Der finstere Pfad - A. F. Morland - E-Book

Der finstere Pfad E-Book

A. F. Morland

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Beschreibung

Nun gibt es eine exklusive Sonderausgabe – Gaslicht – Neue Edition In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! »Wissen Sie, was ein Morron ist, Mr Kebell?« »Nein.« »So nennen die Highlander einen bösen Geist. Einen arglistigen Unhold. Einen grausamen Dämon. Die Inkarnation der Niedertracht. Er soll die Umgebung von McDoom Manor unsicher machen. Niemand wagt sich aus dem Haus, sobald es dunkel wird, denn keiner möchte dem Morron begegnen. Man hat Angst vor ihm.« Natalie rieselte es kalt über den Rücken. »Was geschieht, wenn man ihm begegnet?« Die Stimme des alten Mannes wurde seltsam hohl, als er antwortete: »Er raubt einem die Seele und den Verstand. Sagt man.« Das leise, kaum wahrnehmbare Schleifen feuchter Blätter, die über den Körper eines Wesens strichen, das nicht zu sehen war, geisterte unheimlich durch die pechschwarze Nacht. Über das nahe tückische Moor krochen graue Nebelgestalten. Ab und zu knackte im unwegsamen Dickicht morsches Holz. Wer oder was war hier unterwegs? Ein Mensch? Ein Tier? Eine Kreatur, die der ewigen Verdammnis entkommen war?

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Gaslicht - Neue Edition – 23 –

Der finstere Pfad

Wer ist die graue Nebelgetalt im tückischen Moor?

A. F. Morland

»Wissen Sie, was ein Morron ist, Mr Kebell?« »Nein.« »So nennen die Highlander einen bösen Geist. Einen arglistigen Unhold. Einen grausamen Dämon. Die Inkarnation der Niedertracht. Er soll die Umgebung von McDoom Manor unsicher machen. Niemand wagt sich aus dem Haus, sobald es dunkel wird, denn keiner möchte dem Morron begegnen. Man hat Angst vor ihm.« Natalie rieselte es kalt über den Rücken. »Was geschieht, wenn man ihm begegnet?« Die Stimme des alten Mannes wurde seltsam hohl, als er antwortete: »Er raubt einem die Seele und den Verstand. Sagt man.«

Das leise, kaum wahrnehmbare Schleifen feuchter Blätter, die über den Körper eines Wesens strichen, das nicht zu sehen war, geisterte unheimlich durch die pechschwarze Nacht. Über das nahe tückische Moor krochen graue Nebelgestalten. Ab und zu knackte im unwegsamen Dickicht morsches Holz. Wer oder was war hier unterwegs? Ein Mensch? Ein Tier? Eine Kreatur, die der ewigen Verdammnis entkommen war?

Hinter einem langgezogenen, spärlich bewachsenen Hügel, der wie der Buckel eines großen toten Wals aus dem dampfenden Feuchtgebiet wuchs, drängten sich einige wenige Häuser und Hütten in einer flachen Senke zusammen, als hätten sie Angst. Keiner der Dorfbewohner ging in einer Nacht wie dieser aus dem Haus. Und das hatte seinen Grund …

Natalie Wendt und Jake Kebell waren mit einem Mietwagen unterwegs. Der rote Mazda CX-3 schnurrte angenehm leise vor sich hin. Aus den Lautsprecherboxen kam gedämpfte Popmusik.

Natalie ließ ihren Blick angetan schweifen. »Ich liebe die Highlands«, sagte sie schwärmerisch. Sie saß entspannt auf dem Beifahrersitz, hatte ihr langes rötlich-blondes Haar zu einem dicken Zopf geflochten. Ihr hübsches Gesicht war mit Sommersprossen übersät, die ihrer jugendlichen Schönheit aber keinen Abbruch taten. »Der Anblick dieser kargen, seltsam enigmatischen Landschaft fasziniert mich ungemein. Ich kann mich daran einfach nicht satt sehen. Sie inspiriert mich auf eine ganz eigenartige Weise. Mir gehen hier draußen Dutzende Romanideen durch den Kopf.«

Jake warf ihr einen kurzen Blick zu und schaute dann wieder auf die leere, kurvenreiche Straße. »Liebesgeschichten?«, fragte er und schmunzelte amüsiert vor sich hin.

»Zum Beispiel«, antwortete die junge Schriftstellerin. »Aber auch Gruseliges.«

»Warst du schon mal in den Highlands?«, erkundigte sich Jake. Er trug ein weites dunkelblaues Sweatshirt, Bluejeans und weiche Mokassins. Sein braunes Haar war wellig und widerspenstig.

Es ließ ihn irgendwie rebellisch aussehen.

Natalie nickte. »Als Kind. Mit meinen Eltern. Aber damals konnte ich die Faszination dieser einzigartigen Gegend noch nicht richtig erkennen. Ich habe mich auf solchen Fahrten immer nur entsetzlich gelangweilt und alle zehn Minuten gefragt: ›Sind wir schon da?‹«

Er lachte. »So sind Kinder nun mal. Ungeduldig, quengelig und an alldem Schönen, das die Natur zu bieten hat, desinteressiert.«

Natalie wackelte amüsiert mit dem Kopf. »Hört, hört, da spricht ein Fachmann. Wie viele Kinder hast du denn schon?«

»Noch keines.«

»Aha.«

»Ich bin erst vierundzwanzig. Hab noch Zeit. Aber ich werde mal Kinder haben.«

»Wie viele?«

»Vier, fünf. Jedoch mindestens zwei.«

»Und weißt du schon, mit wem?«

Er zog die Augenbrauen angeberisch hoch. »Oh, da kommen einige recht attraktive Damen in die engere Wahl.«

Sie knuffte ihn kichernd. »Habe ich Grund, eifersüchtig zu sein?«

»Sei unbesorgt, du stehst auf meiner Liste ganz oben, bist meine absolute Nummer eins.«

»Das beruhigt mich ungemein.« Sie legte ihren Kopf auf seine Schultern und seufzte zufrieden.

Jake lächelte in sich hinein. Es begann kaum merklich zu dämmern. Er fuhr konzentriert und nicht zu schnell, hatte den Wagen aus Japan gut im Griff, obwohl er so ein Modell noch nie gefahren hatte.

»Du hast mir heute noch nicht gesagt, dass du mich liebst«, bemerkte er. Er ließ es wie eine Feststellung klingen, nicht wie einen Vorwurf.

»Das wollte ich …«, gab sie zärtlich flüsternd zurück.

»Warum hast du’s nicht getan?«

»Vielleicht wollte ich, dass du es zuerst zu mir sagst«, antwortete Natalie.

Er spielte den Erschrockenen. »Hab ich nicht?«

»Nein, hast du nicht.«

»Das ist unverzeihlich.« Er schüttelte den Kopf und sagte mit unüberhörbarem Selbstvorwurf: »Meine Vergesslichkeit macht mir allmählich Sorgen.«

»Ja.« Natalie lachte. »Und so jemand möchte fünf Kinder – jedoch mindestens zwei – in die Welt setzen.«

Sie alberten noch eine Weile weiter so herum.

Zwei frisch Verliebte, deren Herzen vor kurzem zueinander gefunden hatten und für immer zusammen bleiben wollten.

Die Fahrzeugbeleuchtung schaltete sich automatisch ein, als die Sichtverhältnisse es erforderlich machten. Auch das war für Jake neu.

»Prima Wagen«, stellte er zufrieden fest. »Der macht fast alles von alleine. Nur lenken muss man noch selbst.«

Büsche und Bäume verwandelten sich bisweilen im vorüber gleitenden Scheinwerferlicht in mystische Gestalten. Manchmal erweckten sie den Eindruck, sie würden leben, eine bedrohliche Haltung annehmen und gleich auf die Fahrbahn springen, um das Fahrzeug zum Anhalten zu zwingen und über seine Insassen herzufallen.

Es gab viele spannende Bücher, in denen sehr realistisch geschildert wurde, wie die Natur urplötzlich zum Todfeind der Menschen mutierte.

Jake Kebell kannte einige davon. Er las sehr viel und gerne, war Buchhändler, hatte von seinem Onkel ein Antiquariat in der Innenstadt von Aberdeen geerbt.

Natalie löste sich von ihm und richtete sich auf dem Beifahrersitz auf. »Schon ziemlich dunkel«, stellte sie fest. »Manchmal setzt die Finsternis fast überfallsartig ein. Wir hätten früher losfahren sollen.«

»Wir müssten bald da sein.«

»Was sagt der Navi?«

Jake zuckte mit den Schultern. »Der scheint sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund aufgehängt zu haben.«

»Wie ist so etwas möglich?«

»Vielleicht habe ich ihn falsch programmiert«, antwortete Jake. »Jedes Gerät ist anders. Wenn man es nicht richtig bedient, streikt es. Aber du hast recht. Wir hätten wirklich etwas früher starten sollen.«

Er zog den roten Mazda CX-3 in eine enge Kurve. Plötzlich huschte etwas über die Fahrbahn. Ein Mensch? Ein Tier? Ein … Irgendwas?

»Pass auf!«, schrie Natalie entsetzt.

Jake Kebell bremste blitzschnell und scharf. Gleichzeitig riss er das Lenkrad nach links. Doch das hätte er nicht tun sollen. Er wusste sofort, dass das ein Fehler gewesen war, aber er hatte es nicht verhindern können. Es war ein verhängnisvoller Reflex gewesen.

So etwas lässt sich nicht beeinflussen. Es passiert mehr oder weniger ganz von selbst. Vielleicht deshalb, weil es die Vorsehung so will.

Der Mietwagen kam von der Fahrbahn ab und krachte – nach einem kurzen Höllenritt über Wurzeln und Steine – gegen einen Baum, den vor langer Zeit ein heftiger Sturm abgebrochen hatte. Die Airbags platzten auf, und Fahrer und Beifahrerin wurden von den Sicherheitsgurten, die sie zum Glück angelegt hatten, hart in ihren Sitzen festgehalten.

Stille.

Schlagartig …

*

Ihr Märchen hatte vor fast genau einem halben Jahr begonnen. Die junge Autorin hatte sich in Jake Kebells Antiquariat nach Büchern umgesehen, die sich mit Schizophrenie befassten. Sie war ihm sofort aufgefallen.

Ihre Anmut, ihre Grazie, ihre atemberaubende Schönheit hatten ihn auf Anhieb fasziniert. Sein Herz hatte ihm – gefühlt – bis zum Hals hinauf geschlagen, und er hatte sie unbedingt kennen lernen wollen.

Er war ihr zwischen den Bücherregalen hinterher geschlichen wie ein hungriger Wolf seiner Beute. Und schließlich hatte er sie angesprochen. »Hi, ich bin Jake.«

»Hi.« Sie musterte ihn nicht besonders interessiert.

»Kann ich irgendetwas für dich tun?«

»Nun, ich …«

»Mir gehört der Laden.«

»Ach so. Ja, dann …« Sie verriet ihm, wonach sie suchte.

Er staunte. »Willst du Ärztin werden?«

»Ich bin Schriftstellerin.«

»Du bist noch ziemlich jung.«

»Ich bin zweiundzwanzig.«

»Hast du schon etwas veröffentlicht?«

Sie nickte. »Einen Gedichtband. An die zwanzig Kurzkrimis. Mehrere Liebesromane. Einen Mystery-Thriller …«

»Ich bin beeindruckt.«

»Und nun möchte ich mich mit dem Thema Schizophrenie auseinandersetzen, bevor ich mein nächstes Romanprojekt in Angriff nehme. Ein Autor sollte immer wissen, worüber er schreibt.«

»Das ist richtig«, sagte Jake. Er genoss ihre Nähe. Sie roch so angenehm frisch. »Leider beherzigen das nicht alle. Sie schreiben einfach drauflos und wundern sich, wenn es hinterher böse Kritiken hagelt. Ich würde gerne einmal etwas von dir lesen?«

»Du findest mich in jeder gut sortierten Buchhandlung.«

»Und wie ist dein Name?«

»Natalie Wendt.«

»Ich werde ihn mir merken.«

Jake Kebell half ihr bei der Suche nach Büchern, die für sie infrage kamen, und als sie sich nach dem Preis erkundigte, schüttelte er den Kopf und sagte: »Ich schenke sie dir.«

»Das kann ich nicht annehmen.«

»Doch, kannst du.«

»Wenn du allen Kunden deine Bücher schenkst, kannst du bald zusperren.«

Er lächelte. »Wer sagt denn, dass ich bei allen so großzügig bin?«

Es blitzte kurz in ihren veilchenblauen Augen. »Wenn du dir eine bestimmte Gegenleistung erwartest, muss ich dich enttäuschen. Ich habe einen Freund …«

»Es hätte mich gewundert, wenn ein so zauberhaftes Geschöpf wie du keinen Freund gehabt hätte.« Ihm gefiel es, dass sie leicht errötete. »Es würde mir schon genügen, wenn du ab und zu hier hereinschauen würdest. Wohnst du in der Nähe?«

»Ja.«

»Du bist jederzeit willkommen.«

»Aber die nächsten Bücher möchte ich bezahlen.«

Er breitete grinsend die Arme aus. »Dein Wunsch ist mir Befehl.«

So hatte ihre Romanze angefangen.

*

Der rote Mazda knisterte, ächzte und knackte, war stark deformiert und nicht mehr fahrtüchtig. Die Scheinwerfer waren erloschen.

Die Dunkelheit ringsherum schien bleischwer zu sein. Jake Kebell hob benommen den Kopf. Irgendetwas oder irgendjemand war in unverantwortlicher Weise über die Straße gerannt und hatte eine Katastrophe ausgelöst, deren Ausmaß Jake im Moment noch nicht abschätzen konnte. Natalie stöhnte leise neben ihm. Das schmerzte ihn.

»Bist du okay?«, fragte er besorgt.

»Ich glaube schon«, antwortete sie unsicher.

»Tut dir irgendetwas weh? Hast du Schmerzen?«

»Kaum.«

Oft fangen Fahrzeuge nach einem Unfall zu brennen an, dachte Jake, und das ängstigte ihn so sehr, dass er krächzte: »Wir müssen raus aus dem Wagen.« Er löste seinen Gurt.

Natalie konnte ihren nicht öffnen. »Das Ding klemmt.«

»Warte. Ich helfe dir.«

Auch Jake schaffte es nicht auf Anhieb, seine Freundin vom Gurt zu befreien. Schließlich gelang es ihm aber doch, und sie quetschten sich aus dem böse deformierten Wrack.

Jake musterte Natalie angstvoll. »Hast du wirklich nichts abgekriegt?«

»Ich bin soweit in Ordnung. Aber der Wagen …«

Jake zuckte mit den Schultern. »Eine Versicherungsangelegenheit. Hauptsache unsere Knochen sind heil geblieben.« Er wollte den Kofferraum öffnen, doch das gelang ihm nicht, und Werkzeug stand ihm keines zur Verfügung. »Mist. Ich komme nicht an unsere Koffer ran.«

Natalie blickte sich nervös um. »Was ist da über die Straße gelaufen, Jake?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Mir kam es so vor, als wäre es ein Mensch. Aber hier draußen? Wo weit uns breit nichts ist …«

»Ich wollte, ich hätte ihn jetzt vor mir.« Jake ballte die Hände streng zu Fäusten. »Ich würde ihm gehörig die Leviten lesen. Das schwöre ich dir.« Wie ein kalter Atem wehte ihnen der Wind ins Gesicht. Sie fröstelten leicht. Fernes Donnergrollen setzte ein. Vorboten eines Gewitters. Jake seufzte. »Auch das noch. Wir müssen weg von hier, sonst werden wir bis auf die Haut nass.« Blitze zuckten über den pechschwarzen Himmel. Jake holte sein Smartphone hervor. »Im Film ist ausgerechnet in solchen Situationen immer der Akku leer. In Wirklichkeit kommt das zum Glück eher selten vor.« Er schaute auf das Display und stöhnte enttäuscht: »Das gibt’s nicht!«

»Was ist?«

»So ein Mist!«

»Ist dein Akku auch leer?«

»Das nicht.«

»Aber?«

»Ich habe keinen Empfang«, antwortete Jake wütend. »Wir befinden uns mitten in einem Funkloch, wie es scheint. Ich halt’s nicht aus. Da fliegen sie jetzt sogar schon hinter den Mond, sind aber nicht imstande, für ein flächendeckendes Funknetz zu sorgen.«

*

Natalie war tatsächlich noch in derselben Woche wiedergekommen. Er hatte inzwischen zwei ihrer Bücher verschlungen und war von ihrer Reife und vom Tiefgang ihrer Geschichten ungemein beeindruckt gewesen.

Er hatte ihr das auch gesagt. Offen und ehrlich. Ohne jede Schmeichelei. Schließlich wollte er das Wunderbare, Saubere, Schöne, das zwischen ihnen entstanden war, nicht mit einer Lüge belasten.

Natalie spürte, dass Jake jedes Wort, das er sagte, aufrichtig meinte und war ihm sehr dankbar dafür. Die nächsten Bücher durfte sie vereinbarungsgemäß bezahlen, und Jake führte mit Natalie bei ihren weiteren Besuchen lange, wunderbare Gespräche, die dazu führten, dass sie einander nicht nur emotional näher kamen, sondern allmählich auch so manches voneinander erfuhren. Eines Tages erschien sie ernst – und vom Schicksal offenbar schmerzlich angezählt – im Antiquariat. Ihm schnürte es bei ihrem Anblick die Kehle zu.

»Was ist passiert?«, wollte er wissen.

»Nichts.«

»Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht.«

Sie blieb stumm wie Staub.

»Ist jemand gestorben?«, erkundigte er sich. »Jemand, den du gern gehabt hast?«

»Bitte lass mich.«

»Das kann ich nicht. Wenn ich dich so sehe …«

»Ich will nicht darüber reden.«

»Hattest du Streit mit Tobey?« Jake wusste inzwischen, dass ihr Freund Tobey Coogan hieß und nicht immer ganz einfach war. Er war aufbrausend, jähzornig und gewalttätig. Vor allem dann, wenn er betrunken war, und das war er viel zu oft.

»Er ist so schrecklich eifersüchtig«, platzte es mit einem Mal aus Natalie heraus. »Ohne jeden Grund. Ich habe ihm noch nie auch nur den geringsten Anlass dazu gegeben. Aber er glaubt mir nicht. Er sagt, ich lüge. Seiner Ansicht nach lügen alle Frauen. ›Weiber haben die Unwahrheit erfunden!‹, behauptet er, und davon ist er nicht abzubringen.«

Zorn kochte in Jake hoch. »Soll ich mit ihm reden?«

Natalie schüttelte sofort heftig den Kopf. »Nein, das möchte ich nicht.«

Jake vibrierte innerlich. »Was hat er getan? Hat er dich geschlagen?«

»Bitte halte dich da raus«, flehte Natalie. »Das ist eine Sache, die nur mich und Tobey angeht.«

Er sah das anders. »Was wirft er dir vor?«

»Er schleicht mir seit Wochen überallhin nach. Ich war mit meinem Agenten aus. Wir haben bei einem gemeinsamen Abendessen über mein neues Buchprojekt gesprochen. Über sonst nichts. Aber Tobey glaubt mir das nicht. Er ist felsenfest davon überzeugt, dass ich etwas mit meinem Manager habe. Mein Leugnen brachte ihn so sehr in Rage, dass er komplett die Beherrschung verlor.«

»Und?« Jake hatte das Gefühl, Glassplitter in der Kehle zu haben. »Was ist dann geschehen?«

Natalie schwieg.

»Hat er dir weh getan?«, bohrte Jake mit unterdrückter Wut.

»Er war betrunken.«

Jake schüttelte gereizt den Kopf. »Verteidige ihn nicht, Natalie. Das ist er nicht wert.«

»Er war wirklich betrunken.«

»Das ist keine Entschuldigung«, sagte Jake leidenschaftlich. »Das lasse ich nicht gelten. Du bist eine wunderbare Frau, Natalie. Du bist bildschön, warmherzig, intelligent … Tobey Coogan verdient deine Liebe nicht. Er weiß nicht zu schätzen, was er an dir hat. Er müsste dich auf Händen tragen.«

»Wenn er nüchtern ist, ist er ganz anders.«

»Aber das ist er nie«, brauste Jake auf, und im selben Moment fasste er einen Entschluss, über den er mit Natalie nicht sprechen konnte.

*

Das Donnergrollen kam langsam näher, und kalte Nässe lag in der Luft. Jedes Mal, wenn ein Blitz aufflammte, zuckte Natalie Wendt heftig zusammen.

»Hast du Angst vor Gewittern?«, fragte Jake Kebell.

»Nicht, wenn ich irgendwo drinnen bin. Aber im Freien fühle ich mich unbehaglich. Immerhin werden weltweit jährlich etwa vierundzwanzigtausend Menschen von Blitzen getötet und zweihundertvierzigtausend verletzt. Solche Zahlen können einem schon Angst machen.«

»Dann sollten wir danach trachten, so bald wie möglich ein Dach über den Kopf zu bekommen.«

Natalie war dafür, die Straße entlang zu laufen, doch Jake meinte, die Straße hätte in dieser Gegend zu viele Kurven und Windungen.

Da wäre es vernünftiger, einen direkten Weg zum nächsten Dorf einzuschlagen, weil sie sonst die doppelte, vielleicht sogar die dreifache Strecke zurücklegen müssten.

»Hoffentlich ist dein Orientierungssinn besser als meiner«, sagte Natalie. »Sonst laufen wir hier nämlich die ganze Nacht im Kreis.«

»Ich werde mir Mühe geben«, versprach Jake und nahm ihre Hand. »Komm. Du kannst mir vertrauen. Ich bin ein Mann.«

»Was du nicht sagst.«

»Was ich damit zum Ausdruck bringen möchte, ist, dass der Mann schon in der Urzeit gezwungen war, sich besser orientieren zu können als die Frau, denn die blieb ja mit den Kindern zu Hause und hütete das Feuer, während er auf die Jagd ging und mit seiner Beute irgendwie wieder heimfinden musste, damit seine Familie nicht verhungerte. Und diese Fähigkeit steckt noch immer in uns. Vielleicht ein wenig verkümmert, weil wir sie ja so gut wie nie abzurufen brauchen, aber im Bedarfsfall kommt sie wieder in uns hoch. Du wirst es schon sehen.«

*

Tobey Coogan arbeitete beim Fernsehen als Mädchen für alles in der Wetter-Redaktion. Größere Aufgaben übertrug man ihm nicht, weil jeder wusste, dass man sich auf ihn nicht verlassen konnte. Er durfte nur Jobs erledigen, bei denen eventuell auftretende Pannen keine Katastrophen zur Folge hatten.

Sein Verdienst war seiner schwachen Leistung angepasst, und von Aufstiegschancen brauchte er erst gar nicht zu träumen, denn die gab es nicht für ihn.