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Die Geschichte des Mittelalters muss neu geschrieben werden! Henry führt ein geordnetes und glückliches Leben. Dass er plötzlich von seiner Vergangenheit eingeholt wird ist ungewöhnlich. Denn Henrys Vergangenheit liegt fast Tausend Jahre zurück. Schon oft hatte Henry diese Sendung im Fernsehen verfolgt und sich gewünscht, auch einmal dabei zu sein. Es geht ihm nicht vorrangig um den beträchtlichen Gewinn von immerhin zehn Millionen Euro, sondern um den Ehrgeiz, seine Gegner ausstechen und alle Fragen korrekt beantworten zu können. Die Quizshow ist bei Jung und Alt bekannt und beliebt. Bei den Kandidaten ist das Quiz ebenso populär wie gefürchtet. Im Laufe der Jahre ihres Bestehens entwickelte sich die Quizshow zur Institution, zum Richtmaß anderer Quizsendungen und zur fachlichen Eskaladierwand für kompetente Kandidaten. Schon so oft träumte er mit seiner Frau Maria vom Gewinn. Jede Sendung, die er vor dem Fernseher verfolgte, in der er aber nicht erschien, rückte ihn von seinen Träumen ein kleines Stück weiter weg. Und dann war es so weit. Er nahm als Kandidat am Quiz teil. Fünf Fragen trennten ihn vom großen Gewinn. Mit Schnelligkeit und den korrekten Antworten musste er zwei andere Kandidaten hinter sich lassen und das Spiel für sich entscheiden. Henrys Hobby ist das Mittelalter. Darin kennt er sich aus. Es ist sein Fachgebiet und drei Fachfragen warten auf ihn. Bei nur einer falschen Antwort wäre sein Traum jäh zu Ende gewesen. Die letzte Frage wurde gestellt und die Zeit lief. Henry antwortete richtig, aber seine Antwort galt als falsch.
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Seitenzahl: 312
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DER KANDIDAT
Roman
von
Lutz Spilker
DER KANDIDAT – DIE–10 MILLIONEN-FRAGE
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Softcover ISBN: 978-3-384-03331-4
Ebook ISBN: 978-3-384-03332-1
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
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Alle Rechte vorbehalten.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Vorwort
Kapitel 1 – Von Zeit zu Zeit
Kapitel 2 – Nichts als Fragen
Kapitel 3 – Probieren geht über studieren
Kapitel 4 – Wir gehen auf Sendung
Kapitel 5 – Es stand in der Zeitung
Kapitel 6 – Spott und Häme
Kapitel 7 – Rechts vor links
Kapitel 8 – Wer ist Eva?
Kapitel 9 – Wenn sich zwei streiten
Kapitel 10 – Deal
Kapitel 11 – Bon voyage
Kapitel 12 – Beschauliche Gegend
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Über den Autor
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Wenn man glücklich ist, soll man nicht noch glücklicher sein wollen.
Theodor Fontane
(* 30. Dezember 1819 in Neuruppin; † 20. September 1898 in Berlin) war ein deutscher Schriftsteller, Journalist und Kritiker. Er gilt als bedeutender Vertreter des Realismus.
Vorwort
Wahrscheinlich ist er der älteste und begehrteste Wunsch der Menschen: Ein einziges Mal bloß am Rad der Zeit drehen zu können. Etliche Situationen ereigneten sich schon bei vielen Menschen, in denen der Wunsch, die Abläufe der Zeit ändern zu können, ganz oben auf der Wunschliste stand. Manchmal würden bloß fünf Minuten ausreichen, um einen Dialog, eine Tat oder eine komplette Begebenheit als ungeschehen dastehen zu lassen. Und manchmal wären es bloß fünf Sekunden gewesen, die ausgereicht hätten, das Geschehene ungeschehen zu lassen. Es sind oftmals nur kleine Momente, welche im Nachhinein einen gewaltigen Unterschied hinterließen. Jeder Augenblick stellt die Weiche für alles Folgende.
Zeit ist messbar. Stunden, Tage, Wochen und Jahre gingen für den einen viel zu schnell dahin und für den anderen nicht. Der eine war in Gesellschaft und der andere saß auf einer einsamen Insel fest. Zeit ist nicht konservierbar, doch Zeit vergeht unaufhaltsam. Uhren bleiben stehen, die Zeit nie. Ereignisse finden statt und sie werden Zahlen zugeordnet, an denen sie passierten. Diese Zahlen verstehen wir als Zeit. Doch es fanden ebenso Ereignisse statt, welche keiner Zeit zugeordnet wurden. Sie wurden gar nicht dokumentiert, unkorrekt dokumentiert oder sogar unter betrügerische Absicht verbreitet. Diese manipulierten historischen Begebenheiten gerieten wie Falschgeld in Umlauf und hielten Einzug in unser Leben, befinden sie sich noch immer in den Schriften und Chroniken, welche als Lehrbücher Verwendung finden.
Nicht nur Historiker wären gerne an Ort und Stelle geschichtlicher Ereignisse gewesen, um den tatsächlichen Ablauf der Geschehnisse zu verfolgen, sondern jeder, dessen Neugier dazu treibt.
Mythen, Märchen und Legenden vermischten sich schon seit jeher. Und nur die Personen, die tatsächlich dabei waren, kennen die Wahrheit. Gab es jemals Atlantis und falls ja, wo? Es wurde nicht dokumentiert und Platon zu fragen ist nicht mehr möglich. Befand sich das Unheil in der Büchse der Pandora, welches ebenso als Apfel im Paradies am Baum der Erkenntnis hing? Oft sind es einfache Dinge, welche die menschliche Neugier erwecken. Unauffällige Dinge, die kaum noch Beachtung finden, weil der Mensch gelernt hat, sie als gegeben hinzunehmen. Es wird nicht mehr darüber nachgedacht. Es wird sich damit abgefunden.
Antworten selbst zu finden ist nicht erforderlich, zumal diese in Büchern zu finden sind. Egal wie alt diese Antworten sind, man gibt sich damit zufrieden. Der Gedanke, dass diese Angaben unvollständig, spekulativ, fehlerhaft und sogar falsch sein könnten, bleibt dem Menschen unvertraut.
Menschen übereignen ihre Gewähr den Medien. Menschen leben in der Verlässlichkeit, dass sich weder Nachrichtensender noch Zeitungsverlage wissentlich irren oder vorsätzlich Falschmeldungen publizieren. Und dennoch passiert es tagtäglich, weil oft auf die Überprüfung der Quelle, beziehungsweise der Angaben verzichtet wird. Je namhafter die Quelle, desto umfangreicher gestaltet sich der Verzicht einer Prüfung.
Ein Blick in die Vergangenheit lässt erkennen, wie sich die gerade – zu dieser Sekunde – stattfindenden Ereignisse aus der Zukunft betrachtet, darstellen werden. Ebenso veraltet, unausgereift, beziehungsweise unentdeckt, unerforscht und unverständlich wie jenes, was sich aus heutiger Sicht in der Vergangenheit betrachten lässt.
Die früheren Zeiten wurden so gut wie nie dokumentiert. Es existieren keine Fotografien, keine Tondokumente und keine Zeitzeugen.
Noch immer existieren Sprachen, von denen niemand weiß wie man sie spricht und Schriften, die bis zum heutigen Tage nicht übersetzt werden können. Ereignisse, deren tatsächlicher Auslöser ein anderer war als der, den man in den Geschichtsbüchern findet.
Dazu addieren sich die Phänomene, die Rätsel, die forcierten und die natürlich entstandenen Lücken innerhalb der Entstehungsgeschichte des Menschen. Zivilisationsperioden, die ebenfalls nicht dokumentiert wurden oder deren Dokumentationen der Nachwelt nicht erhalten bleiben sollten.
Der Zeitabschnitt, in dem sich die historische Geschichte als beweisbare Dokumentation verfolgen lässt, ist extrem gering.
Viele geschichtliche Niederschriften stimmen nicht mit den tatsächlich stattgefundenen Abläufen überein und werden wider besseres Wissen gelehrt.
Viele Begebenheiten werden negiert, verschleiert oder absichtlich falsch dargestellt und gehen ebenso falsch oder diffus in die Geschichte ein.
Die sich daraus ergebenden Rätsel bleiben oftmals viele Jahrhunderte ungelöst; manche sogar für immer.
Die Motive einer wissentlichen Falschdarstellung sind vielfältig und nicht immer sofort klar erkennbar. Mal drängt sich ein politischer Hintergrund nach vorne, mal ein religiöser und mal ist es ein kultureller. Manchmal überlappen die Motive einander und manchmal werden sie wie Theaterkulissen hin- und hergeschoben. Manchmal stand der Erzfeind des Menschen als Motiv zur Manipulation der Geschichte persönlich Pate: Die Langeweile.
Trotz moderner Technik gelingt es immer wieder, geschichtliche Ereignisse zu manipulieren, beziehungsweise der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Aber der modernen Technik ist auch zu verdanken, dass Missinterpretationen und Falschdarstellungen aufgeklärt werden können.
Es ist heute bekannt, dass sich viele europäische Regenten des Mittelalters einen Spaß daraus machten, die Chroniken zu manipulieren. Auch ist bekannt, dass die meisten Urkunden des Mittelalters Fälschungen waren und postum gefertigt wurden. Insbesondere standen die Rechte Einzelner, sowie Besitzurkunden im Fokus.
Kapitel 1 – Von Zeit zu Zeit
Schon oft hatte Henry diese Sendung im Fernsehen verfolgt und sich jedes Mal gewünscht, auch dabei zu sein. Es ging ihm nicht vorrangig um den beträchtlichen Gewinn von 10 Millionen Euro, sondern um den Ehrgeiz, seine Gegner ausstechen und alle Fragen korrekt beantworten zu können. Diese Quizshow war bei Jung und Alt bekannt und beliebt. Bei den Kandidaten war das Quiz ebenso populär wie gefürchtet. Die Faszinationen lagen wahrscheinlich in der brutal anmutenden Kompromisslosigkeit des K-O-Systems, sowie dem einfachen und schnell überschaubaren Regelwerk.
Wer falsch antwortete, sich zu viel Zeit zum Nachdenken gönnte, seinem Kontrahenten somit die Möglichkeit, als Erster und obendrein richtig zu antworten gab, torpedierte sich selbst aus dem Rennen. Es verhielt sich wie zur Zeit des antiken Roms im Circus Maximus: der Bessere möge siegen.
Henry wusste vom Zuschauen, dass den Kandidaten kein Multiple-Choice zur Unterstützung angeboten wurde und gerade diese Variante ließ das Spiel so ungeheuer gnadenlos, jedoch überaus reizvoll und rasant erscheinen.
Es gestaltete sich wie bei einem Wettschießen. Nicht getroffen bedeutet: Ziel verfehlt.
Wahrscheinlich lieferte die Einfachheit der Show den Schlüssel zum Erfolg. Immerhin befand sich das Format schon in der zweiten Dekade. Weder die Zuschauerquote, noch der Ansturm an Bewerbungen ließen spürbar nach. Verändert erschien einmal das Bühnenbild, welches jedoch kurzerhand wieder in den vorherigen Zustand versetzt wurde. Die massiven Reaktionen der Zuschauer zwangen die Macher dazu.
Ungezählte Sendungen, Shows und Serien kamen innerhalb dieser Zeit nicht über die erste Ausstrahlung beziehungsweise Staffel hinaus. Zudem wuchs die Unbarmherzigkeit der Quote. Shows mit Kult-Charakter wurden zunehmend seltener.
Ein Wohl der Sendeanstalt, welche einen solchen stabilen Publikumsmagneten zu präsentieren vermochte. Es bereitete allen Beteiligten einen Riesenspaß, dem Verfolgerfeld mit diesem Zugpferd davon zu galoppieren. Das geschäftige Treiben erschöpfte sich keinesfalls in der schieren Ausstrahlung der Sendung. Gesellschaftsspiele mit erweiterbarem Fragensortiment standen ebenso in den Regalen, wie weitere mehr oder weniger nützliche Dinge, die das Logo der Sendung trugen.
Die Besetzung der Position des Quizmasters, bewies sich vom ersten Augenblick an als Treffer. Nicht zuletzt seiner Sympathie, seines Erscheinungsbildes und seiner markanten Stimme wegen, fühlten sich die Erfolge der gesamten Unternehmung wie ein nicht enden wollender Raketenstart an. Die Quizshow entwickelte sich zur Institution, zum Richtmaß für andere Quizsendungen und zur fachlichen Eskaladierwand für kompetente Kandidaten.
Die Regeln der Quizshow waren denkbar simpel und wurden alleine deshalb nie geändert. Pro Sendung ereiferten sich drei Kandidaten um die richtige Antwort der insgesamt fünf Fragen. Zur Beantwortung standen den Kandidaten jeweils zehn Sekunden Zeit zur Verfügung. Sobald die Frage vom Quizmaster gestellt wurde, bewegt sich ein überdimensionaler Zeiger und führte zwar lautlos, wohl aber entscheidend, den Countdown durch. Die ersten Fragen aus dem Bereich ›Allgemeinwissen‹ ergingen an alle drei Kandidaten. Der schnellste Kandidat durfte eine Runde ausruhen, während sich die beiden anderen Kandidaten um das Halbfinale qualifizierten. Auch die folgende Frage deckte das Allgemeinwissen ab und warf erneut einen Kandidaten aus dem Rennen. Somit spielten zwei Kandidaten um das Finale. Der nun übrig gebliebene Kandidat musste drei Fragen aus seinem Fachgebiet korrekt und innerhalb des Zeitlimits beantworten.
Bei Henry war es das Mittelalter.
Der Kandidat sollte innerhalb der zehn Sekunden, die ihm für jede Frage zur Verfügung stehen, seinen Buzzer betätigen, Wird der Buzzer gedrückt, bleibt der Zeiger stehen. Antwortete der Kandidat jedoch nicht während dieser zehn Sekunden, schied er umgehend aus und der nächste Kandidat rückt nach. Konnte ein Kandidat innerhalb des Finales drei Mal nicht rechtzeitig antworten, macht er automatisch seinen Stuhl für einen schon ausgeschiedenen Kandidaten frei. Nicht selten kam es vor, dass sich ein Kandidat bei der Beantwortung der Fragen aus den allgemeinen Wissensbereichen sehr schwertat und ausschied. Stellte sich dieser Mitspieler allerdings als fachlich beschlagen dar, trüge er jubelnd den Gewinn davon. Schnell zu antworten galt demnach als Parole und richtig zu antworten obendrein. Auch berichtete tags drauf die Boulevardpresse mit entsprechenden Bildern und Reportagen darüber und trug auf diese Weise zur Popularität der Quizshow bei.
Was des Einen Sieg, ist des Anderen Niederlage, Verlust oder gar Blamage. Und blamieren wollte sich Henry keinesfalls.
Allein darum trainierten seine Frau Maria und er zu jeder freien Zeit, wobei sie sich derweil zum knochenharten Drillmaster entwickelte. Mit den bisherigen Anschreiben hätte Henry bereits den Flur tapezieren können. Jedenfalls zu 50 Prozent. Die Flut der Bewerbungen beim Fernsehsender schien immer noch gigantisch zu sein. Irgendwie hing Henry dem Gefühl an, dass seine Bewerbungsanschreiben überhaupt nicht zugestellt worden sind.
Wie oft schon lagen sie an den Wochenenden auf der Couch im Wohnzimmer und träumten vom Gewinn. Zehn Millionen! Damit wären sie für alle Zeiten alle erdenklichen Sorgen und Nöte los. Auf einen Schlag kämen sie auf die Sonnenseite des Lebens und könnten sich alles leisten, wonach ihnen der Sinn steht. Maria wollte schon immer ein Häuschen im Grünen haben. Aus diesem Häuschen könnte nun ein gestandenes Haus werden und Henry sieht sich schon vor seinem geistigen Auge mit einem Aufsitzmäher über den Rasen pesen. Das wär’s doch. Kein Stress, keine Verpflichtungen und keine Befehle mehr. Kein Reinigungsplan im Hausflur und keinerlei Hindernisse, die sich tagtäglich ereignen, müssten dann noch als Hürde übersprungen werden.
Entspannung auf der ganzen Linie. Vielleicht ist das der Traum von Freiheit, für den es sich zu kämpfen lohnt. Vielleicht wäre das aber auch nur ein Beweis für die Liebe, welche Henry Maria gegenüber verspürt. »Sie hätte es verdient«, dachte er und schaute versonnen zu ihr hinüber.
Jede Sendung die er vor dem Fernseher verfolgte, an der er aber nicht teilnahm, rückte ihn von seinen Träumen ein kleines Stück weiter weg.
»Vielleicht kann ich ja noch etwas lernen«, sagte Henry mit einem leicht überheblichen Unterton, als er die Fernbedienung an sich nahm und den neuen Fernseher einschaltete, den sie sich von seinem Urlaubsgeld geleistet haben. Ein Großbildgerät mit allem erdenklichen Schnick-Schnack musste es nicht unbedingt sein, aber dieses Modell stand als Sonderangebot beim Händler und wurde daher ausgewählt. Wenn die Quizshow über den Bildschirm flackerte war Ruhe im Hause Tailer angesagt. Diese Sendung war Henrys bekennendes Ziel und er kannte sie in- und auswendig. Im Geiste sah er sich schon oft mitwirken und gewinnen. Eigentlich sah er sich gar nicht so sehr als Gewinnertyp. Aber was sein Fachgebiet, sein Hobby, sein Lebens-, Dreh- und Angelpunkt außer Maria seiner Frau anging, konnte ihm niemand das Wasser reichen. Da fühlte er sich zu Hause, da machte ihm niemand etwas vor und hier galt er als Fachmann.
Es war schon ein wenig seltsam, wie er über diese Zeit namens Mittelalter sprach. Er tat es mit einer unerklärlichen Anmut, fast schon mit einer Hochachtung. In ihm selbst entstand dann stets diese unerklärliche Wehmut, als ob etwas von ihm dort vergessen wurde, als ob man auf jemanden wartet oder als ob man vergaß, sich zu verabschieden.
Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin, heißt es in einem alten Schlager deshalb wohl. Vielleicht heißt einer der nächsten Gewinner der Quizshow Henry Tailer und er bucht eine zweiwöchige Zeitreise zurück ins Mittelalter für zwei Personen mit Vollpension im … tja, an dieser Stelle müsste man sich für eine Burg, ein Schloss oder ein Palais entscheiden, denn Hotels wie man sie heutzutage kennt, gab es damals noch nicht. Aber Zeitreisen gibt es auch noch nicht und die Reise müsste woandershin stattfinden.
Maria und Henry saßen wie angekettet auf der Couch und verfolgten mit fast schon militärischer Disziplin die Sendung. »Irgendwann sitze ich hier alleine und sehe dich dann im Fernsehen«, sagte Maria wahrscheinlich zum 300. Mal. Und Henry nickte zuversichtlich, wahrscheinlich auch zum 300. Mal.
Aber irgendetwas sagte ihm, dass er dort teilnehmen wird. Henry ließ daran keinerlei Zweifel aufkommen, selbst wenn er sich mit diesen Flausen bei seinen Freunden, Kollegen und Bekannten zum Gespött machte. Er sagte es schon so oft und bisher traf es noch nicht ein. Vielleicht dachten seine Freunde, man müsse sich bloß beim Sender anmelden und wäre dann der nächste Kandidat, so wie beim Frisör. Aber so war es nicht und vermutlich wird es auch nicht so sein. Schon die Gewinnsumme von 10 Millionen Euro lockte Scharen von Quizbegeisterten an. Jeder einzelne sah sich als Sieger und Gewinner … warum sonst geht man zu derlei Spektakeln? Sicher nicht um zu verlieren.
Auch Henrys Wunsch war es dort zu gewinnen und mit seinem Wissen zu glänzen.
Kapitel 2 – Nichts als Fragen
Wenn er sich überhaupt einmal präsentieren wollte, dann in der Quizshow. Da wurden Fragen zum persönlichen Fachgebiet gestellt und darauf konnte er im Schlaf antworten.
Maria nahm die vorderste Karte aus dem Kästchen, das er irgendwann einmal mit diesen Karten bestückte. Mittlerweile hat sich dieses Kästchen zum wahren Folterwerkzeug entwickelt. Maria schleppte es unentwegt mit sich herum, als wolle sie Henry damit drohen. Allein schon der Anblick des Kästchens sollte Schaudern erzeugen, Respekt abfordern und ständig den Zweck des gesamten Unterfangens ins Bewusstsein befördern. Henry schuf mit diesem Kästchen genaugenommen sein eigenes Martyrium.
Es machte – rein optisch – noch nicht einmal etwas her. Es war ursprünglich ein Karton vom Discounter. Vielleicht wurde Obst darin transportiert. Henry wusste es nicht mehr genau. Im Laufe der Jahre sammelten sich Hunderte von Karten an, die allesamt auf der Vorderseite Fragen zum Thema Mittelalter enthielten und die dazugehörigen Antworten auf der Rückseite trugen. Noch vor einigen Jahren ließen sich die Karten in der Hand halten und zum Transport mit einem Gummiband umringen. Es wurden aber immer mehr. Irgendwann schnitt er mit einem Küchenmesser den Karton ein, knickte die Ecken um, klebte sie fest und besaß nun ein praktisches Behältnis für seine Karten. Sie waren ähnlich den Fragekarten bekannter Gesellschaftsspiele. Die Gesellschaft bestand in diesem Fall aus Henry allein. Er überlegte schon oft das Kästchen durch ein stabileres aus Holz zu ersetzen. Es blieb jedoch immer bei der Überlegung.
Ratschläge, die Karten doch endlich einmal elektronisch zu erfassen, schlug er in den Wind, da sich jede Alternative nicht als transportabel erwies. Und wenn das Kästchen, welches er momentan in Gebrauch hat, irgendwann zu klein sein sollte, wird ein weiteres Kästchen gebastelt. So gestaltete sich jedenfalls Henrys Plan. Die Karten wurden immer mehr und das Kästchen wurde immer schwerer. Henry flickte es dann wieder mit diesem breiten, braunen Klebeband. Er machte es schon so oft, sodass der Karton im Laufe der Jahre unterm Klebeband verschwand. Wahrscheinlich ist die Bezeichnung ›Kästchen‹ deshalb entstanden, weil vom Karton nichts mehr zu sehen war. Er machte sich beim Bau des ersten Kästchens keine Gedanken um eine bestimmte Größe oder eine mögliche Stapelbarkeit. Wichtig ist für Henry der Inhalt. Weiße, hellblaue, chamonix und rosafarbene Karten stecken völlig ungeordnet im Kästchen. Die unterschiedlichen Farben korrespondierten mit nichts anderem. Wenn neue Karten benötigt wurden, besorgte er welche. Dabei spielte lediglich die Größe der Karten eine Rolle, die Farbe überhaupt nicht.
Der düstere Zeitabschnitt, zwischen dem Untergang des Römischen Reiches und der Wiederentdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus, genannt Mittelalter, war Henrys Hobby. Es existierte ein unergründliches Band, welches ihn mit dem Mittelalter verschweißte. War es Liebe, Sehnsucht, Bewunderung, Faszination oder Passion? Henry wusste es nicht und genau genommen erschien es ihm auch egal. Das Mittelalter und seine Person stellten sich wie aus einem Guss dar. Eine eigenartige Untrennbarkeit schien über die Beziehung zu wachen. So unmöglich, wie sich das sagenhafte Schwert Excalibur aus dem Stein ziehen ließ, so unmöglich empfände Henry eine Trennung von dieser Epoche, von der so manche Sage und viele Märchen ausgehen. Wäre er auf einem, von der Zivilisation völlig unberührten Fleckchen Erde aufgewachsen, hätte er dennoch von der Existenz des Mittelalters geahnt.
Er besaß schon lange keine Ritterburg mehr. Diese Kinderspielzeuge fielen einigen Umzügen und der Tatsache, zwischenzeitlich älter geworden zu sein, zum Opfer. Tapfere Ritter und tugendhafte Burgfräulein, mächtige Könige, stolze Rösser nebst eherner Schwerter als Inventar einer vergangenen Zeit, gehörten in seiner Kindheit zur Komplettierung der Burg und zur Bereicherung seines damaligen Zimmers. Es wären Tauschobjekte, Flohmarktexponate und alberner Krims-Krams gewesen, die bloß überall herumlagen und man sich irgendwann einmal den Hals brechen würde, wenn man darüber stolpert. So bezeichnete Henrys Vater die einstige Plastikwelt im Kinderzimmer.
Mittlerweile ist mehr daraus geworden. Erheblich mehr sogar. Henry sammelt keine Figuren mehr, er sammelt Ereignisse und Situationen, Daten und Fakten, Namen, Orte und alle geschichtlich, das Mittelalter betreffende Beziehungen. Was auf den Karten seines Kästchens steht, befindet sich auch in seinem Kopf. Von dort musste es lediglich abgerufen werden. Und seitdem er für die Quizshow trainierte, landeten alle wissenschaftlichen Errungenschaften, nebst neusten Erkenntnissen, als Fragekarte im Kästchen.
Henry absolvierte keine Universität, führte keinen Titel im Namen und kam mit seiner allgemeinen Schulbildung bisher gut als Bauleiter zurecht. Sein Wissen um das Mittelalter war allerdings gewaltig. In dieser Hinsicht war Henry als lebende Enzyklopädie bekannt und selbst Freunde und Bekannte rieten ihm, auf jeden Fall mehr daraus machen.
Einem einfachen Mann ohne Protektion und ohne akademische Grade, wurde schon seit jeher ein größeres Durchhaltevermögen und eine höhere Leistung abverlangt. Und sich irgendwo hinzustellen, um ungefragt drauflos zu plappern, war so ganz und gar nicht Henrys Wunschgedanke.
»Wann fand der Hundertjährige Krieg statt?«, fragte Maria.
»Du meinst wirklich, dass man mir derartige Fragen stellt? Immerhin geht es um viel Geld«, bemerkte Henry.
»Ich habe die Frage doch nicht ins Kästchen gesteckt! Das bleibt allein dein Job, es ist dein Hobby«, konstatierte Maria. »Vielleicht gehst du künftig nach Ampelfarben vor: Rote Karten sind für neue und schwierige Fragen, Gelbe für die Aufwärmrunde und Grüne dienen mehr einer Art Archiv, denen kaum noch oder gar keine Aufmerksamkeit mehr zuteil würde. Und außerdem werden bei dieser Quizshow immer wieder Fragen dabei sein, die das Publikum mitfiebern lässt!« Marias Sarkasmus war kaum zu überhören.
»Der Hundertjährige Krieg fand in drei voneinander getrennten Phasen statt, die insgesamt von 1337 bis 1453 dauerten. Es waren demnach drei Kriege, also kein Hundert Jahre dauernder Einzelkrieg«, sagte Henry.
»Perfekt!«, freute sich Maria und las die Antwort auf der Kartenrückseite zur Kontrolle mit. »Hier hätte ich noch so eine I-Dötzchen-Frage«, sagt Maria hämisch. Henry zog merkwürdige Grimassen.
Es könnte sich dabei um eine Mischung aus Unsicherheit, Erwartung, Spannung und selbst erlebten Wiederholungseffekt handeln.
»Wie hieß der Anführer des ersten Kreuzzuges?«, las Maria von der Karte ab, wendete sie übertrieben in weitem Bogen, schaute demonstrativ auffällig auf die Rückseite, wobei selbst sie die Antwort auswendig wusste, zumal sie sie schon mehrfach vorlas und sie ohnehin leicht zu merken ist.
»Glaubst du ernsthaft, dass man mir solchen Fragen stellen wird?« Henry erachtet die Frage als einfach. Viel zu einfach.
»Mit dieser Qualität kann man Erstklässler erschrecken«, posaunt er, »aber mich sicher nicht!«
»Abwarten«, meinte Maria gelassen und bewies sich damit einmal mehr als Ruhepol. Das Schicksal forderte Maria besonders in der letzten Zeit viel Besonnenheit ab, denn Henry hatte sich schon wieder bei dieser Quizshow beworben. Die Bewerbungen dort schienen sein zweites Hobby zu sein. Jedenfalls wollte er optimal vorbereitet erscheinen, als nähme er an den Olympischen Spielen teil.
»Gottfried von Bouillon hieß übrigens der Anführer des ersten Kreuzzuges um 1096. Und später ließ er sich sogar als Regent des neu gegründeten ›Königreich Jerusalem‹ zum ›Advocatus Sancti Sepulchri‹ ernennen und das steht nicht auf der Karte. Da steht nur der Name«, ließ Henry wissen.
Maria warf Henry einen fragwürdigen Blick aus den Augenwinkeln zu und sagte: »Ich kann froh sein, dich geheiratet zu haben, meintest du. Oder?«
»Jetzt stelle ich dir auch mal 'ne Frage. Weißt du, wer der Erfinder der Glatze war?«, fragte Henry.
»Der Erfinder der Glatze?«, wiederholte Maria. »Was soll denn das für 'ne Frage sein? Das ist doch bestimmt Quatsch, oder?«
»Das ist kein Quatsch«, kicherte Henry, »das war Karl der Kahle, echt, der wars, der kahle Karl.« Henry amüsierte sich.
»Den hat’s doch nie gegeben, den hast du doch eben erst erfunden, gib’s zu.« Maria knuffte Henry auf den Oberarm.
»Frühes Mittelalter, Frankfurt am Main, 823, wer kam da zur Welt? Karl der Kahle, ohne Witz.« Henry fing sich so langsam wieder. »Soll ich dir sagen, wie seine Söhne hießen?«, fragte Henry und begann erneut zu lachen.
»Du machst es ja doch. Auch, wenn ich jetzt ›nein‹ sage. Also lass gehen«, frotzelte Maria. Sie konnte gar nicht anders und begann jetzt schon zu lachen.
»Das glaubt mir wieder keiner«, brüllte Henry vor Lachen, »es waren Ludwig der Stammler und Karl das Kind!« Henry hielt sich den Bauch vor Lachen und Maria erging es ähnlich. Henry fischte eine Karte aus dem Kästchen, tippte mehrfach darauf und lachte wieder.
Der Tag verlief eigentlich wie immer. Ständig schwebte diese Hoffnung, irgendwann einmal als Kandidat ausgewählt zu werden, in der Luft. Maria und Henry gingen wie jeden Abend zu Bett. Henry lag wach da und starrte an die Zimmerdecke. Er konnte sie gar nicht sehen, es war stockfinster. Aber er starrte die Zimmerdecke an. Die Arme hatte er hinter seinem Kopf verschränkt und träumte mit offenen Augen, während Maria schon eingeschlafen war. Mit dem Gewinn könnte man sich auf jeden Fall ein komplett neues Leben einrichten. Raus aus der Mietwohnung und rein in ein eigenes Heim. Vielleicht bekäme Maria dann endlich ihren eigenen Wagen. Es war nicht immer einfach, sich mit nur einem Auto außerhalb der Vorstadt zu arrangieren. Wenn zwei Personen zur gleichen Zeit das Auto benötigen, jedoch in gegensätzliche Richtungen fahren wollen, ist ein Debakel vorprogrammiert.
Henry überlegte, ob er seinen Job als Bauleiter hinschmeißen solle, wenn der Gewinn anstünde. Zwei Fragen kämen dann auf ihn zugeeilt. Womit würde er sich den ganzen Tag beschäftigen und was stört ihn an seinem Job derartig, dass eine Kündigung die Konsequenz wäre? Er wusste es nicht. Vielleicht ist es wie ein nicht enden wollender Urlaub. Man kann morgens im Bett liegen bleiben und bräuchte keine Termine einzuhalten. »Das ist für eine gewisse Zeit sehr schön«, dachte Henry, »aber dauerhaft könnte ich es nicht aushalten.«
Er träumte von einem einladenden Haus, von geräumigen Zimmern mit weiten Fenstern, einem großen Garten und einem Swimming-Pool. Es muss auf jeden Fall beruhigend sein, sich nicht mehr um Rechnungen oder andere finanzielle Belastungen kümmern zu müssen. Henrys Gesicht ließ selbst in der Dunkelheit Zufriedenheit erkennen. So gerne Henry sich auch von seinen Träumen dahin tragen ließ, so sehr holte ihn die Tatsache, dass er zunächst gewinnen müsse, wieder auf die Beine. Er drehte sich zur Seite und schlief mit einem Lächeln im Gesicht ein.
Der Wecker klingelte am nächsten Morgen nicht, es war ein Samstag. Maria wachte zuerst auf. Henry war auch schon mit einem Auge wach, jedoch noch viel zu faul, um aufzustehen. Irgendwann erklangen die zärtlichen Worte »komm bitte frühstücken« und Henry folgte ihnen nach der 4. Wiederholung, als es nur noch »Frühstück« hieß. Maria war selbst an einem Samstagmorgen so erschreckend wach und guter Laune.
»Ich habe hier eine Frage aus der Rubrik Allgemeinbildung«, überfiel sie Henry direkt am Frühstückstisch, »da kommst du nie drauf!«
»Zu dieser Uhrzeit könntest du recht behalten«, gähnte Henry. »Na dann lass mal hören.«
»Welches Sportgerät besitzt in der Regel einen Durchmesser von zirka 43 Millimetern und ein Gewicht von zirka 45 Gramm?«, las Maria von einem Kalenderblatt ab.
»Ein Sportgerät mit nur 43 Millimetern Durchmesser und einem Gewicht von nur 45 Gramm?«, wiederholte Henry und fragte eher sich: »Was soll denn das sein?«
»Und Plong! Die Zeit ist leider um«, sagte Maria. »Es ist ein Golfball. Möchtest du noch so eine Frage zum Wachwerden?«
»Der Kaffee reicht dahingehend völlig aus, aber bitte, mach mich fertig«, spornte Henry Maria an.
Sie griff rüber zum Buffet, kramte ein anderes Kalenderblatt hervor und las erneut ab: »Was ist am Datum 21. Juli 1969 so außergewöhnlich, dass es einen Platz in den Geschichtsbüchern einnimmt?«
»Das weiß ich«, sagte Henry voller Stolz. »Das ist einfach. Da betrat der erste Mensch den Mond.«
»Die korrekte Antwort lautet hier: »Neil Armstrong betrat als erster Mensch den einzigen Erdtrabanten namens Mond.« Maria nickte bestätigend dabei so, als hätte sie es gewusst.
»Hast du noch mehr solche Fragen?«, wollte Henry wissen.
»Klar«, sagte Maria, »auf jedem Kalenderblatt steht eine.«
»Ich wusste gar nicht, dass du neuerdings Kalenderblätter sammelst«, unkte Henry.
»Mache ich auch nicht. Nur in der letzten Zeit achte ich mehr darauf, weil es gut für dich wäre, dachte ich, so als Training. Also – eine hab ich noch … soll ich?«
»Leg los«, knurrte Henry, der sich ein gemütliches Frühstück auch etwas anders vorgestellt hatte. »Aller guten Dinge sind bekanntlich drei«, fügte er noch an.
»Hui, echt schwierig, na dann woll’n wir doch mal sehen, ob unser strubbeliger Kandidat das weiß, also: Wer schrieb den Roman ›The Winter of Our Discontent‹ mit dem deutschen Titel ›Geld bringt Geld‹?«
Henry hatte einen Schluck Kaffee im Mund und nickte, was so viel bedeuteten sollte wie, »ich weiß es«. »Weiß ich, ätsch Mann, weiß ich. Das war John Steinbeck. Den kenn ich aus dem Lied ›Verdammt lang her‹ von BAP. Da guckst du jetzt aber, was? Und was steht als Antwort auf deinem Zettel?«
»Da steht: Es war John Steinbeck, der den Roman 1961 schrieb«, antwortete Maria. »Und du bist sicher, dass BAP den Mann erwähnen?«
»Ganz sicher. Es heißt in dem Lied: ›Hier war John Steinbeck, da stand Joseph Conrad. Dazwischen ich, nur relativ schachmatt …‹ Geh ins Wohnzimmer, da steht noch die Original-LP und da ist vielleicht ein Songtext dabei. Ansonsten schau ich im Internet nach und drucke dir den Text aus.«
»Und was meinte BAP mit dieser Zeile?«, fragte Maria.
»Wahrscheinlich geht es um Ost und West. Ja, worum sonst. John Steinbeck als Figur der Aufmüpfigkeit dort und Joseph Conrad als Pendant auf der anderen Seite und dann steht man machtlos dazwischen und schaut wie ein Schiedsrichter beim Tennis hin und her. Vielleicht hatte man das sagen wollen. Die Ohnmacht, dieses Gefühl nichts ändern zu können, sich als Gebrauchsgegenstand zu fühlen, nicht ernst genommen zu werden. Man wähnt sich oft zur Tatenlosigkeit verdammt und wenn man etwas tut, kommt es der Aufgabe des Sisyphos gleich. Es ist wie im Film ›King Kong‹. Auf der einen Seite der Insel leben die Guten und auf der anderen Seite lebt das Böse in Form des Riesenaffen. Und damit das Böse brav auf seiner Seite bleibt und immer freundlich und nett ist, wird ihm ein Opfer gebracht, wenn es eines fordert. So kann man sich die Welt vorstellen. Auch die Erde ist eine Insel. Auf- und davonmachen kann sich keiner. Genau wie die Insel bei King Kong. Man muss damit zurechtkommen und sich arrangieren. In der realen Welt wollen allerdings alle die Guten und niemand King Kong sein.«
»So siehst du das also. Interessant, was alles in dir steckt«, sagte Maria. »Und wer oder was ist in der realen Welt das Opfer?«
»Das Opfer ist der kalte Krieg, Waffenstillstand und letztlich Frieden. Der eine duldet die Existenz des Anderen, aber er akzeptiert sie nicht. Wenn er dürfte, würde er den Anderen rücksichtslos vernichten. Frag einen Ami, was er über den Russen denkt und dann frag einen Russen, was er vom Ami hält. So sieht die reale Welt aus. Helfen kann einem nur viel Geld, um weit weg vom Geschehen zu sein.«
»Na dann sieh zu, dass du beim Quiz gewinnst«, sagte Maria.
»Erst mal muss ich eine Zusage zur Teilnahme bekommen und dann kann ich – mit ein wenig Glück – gewinnen.«
»Was wollen wir denn am diesem Wochenende anstellen?«, fragte Maria, legte ihr Kinn in die auf den Tisch gestützten Ellenbogen und schaute erwartungsvoll zu Henry.
»Schlag was vor und dann stimmen wir ab«, sagte Henry wohl wissend, dass eine Abstimmung zu zweit unmöglich ist.
»Wir stimmen dann ab, ja? Wie mich das beruhigt«, erwiderte Maria ironisch. »Was hältst du von …?«
»Zuhause ’rumgammeln und keinen Plan machen! Wir verlassen die Wohnung nicht, lassen niemanden herein und gehen auch nicht ans Telefon. Wie wäre das?«, schlug Henry vor.
»Hört sich ganz schön faul an«, meinte Maria.
»Genau das ist es auch. Und wenn wir Hunger bekommen, bestellen wir uns eine Pizza. Ansonsten gibt’s nur Fernsehen, DVD oder olle Videos und Spiele.«
»Und uns!«, warf Maria ein.
»Und uns, natürlich«, wiederholte Henry. »Außerdem kannst du mich zwischendurch mit deinen Kalenderblattfragen malträtieren. Na was sagst du oder sollen wir lieber abstimmen?«
»Okay, überredet«, sagte Maria.
So gesehen war sie mit dem Gedanken, das Wochenende daheim zu verbringen aus der Pflicht, eigene Vorschläge kreieren zu müssen, sehr zufrieden.
Nichtstun will auch gelernt sein, denn beide waren es nicht gewohnt nichts zu tun und sich bewegungslos in die Möbel zu fläzen. Schuldbewusste Blicke trafen sich und gingen sofort wieder ihre eigenen Wege. Peinlich grinsende Gesichter schauten sich im Bruchteil einer Sekunde an. Die Atmosphäre glich einer ersten Begegnung in der Tanzschule mit anschließendem Rendezvous und verstohlenem Händchenhalten. Henry studierte die TV-Zeitschrift. Was bot das Fernsehen und was kann man sich angucken. Maria hatte in der Küche zu tun. Die Geräusche deuteten darauf hin. Aber im Fernsehen, an einem Samstagmorgen? Das Programm scheint für eine andere Zielgruppe zu sein. Die Eltern liegen noch im Bett und die Kinder werden vom Fernsehprogramm zur Ruhe dressiert. An dieser Stelle klappt die Beschäftigungstherapie. Aber wenn man älter wird, ist man gleichsam dazu verdammt, sich ein eigenes Programm auszudenken. Und wenn man sich zum Nichtstun entschieden hat, steht einem das Fernsehen nicht gerade hilfreich zur Seite.
»Was machst du gerade?«, rief Henry pseudointeressiert in Richtung Küche.
»Ich räume nur noch schnell die Küche auf, schalte den Geschirrspüler ein und mach es mir dann auch gemütlich«, schallte es zurück.
»Du meinst, ich solle den Keller aufräumen, stimmts? Ich habe doch da so eine versteckte Anspielung gehört. Oder täusch ich mich?«, jammerte Henry und sah sich schon im Bademantel den Keller auf Vordermann bringen.
»Quatsch«, meinte Maria, »was du wieder hörst. Machs dir hübsch gemütlich, ich bin auch gleich da.«
»Okay«, rief Henry. »Machs dir hübsch gemütlich«, dachte er, »es ist nicht gemütlich, es ist eine Folter. Wie konnte ich mir bloß ein solches Eigentor verbraten?«
Maria kam nun auch ins Wohnzimmer, ließ sich demonstrativ in einen Sessel plumpsen und streckte Arme und Beine aus, als käme sie vom Marathonlauf.
»Findest du mich eigentlich noch attraktiv?«, fragte Maria und schaute kritisch und sich herunter.
In ihrem Schlafanzug, der mit Sicherheit sehr bequem, aber immerhin drei Nummern zu groß war, sah sie nicht ganz so vorteilhaft wie sonst aus.
»Wenn du erst mal das viele Geld hast, wirst du mich bestimmt verlassen, so ist es doch!«, knatschte Maria.
»Von welchem Geld redest du pausenlos und warum sollte ich dich verlassen wollen?« Henry kam sich völlig überrannt vor. »Seit drei Jahren versuche ich dort mitzumachen und weiß wirklich nicht, was dich im Moment reitet.« Henry war zerknirscht und Maria merkte das. Er marschierte wie ein Hund auf allen Vieren zu Marias Sessel, nahm sie in den Arm und meinte: »Zuerst muss der liebe Henry gewinnen, um an das ganze Geld zu kommen und dann erst kann er die liebe Maria verlassen …«
»Du Schuft«, lachte sie und befreite sich aus der Umarmung.
»Du bist noch immer attraktiv und ich liebe dich immer noch«, sagte Henry, als er wieder zur Couch ging.
»Das noch in deinem Satz habe ich sehr gut gehört, du Oberschuft«, grinste Maria.
»Wo sind eigentlich deine Kalenderzettel?«, fragte Henry, um die gehabte Szene zu überspielen.
»In der Küche«, sagte Maria schniefend, »soll ich sie holen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie einige Augenblicke in der Küche, putzte sich die Nase und kam mit dem Kästchen und ihren Kalenderblättern zurück. Sie las eine Frage von den Kalenderblättern erst einmal still, nur für sich selbst vor und staunte auffällig.
»So schwer?«, fragte Henry und sah Maria nicken.
»Na dann lass mal hören«, meinte Henry siegessicher.
»Wo auf der Erde – und es handelt sich nicht um Gebirge oder Tiefsee – würde ein zirka 80 Kilogramm schwerer Mensch weniger wiegen?«, las Maria vor.
»Und das ist keine Scherzfrage?«, meinte Henry gleich.
Maria: »Ganz bestimmt nicht.«
»Und ein 70 oder 90 Kilogramm schwerer Mensch? Wie sähe es mit denen aus?«
»Ebenso, nehme ich an«, sagte Maria, »der 80 Kilogramm schwere Mensch dient hier bloß als Beispiel. Es kann also jedes x-beliebige Gewicht sein. Alles wiegt dort weniger, als anderswo und mööööp, deine Zeit ist um.«