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Der Findling Jules Verne - Die Handlung des Romans spielt Ende des 19. Jahrhunderts in Irland. Zu dieser Zeit war Irland von der Armut, der Menschenverachtung und der Willkür der Landbesitzer beherrscht. Er erzählt die Geschichte eines von seiner Mutter ausgesetzten Kindes, dass nach einer von Entbehrungen geprägten Jugend, langsam ein besseres Leben erreicht. Die Zeit des Heranwachsens ist eine Zeit des Leidens, die das Kind an verschiedene Schauplätze führt. In einem kleinen Ort gastiert der reisende Papiertheater-Schausteller Thornpipe seine Vorführungen. Doch die Zuschauer erkennen schnell, dass hinter den automatischen Bewegungen der Puppen ein Geheimnis steht, das im Inneren des Wagens von Thornpipe verborgen sein muss. Durch die neugierigen Zuschauer kommt es dazu, dass aus dem Kasten unter dem Wagen ein halb verhungerter, mit Peitschenstriemen gezeichneter, zirka drei Jahre alter Junge befreit werden kann. Dieser nennt sich Findling. Durch seine Entdeckung entkommt er dem brutalen Schausteller. Seine Zukunft ist damit jedoch noch nicht gerettet ...
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Seitenzahl: 571
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Irland, das eine Landfläche von zwanzig Millionen Acres – gegen acht Millionen Hektar – einnimmt, wird im Namen der Beherrscher Großbritanniens von einem Vicekönig oder Lord-Lieutenant unter Mitwirkung eines »Privat-Rathes« regiert. Es zerfällt in vier Provinzen: Leicester im Osten, Munster im Süden, Connaught im Westen und Ulster im Norden.
Das Vereinigte Königreich soll in der Vorzeit eine einzige Insel gebildet haben. Jetzt sind deren zwei vorhanden, beide noch mehr getrennt durch geistige Verschiedenheit, als durch physikalische Grenzen. Die Irländer sind wie von jeher Freunde der Franzosen, und deshalb den Engländern feindlich gesinnt.
Ein herrliches Land für Touristen, ist Irland ein trauriges Land für seine Bevölkerung. Diese vermag es nicht zu befruchten, jenes sie nicht zu ernähren. Und doch ist es nicht ein unfruchtbares Stück Erde, denn seine Kinder zählen nach Millionen, und obwohl diese Mutter keine Milch für ihre Kinder hat, wird sie von ihnen doch leidenschaftlich geliebt. Die süßesten – most sweet – Namen (ein Wort, das man dort unendlich häufig hört) werden an sie verschwendet. Das »Grüne Erin«, und grün ist das Land in der That; weiter heißt Irland der »Schöne Smaragd«, ein Smaragd, der freilich statt des Goldes in Granit gefaßt ist; die »Insel der Wälder«, was besser Insel der Felsen heißen sollte; das »Land des Liedes«, nur erklingt dieses Lied von kränklichen Lippen; endlich nennt man es die »Erste Blume des Landes« oder die »Erste Blume des Meeres«, freilich welken diese Blumen schnell im Brausen toller Stürme. Armes Irland! »Insel des Elends« solltest du heißen; jetzt und schon seit Jahrhunderten, du mit deinen drei Millionen Armen unter acht Millionen Bewohnern!
Bei einer Erhebung von etwa hundertfünfundzwanzig Metern trennen in Irland zwei Höhenzüge die Ebenen, Seen und Torfmoore zwischen der Bai von Dublin und der von Galway. Die Insel bildet eine vertiefte Schale, in der es an Wasser nicht fehlt, denn die Seen des Grünen Erin bedecken allein gegen zweitausenddreihundert Quadratkilometer.
Westport, eine kleine Stadt der Provinz Connaught, liegt im Hintergrunde der Bai von Clew, die von dreihundertfünfundsechzig Inseln und Eilanden erfüllt wird, ähnlich wie der Morbihan an den Küsten der Bretagne. Diese Bai mit ihren Vorbergen, ihren Caps und den gleich Haifischzähnen angeordneten Spitzen, welche den Wogenschwall von der hohen See brechen, ist eine der schönsten des ganzen Küstenstriches.
In Westport begegnen wir dem »Findling« im Beginn seiner Geschichte; der Leser wird selbst sehen, wo, wann und wie sie endigte.
Die Einwohner des etwa fünftausend Seelen zählenden Städtchens sind zum größten Theile Katholiken. An einem Sonntage, dem 17. Juni 1875, hatten sich die meisten Bewohner zum Morgengottesdienste in die Kirche begeben. Connaught, die Wiege der Familie Mac Mahon's, bringt ausgeprägt keltische Typen hervor, die sich in den alteingesessenen Geschlechtern fortgepflanzt haben. Und doch, wie traurig ist das Land, so traurig, daß es den gebräuchlichen Ausdruck: »Nach Connaught gehen, heißt in die Hölle gehen!« vollständig rechtfertigt.
In den kleinen Orten Irlands herrscht bittere Armuth, doch besitzen die Leute neben ihren für die Werktage benützten Lumpen auch noch solche für die Sonn- und Festtage. Dann trägt man dort die noch am wenigsten zerrissene Kleidung: die Männer erscheinen in geflicktem, unten ausgefranstem Mantel; die Frauen in mehrfach übereinander liegenden Röcken – lauter Ladenhütern des Trödlers – und bedecken den Kopf mit Hüten, die mit künstlichen Blumen verziert sind, von welchen freilich meist nicht mehr als die nackten Drahtstiele mit einzelnen Blättchen zu sehen ist.
Alle sind barfüßig bis zur Kirche gegangen zur Schonung des theuern Schuhwerkes – der Halbstiefeln mit geborstenen Sohlen und der Stiefeln mit zerrissenem Oberleder, ohne die nach Landessitte niemand die Schwelle der Kirche überschreiten würde.
Zur Zeit war kein Mensch auf den Straßen von Westport sichtbar, außer einem Individuum, das einen Karren schob, der mit einem großen mageren, langzottigen Hunde bespannt war.
»Königspuppen! rief der Mann aus vollem Halse, prächtige, bewegliche Königspuppen!«
Der Schausteller war von Castlebar, dem Hauptorte der Grafschaft Mayo, hierhergekommen. Auf seinem Wege nach Westen hatte er den Kamm jener Höhenzüge überschritten, die sich, wie die meisten Berge Irlands, nach der Küste zu senken, so im Norden die Kette des Nephin mit ihrem achthundertdreißig Meter hohen Gipfelpunkte, und im Süden der Croagh-Patrick, auf dem der größte irländische Heilige, der Verbreiter des Christenthums im vierten Jahrhundert, die vierzig Tage der Fastenzeit verweilte. Hierauf war der Mann die gefährlichen Schluchten des Hochlandes von Connemara hinabgestiegen in der Richtung nach den Seen Mask und Corril, die einen Ausfluß nach der Clew-Bai haben. Ihn kümmerte keinen Pfifferling weder die Midland-Great-Westernbahn, das große Verbindungsglied zwischen Westport und Dublin, noch die Post, die ihre »Cars« durch das Land rollen läßt. Er reiste als fahrender Künstler, der überall seine Puppenausstellung ausrief und anpries und den großen Hund von Zeit zu Zeit mit einem derben Peitschenhiebe aufmunterte. Der von kräftiger Hand erlittenen Züchtigung antwortete dann stets ein lautes Schmerzgeheul und aus dem Innern des Karrens zuweilen ein leises Schluchzen.
Dann wetterte der Mann gewöhnlich los.
»Wirst Du laufen lernen, Hundevieh!« rief er, und dann, als wendete er sich an einen andern, der im Karren verborgen sein mußte, klang es weiter: »Wirst Du still sein, Hundejunge!«
Darauf verstummte das Schluchzen und der Karren kam wieder langsam in Bewegung.
Dieser Mann nennt sich Thornpipe. Woher er stammt, ist gleichgiltig; es genügt zu wissen, daß er zu den Angelsachsen gehört, die in den unteren Volksschichten der britannischen Inseln so ungemein häufig vorkommen. Dieser Thornpipe besitzt nicht mehr Gefühl als ein wildes Thier, nicht mehr Herz als ein Felsblock.
Nachdem der Mann die ersten Wohnstätten von Westport erreicht hatte, folgte er der Hauptstraße des Städtchens mit ihren ziemlich wohnlichen Häusern und den mit pomphaften Schildern versehenen Läden, worin freilich nicht viel zu finden ist. In diese Straße münden verschiedene schmutzige Nebengassen ein, wie trübe Bäche, die sich in einen klaren Fluß ergießen. Auf deren spitzen Pflastersteinen poltert und rasselt Thornpipe's Karren dahin, gewiß zum Nachtheil der Puppen, die er zur ergötzlichen Unterhaltung der Bewohner von Connaught hierher brachte.
Wegen Mangels an »geeignetem Publicum« trottete Thornpipe weiter, bis er zur Mail (Alleestraße) gelangte, die die Hauptstraße zwischen doppelter Ulmenreihe kreuzt. Jenseits der Mail dehnt sich ein geräumiger Park aus, dessen sorgsam unterhaltene Sandwege nach dem an der Bai von Clew liegenden Hafen führen.
Selbstverständlich gehören Stadt, Hafen, Park, Straßen, Fluß, Brücken, Kirchen, Häuser und Hütten einem jener reichen Landlords, die fast den ganzen Boden Irlands besitzen. Hier waren sie das Eigenthum des Marquis von Sligo, eines Mannes von reinem, altem Adel, und übrigens beiweitem nicht des schlechtesten Herrn für seine zahlreichen Pächter.
Alle zwanzig Schritte etwa hielt Thornpipe mit seinem Wagen an, blickte um sich und rief mit einer Stimme, die einem mangelhaft geölten Mechanismus zu entschallen schien:
»Königspuppen!... Prächtige, bewegliche Königspuppen!«
Doch niemand trat aus den Läden, kein Gesicht erschien an den Fenstern. Nur da und dort tauchten aus den Nebengassen einige bewegliche Lumpen auf und aus diesen glotzten hagere, verhungerte Gesichter hervor mit gerötheten Augen, die so tief lagen, daß man durch sie ins Leere sehen zu können wähnte. Weiter erschienen einzelne halbnackte Kinder, und fünf bis sechs dieser Gassenbuben schlichen endlich an den Wagen heran, als dieser in der großen Mail Halt machte.
»Copper!... Copper!« bettelten alle wie aus einem Munde.
Unter »Copper« ist eine winzige Kupfermünze zu verstehen, ein Theil des Pennys, d. h. des kleinsten im Lande vorkommenden Geldstücks. Und diese Kinder sprachen darum einen Mann an, der mehr Verlangen hatte, Almosen anzunehmen als solche zu vertheilen. Natürlich empfing er mit drohender Hand- und Fußbewegung und mit zornsprühenden Augen die Buben, die sich außerhalb des Bereiches seiner Peitsche halten mußten... und noch sorgsamer fern genug den Spitzzähnen des Hundes, der wegen gewohnter übler Behandlung nie bei guter Laune war.
Thornpipe war schon an sich wüthend. Er schreit ja in die reine Wüste hinaus. Niemand kümmert sich um seine königlichen Marionetten. Paddy – d. i. der Irländer, wie John Bull der Engländer – Paddy zeigt keine Spur von Neugier. Er hegt nicht etwa Feindschaft gegen die erhabene königliche Familie. O nein! Was er nicht liebt, was er haßt mit allem durch Jahrhunderte lange Unterdrückung aufgehäuftem Hasse, das ist nur der Landlord, der ihn als ein noch unter den Leibeigenen Rußlands stehendes Geschöpf betrachtet. Wenn der Ire O'Connell zujubelte, so geschah das, weil der große Patriot auf der Erhaltung der Rechte der Grünen Insel durch die Unionsacte der drei Königreiche vom Jahre 1806 bestand, weil die Thatkraft, die Zähigkeit, die kühne Politik dieses Staatsmannes später die Emancipations-Bill von 1829 durchsetzte und damit, Dank seiner unerschütterlichen Haltung, Irland, das Polen Englands, vor Allem das katholische Irland in eine Periode halber Freiheit eintrat. Thornpipe wäre also sicherlich besser dran gewesen, wenn er seinen Mitbürgern O'Connell vor Augen geführt hätte, doch das war ja noch kein Grund, Ihre graziöse Majestät in effigie so unbeachtet zu lassen. Freilich hätte Paddy dem Bildniß seiner Souveränin auf hübschen Geldstücken, auf Pfunden, Kronen, Halbkronen und Schillings, ganz entschieden den Vorzug gegeben, denn gerade dieses aus der britannischen Münze hervorgegangene Porträt fehlt der Tasche des Irländers am meisten.
Da kein ernstlicher Zuschauer den wiederholten Einladungen des Kunsthausierers Folge gab, setzte sich der von dem großen, knochendürren Hunde geschleppte Karren wieder in Bewegung.
Unter dem herrlichen Ulmenschatten der Allee der Mail zog Thornpipe weiter. Er war allein. Die Kinder hatten ihn endlich verlassen. So erreichte er den von Sandwegen durchschnittenen Park, den der Marquis von Sligo dem öffentlichen Verkehr offen hielt, um einen Zugang zu dem eine gute (englische) Meile von der Stadt entfernten Hafen zu gewähren.
»Königspuppen!... Königspuppen!«
Niemand antwortete. Mit schwachem Schrei flatterten die Vögel von einem Baume zum andern. Der Park war ebenso verödet wie die Mail. Wie konnte auch Jemand einfallen, Katholiken während des Gottesdienstes zu einer solchen Schaustellung einzuladen! Thornpipe konnte unmöglich aus dem Lande selbst sein. Nach dem Mittagessen, zwischen Messe und Vesper, da ließ sich vielleicht eher etwas erzielen. Jedenfalls hinderte den Mann nichts, jetzt bis zum Hafen hinunter zu wandern, und das that er denn auch, indem er, statt im Namen des heiligen Patrick, in dem aller Teufel Irlands weidlich fluchte.
Der Hafen, den der Seenabfluß im Grunde der Bai von Clew bildet, ist nur wenig besucht, obwohl er an Geräumigkeit und Sicherheit alle andern Häfen an der Westküste der Insel übertrifft. Nur vereinzelt kommen Schiffe dahin, weil Großbritannien, d. h. England und Schottland, dem mageren Gelände von Connaught zusenden muß, was dieses dem Erdboden nicht selbst zu entlocken vermag. Irland ist ein Kind, das sich an zwei Brüsten nährt; die Ammen lassen sich ihre Milch aber recht theuer bezahlen.
Einige Matrosen lustwandelten rauchend auf dem Quai umher, denn wegen des Sonntags war die Entlöschung der Fahrzeuge natürlich unterbrochen.
Bekanntlich nimmt es die angelsächsische Rasse mit der Sonntagsheiligung sehr streng. Die Protestanten halten darauf mit aller Unbeugsamkeit ihres Puritanismus, und in Irland wenigstens wetteifern die Katholiken mit jenen in der Ausübung des Cultus. Ihrer sind übrigens zweieinhalb Millionen neben fünfmal-hunderttausend Anhängern verschiedener Secten der anglikanischen Kirche.
In Westport befand sich zur Zeit kein andern Ländern zugehöriges Schiff. Nur Brigg-Goëletten, Schooner und Kutter nebst einigen Fischerbarken, die außerhalb der Bai auf den Fang ausgehen, lagen bei der eben herrschenden Ebbe auf dem Trocknen. Jene von der Westküste Schottlands gekommenen Fahrzeuge segelten, nach Löschung ihrer Ladung von Getreide – das Connaught vor allem braucht – sofort wieder nach der Heimat ab. Um eigentliche Hochseeschiffe zu sehen, mußte man nach Dublin, Londonderry, Belfast oder Cork gehen, wo die transatlantischen Packetboote der Londoner und der Liverpooler Dampferlinien anlaufen.
Aus der Hosentasche jener müßigen Seeleute konnte Thornpipe offenbar auch keinen Schilling locken, denn seine Ausrufungen blieben von den Quais des Hafens her ohne Antwort.
Er ließ jedoch den Karren ruhig stehen. Der vor Hunger und Anstrengung erschöpfte Hund streckte sich auf dem Sande aus. Thornpipe holte aus einem Sacke ein Stück Brot, einige Kartoffeln und einen Salzhäring und begann zu essen wie ein Mann, der nach langer Wegstrecke den ersten Bissen zu sich nimmt.
Der Zughund sah ihn an und knackte mit den Kinnladen, aus denen seine brennendrothe Zunge hervorhing. Jetzt schien seine Fütterungsstunde aber noch nicht geschlagen zu haben, denn er legte den Kopf wieder zwischen die Pfoten und schloß die Augen, um besser auszuruhen.
Eine leichte Bewegung im Innern des Karrens erweckte Thornpipe aus seiner Apathie. Er erhob sich und prüfte, ob ihn niemand beobachte. Dann lüftete er ein wenig die Decke, die den Kasten mit Puppen verhüllte, und steckte ein Stück Brot darunter hinein.
»Daß Du nicht plärrst!« rief er drohenden Tones dazu.
Ein Geräusch von hastigem Kauen antwortete ihm, als berge der Kasten ein vor Hunger sterbendes Thier, und er setzte sein Frühstück wieder fort. Bald war dieses aufgezehrt, und nun führte er eine bauchige Flasche an die Lippen, die saure Molken enthielt, ein Getränk, das hier zu Lande viel genossen wird.
Inzwischen schlug die Kirchenglocke in Westport an und verkündete den Schluß des Gottesdienstes.
Es war jetzt elfeinhalb Uhr.
Thornpipe trieb den Hund mit der Peitsche wieder auf, und rückwärts ging es mit dem Karren nach der Mail, in der Hoffnung, unter denen, die aus der Messe kamen, doch einige Zuschauer zu finden. Während der guten halben Stunde bis zum Essen ließ sich vielleicht noch eine Einnahme machen. Nach der Vesper gedachte Thornpipe seine Schaustellung noch einmal zu öffnen, er wollte aber erst am folgenden Tage weiter ziehen, um andre Ortschaften mit seiner Puppensammlung zu beglücken.
Der Gedanke schien ja nicht so übel zu sein. Statt der Schillinge würde er sich auch mit Coppers begnügen und seine beweglichen Puppen arbeiteten dann wenigstens nicht ganz und gar für nichts und wieder nichts.
Von neuem erschallte seine Stimme:
»Königspuppen!... Bewegliche Königspuppen!«
Binnen weniger Minuten hatten sich wohl an zwanzig Personen um Thornpipe gesammelt. Die Elite der westportischen Bevölkerung war es freilich nicht. Die Mehrzahl bestand aus Kindern, dazu kamen einige Frauen und wenige Männer, die meist das Schuhwerk wieder in der Hand trugen, nicht allein, um es zu schonen, sondern weil es ihnen auch bequemer war, barfuß zu gehen.
Immerhin befanden sich auch gewisse Honoratioren des Städtchens unter den Neugierigen, z. B. der Fleischer, der mit Frau und zwei Kindern stehen geblieben war.
Freilich datirte sein »Tweed« schon von mehreren Jahren her, die bei dem regenreichen Klima doppelt oder gar dreifach zählen; der würdige Meister konnte sich im Ganzen aber noch sehen lassen. Das ist er schon seinem Laden schuldig, über dessen Thür in leuchtender Schrift die Firma »Central-Schlächterei« prangte. Er hatte sein Geschäft auch so in Schwung, daß es nirgends sonst in Westport Fleischwaaren gab. Neben dem stattlichen Manne zeigte sich auch der Droguist des Ortes, der gern den Titel »Pharmazeut« hörte, obwohl seiner Officin selbst die einfachsten Droguen oft fehlten. Dennoch blendete sein Schaufenster mit dem glänzenden Namen »Medical Hall«, so daß, wer die Inschrift nur betrachtete, sich schon geheilt fühlen mußte.
Wir dürfen auch einen Geistlichen nicht vergessen, der vor dem Karren Thornpipe's stehen geblieben war. Dieser Diener der Kirche trug ein recht sauberes Gewand: einen Halskragen von Seide, eine lange Weste mit so dicht wie an einer Soutane stehenden Knöpfen, und einen weiten Ueberrock aus schwarzem Stoffe. Er bildet das Oberhaupt der Parochie, in der ihm vielfache Functionen zufallen. So begnügt er sich nicht damit, zu taufen, zu predigen, zu verehelichen und seine Getreuen beim letzten Gange zu begleiten, er berathet sie auch in geschäftlichen Angelegenheiten, behandelt die Kranken, und das alles in voller Unabhängigkeit, denn er bezieht vom Staate gar keine Einkünfte. Die Gaben von Naturerzeugnissen und die Gebühren für Amtshandlungen, die sogenannten »Accidenzien« der geistlichen Stellen, sichern ihm ein anständiges und bequemes Leben. Er ist der natürliche Verwalter der Schulen und Wohlthätigkeitsanstalten, was ihn aber nicht hindert, auch bei sportlichen – Ruder- oder Pferde- – Wettkämpfen den Vorsitz zu führen, wenn Regattas oder Steeple-chases in seinem Bezirke abgehalten werden. Innig vertraut mit den Familienverhältnissen seiner Beichtkinder, wird er nach Verdienst allgemein geachtet, selbst wenn er es nicht unter seiner Würde hält, in einem Laden einen ihm angebotenen Schoppen Bier anzunehmen. Die Reinheit seiner Sitten ist jedenfalls nie angefochten worden. Ueber seinen allgewaltigen Einfluß braucht man sich in jenen streng katholischen Gegenden auch gar nicht zu wundern, hier, wo nach dem bekannten Reisewerke Anna von Bovet's, das unter dem Titel »Drei Monate in Irland« erschienen ist, »schon die Bedrohung mit dem Ausschluß vom Abendmahle den Bauer durch ein Nadelöhr jagt«.
Den Karren umgab jetzt also ein Publicum, ein etwas productiveres, wenn man so sagen darf, als Thornpipe erhofft hatte. Wahrscheinlich winkte seiner Ausstellung nun einiger Erfolg, denn Westport war noch niemals mit einem Schauspiele dieser Art beehrt worden.
So ließ denn der fahrende Künstler noch einmal seinen Ausruf als »great attraction« ertönen:
»Königspuppen!... Prächtige, bewegliche Königspuppen!«
Der Karren Thornpipe's ist in einfachster Weise eingerichtet: eine Deichsel, an der der wilde zottige Köter angespannt ist; ein viereckiger, auf nur zwei Rädern ruhender Kasten, der deshalb auf den hügeligen Wegen der Grafschaft leichter fortzuziehen ist; zwei Griffe an der Rückseite, um das Ganze, gleich den Wagen hausierender Händler, auch schieben zu können; über dem Kasten ein leichtes Leinenzeltdach auf vier Eisenstäben, das, wenn es auch nicht ganz gegen die hier kaum jemals brennende Sonne, so doch gegen den endlosen Regen des höheren Irlands schützt. Das Ganze ähnelt also den leichten Wägelchen, die die Drehorgeln durch Stadt und Land tragen, jene Instrumente mit kreischenden Pfeifentönen, denen sich noch eine Art Trompetengeschmetter zugesellt. Eine Drehorgel ist es
freilich nicht, womit Thornpipe von Stadt zu Stadt zieht, oder in der complicierteren Maschinerie ist die Orgel wenigstens zum einfachen Pfeifchen zusammengeschmolzen, wie sich das sogleich zeigen wird.
Der Kasten ist nach unten nämlich durch einen bis zu einem Viertel seiner Höhe aufragenden Deckel geschlossen. Wird dieser zurückgeschlagen, so bietet sich den Zuschauern ein für diese meist verblüffender Anblick.
Zur Vermeidung von Wiederholungen empfehlen wir, Thornpipe's gewohnte Erläuterungen achtsam anzuhören. Jedenfalls hat sich der wandernde Schausteller mit der unermüdlichen Beredsamkeit den berühmten Brioché, den Schöpfer der Marionettentheater auf den Messen und Märkten Frankreichs, zum Muster genommen.
»Ladies und Gentlemen....«, so beginnt er unabänderlich, um sich das Wohlwollen der Zuschauer zu sichern, selbst wenn er das jämmerlichst zerlumpte Dorfpublicum anredet.
»Ladies und Gentlemen! Hier erblicken Sie den großen Festsaal des königlichen Schlosses zu Osborne auf der Insel Wight.«
Das Kasteninnere stellt in der That einen Salon im Kleinen vor; vier Planken bilden seine Wände, worauf Thüren und drapierte Fenster gemalt sind; da und dort stehen hochmoderne Möbel aus Pappe, die mit Stiften auf einem farbigen Teppich festgehalten sind, Tische, Armstühle und Sessel, so angeordnet, daß sie die Bewegungen der Personen, der Prinzen, Prinzessinnen, Herzöge, Marquis, Grafen und Baronets nicht hindern können, die mit ihren vornehmen Gemahlinnen inmitten dieser officiellen Empfangscour einherstolzieren.
»Im Hintergrunde, so fährt Thornpipe fort, bemerken Sie den Thron der Königin Victoria, überragt von dem carmoisinrothen Sammtbaldachin mit goldenen Fransen und haargenau dem Throne nachgebildet, auf dem Ihre graziöse Majestät bei den Hoffestlichkeiten Platz nimmt.«
Der betreffende Thron mißt hier acht bis zehn Centimeter in der Höhe, und obgleich der Sammt nur durch wollebestäubtes Papier vertreten ist und die Goldfransen aus einfacher gelber Schnur bestehen, so verschlägt das nicht das mindeste bei den Wackeren, die noch niemals ein solches ausgesprochen monarchisches Möbelstück zu Gesicht bekommen haben.
»Auf dem Throne, belehrt Thornpipe weiter, erblicken Sie die Königin – die Aehnlichkeit derselben wird garantiert! – in ihrer Galatracht; den an den Schultern gehaltenen Königsmantel, die Krone auf dem Haupte und das Scepter in der Hand.«
Wir, die wir niemals die Ehre genossen, die Beherrscherin des Vereinigten Königreiches und Kaiserin von Indien in ihren Staatsgemächern zu erblicken, können für die zweifellose Aehnlichkeit der hohen Dame mit der sie darstellenden Puppe natürlich nicht gutsagen. Doch zugegeben, daß sie sich bei großen Hoffestlichkeiten mit der Krone schmückt, so wird sie in der Hand doch schwerlich ein Scepter führen, das, wie sein Ersatzstück hier, mehr dem Dreizack Neptuns gleicht. Das einfachste bleibt es freilich, Thornpipe aufs Wort zu glauben, und das thaten kluger Weise auch die Zuschauer.
»Zur Rechten der Königin, erläutert Thornpipe ferner, mache ich das geehrte Publicum aufmerksam auf Ihre königlichen Hoheiten den Prinzen und die Prinzessin von Wales, wie Sie die Herrschaften gelegentlich ihrer letzten Reise durch Irland gewiß selbst gesehen haben.«
Kein Zweifel, da steht der Prinz von Wales als britischer Feldmarschall, und die Tochter des Königs von Dänemark, angethan mit kostbarem Spitzenkleide, das hier freilich kunstvoll aus Silberpapier geschnitten ist, wie solches zum Schmucke von Bonbonschachteln verwendet wird.
Auf der andern Seite stehen der Herzog von Edinburgh, der Herzog von Connaught, der von Fife, der Prinz Battenberg mit den Prinzessinnen, ihren erlauchten Gemahlinnen, kurz die ganze königliche Familie, so angeordnet, daß sie vor dem Throne einen Halbkreis bilden. Unzweifelhaft erwecken diese bezüglich ihrer Porträttreue immer »garantierten« Puppen mit den gemalten Gesichtern und ihrer dem Leben abgelauschten Haltung eine deutliche Vorstellung von dem Hofe Englands.
Dann folgen die Großofficiere der Krone, darunter der Großadmiral Sir Georges Hamilton. Thornpipe befleißigt sich, mit dem Ende seines Stabes alle der Bewunderung des Publikums zu empfehlen, unter der Hinzufügung, daß jeder von ihnen seinem Range entsprechend den ihm nach der Hofetiquette zukommenden Platz einnimmt.
Da hält sich vor dem Throne in ehrfurchtsvoller Unbeweglichkeit ein hochgewachsener Mann von ausgesprochen angelsächsischem Typus, der nur ein Minister der Königin sein kann.
Es ist auch einer, nämlich der Chef des Cabinets von St. James, den man an dem unter der Last der Geschäfte etwas gekrümmten Rücken leicht genug erkennt.
Thornpipe geht weiter in seinen Erklärungen.
»Und neben dem Premierminister, zur Rechten, der ehrwürdige Herr Gladstone.«
Wahrlich, es wäre schwierig gewesen, den berühmten »Oldman« nicht zu erkennen, den schönen Greis, der sich noch immer aufrecht hält, der immer bereit ist, seine liberalen Anschauungen gegen die der conservativen Regierung zu vertheidigen. Vielleicht könnte es auffallen, daß er den Premierminister mit freundlichem Blicke betrachtet; doch was bei Wesen aus Fleisch und Bein unmöglich wäre, das hat bei Puppen aus Pappe und Holz ja nicht viel auf sich.
Ein außergewöhnlicher Anachronismus verschuldet auch noch eine andre Nebeneinanderstellung, denn Thornpipe bläst die Backen auf und verkündet:
»Hier, Ladies und Gentlemen, stelle ich Ihnen Ihren berühmten Landsmann O'Connell vor, dessen Name in jedem irländischen Herzen allezeit ein Echo finden wird.«
Ja, da befand sich O'Connell am Hofe Englands und im Jahre 1875, obwohl er schon seit einem Vierteljahrhundert todt war. Auf einen dagegen erhobenen Einwand hätte Thornpipe jedenfalls geantwortet, daß der große Agitator für einen Sohn Irlands immer fortlebt. Mit ähnlicher Begründung hätte er da auch Parnell aufstellen können, obwohl dieser Politiker jener Zeit kaum bekannt war.
Da und dort stehen noch andre Höflinge verstreut, deren Namen uns entgehen, alle mit Ordenssternen und Bändern übersäet, politische und kriegerische Berühmtheiten, darunter Se. Gnaden der Herzog von Cambridge neben dem seligen Lord Wellington, der verstorbene Lord Palmerston neben dem verstorbenen Pitt; endlich Mitglieder der Pairskammer in vertraulichem Gespräche mit solchen aus dem Hause der Gemeinen; hinter diesen eine Reihe Horse-guards in Parade, im Salon zwar, aber doch zu Pferde, eine Andeutung, daß es sich hier um ein Fest handelt, wie es selbst im Schlosse zu Osborne selten vorkommt.
Das Ganze umfaßt etwa fünfzig kleine Männchen, die alle schreiend bemalt sind und mit steifer Würde alles darstellen, was an Hocharistokratie, an Auszeichnung und Rangstellung in der militärischen und politischen Welt des Vereinigten Königreiches vorhanden ist.
Man bemerkt sogar, daß die britische Flotte nicht vergessen wurde, und wenn die königliche Yacht »Victoria and Albert« hier nicht unter Dampf ist, so sieht man wenigstens Schiffe an die Fensterscheiben gemalt, durch die man die Rhede von Spithead zu erkennen glaubt. Mit guten Augen würde man gewiß die Yacht »Enchantereß« unterscheiden können, mit Ihren Ehren den Lords der Admiralität an Bord, die in einer Hand ein Fernrohr, in der andern ein Sprachrohr halten.
Mit der Behauptung, daß seine Schaustellung einzig in ihrer Art sei, hat Thornpipe das Publicum nicht betrogen. Auf jeden Fall macht sie eine Reise nach der Insel Wight unnöthig. Außerdem bereitet sie nicht nur den Gassenbuben, die sie mit Bewunderung betrachten, sondern auch den Erwachsenen, die niemals über die Grenzen Connaugths hinauskommen, ein wirkliches Vergnügen. Der Parochialgeistliche lächelt vielleicht im Stillen darüber; der Droguist kann sich nicht enthalten zu bestätigen, daß die Aehnlichkeit der dargestellten Personen überraschend sei, obwohl er diese in seinem Leben nicht gesehen hat. Der Fleischer gestand ein, was er hier sehe, übertreffe seine Vorstellungen davon, denn er könne nicht glauben, daß bei einem Empfange am Hofe so viel Luxus und Glanz entfaltet werde.
»Nun, Ladies und Gentlemen, nimmt Thornpipe wieder das Wort, das ist bis jetzt noch gar nichts. Sie glauben jedenfalls, daß diese königlichen und die andern Personen sich gar nicht bewegen könnten. Fehlgeschossen! Sie leben wirklich, ich versichere es, leben, wie Sie und ich selbst, was Sie sofort sehen sollen. Vorerst bin ich so frei, eine kleine Einsammlung zu veranstalten, wozu ich mich Ihrem geneigten Wohlwollen empfehle.«
Das ist der kritische Augenblick für solche Schausteller, wenn die Sammelbüchse unter den Zuschauern zu kreisen beginnt. Ganz gewöhnlich zerfallen letztere in zwei Classen: in die, die sich aus dem Staube machen, um nicht in die Tasche greifen zu müssen, und in die, welche dableiben mit der Absicht, sich umsonst zu amüsieren – die zweite Classe bildet übrigens die Mehrzahl. Wohl giebt es noch eine dritte Classe, die der Zahlenden, deren sind aber so wenige, daß es sich gar nicht verlohnt, von ihnen zu sprechen. Das zeigte sich deutlich genug, als Thornpipe seinen kleinen Umgang antrat und dazu ein liebenswürdiges Lächeln heuchelte.
Sicherlich hätte man bei der ganzen Lumpengesellschaft, die nicht von der Stelle wich, keine zwei Coppers finden können, und alle, die das weitere Schauspiel unentgeltlich genießen wollten, wendeten beim Nahen der Sammelbüchse einfach den Kopf ab, so daß nur fünf bis sechs Zuschauer in die Tasche griffen, was den Ertrag von einem Schilling drei Pence ergab, den Thornpipe mit süßsaurer Miene einsteckte. Was half's? Er mußte sich, in Erwartung einer reicheren Ernte bei der Nachmittagsvorstellung, schon begnügen und lieber das angekündigte Programm durchführen, als etwa das Geld zurückzugeben.
Jetzt verwandelte sich aber die bisher stumme Bewunderung in eine laute lärmende Kundgebung des Beifalls. Es begann ein Händeklatschen, ein Trampeln mit den Füßen und ein »Aoh«rufen, daß man's wohl bis zum Hafen hinunter hätte hören können.
Thornpipe hatte mit seinem Stabe an den Kasten geschlagen, worauf ein von niemand beachtetes leises Seufzen Antwort gab. Plötzlich erschien die ganze Scene wie durch ein Wunder in naturgetreuer Bewegung.
Die durch einen inneren Mechanismus bewegten Puppen schienen wirklich Leben bekommen zu haben. Ihre Majestät die Königin Victoria hatte zwar den Thron nicht verlassen, was ein Verstoß gegen die Etiquette gewesen wäre, sie hatte sich nicht einmal erhoben, sie bewegte aber das gekrönte Haupt und hob und senkte das Scepter, wie die Kapellmeister den Tactierstock beim Dirigieren. Die Mitglieder der königlichen Familie drehen und wenden sich, grüßend und Grüße erwidernd, hier- und dorthin, während die Herzöge, Marquis und Baronets in größter Ehrfurcht vorüberdefilieren. Der Premierminister verneigt sich vor Herrn Gladstone, der es ihm gleichthut. Nach ihnen schreitet O'Connell auf unsichtbarer Fuge mit Ernst und Würde vor, und ihm folgt der Herzog von Cambridge, der einen Charaktertanz aufzuführen scheint. Die andern Persönlichkeiten schließen sich dem Zuge an, und die Pferde der Horse-guards bäumen sich schweifwedelnd, als wären sie nicht in einem Saale inmitten des Schlosses von Osborne, sondern auf dessen geräumigem Hofe aufgestellt.
Das Ganze vollzieht sich unter einer leisen, aber scharfen Musikbegleitung, bei der allerdings manche Töne nicht zum Ausdruck kommen. Doch wie hätte Paddy – der für Musik so empfänglich ist, daß Heinrich VIII. das Wappen des Grünen Erin noch mit einer Harfe bereicherte – davon nicht entzückt sein sollen, obgleich er statt God save the Queen oder Rule Britannia, den melancholischen Nationalgesängen des traurigen Vereinigten Königreiches, lieber eine irische Weise gehört hätte.
Für Jeden, der die Maschinerie eines größeren Theaters noch nicht kannte, mußte der Vorgang hier entschieden etwas Wunderbares an sich haben; so entfesselte denn auch der Anblick dieser sich bewegenden Puppen bei den Zuschauern einen Enthusiasmus ohne Gleichen.
Da, wie durch einen Ruck im Mechanismus, senkt die Königin ihr Scepter so tief, daß sie damit den runden Rücken des Premierministers berührt. Ein doppeltes Hurrah der Zuschauer braust durch die Lüfte.
»Sie leben wahrhaftig! ruft einer der Umstehenden.
– Es fehlt ihnen nur die Sprache! bemerkte ein andrer.
– Das laßt Euch nicht leid thun!« setzt der Pharmazeut hinzu, der in unbewachten Augenblicken den Demokraten heraussteckt.
Er hatte auch Recht. Man denke sich nur Puppen, die höfische Redensarten drechseln.
»Ich möchte wohl wissen, was sie in Bewegung setzt, läßt sich der Schlächter vernehmen.
– Das ist der reine Gottseibeiuns, äußert ein Matrose.
– Ja, der Teufel, rufen einige schon halb überzeugte Matronen, die sich dem Geistlichen zugewendet bekreuzen, während der fromme Herr eine nachdenkliche Miene macht.
– Wie könnt Ihr annehmen, daß der Teufel in diesem Kasten steckt, erwidert ein wegen seiner Naivetät bekannter Ladenjüngling, der Teufel ist dazu viel zu groß...
– Na, wenn er nicht drin steckt, so steht er draußen! schwatzt eine alte Stadtklatsche. Der da, der dieses Schauspiel vorführt...
– Ach nein, unterbricht sie der Droguist, Ihr wißt doch, daß der Teufel nicht irländisch spricht!«
Das ist die Wahrheit, die Paddy ohne Widerspruch zugiebt, und man einigte sich also darüber, daß Thornpipe wegen seines rein irischen Dialects der Teufel nicht sein könne.
Wenn die Sache also nicht mit Hexerei zuging, mußte nothwendiger Weise ein innerer Mechanismus vorhanden sein, der diese kleine Welt in Bewegung setzte. Niemand hatte Thornpipe jedoch etwa eine Feder aufziehen sehen. Ja, als die Bewegungen sich zu verlangsamen begannen, da hatte – eine Besonderheit, die dem Pfarrer nicht entging – ein Peitschenhieb Thornpipe's unter den von der Decke verhüllten Kasten genügt, die Puppengesellschaft aufs neue zu beleben.
Den Pfarrer drängte es, zu erfahren, wem diese fühlbare Aufmunterung wohl gegolten haben möge, deshalb fragte er Thornpipe:
»Sie haben wohl einen Hund dort in Ihrem Kasten?«
Der Mann sah ihn, die Stirn runzelnd, an, als finde er diese Frage etwas indiscret.
»Da drin ist, was eben drin ist! antwortete er. Das bleibt mein Geheimniß. Ich fühle mich nicht verpflichtet, es zu verrathen...
– Dazu sind Sie nicht verpflichtet, meinte der Geistliche, wir aber haben doch das Recht, zu vermuthen, daß es ein Hund ist, der Ihren Mechanismus treibt...
– Nun ja... ein Hund! gab Thornpipe ärgerlich zu, ein Hund in einem Trommelkäfig. Es hat mir Zeit genug gekostet, ihn so weit zu dressieren. Und welchen Lohn hab' ich nun für meine Mühen erhalten? Nicht die Hälfte von dem, was man jedem Geistlichen für das Lesen einer einzigen Messe bezahlt!«
Eben als Thornpipe seinen Satz beendete, stand der Mechanismus still, zum großen Mißvergnügen der Zuschauer, deren Interesse noch lange nicht befriedigt war. Der Puppenvorzeiger ging daran, den Karrendeckel zu schließen und erklärte, daß die Vorstellung zu Ende sei.
»Würden Sie bereit sein, noch eine zweite zu geben? fragte da der Pharmazeut.
– Nein! erklärte Thornpipe, der viele verdächtige Blicke auf sich gerichtet sah, mit barscher Entschiedenheit.
– Auch nicht, wenn wir Ihnen für eine Einnahme von zwei Schillingen einständen?
– Weder für zwei noch für drei Schillinge!« rief Thornpipe.
Er dachte nur, sich aus dem Staube zu machen, das Publicum schien aber nicht in der Laune, ihn so schnell fortzulassen. Auf einen Wink seines Herrn zog der Köter in der Gabeldeichsel schon an, als sich ein langer, mit Schluchzen untermischter Klagelaut aus dem Kasten hören ließ.
Wüthend rief Thornpipe, wie schon früher einmal:
»Wirst Du schweigen, Hundejunge!
– Das ist kein Hund, der da drin steckt, sagte der Geistliche, den Karren zurückhaltend.
– Und doch! versetzte Thornpipe.
– Nein... das ist ein Kind!...
– Ein Kind!... Ein Kind!« wiederholten die Zuschauer.
Jetzt ging in der Empfindung der Leute eine mächtige Veränderung vor sich.
Nicht Neugier, sondern Theilnahme war es, die sich in ihrer drohenden Haltung kundgab. Ein Kind war in diesem an der Seite offenen Kasten verborgen, und wurde mit der Peitsche angetrieben, wenn es anhielt, weil ihm die Kräfte erlahmten, sich in seinem Käfig zu bewegen.
»Das Kind!... Das Kind heraus!« klang es von allen Seiten.
Thornpipe sah sich einer Uebermacht gegenüber. Er wollte jedoch Widerstand leisten und seinen Karren vorwärts schieben.... Vergeblich. Der Schlächter packte ihn an der einen, der Droguist an der andern Seite und so wurde das Gefährt tüchtig geschüttelt. Der königliche Hof dürfte wohl niemals einen solchen Verlauf seiner Feierlichkeiten erlebt haben, bei dem die Prinzen die Prinzessinnen stießen, die Herzöge die Marquis umrannten, der Premierminister hinfiel und einen Sturz des ganzen Cabinets damit herbeiführte... kurz, ein Durcheinander, wie es im Schlosse Osborne gewiß nur vorkäme, wenn ein Erdbeben die ganze Insel Wight erschütterte.
Thornpipe wurde bald überwältigt, wenn er sich auch wie ein Rasender wehrte. Alle betheiligten sich dabei. Der Karren wurde untersucht, der Droguist kroch zwischen die Räder und zog aus dem Kasten ein Kind hervor....
Ja, ein Jüngelchen von etwa drei Jahren mit bleichem, leidendem Gesicht, mühsamem Athem und mit Beinchen, die mit Striemen überdeckt waren.
Kein Mensch in Westport kannte den Kleinen.
So gestaltete sich das erste Erscheinen des »Findlings«, des Helden dieser Erzählung. Wie er diesem Wütherich in die Hände gefallen und wer sein Vater wäre, das war schwerlich zu ergründen. In Wahrheit hatte Thornpipe das Kind vor neun Monaten in der Dorfstraße von Donegal aufgelesen und zu dem nun erkannten Dienste verwendet.
Eine wackre Frau nahm das Bürschchen in die Arme und suchte es aufzumuntern. Alle drängten sich um den Kleinen. Das arme Eichkätzchen, das verurtheilt gewesen war, seinen Käfig unter dem Karrenkasten in Drehung zu versetzen, hatte ein interessantes, ja intelligentes Gesicht; aber auf diese Weise sich den Unterhalt verdienen zu müssen – und in so zartem Alter!
Endlich öffnete der kleine Knabe die Augen und warf sich rückwärts, als er Thornpipe gewahrte, der herantrat und mit der Aufforderung: »Gebt mir den Jungen zurück!« ihn wiederzuerlangen suchte.
»Seid Ihr sein Vater? fragte der Geistliche.
– Ja..., antwortete Thornpipe hastig.
– Nein... das ist mein Papa nicht! rief weinend das Kind, das sich der Frau anschmiegte.
– Er gehört Euch gar nicht an! wetterte der Droguist.
– Ein gestohlener Bursche ist's! setzte der Schlächter hinzu.
– Und wir geben ihn nicht zurück!« erklärte der Pfarrer.
Thornpipe wollte sich nicht ergeben. Mit geröthetem Gesicht und zornsprühenden Augen verlor er ganz die Fassung und war schon daran, »auf irländisch zu spaßen«, d. h. ein Messer zu ziehen, als sich zwei kräftige Männer auf ihn stürzten und ihn entwaffneten.
»Jagt ihn davon!... Jagt ihn fort! heulten die Frauen.
– Mach' Dich auf den Weg, Spitzbube! sagte der Droguist.
– Und laßt Euch in der Grafschaft nicht wieder erblicken!« schloß der Geistliche mit einer drohenden Bewegung.
Thornpipe trieb den Hund mit der Peitsche an und der Karren rollte die Hauptstraße von Westport wieder hinauf.
»Der Schurke! – so machte sich der Pharmazeut noch Luft – ich gebe ihm keine drei Monate, bis er das Menuet von Kilmainham getanzt hat!«
Dieses Menuet tanzen, bedeutet nach landläufiger Sprechweise, seine letzte Gigue vor einem Galgen abtanzen.
Der Pfarrer fragte das Kind nach seinem Namen.
– »Findling« heiß' ich,« lautete die sichere Antwort.
Und in der That: es hatte keinen andern Namen.
»Nummer 13, was hat der?...
– Das Fieber.
– Und Nummer 9?...
– Den Keuchhusten.
– Nummer 17?...
– Auch den Keuchhusten.
– Und Nummer 23?...
– Ich glaube, der wird den Scharlach bekommen.«
Alle diese Antworten schrieb O'Bodkins in ein musterhaft geführtes Register auf die offenen Conten der erwähnten Nummern ein. Hier war je eine Columne für den Namen der Krankheit, für die Stunde des Arztbesuches, für die verordneten Arzneien und für die Art der Verabreichung derselben angelegt, wenn die Erkrankten ins Hospital übergeführt waren. Da standen die Namen in gothischer Schrift, die Nummern in arabischen Ziffern, die Medicamente in Rundschrift und die Vorschriften in englischem Ductus – alles eingefaßt mit zierlichen Klammern in blauer Tinte und an gewissen Stellen schwarz doppelt unterstrichen, ein Muster von Kalligraphie und Uebersichtlichkeit.
»Einige von diesen Kindern sind ernstlich erkrankt, bemerkte noch der Arzt. Achten Sie darauf, daß sie sich bei der Ueberführung nicht erkälten.
– Gewiß, ich werde schon dafür Sorge tragen, antwortete O'Bodkins gleichgiltig. Sind sie nicht mehr hier, so bin ich ihrer ledig. Wenn dann nur meine Buchführung in Ordnung ist....
– Na, und wenn sie ihrer Krankheit erliegen, unterbrach ihn der Doctor, schon nach Hut und Stock fassend, ist der Verlust, mein' ich, auch nicht so arg....
– Gewiß nicht, stimmte O'Bodkins zu. Ich schreibe sie dann in die Rubrik der Verstorbenen ein und ihr Conto wird abgeschlossen. Ist das aber geschehen, so hat niemand mehr Ursache sich zu beklagen.«
Mit einem Händedrucke verabschiedete sich der Arzt des Hauses.
O'Bodkins war der Director der »Ragged-School« von Galway, einer Kleinstadt an der Bai und in der Grafschaft gleichen Namens, im Südwesten der Provinz Connaught. Nur hier dürfen die Katholiken Grundeigenthum besitzen und hierher (und nach Munster) befleißigt sich England, das nicht protestantische Irland zurückzudrängen.
Man kennt die Art Leute wie O'Bodkins ja zur Genüge; auch er verdient kaum unter die liebevollen Vertreter der Menschheit gerechnet zu werden. Er ist ein untersetzter Mann, einer jener Cölibatäre, die weder eine Jugend gehabt haben, noch ein Alter haben werden, die sich immer gleich bleiben und Haare haben, die weder ausfallen noch ergrauen, die mit goldener Brille, welche man ihnen im Grabe am Besten läßt, schon auf die Welt gekommen sind, die keine Nahrungs-, keine Familiensorgen kennen, ausreichend haben, was sie bedürfen, und deren Herz von zarteren Empfindungen niemals bewegt worden ist. Er gehört zu den, weder guten noch schlechten Geschöpfen, die ihre irdische Laufbahn vollenden, ohne je etwas Gutes oder Böses gethan zu haben, und die niemals unglücklich sind... nicht einmal über das Unglück andrer.
O'Bodkins war also wie von Natur zum Director einer Lumpenschule geschaffen.
Wir haben bereits gesehen, mit welch' erstaunlicher Sorgfalt, welch' peinlicher Abwägung des Soll und Haben die Bücher des Mannes geführt waren. Im Hause standen ihm übrigens die bejahrte Mutter Kriß, an deren Munde stets die Tabakspfeife hing, und ein älterer Pensionär, namens Grip, helfend zur Seite. Letzterer, ein armer Teufel mit gutmüthigen Augen, einem gewissen Ausdruck von Fröhlichkeit in den Zügen und einer für den Irländer charakteristischen, etwas aufgebogenen Nase, war unendlich mehr werth als Dreiviertel der elenden Kreaturen, die in dieser Art Schulhospiz Aufnahme gefunden hatten.
Diese Bewohner des Hauses waren Waisen oder verlassene Kinder, die ihre Eltern meist gar nicht gekannt hatten. Am Bachesrand oder am Feldrain geboren, auf Straßen oder Landwegen aufgelesen, kehrten sie nach Erreichung des arbeitsfähigen Alters auch dahin zurück... ein Ausschuß der menschlichen Gesellschaft. Doch was konnte aus zwischen Pflastersteinen verstreutem Samenkorn für andre Frucht wohl erwachsen?
In der Schule von Galway befanden sich deren etwa dreißig im Alter von drei bis zu zwölf Jahren, alle in Lumpen gehüllt und immer hungrig, da sie sich nur von der öffentlichen Mildthätigkeit ernährten.
Mehrere davon waren immer krank, und diese Kinder schnellten die Sterblichkeit des Ortes nicht unwesentlich in die Höhe – freilich »kein arger Verlust«, nach Aussage des Arztes.
Er hat ja damit nicht ganz Unrecht, wenn keine Erziehung im Stande ist, jene zu verhindern, einst Uebelthäter zu werden. Und doch wohnt eine Seele auch unter diesen zerfetzten Hüllen, und bei besserer Methode gelänge es vielleicht, so manchen zum Guten zu lenken. Jedenfalls wäre zur Erziehung und Heranbildung solcher Unglücklichen ein andrer Lehrer nöthig, als jener Hampelmann O'Bodkins, ein Lehrer, wie man solche selbst in den dürftigsten Gemeinden Irlands nicht gar so selten antrifft.
Der »Findling« war einer der jüngsten in dieser Ragged-School. Er zählte jetzt kaum vierundeinhalb Jahre. Armes Kind! Es hätte an seiner Stirn die trostlose Aufschrift »Keine Hoffnung! Keine Aussichten!« tragen sollen. Von Thornpipe zur lebendigen Kurbel erniedrigt, dann durch das Mitleid einiger guten Seelen in Westport seinem Peiniger entrissen und nun Zögling der Lumpenschule in Galway! Und wenn er diese einst verließ, drohte es ihm dann nicht noch schlechter zu ergehen?
Gewiß war es lobenswerth von dem Pfarrer des Kirchspiels gewesen, dieses unglückliche Wesen aus den Händen des Marionettenschaustellers zu befreien. Nach vielen vergeblichen Mühen mußte man damals endlich verzichten, seine Herkunft nachzuweisen. Der »Findling« entsann sich nur darauf, bei einer garstigen Frau gelebt zu haben, gleichzeitig mit einem kleinen Mädchen, das ihm recht zugethan, und noch einer andern, die aber gestorben war. Einen Ort wußte er freilich nicht anzugeben. Ebenso konnte niemand sagen, ob er ein nur verlassnes oder ein gestohlnes Kind war.
Seit seiner Befreiung in Westport hatte bald dieses bald jenes Haus für ihn nach Kräften gesorgt. Die Frauen beklagten sein Schicksal. Der Name »Findling« war ihm geblieben. Einzelne Familien pflegten ihn acht, andere vierzehn Tage lang. So vergingen drei Monate. Das Kirchspiel war aber selbst recht arm und schon lebten viele Bedürftige auf öffentliche Kosten. Wäre ein Waisenhaus vorhanden gewesen, so würde der Knabe darin einen Platz bekommen haben. Ein solches gab es aber nicht, und so hatte man ihn nach der Lumpenschule in Galway bringen müssen, und hier befand er sich nun seit neun Monaten, mitten unter einer Rotte verwahrloster Rangen. Was sollte aus ihm werden, wenn er diese Anstalt einmal verließ? Er gehörte zu jenen Enterbten, für die von frühester Jugend an die Beschaffung der täglichen Bedürfnisse eine Lebensfrage bildet, eine Frage, die gar zu oft ohne Antwort bleibt.
Seit neun Monaten also befand sich der kleine Junge unter der Pflege und Zucht der halb verwilderten alten Kriß, des in sein Schicksal ergebenen Grip und des Directors O'Bodkins, dieser Maschine zur Ausgleichung von Einnahmen und Ausgaben. Seine gute Constitution half ihm aber, viele hier unvermeidliche Schädigungen zu überwinden. Er stand nicht mit in des Directors großem Buche in der Rubrik der Masern, des Scharlachs und andrer Kinderkrankheiten, sonst wäre sein Conto wohl schon beglichen gewesen... in dem gemeinsamen Grabe, das Galway seinen öffentlichen Armen gewährte.
Neben der körperlichen Gesundheit war in der Lumpenschule aber auch die geistige und moralische Entwicklung arg gefährdet, und es gehörte eine vortreffliche sittliche Veranlagung dazu, der Ansteckung durch tägliches böses Beispiel nicht zu erliegen. Hier befand sich sogar ein Knabe, dessen »Mutter ihre Zeit in Norfolk absaß«, auf ferner Insel inmitten des australischen Meeres, und dessen wegen Raubmords verurteilter Vater hinter den Mauern von Newgate unter den Händen des berühmten (Scharfrichters) Berry geendet hatte.
Dieser Knabe hieß Carker. Schon in seinem zwölften Jahre schien er in den verbrecherischen Spuren der Eltern weiter zu wandeln. Daß dieser inmitten des verwahrlosen Gesindels der Lumpenschule eine gewisse Rolle spielte, ist ja nicht zu verwundern. Er, ein Verdorbener, der andre verdarb, genoß eines besondern Ansehens, er hatte seine Schmeichler und Helfershelfer, war der geborne Anführer der Schlimmsten und bereits zu jedem schlechten Streiche bereit, eine Vorübung zu den Verbrechen, die er nach seinem Austritt aus der Schule gewiß beging.
Der »Findling« freilich empfand nur heftigen Widerwillen gegen Carker, wenn er ihn – den Sohn des Gehenkten! – zuweilen auch mit großen Augen voller Erstaunen betrachtete.
Im allgemeinen gleichen diese Armenschulen kaum den modernen Unterrichtsanstalten, für die der Cubikmeter Luft nach hygienischen Grundsätzen berechnet und der Raumbedarf nach der Kopfzahl bemessen ist. Zum Lager gab es Stroh, da ist das Bett bald gemacht und bedarf kaum des Aufschüttelns. Von einem Speisesaale war keine Rede, und der erschien auch überflüssig, wo man nur Brodrinden nebst einigen Kartoffeln, und auch das oft nur in unzureichender Menge, zu kauen hatte. Die Last des Unterrichtens der Lumpenschüler lag auf den Schultern des Herrn O'Bodkins. Er sollte ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen lehren, doch ohne Gewähr des Gelingens, und wenn die Kinder zwei bis drei Jahre unter seiner Zuchtruthe gestanden hatten, gab es unter ihnen kaum ein Dutzend, die einen Maueranschlag zu entziffern vermocht hätten. Obgleich einer der Jüngsten unterschied sich der kleine Junge jedoch sehr von seinen Kameraden durch einen regen Lerntrieb, der ihm so manche Spöttelei einbrachte. Es ist doch tief bedauerlich und social unverantwortlich, wenn ein Menschenkind, das nach geistiger Ausbildung trachtet, diese entbehren muß. Niemand vermag ja den zukünftigen Verlust durch die Brachlegung eines jungen Gehirns abzuschätzen, das die Natur vielleicht mit den besten – jetzt nicht aufgehenden – Keimen ausgestattet hatte.
Wenn die Zöglinge nun hier kaum mit dem Kopfe arbeiteten, lag das nicht etwa daran, daß sie mit Handarbeit überbürdet gewesen wären. Die tägliche Beschäftigung der Kinder bestand vielmehr nur darin, daß sie etwas Brennmaterial für den Winter aufsammelten, sich bei mitleidigen Seelen abgelegte Kleidungsstücke erbettelten und den Unrath von Pferden und andern Thieren zusammenscharrten, um diesen an die Landleute für wenige Coppers zu verkaufen – eine Einnahmequelle, für die O'Bodkins eine besondre Rechnung führte – endlich durchwühlten sie, womöglich vor den Hunden oder im Nothfalle nach Verjagung der Vierfüßler, die Kehrichthaufen an den Straßenecken nach irgendwelchem verwendbaren oder verwerthbaren Abfall. Spiele, Unterhaltungen gab es hier nicht, wenn man es nicht als Vergnügen rechnen will, sich gegenseitig zu zerkratzen, zu kneipen und zu beißen, abgesehen von den übeln Streichen, die Grip gar häufig gespielt wurden. Der brave Bursche machte davon wenig Aufhebens; doch das reizte Carker und die andern Schlingel nur noch mehr an, ihm auf gemeinste und grausamste Weise mitzuspielen.
Das einzige einigermaßen saubere Zimmer der Lumpenschule war das des Directors, das natürlich keiner betreten durfte, denn dann wären seine Bücher unfehlbar zerrissen, seine Schreibereien überallhin verstreut worden. Im Gegentheil gefiel es dem Manne, wenn seine Zöglinge sich draußen umhertrieben und dumme Streiche trieben; ihm kamen sie, die der Hunger und die Müdigkeit in die Lumpenschule heimtrieb, doch immer zu zeitig zurück.
Bei seiner ernsteren Natur und seinen besseren Neigungen war der Findling unablässig nicht nur dem rohen Spotte, sondern auch den Gewaltthätigkeiten Carker's und eines halben Dutzend andrer preisgegeben. Er vermied es aber, sich zu beklagen. Wenn er nur stark genug gewesen wäre! Er hätte sich schon Respect verschafft, hätte Schlag für Schlag, Fußtritt für Fußtritt zurückgegeben – jetzt freilich schwoll ihm das Herz nur vor Ingrimm, zur Selbstvertheidigung zu schwach zu sein.
Gleichzeitig verließ er das Schulhaus am wenigsten, da er sich ja der Ruhe erfreute, wenn die übrigen draußen herumlungerten. Er stand sich dabei freilich schlecht, denn unterwegs hätte er ja etwas zum abnagen finden oder ein altbackenes Brödchen für zwei bis drei als Almosen erhaltene Coppers kaufen können. Ihm widerstrebte es aber, die Hand auszustrecken und hinter den Wagen herzulaufen, um ein verlorenes Geldstückchen aufzulesen, vorzüglich aber, Ladenauslagen und dergleichen zu berauben, was die anderen oft genug leichten Herzens thaten. Nein, er zog es vor, bei Grip zu bleiben.
»Nun, Du willst nicht fortgehen? fragte ihn dieser.
– Nein, Grip.
– Carker wird Dich schlagen, wenn Du heut' Abend nichts heimgebracht hast.
– Da will ich mich lieber schlagen lassen!«
Grip empfand für den kleinen Jungen eine warme, von diesem getheilte Zuneigung. Selbst geistig ziemlich beanlagt und geübt im Lesen und Schreiben, bemühte er sich, dem Kinde zu lehren, was er gelernt hatte. Seit seinem Verweilen in Galway zeigte der Findling auch immer weitere Fortschritte, wenigstens im Lesen, und versprach also, seinem Lehrer Ehre zu machen.
Hier sei auch nicht vergessen, daß Grip einen großen Vorrath unterhaltender Geschichten im Kopfe hatte, die er gern erzählte.
Mit seinem herzlichen Lachen in dieser düsteren Umgebung kam es dem Findling vor, als verbreite der gute Grip einen Lichtstrahl in der traurigen Finsterniß.
Was unsern Helden am meisten wurmte, war, daß die andern sich immer an Grip rieben und ihm ihr Uebelwollen auf jede Weise fühlen ließen, was dieser, wie erwähnt, mit philosophischer Ruhe duldete.
»Aber, Grip!... begann der Findling zuweilen.
– Was willst Du?
– Der Carker ist doch recht schlecht!
– Gewiß, sehr ungezogen.
– Warum klopfst Du ihm nicht den Rücken?
– Ich? Klopfen?...
– Ja, und auch den andern?«
Grip zuckte mit den Schultern.
»Bist Du denn nicht stark, Grip?
– Das weiß ich nicht.
– Du hast aber doch lange Arme und Beine...«
Ja, groß war Grip wohl, doch auch hager, wie ein Blitzableiter.
»Nun also, Grip, warum prügelst Du sie nicht, die abscheulichen Kerle?
– Weil sich's nicht der Mühe lohnt.
– O, wenn ich Deine Arme und Beine hätte...
– Dann wär's besser, Kleiner, sich ihrer zum Arbeiten zu bedienen.
– Meinst Du?
– Ganz gewiß.
– Nun gut, laß uns zusammen arbeiten. Sprich!... Wir versuchen's. Willst Du?«
Grip wollte das herzlich gern.
Zuweilen gingen beide aus. Grip nahm das Kind mit, wenn er etwas zu besorgen hatte. Der Findling trug freilich die erbärmlichste Kleidung, die ihm nicht einmal auf den Leib paßte; zerrissene Hosen, eine zerfetzte Jacke, eine Mütze ohne Deckel und an den Füßen Rindslederschuhe, deren Sohlen nur durch Bindfaden noch daran festgehalten wurden. Mit Grip, der auch nur das abgetragenste Zeug besaß, sah es allerdings kaum besser aus. Es waren gleiche Brüder mit gleichen Kappen. Jetzt, in der schönen Jahreszeit, ging das ja noch an. Gute Witterung ist in den nördlichen Grafschaften Irlands aber ebenso selten, wie ein gutes Essen in der Hütte Paddys. Beim Regen aber, beim Schnee erregten die beiden, halb entblößt und erfroren, die Füße vom Schnee fast angeätzt, das Mitleid der ihnen begegnenden Leute, wenn der Große den Kleinen an der Hand führte und beide Trab liefen, um sich etwas zu erwärmen.
So trollten sie durch die Straßen von Galway, das fast einer spanischen Stadt ähnelt, oft unbeachtet von einer gleichgiltigen Menge. Der Findling hätte gar zu gern gewußt, was in den Häusern da drin wäre. Durch die engen, meist mit Gittern verwahrten Fenster mit den herabgelassenen Jalousien war freilich nichts zu entdecken. Für ihn waren diese Häuser mit Silbermünzen angefüllte Geldschränke. Und die Gasthäuser, wohin die Reisenden im Wagen angefahren kamen, wie gern hätte er in deren schöne Zimmer einmal gesehen, vorzüglich in die des Royal-Hôtel! Die Dienerschaft hätte aber sicherlich beide wie Hunde fortgejagt oder, was noch schlimmer ist, wie Bettler, denn ein Hund findet noch eher einmal eine liebkosende Hand.
Und wenn sie vor den, übrigens nur mangelhaft ausgestatteten Läden der Flecken des oberen Irland stehen blieben, schienen diese den beiden unschätzbare Reichthümer zu bergen. Da warfen sie brennende Blicke auf die Auslage eines Kleiderladens, sie, die sich nur in Lappen wickeln konnten, oder durch das Fenster eines Schuhwaarengeschäfts, sie, die nur fast barfuß gingen. Der Genuß, einmal einen neuen Rock auf dem Leibe oder eigens angemessene Stiefeln an den Füßen zu tragen, blieb ihnen voraussichtlich ja für immer versagt, ebenso wie den vielen Elenden, die da verurtheilt sind, sich mit dem, was andre wegwerfen und mit Abfällen aus der Küche zu begnügen.
Auch Schlächterläden gab es da, mit ganzen Rindervierteln am Haken, von denen eines ausgereicht hätte, die Lumpenschule einen vollen Monat hindurch zu sättigen. Als Grip und der Findling das saftige Fleisch betrachteten, da öffneten sie weit den Mund, fühlten aber, wie ihr Magen sich dabei zusammenschnürte.
»Ei was, sagte Grip, bewege nur die Kinnladen, Kleiner, das ist fast ebenso gut, als wenn Du geschmaust hättest!«
Und vor den großen Brodlaiben, die noch einen angenehmen, warmen Duft ausströmten, vor den »Cakes« und andern feineren, den Gaumen reizenden Backwaaren standen sie wohl auch zuweilen mit trockner Zunge und zusammengepreßten Lippen, Hunger, den quälenden Hunger in den Zügen, und dann murmelte der Findling wohl:
»Ach, das muß aber gut schmecken, Grip!
– Gewiß, Kleiner, bestätigte dieser.
– Hast Du schon so etwas gegessen?
– Ja, einmal doch.
– Ach!« seufzte der kleine Junge.
Er hatte ja nie dergleichen gekostet, weder bei Thornpipe, noch seit die Lumpenschule ihm Obdach gewährte.
Eines Tages fragte ihn eine Frau, die für sein blasses Gesicht Mitleid empfand, ob ihn wohl so ein Kuchen erfreuen würde.
»Da wünscht' ich mir lieber Brod, erwiderte er.
– Warum denn das, mein Kind?
– Weil man davon mehr bekommt.«
Eines Tages aber, als Grip für einige Besorgungen ein paar Pence erhalten hatte, kaufte dieser einen kleinen, mindest acht Tage alten Kuchen.
»Schmeckt er gut? fragte er den Knaben.
– O, herrlich... so süß, als ob er gezuckert wäre!
– Da ist auch Zucker drin, versicherte Grip, echter, richtiger Zucker!«
Bisweilen lustwandelten die beiden Freunde bis zur Vorstadt Salthill. Von hier aus kann man die ganze Bai überblicken, die zu den schönsten Irlands gehört. Da sieht man die drei Inseln Aran, die sich am Eingange erheben wie die drei Felskegel von Vigo – eine weitere Aehnlichkeit mit Spanien – und rückwärts die wilden Bergmassen des Burren und des Clare, sowie die steilen Uferklippen von Moher. Dann gingen sie nach dem Hafen zurück, nach den Quais und längs der Docks hin, deren Anlage begonnen hatte, als einmal die Absicht aufgetaucht war, Galway zum Ausgangspunkte einer transatlantischen Dampferlinie zwischen Europa und Nordamerika zu machen, da von hier aus der Seeweg am kürzesten wäre.
Als beide da verschiedene Schiffe, theils in der Bai vor Anker liegend, theils an der Hafenmauer vertäut, erblickten, fühlten sie sich mächtig davon angezogen, als wenn das Meer gegen arme Leute minder grausam sein könnte als die Erde, da es eine sichrere Existenz verspricht und das Leben in der freien Luft der Oceane jedenfalls dem in den dunstigen, verpesteten Gassen der Städte vorzuziehen ist. Vor allen andern Berufen schien ihnen der des Seemannes ebenso dem Kinde die Gesundheit, wie dem Manne den Lebensunterhalt zu gewährleisten.
»Das muß schön sein, Grip, auf diesen Schiffen mit ihren großen Segeln zu fahren! rief der Findling aufjubelnd aus.
– Wenn Du wüßtest, wie es mich danach verlangt! antwortete Grip, der den Kopf zurückwarf.
– Warum bist Du dann nicht Seemann geworden?...
– Du hast Recht... ich hätte Matrose werden sollen.
– Du wärst so weit... so weit gefahren....
– Nun, vielleicht macht sich das noch.« – Jetzt war es freilich nichts damit.
Der Hafen von Galway wird durch die Mündung eines Flusses gebildet, der aus dem Lough Corrib abströmt und sich in die Bai ergießt. Am andern Ufer, jenseits einer Brücke, erhebt sich das bemerkenswerthe Dorf Claddagh, das viertausend Einwohner zählt, lauter Fischer, die sich seit langer Zeit einer selbstständigen Gemeindeverwaltung erfreuen, und deren Ortsvorsteher in alten Urkunden als »König« aufgeführt ist. Grip und das Kind kamen dann und wann bis nach Claddagh. Der Findling hätte Alles darum gegeben, einer der rüstigen, muthwilligen, wettergebräunten Knaben hier, der Sohn einer kräftigen Mutter zu sein, in deren Adern noch ein Tropfen galicisches Blut rollte, wenn die Frauen gleich ihren Männern auch ein etwas wildes Aussehen haben. Ja, er beneidete diesen lebenslustigen Schwarm, der sich gewiß glücklicher fühlte, als die Kinder in so manchen Städten Irlands. Wie gern hätte er sich zu den Knaben gesellt, die da lachten, kreischten, im Wasser herumplätscherten, wie gern hätte er zu ihnen gehört! Bei seiner zerfetzten Kleidung wagte er's aber nicht, sich ihnen zu nähern, sie hätten ja glauben können, er wolle betteln. So hielt er sich, eine schwere Thräne im Auge, beiseite und schlürfte nur nach dem Marktplatze hin, um sich die schönfarbigen Makrelen und die silbergrauen Häringe, die einzigen Meeresbewohner, auf deren Fang die Fischer von Claddagh ausgehen, etwas anzusehen. Von den Hummern und Taschenkrebsen, die es zwischen den Klippen der Bai ebenfalls in großer Menge gab, konnte er nicht glauben, daß sie gut schmeckten, obgleich ihm Grip, nach dem, was ihm zu Ohren gekommen war, versicherte, »es wäre wie Schaumkuchen, was die Thiere unter ihrer Schale hätten«. Vielleicht sollten sie das einmal selbst erproben.
Nach ihrem Spaziergange begaben sich beide durch die engen und schmutzigen Straßen in der Richtung nach der Lumpenschule zurück. Dabei gingen sie an Ruinen vorüber, die Galway das Aussehen verleihen, als sei es zur Hälfte durch ein Erdbeben zerstört worden. Und doch haben Ruinen, wenn die Zeit sie geschaffen hat, auch ihren Reiz. Hier freilich, wo sie nur aus Häusern bestanden, die wegen Mangels an Baucapitalien unvollendet blieben, deren kaum dem Erdboden entstiegene Mauern überall Risse zeigten, kurz, hier, wo nur eine Folge der Vernachlässigung und nicht ein Werk der Jahrhunderte vorlag, machte das Ganze eher einen beklemmenden, traurigen Eindruck.
Noch schlimmer als die ärmeren Stadttheile, noch abstoßender als die verwitterten Hütten der Vorstädte Galways, so freilich sah die elende, dumpfige Wohnung, das unzureichende Obdach aus, wo das Elend die Genossen des Findlings zusammenpferchte, und Grip und er beeilten sich auch gar nicht, als die Stunde der Heimkehr geschlagen hatte.
Leicht dürfte man sich fragen, ob der Findling im Kreise dieser moralisch tief stehenden Genossen nicht auch mit Rückschritte gemacht habe. Man begreift wohl, daß ein Kind, dem alle Sorgfalt zu Theil wird, das überall Liebe umgiebt, sich ganz dem Glücke des Lebens hingiebt, daß es, ohne nach dem zu fragen, was gewesen ist oder sein wird, seine Jugend genießt. Doch wenn die Vergangenheit nur eine Kette von Trübsal und Leiden gewesen ist, da erscheint die Zukunft wohl in düstrer Färbung, die sich vom Bilde der Vergangenheit auf sie überträgt.
Was konnte aber der Findling, wenn er ein oder zwei Jahre zurückblickte, sehen? Jenen Thornpipe, den rohen, verthierten Menschen, den mitleidslosen Quälgeist, den er noch immer einmal in den Straßen der Stadt oder draußen auf dem Landwege wieder zu treffen fürchtete und der sich dann seiner gewiß zu bemächtigen suchen würde; daneben kam ihm noch die Erinnerung an jene grausame Frau, die ihn mißhandelte, freilich auch das Bild des kleinen Mädchens, die ihn zuweilen auf den Knien schaukelte.
»Ich glaube mich zu erinnern, daß sie Sissy[1] hieß, sagte er eines Tages zu seinem Freunde.
– Welch' hübscher Name!« antwortete Grip.
Grip war im Grunde der Meinung, daß jene Sissy nur in der Einbildung des Kindes existierte, denn man hatte nie etwas näheres von ihm in Erfahrung bringen können. Wenn er in dieser Hinsicht indessen einen Zweifel durchblicken ließ, war der Findling nahe daran bös zu werden. Da er sie in der Erinnerung noch deutlich vor sich sah, mußte er ihr ja einst wieder begegnen. Doch was mochte aus ihr geworden sein? Trennten sie viele Meilen von einander?... Sie liebte ihn ja und er auch sie.... Das war die erste Neigung, die er vor seinem Bekanntwerden mit Grip empfunden hatte, und er sprach von ihr wie von einem großen Mädchen. Sie war so sanft und gut und liebkoste ihn und trocknete seine Thränen, ja sie küßte ihn und theilte mit ihm ihre Erdäpfel....
»Ich hätte sie so gern schützen mögen, wenn die alte häßliche Frau sie schlug, sagte der kleine Knabe.
– Ich auch, und ich glaube, ich würde da derb zugepackt haben!« antwortete Grip, um dem Kinde ein Vergnügen zu machen.
Wenn der wackre Bursche sich übrigens nicht selbst vertheidigte, wenn man ihm zu nahe kam, so wußte er doch recht gut, andre zu vertheidigen und hatte davon schon manchen Beweis geliefert, sobald es darauf ankam, seinen Schützling vor den böswilligen Angriffen der Rotte zu decken.
Einmal schon, in den ersten Monaten seines Aufenthaltes in der Lumpenschule, war der Findling, verlockt durch den Ton der Kirchenglocke, eines Sonntags in die Kathedrale von Galway eingetreten. Nur ein glücklicher Zufall hatte ihn dahin führen können, denn selbst die Touristen haben Mühe, das Bauwerk zu entdecken, das in einem Labyrinth von unsauberen, engen Straßen verloren ist.
Da stand nun das Kind verschämt und furchtsam. Der unerbittliche Küster hätte den Knaben, wenn er diesen erblickte, wie er halb entblößt sich in die Ecke drückte, gewiß nicht in der Kirche gelitten. Der Kleine war ganz erstaunt und entzückt von dem, was er hörte, von den geistlichen Liedern in Begleitung der Orgel, und von dem, was er sah, dem Priester am Altar im goldgestickten Ornate, und den großen Kerzen, die am hellen Tage brannten.
Der Findling hatte nicht vergessen, daß der Pfarrer von Westport manchmal von Gott zu ihm gesprochen hatte, von Gott, der unser aller Vater ist. Er erinnerte sich auch, daß sogar der Puppenschausteller den Namen Gottes in den Mund nahm, freilich nur, wenn er schreckliche Verwünschungen ausstieß, und das verwirrte jetzt seine Gedanken inmitten der religiösen Handlung. Dennoch empfand er, unter der hohen Wölbung hinter einem Pfeiler versteckt, eine Art Neugier, indem er den Geistlichen betrachtete, wie er Soldaten angestaunt hätte. Und während sich die ganze Versammlung beim Aufheben der Monstranz und den Tönen des Glöckchens tief verneigte, da verschwand er wieder ohne bemerkt worden zu sein und glitt über die Steinplatten so leise hinweg, wie eine Maus, die in ihr Loch huscht.
Aus der Kirche nach Hause gekommen, erwähnte er davon gegen niemand etwas, nicht einmal gegen Grip, der übrigens nur eine unklare Vorstellung von der Bedeutung der Messe und der Vesper hatte. Nach einem zweiten Besuche aber, als er sich gerade mit der alten Kriß allein befand, wagte er die Frage, was denn Gott eigentlich sei.
»Gott?... antwortete die alte Frau, deren schreckliche Augen durch die dicken, ihrer Pfeife entströmenden Wolken blitzten.
– Ja, Gott?...