer des Gefechts

Kapitel 30 – Der Maskenmann

Kapitel 31 – Wetten, pokern und erben

Kapitel 32 – Gute und schlechte Karten

Ein Stuhl wird frei … seine Chance

Kapitel 33 – Altmann & Altmann

Kapitel 34 – Ein Traum wird wahr

Als das uneheliche Kind heranwuchs

Kapitel 35 – Das oder das oder das

Kapitel 36 – Der Weg ist das Ziel

Ein paar Tage später

Kapitel 37 – Wer kann, der kann

Kapitel 38 – Zur Sache

Ein paar Stunden später

Kapitel 39 – Immunschwäche

Wenige Minuten später

Clarissa beginnt zu krabbeln

Am Nachmittag des nächsten Tages

Kapitel 40 – Alles auf Anfang

Am nächsten Morgen

Kapitel 41 – Bis hierher und nicht weiter

Kapitel 42 – Vor- und Nachteile

Ein paar Tage später

Einige Wochen später

Charaktere

Über den Autor

Der Figaro

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Urheberrechte

Vorwort

Über den Autor

Der Figaro

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»Mangel an Geld schmiedet uns fest an die Erde, man bekommt die Flügel beschnitten, man merkt es nicht, weil die Schere ganz vorsichtig täglich nur eine Ahnung abschneidet.«

Paula Modersohn-Becker

Paula Modersohn-Becker, geborene Minna Hermine Paula Becker, (* 8. Februar 1876 in Dresden-Friedrichstadt - † 20. November 1907 in Worpswede) war eine deutsche Malerin und eine der bedeutendsten Vertreterinnen des frühen Expressionismus.

Vorwort

Ein Schicksal, ein Mann und eine Schere. Mit diesen drei Komponenten wäre die ganze Geschichte bereits zusammengefasst. Es wäre wie Glas, Metall und Edelgas, die zusammen eine Glühbirne ergeben. Doch dann kommt noch etwas hinzu, was daraus entsteht: Licht. Ebenso gut besteht Wasser – rein chemisch betrachtet – aus zwei Teilen Wasserstoff und einem Teil Sauerstoff, doch es erklärt nicht das Attribut, welches Wasser einzigartig macht: Es ist nämlich flüssig! Aber das sagt die Formel H2O nicht aus. Also ist der Zusammenhang der entscheidende Faktor.

Demnach besitzt der Mann nicht nur ein Schicksal und eine Schere, sondern … und das erzählt diese unglaubliche Geschichte.

Also spendieren wir den folgenden Seiten auch etwas mehr Erklärung und betrachten die Figuren näher. Denn jeder würde gerne an der Zeitschraube drehen und einige Momente als ungeschehen dastehen lassen … wenn es sich bloß bewerkstelligen ließe. Manchmal handelt es sich nur um wenige Sekunden oder Minuten. Ein anderes Mal wären es sich womöglich Stunden oder Tage. Was passiert jedoch, wenn es sich bei der kleinsten, vorhandenen Zeiteinheit um ein Jahr handeln würde? Was ist schon ein Jahr … ein Jahr mehr oder weniger …

Es ist die permanente Veränderung und der stete Verfall, an dem sich der Lauf der Zeit erkennen lässt. Die unmerklichen Veränderungen, die erst sichtbar werden, wenn sich das Verborgene ins Dasein geschlichen hat und plötzlich als gegeben betrachtet wird, dennoch es sich unentwegt weiter verändert.

Doch sobald die Veränderungen entdeckt werden, steht ihnen ein Kampf bevor, als wären sie der ärgste Feind. Doch der Lauf der Zeit lässt sich nicht aufhalten, nicht verzögern und nicht umlenken. Er lässt sich auf niemand anderen übertragen und er lässt sich nicht umkehren. Auf den Niedergang kann nicht verzichtet werden.

Selten gelingt es Menschen sich mit dem fortschreitenden Alterungsprozess abzufinden, der mit der Geburt eines jeden Lebewesens initiiert wird und scheinbar erst mit dem Ableben stoppt.

Pflanzen welken dahin, ihre Vitalität geht sichtbar dem Ende entgegen und bei Menschen findet dieser Prozess ebenso statt. Aufhalten lässt sich der Alterungsprozess nicht – nur optisch kaschieren.

Eingriffe in die Ernährung lassen die Hoffnung auf einen verzögerten Reifungsprozess aufkeimen. Auch chirurgische Korrekturen gesellen sich zu den Maßnahmen, die eine scheinbare Verjüngung imitieren. Ebenso werden Kosmetika unterstützend eingesetzt.

All das dient der Erhaltung einer Jugend, die längst nicht mehr da ist. Man müsste sich schon 20, 30 oder eine beliebige Zahl an Jahren in der Zeit zurückbewegen können. Dann wäre der Körper wieder der, welcher er zu jenem Zeitpunkt gewesen war. Die vermisste Vitalität würde wieder vorhanden sein, die Kraft, die Ausdauer und vieles von dem, was einige Menschen nicht mehr spüren.

Wie viel gäbe ein 60-Jähriger dafür her, wenn er noch einmal 20 Jahre alt sein könnte und all sein Wissen, seine Erfahrung und sein bisheriges Leben behalten dürfte … lediglich sein Alter würde sich ändern. Er gäbe viel dafür her … sehr viel.

Irgendwann aber ergreift die Unumgänglichkeit des Verfalls das Bewusstsein und der Wunsch wieder jung zu sein nimmt seinen Lauf.

Denn wie oft schon wollte man sein Leben mit einer anderen Person tauschen und wie oft schon trat der Fall ein, sich aus einer Szene ›beamen‹ zu wollen.

Kapitel 1 – Volle Kraft rückwärts

Es war wie immer. Er spürte nichts Besonderes. Nichts fühlte sich anders an oder wies auf etwas Bestimmtes hin, als er sich auf den schwarzen Ledersessel mit der höhenverstellbaren Nackenstütze setzte.

Nicht nur die Stütze für den Nacken war höhenverstellbar, sondern auch der ganze Stuhl. Durch einige Schübe auf ein Pedal ließ sich die Sitzfläche in die Höhe bewegen und der Tritt auf ein anderes Pedal bewirkte das Herabsenken. Auf diese Weise konnten alle Leute in ein und dieselbe Position gebracht werden.

Bevor sich ein Kunde jedoch in diesen Sessel setzen darf, wurde er zuvor von zwei Herren nach allem abgetastet, was für den Moment nicht erforderlich schien.

Handys waren generell verboten. Sie stellen potenzielle Abhörgeräte dar und außerdem lassen sich damit Fotos machen. Fotografieren war ohnehin untersagt.

Es gab immer nur zwei Personen im Raum. Der Kunde und der Figaro. Keine Geräte, keine Maschinen, nichts. Dann nahm der Kunde Platz und die beiden Herren verließen den Raum.

Edel sah das Sitzmöbel aus, als wäre es eine Spezialanfertigung. Weiße Nähte und schwarzes Leder. Es erinnerte mehr an das Interieur eines rassigen Sportwagens, als an einen Friseursessel. Seine Füße ruhten auf einem stabilen Gestell aus verchromten Stahlrohr. Möglicherweise hätte es auch ein Holzschemel getan. Früher war es vielleicht einer.

Offenbar sitzt man gemütlicher, entspannter und wahrscheinlich auch bequemer, wenn sich die Füße in einer erhöhten Position befinden.

Äußerlich ging es ihm gut, doch die innerliche Spannung nahm jetzt spürbar zu. Bereits auf dem Weg dorthin war ihm ein gewisses Kribbeln aufgefallen. Eine seltsame Anspannung. War es Lampenfieber? Immerhin hätte er gleich mit einer Person zu tun, die er lediglich unter dem Namen Figaro kannte. Dass sein Schwiegersohn hinter dem Namen steckt, sollte er nie erfahren.

Auf jeden Fall bestand das Gefühl aus der Mischung einer bestimmten Erwartung und der Angst vor dem Ungewissen, die mit einem Dutzend von ›wenn‹ und ›aber‹ beträufelt worden war.

In diesem Salon gab es nur einen Figaro: Nämlich ihn und er stand mit einem Kittel bekleidet hinter seinem Kunden. Er wartete, bis er das Gefühl hatte beginnen zu können. Er musste sich konzentrieren, denn er wird jeden einzelnen Schnitt, den er mit seiner Schere an den Haaren seines Kunden vollführen wird, mitzählen. Würde er das nicht tun, könnte die Person sterben. Vom ersten Tage seines Tuns an war sich der Figaro seiner Verantwortung bewusst.

Dann riss er die vorgegebene Länge dieser kratzigen Papierkrempe von der Rolle und legte sie wie üblich an. Die Rolle mit den Kragen aus Krepppapier befindet sich auf dieser Marmorplatte neben all den anderen Utensilien, die in einem Frisiersalon zu finden waren. Allerdings existierte lediglich ein einziger Sessel, denn niemals wurde eine zweite Person zu selben Zeit bedient. Ein zweiter Ledersessel wäre somit unnütz.

Die marmorsteinerne Ablage war unterhalb der schweren Platte an der Wand befestigt. Sie durfte ebenso wenig fehlen, wie dieser typische Geruch, der bei Friseuren herrscht. Eine Mischung aus Haarwasser, Rasiercreme und Parfums aller Art.

Schließlich schwang ihm der Figaro den Umhang über und knickte die Krempe über den Halsausschnitt. Das Cape, welches die abgeschnittenen Haare von der Kleidung fernhalten soll, besitzt am Bogen der Aussparung für den Hals zwei Bändel. Mittels einer Schleife werden diese ponchoartigen Überwürfe dann befestigt.

Zwar ließ sich alles durch den Spiegel beobachten, doch im Laufe seines Lebens verlor er jegliches Interesse daran. Nachdem er seine Brille auf der Ablage deponiert hatte, ließ sich das Geschehen ohnehin nur noch schemenhaft betrachten.

So wie er momentan sein Spiegelbild wahrnahm, sah er beim Friseur eigentlich immer aus. Ein kleiner weißer Stehkragen, der sich durch das Umknicken des kratzigen Papiers bildete und ein Umhang. Als Kind besaß er eventuell noch die Neugierde, diesem Unterfangen etwas abzugewinnen und es akribischer zu beobachten, weil es für ihn noch neu war, doch mittlerweile betrachtete er die Dinge eher als lästige Routine.

Manche Haare wachsen unaufhörlich … also muss man sie von Zeit zu Zeit stutzen. Bei einem Friseur war er schon unzählige Male, doch bei diesem Figaro hatte er zum ersten Mal Platz genommen. Nichts war erkennbar, was auf die sehnlich erwartete Prozedur hinwies, und auch das Verhalten des Figaros gestaltete sich in keiner Weise außergewöhnlich. Nichts wies auf eine Besonderheit hin. Keine spezielle Haube, keine Apparatur und keinerlei sonstige Technik. Nichts.

Kapitel 2 – Weiter, höher, schneller

Vor einiger Zeit an einem anderen Ort

Alex saß in einem Straßencafé und starrte unentwegt eine Person an, die unbekümmert am Nachbartisch saß. Er war fest der Ansicht, dass es sich um seinen damaligen Studienfreund Julius handeln würde. Andererseits konnte er es nicht sein … sie waren etwa gleichen Alters.

Die Person am Nebentisch war jedoch deutlich jünger. Sie war etwa 40 Jahre jünger als er selbst. Alex wäre es peinlich gewesen, sie einfach anzusprechen. Vielleicht war sie es gar nicht, sondern ihr Sohn oder ein unfreiwilliger Doppelgänger, eine Laune der Natur oder etwas völlig anderes.

Alex sprach ihn doch an, stellte sich vor und als er seinen Namen sagte, betrachtete ihn der andere Mann genauer und erkannte in ihm auch seinen Studienfreund von damals. Alex setzte sich an Julius' Tisch. Sie tauschten alte Erinnerungen aus und erzählten sich aus ihrem Leben. Alex kam nicht umhin und bewunderte unablässig die offenbar wiedererlangte Jugend im Gesicht seines Freundes.

Die sichtbar straffere Haut ließ keinerlei Falten erkennen und keine verborgene Narbe wies auf einen chirurgischen Eingriff hin. Auch war die Vitalität seines Freundes scheinbar wieder zugegen.

Ein erhöhter Aktivitätslevel und eine deutlich spürbare Libido waren auch Alex' Wunsch. Somit bekam er von Julius den Tipp, doch auch einen Termin beim Figaro wahrzunehmen.

Zunächst fühlte er sich veralbert, denn ein ordinärer Haarschnitt brächte wohl kaum das gewünschte Resultat zustande. Dann stellte sich Julius in Pose, winkelte beide Arme an, deutete mit den Zeigefingern auf sein Gesicht, strahlte aus allen Fugen und ließ bei Alex – in Sachen Älterwerden – nichts anderes als puren Neid aufkommen.

Trotz seiner Vorbehalte konnte er sich zu einem Termin überreden lassen. Jeder Kunde bekam vom Figaro die Telefonnummer eines Prepaidhandys, sodass immer wieder neue Kontakte zustande kamen.

»Billig wird die Aktion nicht!«, bekam er außerdem zu hören und blieb skeptisch, was das Endergebnis anbelangte. Mit dem Haarschnitt hatte das allerdings nichts zu tun hat. Es waren die Begleiterscheinung, die während des Haarschnitts passieren könnten … darauf war er gespannt … und auf das Resultat sowieso.

»Und bitte erschrick dich nicht, er trägt eine Maske«, warnte ihn sein Freund.

»Eine Maske?«, wiederholte er entsetzt, »warum in aller Welt trägt er eine Maske …?«

»Es ist doch völlig egal warum … wahrscheinlich will er von niemandem erkannt werden … es ist wie bei Flugzeugen, keiner interessiert sich dafür, wieso diese Dinger in der Luft bleiben oder wie der Pilot aussieht … man will bloß schnell und bequem von A nach B kommen und damit hat sich's …!«

»So gesehen hast du recht«, lenkte er ein. »Eine Frage habe ich aber noch …«

»Nämlich …?«

»Was für eine Maske ist es denn?«

»Ahhhh, du willst vorbereitet sein, verstehe«, zog sein Gegenüber die Brauen hoch. »Was wäre dir denn am liebsten … eine Karnevalsmaske, um den Unterhaltungswert zu steigern oder lieber was Schlichtes, wie eine Tüte oder ein Kartoffelsack …?«

»Ach Quatsch!«, winkte Alex ab.

»Es ist das Gesicht einer pausbackigen Puppe, weißt du … so eine alte Porzellanpuppe, die bei Oma und Opa früher breitbeinig auf dem Bett im Schlafzimmer hockte und aufpasste, dass bloß niemand Unfug angestellte.«

Zurück zum Geschehen

Nachdem ihm der Figaro den Umhang abgenommen hatte und mit dem Wort ›voilà‹ das Ende der ganzen Prozedur kundtat, stand er auf und ging ein paar Schritte in Richtung des großen Spiegels, der sich in Sichtweite neben dem Friseursessel befand.

Es war, als würde ihn ein nigelnagelneuer Sportflitzer zu einer Probefahrt einladen, dabei handelte es sich lediglich um ihn selbst. Plötzlich schien es ihm so, als hätte jemand ein helleres Licht in seinem Kopf eingeschaltet. Sämtliche Vorgänge ließen sich auf einen Schlag besser betrachten. Alles war von einem Moment zu nächsten völlig anders. Das Aufstehen aus diesem Friseurstuhl war anders, unbeschwerlicher und es fiel ihm leichter. Mühelos hätte er über die Lehne springen können … wie ein Halbstarker.

Die kurze Strecke zum Ganzkörperspiegel zu gehen fiel ihm nicht schwer. Seine Hose rutschte, sein Jackett schien eine Nummer größer geworden zu sein, sein Körper klagte nicht, ächzte nicht und weigerte sich nicht ein einziges Mal das zu tun, was sein Wunsch und Wille vorgaben. Er war zwar kein Bewegungsmuffel, doch er scheute er sich schon seit längerer Zeit vor allen möglichen unnötigen Aktionen.

Sprachlos stand er vor dem Spiegel und betrachtete sich selbst wie einen Fremden. Er konnte die Augen nicht einen Moment von seinem Spiegelbild lassen. Skeptisch bestaunte er sich und betatschte ständig sein eigenes Gesicht. Er zerrte die Haut in die Länge und in die Breite, zog die irrwitzigsten Grimassen, bloß um ihre Spannfähigkeit zu prüfen und konnte nicht glauben, was er mit seinen eigenen Augen sah.

Es existierte keine einzige Falte mehr.

Seine Haut reagierte wie früher, als er noch jung war, aber er war nicht mehr jung, schon lange nicht mehr. Plötzlich zuckte er innerlich zusammen, weil er sich klar und deutlich im Spiegel sehen konnte, trotzdem er keine Brille trug. Die lag noch immer dort, wo er sie hingelegt hatte – auf der Ablage.

Durch den Spiegel sah er den Figaro im Hintergrund stehen. Er war dafür verantwortlich. Mit vor der Brust verschränkten Armen, einem leicht nach vorne geschobenen Fuß und einem dezent zur Seite gewinkelten Kopf nickte er wohlwollend. Es schien, als wolle er sagen, dass alles genauso ist, wie es sich anfühlt. Der Figaro war stolz auf seine Arbeit. Er war ein Meister auf diesem Gebiet und der einzige weit und breit.

»Bewundern Sie sich in Ruhe … ein paar Minuten gebe ich Ihnen noch«, sagte er gelassen und mit verstellter Stimme. Dann warf er einen flüchtigen Blick zur Uhr und nickte den beiden düster gekleideten Herren zu, die ein paar Meter abseits breitbeinig am Türpfosten standen. Auf dieses Zeichen haben sie gewartet. Es bedeutete so viel wie ›bereithalten‹. Ihre Hände hielten sie in Hüfthöhe übereinandergeschlagen und sahen fast so aus wie mauerbildende Fußballspieler, die ihre ›Männlichkeit‹ in Sicherheit brachten.

Sie vermittelten einen Respekt einflößenden Eindruck. Ihre dunklen Sonnenbrillen unterstrichen dieses Gefühl. Genauso stellt man sich schon immer jene Herren vor, welche die sogenannte Drecksarbeit erledigen würden, ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Bestimmt trugen sie eine Waffe unter dem Jackett. Sehen konnte man es jedenfalls nicht.

Stur und mit erkennbarer Bewunderung stand Alex noch immer vor dem Spiegel und schickte sich an, von dem überzeugen zu lassen, was er sah.

40 Jahre war er jetzt jünger.

Fast ein halbes Jahrhundert.

Der Inhalt seines Kopfes hatte sich nicht verändert, bloß sein Körper war ein anderer geworden. Nichts davon hatte er gespürt und nicht einen Moment lang musste er betäubt werden. Alles passierte ohne Komplikationen, ohne Klinikaufenthalt und ohne jegliche Haken und Ösen … einfach so.

Seine Vitalität und seine Körperspannung waren wieder da. Alles funktionierte auf einmal besser. Er hörte wieder wie ein Luchs und schlagartig konnte er auf die Brille verzichten. Seine Finger ließen sich auch wieder schneller bewegen. Die gesamte Trägheit des Körpers war verschwunden und insgesamt fühlte er sich so, als würde er einen Riesenschritt aus einem Nebel getan haben, der ihn immer mehr einzuhüllen drohte.

Von Jahr zu Jahr schienen die Knochen schwerer und unbeweglicher geworden zu sein. Jede Art von Bewegung ließ einen verzichtbaren Aufwand entstehen, vor dem er sich immer wieder scheute. Diese Behäbigkeit war auf einmal verschwunden. In seinem Körper stellte er eine – seit bereits langer Zeit verschwundene – Leichtigkeit fest. Jetzt war er wieder einer der ›Unkaputtbaren‹ und einer derer, die glauben niemals sterben zu müssen.

Seine Jugend existierte sonst nur noch in seinem Gedächtnis. Dort spielten sich die Abenteuer ab, zu denen er in der letzten Zeit überhaupt nicht mehr in der Lage gewesen wäre … von sexuellen Kapriolen einmal ganz abgesehen.

Doch jetzt sollten ihm all diese Aktionen wieder gelingen können. Mit sich selbst würde er also sofort ›eine Runde drehen‹ wollen.

Sein kritischer Blick fokussierte den Figaro, den er durch den Spiegel sah und der nickte immer noch, als befände sich eine Stahlfeder in seinem Hals. Das milde Lächeln der Maske und das Nicken machten ihm Mut.

Dann drückte der Figaro kurz auf einen Knopf und die beiden dunkel gekleideten Herren erschienen wieder. Sie gaben sich ebenso wortlos, wie bereits zuvor. Kurz vorher hätte man sie auch für Statuen halten können. Sie gingen auf den Kunden zu, stülpten ihm eine Kapuze über den Kopf, führten ihn aus dem Haus, setzten ihn in die vor dem Haus stehende Limousine und nickten dem Fahrer zu, der mit dem Drücken des Knopfes ebenfalls in Bereitschaft versetzt wurde.

Die Hände des soeben Verjüngten wurden durch Fesseln daran gehindert, sich die Kapuze vom Kopf zu reißen.

Das waren die Spielregeln und mit denen war Alex einverstanden. So kam er bereits her und so wurde er auch wieder zurückgebracht.

Niemand kannte den Figaro, nicht einer wusste, wo sich der Ort befindet, an dem sich das alles fast täglich ereignete und genauso sollte es bleiben.

Die Klientel reiste mit einem Flugzeug an, wurde am Airport in Empfang genommen, in eine Limousine verfrachtet und mit einer Kapuze über dem Kopf zum Haus gebracht, in dem sie der Figaro bereits erwartete. Alles war minutiös geplant und ging geregelt vor sich, als befände man sich in einem Nobelhotel.

Und auch wie dort hatte alles seinen Preis. Für diese besondere Verjüngung ließ sich der Figaro vorzüglich belohnen. Schließlich wurden seine Dienste von aller Welt in Anspruch genommen. Seine Erwartungen in Sachen Entlohnung waren nicht so unterschiedlich wie die Wünsche seiner Kunden. Der Figaro verlangte pro Schnitt eine Million Dollar. Die gängigste Methode war die ›40‹ und darum musste er mitzählen. Er durfte mit seiner Schere nur vierzig Mal schneiden. Mit jedem Schnitt verlor der jeweilige Kunde ein Jahr seines Lebens … bei der ›40‹ war der Kunde nachher um 40 Jahre jünger. Würde er sich beim Haareschneiden verzählen, besäße der Kunde später ein Alter, welches nicht gewünscht war, vom Preis einmal ganz abgesehen.

Auch durfte ihm nie passieren eine Person jünger zu machen, als es das vorgegebene Alter erlaubt. Eine 30-jährige Person um 40 Jahre zu verjüngen bedeutete gleichsam, sie umzubringen. Sie befände sich dann in einem unbekannten Zustand 10 Jahre vor der eigentlichen Geburt. Für den Figaro war es also wichtig, dass der Kunde nicht in eine unpässliche Zeit verjüngt wird, aber auch das entsprach den zu akzeptierenden Bedingungen.

Wer die Dienste des Figaros in Anspruch nahm, hatte seine Geburtsurkunde vorzulegen und eine Erklärung zu unterschreiben, in der auf sämtliche Ansprüche, die seitens des Haareschneidens und den damit verbundenen Umständen passieren könnten, verzichtet wird.

Der Preis war nicht verhandelbar, sondern wurde in bar und im Vorhinein bei der Ankunft auf dem Airport entrichtet.

Der Figaro war ausgebucht. Mehr Termine wahrzunehmen, würde zwar mehr Einkommen bedeuten, doch es ließ sich nicht mehr mit seinem Privatleben vereinbaren. Auch praktisch wäre es nicht umzusetzen. Womit würden weitere, von ihm angestellte Friseure arbeiten wollen … es existierte nur eine Schere, die diese Magie besaß!

Kapitel 3 – Streuselkuchen und Kakao

Viele Jahre zuvor

Figaro – der Name umhüllte ihn wie ein bodenlanger, schwerer, dunkler Mantel, der ihm den langersehenten Schutz bot. Es war diese Mischung aus der ungewissen Erwartungshaltung, plus einer Prise Mysterium, Respekt und Unnahbarkeit. Das wollte er sein. So wollte er angesehen werden.

Seinen wirklichen Namen kannte niemand und das sollte so bleiben. Viel Zeit war mittlerweile vergangen, seit sein Elternhaus den Flammen zum Opfer gefallen war. Alles verbrannte damals.

Hoffentlich alles.

Die einen sagten, es wäre Brandstiftung gewesen und die anderen sprachen von einem Blitzeinschlag mit unglücklichen Folgen. Seine Eltern kamen dabei ums Leben, das Vieh ebenfalls und vielleicht auch das Gesinde. Es überraschte sie in der Nacht. Bemerkt hatte es offensichtlich niemand. Das laute und unruhige Verhalten der Tiere passierte auch immer, wenn das Wetter zu Extremen wechselte. Somit wurde darauf nicht mehr geachtet.

Seine Eltern behielt er in Erinnerung, doch auf dem dörflichen Friedhof, wo sie bestattet worden waren, hatte er sie noch nie besucht. An seine Schwester dachte er auch oft und voller Sehnsucht. Öfter als ihm lieb war. Er empfand es jedes Mal als Heimsuchung, Rache oder als Zeichen aus einer ihm unbekannten Welt.

Adrian wuchs zusammen mit seiner Zwillingsschwester auf dem Land auf. Er war ein viel zu kleiner und schmächtiger Junge mit einer Sprachstörung, doch sämtliche Untersuchungen belegten seine Gesundheit. Weder Vitaminmangel noch falsche Ernährung war dafür der Grund. Er würde das alles später noch nachholen, meinten die Ärzte. Geistig fehlte ihm jedenfalls nichts. Da war er ebenso auf der Höhe wie alle anderen. Mit den schulischen Themen kam er mühelos zurecht. Bloß die eigenwillige Umsetzung seiner Zuverlässigkeit gab seiner Mutter und seinem Vater ständig Anlass zu Ermahnungen. Er trödelte gerne und war oft das, was man unter dem Begriff ›weltversonnen‹ versteht. Damit sollte nun Schluss sein. Sein Vater sah die Zeit zum Handeln gekommen. Als Adrian seinen achten Geburtstag feierte, lud er schon vorher viele seiner Freunde und Klassenkameraden zu Streuselkuchen und Kakao ein. Das ließen sich die Meisten nicht zweimal sagen und erschienen selbstverständlich nicht mit leeren Händen. Am Nachmittag desselben Tages, als nicht mehr so viele Leute anwesend waren, führten ihn seine Eltern zu der großen Standuhr, die sich schon seit ewigen Zeiten im Wohnzimmer präsentierte und machten ihn mit diesem Zeitanzeiger genauestens bekannt.

Die Uhr stand schon bei den Großeltern dort und wurde seit der Übernahme des Gehöfts um keinen Millimeter bewegt. Jeder richtete sich danach und auch ihm selbst war das Geräusch des Glockenschlags bestens bekannt; er wuchs damit auf.

Von diesem Tage an hatte er sich allein um die Uhr zu kümmern. Noch nie zuvor durfte er die Glastüre öffnen, um das schwere Pendel zu bewundern, der Tag und Nacht seinen Dienst tat. Ebenso war es mit den Glocken, die diesen satten Klang hervorbrachten. Auch sie waren für seine Augen stets tabu.

Ab jetzt war es anders. Die Ketten, an denen die messingfarbenen Gewichte in der Größe einer Milchflasche hingen, hatten einwandfrei zu funktionieren. Die Zeiger mussten stets die genaue Uhrzeit präsentieren und die Glasscheibe in der Fronttüre sollte weder Fingerabdrücke noch sonstige Spuren aufweisen. Die strengen Worte seines Vaters blieben in seinem Gedächtnis, als wären sie dort eingraviert worden. Keinem außer ihm war es von diesem Moment an gestattet, die Uhr zu berühren.

»Aber gnade dir Gott …«, drohte der Vater, »sie geht auch nur ein einziges Mal falsch oder ich höre den Glockenschlag bereits vor oder erst nach der Kirchturmuhr …« Adrians Mutter griff nach seines Vaters Arm und drückte ihn nach unten. In Anwesenheit von seiner Mutter hielt sich sein Vater zurück. Ansonsten wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass sein Vater die Hand gegen ihn hob, ihn mit der Faust schlug oder ihn mit dem Leibriemen züchtigte, sodass er tagelang nicht richtig sitzen konnte.

Seine Zwillingsschwester und er standen sich sehr nahe. In ihren frühen Kindertagen spielten sie oftmals zusammen im Haus. Ihr liebster Spielplatz war allerdings der Dachboden. Dort erforschten sie immer wieder die ollen Sachen, die dort gelagert wurden. Durch das kleine runde Fenster, das sich unter dem Giebel auf der Kopfseite des Hauses befand, fiel ausreichend Licht, um sich orientieren zu können. Trotzdem mussten die beiden immer wieder auf ihren Kopf aufpassen, den sie sich schon ein paarmal an den Querbalken angeschlagen hatten. Zum Glück hatte sich noch niemand von ihnen ernsthaft verletzt, warum sie immer wieder dort hinauf stiegen.

Alles stand voll mit altem Gerümpel, an denen sich immer wieder Spinnweben bildeten. Einen schöneren Tummelplatz konnten sie sich nicht vorstellen. Jedes Teil erzählte eine eigene Geschichte und überall gab es etwas zu entdecken. Nicht selten hielten sie etwas in der Hand oder standen staunend davor, von dem sie nicht wussten, was es ist. Dann schauten sie sich fragend an, zuckten mit den Schultern und widmeten sich wieder ihrem Treiben. Fragen konnten sie niemanden, denn keiner durfte wissen, dass sie sich dort oben herumtrieben. Seitens einer elterlichen Anordnung galt der Dachboden offiziell nicht als geeignete Spielfläche.

'Der Boden ist stellenweise morsch und außerdem ist keine richtige Beleuchtung vorhanden', hieß es. Für die Kinder war es aber ein echter Abenteuerspielplatz.

Überall stand etwas. Alles war verstaubt, uralt, defekt, unmodern oder unbrauchbar geworden. Pappkisten, Holzkästen, alte Bücher, Steh- und Hängelampen, Radios und Fernseher, Bilder in schweren Rahmen und es nahm kein Ende. Wären die Dinge neu, aufpoliert und würden von Scheinwerfern angestrahlt werden, wähnte man sich in einer Halle für antiken Trödel.

Oft war es so, als könnte man das Alter der einzelnen Gegenstände riechen. Offensichtlich schafften bereits die Großeltern zu ihren Lebzeiten die ausgedienten Dinge hierher. Besonderes Interesse entwickelten sie für den Inhalt der riesigen alten Truhe, in der sich viele von Omas und Opas Sachen befanden. Die Truhe hätte auch in einem Piratenfilm mitspielen können. Dort wäre sie voll mit Gold, Perlen und Edelsteinen gewesen.

Diese uralten Klamotten erweckten in ihnen aber immer wieder längst vergessene Erinnerungen, weil viele der Gegenstände auch nach den Großeltern rochen. Adrians Schwester setzte sich dann immer einen von Omas alten Hüten auf, ging recht exaltiert ein paar Schritte auf und ab und warf ihre Zöpfe dabei stolz nach hinten.

Eines Tages entdeckte Adrian eine Schere in dieser Kiste. Es war ein handflächenlanges Schneidegerät, mit einem leicht gebogenen Fortsatz an einer der beiden auffälligen Ovale, mittels derer, eine solche Schere gehalten bzw. mit den Fingern dort hineingegriffen wird. Wozu es wohl dient, grübelte er und fummelte dabei an diesem Extrasteg herum. Scheren hatte er schon zuhauf gesehen, doch keine davon besaß so einen eigenartigen Stummel. Die muss bestimmt schon 100 Jahre alt sein, überlegte er.

Auf einmal blitzte die Schere für den Bruchteil einer Sekunde auf. Adrian erschrak und ließ sie fallen. Dann nahm er sie wieder vorsichtig auf und hielt sie wie erstarrt in der Hand. Sie hatte weder ihre Form verändert, noch war sie wärmer geworden. Sie ist wahrscheinlich etwas Besonderes, fuhr es ihm durch den Kopf. Schlagartig sah er sich nach seiner Schwester um und war froh, dass sie von all dem nichts mitbekommen hatte. Sie schmückte sich nach wie vor mit diesen riesengroßen Hüten und seidenen Schals aus längst vergangenen Zeiten.

Die Schere war zwar nicht mehr neu, aber weder verrostet, noch verbogen oder sonst wie sichtbar beschädigt. Adrian hielt sie für durchaus funktionstüchtig. Wie die wohl da 'reingekommen ist, dachte er bei sich und steckte sie heimlich ein. Sie passte genau in die Seitentasche seiner Hose, die sich in Oberschenkelhöhe auf der rechten Seite befand und er sich schon immer fragte, was da wohl hineingehören würde. Nun wusste er es oder glaubte zumindest es zu wissen.

Diese Hose trug er eigentlich immer. Nur sonntags, wenn die Dorfkirche durch das Läuten der Glocken auf sich aufmerksam machte und zur anstehenden Messe einlud, trug er seine Sonntagshose.

Kapitel 4 – Hörbare Stille

Seltsam war es, eher schon eigenartig, als er zum ersten Mal eine Kirche betrat und nicht wusste, was das alles zu bedeuten hatte. Seitens der eigenen Mutter und der schulischen Lehren, wurde ihm bereits ein Großteil vermittelt, doch niemand gab eine Erklärung darüber ab, wie man sich in einem solchen Gebäude zu verhalten hat. Welche Regeln herrschen dort?

Also schaute er sich um und machte das nach, was er sah. Vielleicht wurden ihm die Verhaltensweisen in einer Kirche doch schon nahe gebracht und er hatte sie bloß wieder vergessen.

In erster Linie schien dort Ruhe zu herrschen. Nur die Orgel spielte und auch jedes andere Geräusch hallte in einer merkwürdigen Weise, die er so noch nie wahrgenommen hatte. Es war ein völlig anderer Klang als der, den er vom Badezimmer oder von der großen Scheune her kannte. Dieser Schall gefiel ihm. Niemand sprach in gewohnter Lautstärke mit einer anderen Person. Jeder flüsterte, wie in einem Krankenzimmer. Man will somit niemanden stören.

Einige Leute saßen still auf einer der quer zur Längsachse des Gebäudes aufgestellten Bänke, wohingegen andere in derselben Reihe knieten. Sie hielten ihre Hände ineinander verschlungen und ihren Kopf dabei gesenkt. Manchen Leuten sah man an, dass sie etwas sagten. Sie bewegten ihre Lippen, ohne laut dabei zu sprechen.

Im Eingangsbereich stand eine Art Becken, in dem sich augenscheinlich nichts anderes als Wasser befand. Dort tauchten die Hereinkommenden ihre Fingerkuppen hinein, um sich anschließend mit diesen nassen Fingern selbst zu berühren. Offensichtlich handelt es sich um ein Ritual, dem sich jeder anstandslos unterwarf. Diese Tradition geschieht in einer offenbar festgelegten Reihenfolge, denn jeder vollführte diese Bewegung in gleicher Weise.

Ein jeder tupfte sich gegen die Mitte der eigenen Stirn, fuhr dann mit der Hand senkrecht hinab in Richtung des Brustbeins und bedachte im gleichen Vorgang und mit derselben Hand zuerst die linke und danach die rechte Schulter. Würde man diese Figur sichtbar machen, entstünde ein Kreuz. Mutter machte noch – wie viele andere Frauen ebenfalls – einen Knicks. Es handelte sich demnach um ein Begrüßungszeremoniell. Nachbarn und Bekannte wurden durch stilles Kopfnicken gegrüßt und jeder war darauf bedacht einen Eindruck von Ergebenheit erkennen zu lassen.

Adrian schaute sich neugierig um und entdeckte überall Gegenstände, die er nicht kannte. An fast jeder Wand hingen Bilder von Personen, die ihm völlig unbekannt waren und einen strahlenden Kreis um ihren Kopf besaßen. Sie trugen allesamt bodenlange, wallende Gewänder in leuchtenden Farben und vermittelten einen anspruchslosen und zufriedenen Eindruck. Und dann blickte er nach vorne. Dorthin, wo eine Art Bühne war und vom Licht der Sonne beleuchtet wurde, das durch die mosaikartigen Fensterscheiben fiel. Dieser Bereich schien für die in den Bänken hockenden Leute tabu zu sein.

Einige Stufen trennten diese beiden Flächen in optisch geteilte Gebiete und jeder, der diese Stufen passierte, vollführte erneut die bereits am Eingang geschehenen Zeremonien.

Den größten Schock bekam er, als er einen recht spärlich bekleideten Mann an einem Kreuz hängen sah. Es erinnerte ihn an die ausgeweideten Rehe, die sein Vater ab und zu in der Scheune aufhing, um sie ausbluten zu lassen. Manchmal ging sein Vater in den Wald und schoss dort auf Wild.

Was hatte der Mann am Kreuz verbrochen? Warum wurde er an das hölzerne Kreuz genagelt und zur Schau gestellt? Adrian kannte derlei Kruzifixe. In jedem Raum des Bauernhofs hing so etwas … allerdings in einer viel kleineren Version. Niemand sagte ihm jemals wozu … jetzt konnte er zumindest genau hinschauen. Man gab sich viel Mühe mit dieser Verkörperung. Das Holz, die Nägel, die Wunden und das heraustretende Blut … alles wurde fast lebensecht und mit unterschiedlichen Farben abgebildet.

Und dann ertönte ein anderes Orgelspiel in erheblich höherer Lautstärke. Adrian kam es wie ein Startsignal vor. Er bekam Gänsehaut und ein Schauer lief über seinen Rücken. Alle standen auf und sangen ein Lied. In der seitlichen Front der Kirche zeigte eine Nummerntafel eine Zahl an. Sie gab die aufzuschlagende Seite des Gesangbuches vor, damit jeder wusste, welches Lied gesungen wird. Jeder sang mit. Im Gesangbuch stand lediglich der Text, doch jeder schien auch die Melodie zu kennen.

Sonderbar.

Adrian war über das Verhalten seiner Mutter und das seiner Schwester keineswegs verwundert. Von seiner Mutter wusste er, dass sie einer streng gläubigen Familie abstammte und seine Schwester sprach ein Abendgebet, bevor sie zu Bett ging. Dazu kniete sie sich nieder, stützte ihre Ellenbogen auf die Matratze, schloss die Augen und neigte ihren Kopf gegen die gefalteten Hände. Auch ihre Lippen ließen ahnen, dass sie etwas sagte, ohne dass er sie sprechen hörte.

Über seinen Vater wunderte sich Adrian allerdings. Er machte einen so völlig fremden Eindruck. Wo waren seine Aggressivität, seine Brutalität und seine Herrschsucht geblieben? Er saß brav neben Mutter auf der Kirchenbank und schien wie ausgewechselt.

Durch einen Seitenzugang betrat der Pfarrer jene Fläche, die durch einige Stufen vom anderen Raum des Gebäudes getrennt schien. Er war in prunkvolle Gewänder gehüllt, positionierte sich hinter einem schweren Tisch und machte einen ebensolchen einbeinigen Kniefall, wie es einige Männer beim Betreten der Kirche auch taten. Dieser Handlung folgten dann etliche andere Gebräuche, die den Anwesenden allesamt bekannt sein mussten. Die Anzeige mit den Nummern wechselte einige Male und beim Einsatz des Orgelspiels wurden die entsprechenden Lieder eingestimmt.

Manchmal warf Adrian seiner Schwester so lange einen Blick zu, bis sie ihn beachtete und zurückguckte. Um ihr sein Unverständnis auszudrücken, hob er dann seine Schultern mehrfach an. Ihrem Gesicht war ihre Reaktion abzulesen und die sagte ihm, dass er es einfach geschehen lassen soll und abwarten müsse, bis es vorbei sei. Das war dann der Fall. Die Orgel spielte wieder und die Glocken läuteten erneut. Die Leute standen auf und drängten in Richtung des Ausgangs, wie im Kino, noch während der Abspann lief. Einige Personen gingen zum Pfarrer und bedankten sich per Handschlag für die schöne Predigt. Das alles ergab sich zwar nur einmal in der Woche, doch es blieb in Adrians Gedächtnis haften.

Mit der Schere hatte er immer etwas bei sich, was ihn an die verstorbenen Großeltern erinnerte. Allerdings ist das alles sehr seltsam, dachte er. Seine Großeltern hatte er als gütige, liebevolle und warmherzige Menschen in Erinnerung … seinen Vater, also deren Sohn, nicht zu einer einzigen Sekunde. Noch nicht einmal in den Momenten, an denen ein Vater stolz auf seinen Sohn sein sollte, weil er sein leiblicher Erbe ist; sein Fleisch und Blut.

Diese Seitentasche an seiner Hose war nach unten hin mit einer Extranaht verstärkt worden und tief genug, um die Schere ganz darin verschwinden zu lassen. Einerseits konnte er sie auf diese Weise gut verstauen, ohne sich selbst zu verletzen und andererseits lugte sie nicht hinaus, womit er lästige Fragen unterband. Vielleicht hat man sich früher gegenseitig die Haare geschnitten, weil der Besuch eines Friseurs zu teuer oder zu umständlich war, überlegte er.

Seine Oma und seinen Opa kannte er noch. Damals, als sie starben, war er zwar erst ein Dreikäsehoch, aber er kann sich noch gut an sie erinnern.

Kapitel 5 – Was nicht tötet, härtet ab

Seine Schwester und er erzählten sich alles und jeder schüttete dem anderen sein Herz aus. Lange Zöpfe hatte sie und mit denen kokettierte sie oftmals. Später sah er zum ersten Mal, wie seine Mutter – auf Geheiß des Vaters – sorgsam die Haare seiner Schwester kämmte und sie links und rechts zu Zöpfen flocht. Möglicherweise legten diese Momente das Fundament für seinen späteren Berufswunsch.

Vielleicht stellte das Schicksal sogar persönlich die Weichen, aber von diesem Tage an bewertete er den Fund der Schere völlig anders. In Gedanken sagte er dauern das Wort ›Friseur‹, um sich mit dem Klang vertraut zu machen.

Ihre Eltern bewirtschafteten das bäuerliche Anwesen in bester Weise. Zur Erntezeit gingen immer wieder einige Mägde und Knechte mit zur Hand, sonst wäre die viele Arbeit nicht zu schaffen gewesen.

Zwar hatte jeder bloß zwei Hände, doch das Vieh musste ständig versorgt werden und die Ernte duldete ohnehin keinen Aufschub. Somit mussten seine Schwester und er ebenfalls helfen und wurden bereits seit ihrer frühesten Kindheit dazu erzogen.

»Ihr habt junge Beine, also bewegt euch … eines Tages wollt ihr den Hof übernehmen … also tut etwas dafür und damit kann nicht früh genug begonnen werden …«, sagte der strenge Vater.

Sobald die Schulglocke das Ende des Unterrichts angekündigt hatte und sie sich auf den Heimweg befanden, wartete bereits eine Menge Arbeit auf die beiden. Die Schweine wollten gefüttert werden, das Federvieh ebenso und die Kühe im Stall nicht minder.

Eigentlich wollte Adrians Vater nur eine Tochter haben. Wahrscheinlich wünschte er sich so ein Püppchen, das er verwöhnen und verhätscheln könnte, wie es ihm gerade behagt. Die Vorsehung bescherte ihm jedoch Zwillinge. Adrian fühlte sich vom ersten Atemzug an unwillkommen und sein Vater ließ es ihn deutlich spüren. Seine Zwillingsschwester wurde demonstrativ bevorzugt, doch eigenartigerweise wurde es ihr nie bewusst oder sie überspielte es geschickt.

Adrian sollte es mit jeder Pore seines Körpers spüren, dass er bloß eine ›Dreingabe der Natur‹ war. Alles, was er anfasste, machte er von vornherein falsch und jede noch so unbedeutende Kleinigkeit, die ihm misslang, die er nicht korrekt ausführte oder einfach vergaß, wurde seitens seines Vaters mit roher Gewalt quittiert. Er kassierte unentwegt Ohrfeigen oder wurde brutal zusammengeschlagen. Manchmal zog ihn sein Vater mit aller Gewalt an den Haaren, an den Ohren oder was er in diesem Augenblick zu fassen bekam und schmiss ihn durch die Gegend, als wäre er ein alter Latschen, mit dem nach einer läs - tigen Fliege geworfen wurde. Wahrscheinlich war seine Nase schon ein paarmal gebrochen und danach nie geradegerückt worden. Blaue Augen waren ebenso keine Seltenheit bei ihm. Möglicherweise waren auch schon einige seiner Rippen mehrfach gebrochen und wurden nie ärztlich behandelt.

Er war nichts anders gewohnt.

Für ihn war dieses Leben normal … seine Kindheit war die Hölle. Sein Vater war ein einfacher, grober und überaus brutaler Mensch, aus dessen Augen so eine Art von bauernschlauer Listigkeit strahlte. Wenn er über den Hof ging, trat er nach allem, was sich auf seinem Weg befand. Das Federvieh nahm schon nach dem ersten Tritt krähend Reißaus. Manchmal ging er in den Schweinestall, bloß um dem Borstenvieh ins Hinterteil zu treten. Es wurde mit lautem Grunzen quittiert.

Adrian traute sich kaum den Mund aufzumachen. Es gab nur zwei Rettungen für ihn: Die eine war seine Mutter, aber die war nie zugegen, wenn er Prügel bezog und die andere Gnade war die Zeit, die er in der Schule verbrachte.