Der finstere See - Julie Cameron - E-Book

Der finstere See E-Book

Julie Cameron

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Beschreibung

Du kannst vor allem davonlaufen – nur nicht vor deiner eigenen Vergangenheit …

Jeremy Horton ist erfolgreicher Architekt und glücklicher Familienvater. Doch er vermeidet jeden Gedanken an seine Vergangenheit und insbesondere an seine kleine Schwester Emily, die vor vielen Jahren unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Erst als seine Mutter stirbt, sieht Jeremy sich gezwungen, in das kleine Dorf zurückzukehren, in dem er die Sommer seiner Kindheit verbrachte. Jeremy spürt deutlich, dass er dort nicht willkommen ist. Immer wieder drängt sich ihm die Frage auf, ob er selbst die Schuld an Emilys Tod trägt. Und wenn ja – ist er dann auch eine Gefahr für seine eigene Tochter Lucy?

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Seitenzahl: 550

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Buch

Jeremy Horton, erfolgreicher Architekt und glücklicher Familienvater, musste als Kind miterleben, wie seine geliebte kleine Schwester Emily zu Tode kam. Er kann sich jedoch nicht daran erinnern, was damals genau passiert ist. Nach dem Tod seiner Mutter erbt Jeremy das Haus seines Onkels, wo er die glücklichsten Sommer seiner Kindheit verbrachte – bis Emilys Tod alles veränderte. Er beschließt, noch einmal dorthin zurückzukehren und endlich Licht ins Dunkel zu bringen. Doch in dem idyllischen kleinen Dorf wird Jeremy an jeder Ecke schief angeschaut, und die Leute tuscheln hinter seinem Rücken. Mehr und mehr gelangt Jeremy zu der Überzeugung, dass er selbst die Schuld am Tod seiner kleinen Schwester trägt …

Weitere Informationen zu Julie Cameron sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Julie Cameron

Der finstere See

Thriller

Aus dem Englischen von Rainer Schmidt

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Nameless Acts of Cruelty« bei Scarlet, an Imprint of Penzler Publishers, New York.

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2022 by Julie Cameron

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: Trevillion Images/Yolande de Kort

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

LS · Herstellung: ik

Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München

ISBN: 978-3-641-25174-1V001

www.goldmann-verlag.de

PROLOG

Mummy und Daddy sagten immer, was für ein cleveres kleines Mädchen sie doch sei, und heute war sie sehr clever gewesen. Wölfe waren nicht clever, das wusste sie. Der große böse Wolf lief vielleicht schneller als sie über die Felder, aber hier würde er sie nicht finden.

Bei dem Gedanken an Mummy fing ihre Unterlippe an zu zittern. Sie dachte an das Kuscheln mit Mummy, an ihre flauschigen Pullover und ihren wunderbaren Duft. An ihre sanften, lieben Hände mit den hübschen roten Nägeln und an ihre Gutenachtgeschichten.

Mummy hatte ihr das neue rote Kleid gekauft, und jetzt war es ganz schmutzig. Und sie hatte einen ihrer Turnschuhe verloren, ihrer Lieblingsschuhe mit den Blinklichtern an den Absätzen.

Hoffentlich würde Mummy nicht böse werden. Sie hatte gesehen, wie sie manchmal mit Jay-Jay böse war, und das war schlimm, aber mit ihr war Mummy zum Glück nie böse.

Sie durfte nicht weinen. Wenn sie ein Geräusch machte, würde er sie hören mit seinen riesengroßen Ohren – »damit ich dich besser hören kann«. Sie erschauderte bei dem Gedanken und wühlte sich tiefer in das Laub und Farnkraut, das den Boden ihres Verstecks bedeckte. Es gab hier so viel Zeug. Sie hörte, wie es um sie herum raschelte. Kriechendes Zeug, wieselndes Zeug – sie bemühte sich, nicht allzu sehr darüber nachzudenken, für den Fall, dass auch beißendes Zeug dabei war.

Sie wusste nicht, wozu das alte Häuschen diente, durch dessen schmales Fenster sie über den See blicken konnte, aber es bot zumindest ein sicheres Versteck. Die Wände waren aus dünnen Zweigen, und sie musste wieder an den großen bösen Wolf denken. Sie stellte sich seine borstige Schnauze vor, wie sie durch den Fensterschlitz schnupperte und schnüffelte und der Atem durch seine feuchten roten Nüstern pfiff. Der große böse Wolf würde husten und prusten und das Haus zusammenpusten. Ihr kleines Haus aus Holzzweigen. Ein bisschen Pipi sickerte in ihren Schlüpfer, und jetzt fing sie wirklich an zu weinen. Sie wollte, dass Daddy kam und sie rettete. Oder Jay-Jay.

Sie wurde böse, wenn sie an Jay-Jay dachte. Er hatte auf sie aufpassen sollen, als sie zum Spielen nach draußen gingen. Das hatte Mummy gesagt, aber er war stattdessen gemein zu ihr gewesen. Dann hatte er die anderen Jungs getroffen, und er hatte sie alleingelassen, hilflos und verängstigt. Inzwischen war es ihr egal, dass er gemein gewesen war. Er sollte nur zurückkommen.

Jäh hörte sie auf zu weinen und hielt den Atem an. Sie war sicher, draußen hatte etwas geraschelt. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Jetzt hörte sie eine Stimme, die flüsterte und kicherte. Es klang wie eine kräftige Stimme oder eine knurrende Stimme, wie Jay-Jay sie machte, wenn er sie erschrecken wollte. Noch nie hatte sie so viel Angst gehabt. Sie versuchte, still zu sein, aber ein kleines ängstliches Wimmern fand den Weg zwischen ihren Zähnen hindurch.

Jetzt hörte sie nichts mehr. Sie spitzte die Ohren, lauschte und lauschte, und noch immer hielt sie den Atem an, sodass ihre Lunge zu platzen drohte. Vielleicht, ja, vielleicht hatte er sie nicht gehört. Langsam wagte sie wieder zu atmen.

Zweige knackten und knirschten. Das Geräusch kam immer näher. Eine Hand griff durch den Fensterschlitz herein, und die Stimme war leise und betörend.

»Kleines Schwein, kleines Schwein, lass mich rein!«

Sie schrie, so schrill und durchdringend, dass die Vögel in den Bäumen aufflatterten, aber da war niemand, der sie hörte. Niemand, der sie retten konnte vor dem großen bösen Wolf.

1

»Cabin Crew, bitte Platz nehmen zur Landung.«

Das Flugzeug ging in den Sinkflug über. Die Landschaft unter ihnen war ein Flickenteppich aus Feldern, zerteilt durch Hecken, gewundene Straßen und träge fließende Flüsse. Miniaturdörfer aus Pendlerhäusern mit samtenen Rasenflächen und azurblauen Swimmingpools zogen unter den Tragflächen vorbei. Englands grünes, mildes Land – eine Illusion vielleicht, aber eine, an die sich die Menschen immer noch klammerten.

Jeremy legte die Stirn an die kühle Scheibe und sah auf die Szenerie hinunter, die sich draußen entfaltete. Diesen Teil des Fliegens hatte er immer gerngehabt, wenn die Landschaft sich ausbreitete wie Kinderspielzeug, mit Bauernhoffiguren und Matchbox-Autos, winzige Punkte unter ihm, die langsam erkennbar wurden, mit Wolkenschatten, die über die Felder jagten, graue Flecke auf grünem Grund. Es sah so sicher und so sauber aus, eine adrette kleine Welt, in der nichts Grausames je geschehen konnte. Er warf einen verstohlenen Blick auf Sarah, seine Frau, die immer noch in ihr Buch vertieft war, und seinen besten Absichten zum Trotz bemerkte er, wie der Gurt sich straff über ihren weichen Bauch spannte. Leicht angewidert von seiner offenkundigen Oberflächlichkeit, drehte er sich zu den Kindern um.

Jack schirmte sich mit seinen Kopfhörern von der Welt ab, und Jeremy spürte, wie die vertraute Gereiztheit in ihm aufstieg, die sein Sohn seit einiger Zeit in ihm weckte.

»Jack, dein Gurt«, sagte er, und er hörte selbst die Ungeduld in seiner Stimme. »Ist es eigentlich zu viel verlangt, dass du ihn auch anlegst, wenn ich es dir sage?«

»Hä?« kam als einzige Antwort, gefolgt von einem unbefangenen Gähnen, das aller Welt einen Blick auf Jacks Mandeln bot, ob sie es nun wollte oder nicht.

»Jack, du wirst dir noch wünschen, du hättest auf mich gehört, wenn …«

Sarah drückte sanft seinen Arm.

»Nicht, Jez«, sagte sie mit einem warnenden Unterton in der Stimme. »Du machst ihnen nur Angst. Wie oft habe ich dir schon gesagt, du musst lernen, welche Kämpfe du führen kannst und welche nicht.« Sie wandte sich an das schlecht gelaunte Bündel, das einmal ihr geliebter Sohn gewesen war. »Schnall dich bitte an. Sei so nett.«

Der Gurtverschluss klickte, und Jeremy hatte Mühe, den verschlagenen Triumph in Jacks Blick zu ignorieren, den sein Sohn ihm zuwarf.

Sarahs Arme waren leicht gebräunt und mit goldenen Sommersprossen gesprenkelt, und ihre »Urlaubsnägel« leuchteten in kräftigem Pink. Sie hatte auf der Reise ein bisschen abgenommen, und auch wenn Jeremy sich dafür schämte, dass er es überhaupt bemerkte, gestattete er sich doch ein gewisses Maß an Befriedigung. Eigentlich war seine Mutter daran schuld, dass er so dachte, sagte er sich. Als er Sarah das allererste Mal mit nach Hause gebracht hatte, um sie ihr vorzustellen, hatte sie lächelnd mit ihren kühlen grauen Augen über den Tisch geblickt, und er hatte gewusst, was kommen würde, so oder so.

»Was für ein hübsches Kleid, Sarah. So schmeichelhaft. Du kleidest dich wunderschön für jemanden von deiner Größe.«

Er hatte eher gespürt als gesehen, wie Sarah den Kopf einzog. Er hatte ihre heiße Verlegenheit gefühlt, aber dennoch nicht seine Hand tröstend zu ihr ausgestreckt, ja, sie nicht einmal merken lassen, dass er die Spitze mitbekommen hatte. Niemals. Niemals hätte er seiner Mutter diese Befriedigung gegönnt, denn in Wirklichkeit war nicht Sarah die Zielscheibe, das wusste er, sondern er. Der Subtext war laut und deutlich: Die Einzige, die ihn haben wollte, die Einzige, die er kriegen konnte, war eine dicke junge Frau, eine pummelige, dankbare Frau. Auch wenn das damals nicht wahr gewesen war, genauso wenig wie heute. Sarah war nicht dick, sie war kurvenreich und wunderschön. Ihre weiche Haut und ihr Duft in der Dunkelheit machten etwas mit ihm. Etwas Gutes.

Dennoch, die Saat war aufgegangen, der Schaden angerichtet, und jetzt nahm er illoyal Notiz von der weichen Wölbung ihres Bauches und der Fülle ihrer Brüste und verspürte eine seltsame Ambivalenz, für die er sich schämte. Sie war der freundlichste, liebevollste Mensch der Welt, und er betete jedes Atom ihres Wesens an, aber manchmal wünschte er sich, sie wäre schlanker. Manchmal genierte er sich irgendwie – natürlich nicht direkt ihretwegen, Gott behüte, aber er genierte sich, und dann hasste er sich dafür, dass er so ein Arschloch war, dass er seiner Mutter ihren Wunsch erfüllte. Denn das war es, was sie gewollt hatte: ihm eine Klette unter den Sattel schieben und den Zauber der Liebe verunreinigen. Ja, sie mochte ihn hassen, aber sie kannte ihn auch, sie kannte ihn nur zu gut. Sie wusste, auf welche Knöpfe sie sanft drücken musste und wie sie ihn verletzen konnte, ohne dass es blutete.

Er spürte den Blick seiner Tochter auf sich, und als er sich umdrehte, hob sie stolz die Arme, um ihm ihren vorschriftsmäßig geschlossenen Sicherheitsgurt zu zeigen.

»Guck, Daddy«, sagte sie, »meiner ist richtig zu.«

Sie fixierte ihn mit ihren runden blauen Augen, und sofort spürte er es. Dieses Flackern, diese Kakerlake, die über seine Seele huschte, und er hatte Mühe, ihren Blick zu erwidern. Die Jalousie senkte sich herab, die Glasscheibe, die ihn von ihr fernhielt und verhinderte, dass er ihr je zu nah kam. Auch das war ein heimlicher Grund für seine Scham, dieses Fragezeichen bezüglich der Liebe zu seiner Tochter. Er hatte schon oft versucht zu analysieren, welche Gefühle sie in ihm weckte, aber er fand doch nie den richtigen Namen dafür. Es war ein Schauder tief in seinem Innern, fast so etwas wie Angst oder Grauen.

Es war vom Augenblick ihrer Geburt an da gewesen. Als Sarah ihm die Arme entgegenstreckte und in ihren Augen Tränen glänzten.

»Jeremy, es ist ein kleines Mädchen. Wir haben eine Tochter.«

In jenem Moment war er zurückgezuckt. Er hatte gespürt, wie seine Seele zurückwich und einen sicheren Abstand zwischen sie brachte, und er hatte Angst gehabt. Vor ihr oder um sie, das war die Frage, die ihn immer noch verfolgte.

Er betete, Lucy möge zu jung sein, um seine Zurückhaltung zu fühlen, und er möge seine Gefühle für sie eines Tages entwirren, und alles wäre in Ordnung mit ihnen, denn sie zu beschädigen, wie seine Mutter ihn beschädigt hatte, das war undenkbar. Vorläufig überkompensierte er. So sehr, dass Jack auf die Frage nach Daddys Lieblingskind ohne zu zögern Lucys Namen nennen würde, Daddys kleines Mädchen, obwohl in Wahrheit ihm das Herz seines Vaters gehörte. Ihm, diesem dummen Jammerkloß, der es kaum noch über sich brachte, die Existenz seines Vaters auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Sarah versuchte ihn zu beruhigen, das sei »nur eine Phase«, sagte sie zu Jeremy, und er staunte über diesen Luxus. Solche Kindheitsprivilegien hatte er nie genossen.

Ein hartnäckiges Stimmchen zerriss seine Gedanken – »Daddy!« – , und er lächelte seine Tochter an.

»Das ist wunderbar, Schatz. Du bist so ein cleveres Mädchen.«

Jack gab ein Geräusch von sich, das sehr wie ein Schnauben klang. Jeremy starrte ihn misstrauisch an, wartete darauf, dass sein Sohn ihm in die Augen schaute.

»Schatz, es hilft nichts, wenn du immer so ein Gewese um alles machst.« Sarah klang leicht gereizt. »Lass sie einfach. Die kommen schon zurecht.«

Also wandte er sich wieder dem Fenster und der sauber geordneten Welt zu, die sich vor ihm ausbreitete.

Der Urlaub war eine gute Idee gewesen, denn so hatten sie alle mal wieder ein bisschen Zeit miteinander verbracht, aber letztlich hatte er viel zu lange gedauert. Die goldenen Strahlen waren nach und nach matt geworden, und Jeremy hatte festgestellt, dass die Freude über seine Familie sich bedrohlich in Langeweile verwandelte. Nicht, dass er sie nicht liebte (das tat er, und zwar von ganzem Herzen), aber manchmal musste er allein sein – oder nicht unbedingt allein, aber doch in der Lage zu tun, was er wollte und wann er es wollte. Ohne Druck. In den letzten Tagen hatte er sich nach etwas mehr Raum für sich gesehnt. Nach seinem Alltag mit Büro, Fitnessstudio und dem ein oder anderen Feierabendbier mit Freunden. Zeit und Raum, um noch etwas anderes zu sein als Ehemann und Vater, Zeit für eine kurze Erholung von der samtweichen Häuslichkeit, der unerbittlichen Nettigkeit des Ganzen. So war er, seit er sich erinnern konnte: ein Mann, der ein bisschen Raum für sich brauchte, um einen klaren Kopf zu behalten. Um seine Dämonen in Schach zu halten.

Der Boden war inzwischen näher gekommen, und er konnte Autos und Lastwagen erkennen, die sich auf hübschen kleinen Straßen voranschlängelten. Liliputanische Tiere weideten gemächlich auf Wiesen, gesäumt von Bäumen, so groß wie Brokkoliröschen. Ein Golfplatz driftete unter ihm vorbei – ja, das war eine gute Idee für morgen – , Sandbunker und sanfte Greens im Miniaturformat mit Menschen wie Ameisen.

Das Flugzeug legte sich auf die Seite, und für einen Augenblick verschwand die Welt, bevor sie ihm wieder entgegenrauschte und plötzlich näher war. Er sah eine winzige Gestalt, die quer über eine Wiese rannte, auf ein paar Bäume zu. Er konnte sie nur eine Sekunde lang sehen, aber unerklärlicherweise war er sicher, dass zwei andere hinterherliefen, sie verfolgten.

Sein Herz taumelte mit der Bewegung des Flugzeugs, und das »Nein!« brach über seine Lippen, bevor das Entsetzen ihn packte. Er stemmte sich gegen den Sicherheitsgurt und presste verzweifelt sein Gesicht gegen die ovale Scheibe, um das Schicksal der fliehenden Gestalt noch zu sehen. Wie rasend zerrte er am Gurtschloss und kam taumelnd auf die Beine. Er stieß hart mit dem Kopf gegen das Gepäckfach über ihm, aber der Schmerz drang kaum in sein Bewusstsein. Er wollte einen Warnruf ausstoßen, aber ihm stockte der Atem, und kein Laut kam aus seiner Kehle.

Sarah zog an seinem Arm, ihr Gesicht blass vor Schrecken.

»Jeremy! Jeremy, was ist denn, was hast du? Um Gottes willen, setz dich hin.« Suchend schaute sie ihm ins Gesicht und sah die flackernde Angst. »Jez, sprich mit mir! Was ist passiert?«

Die Panik kribbelte in seinen Fingern, übertrug sich auf sie und ließ ihre Fingerspitzen gefrieren.

»Jeremy, bitte, du musst dich wieder setzen!«

Dann hatte auch die Stewardess ihren Platz verlassen.

»Sir, zu Ihrer eigenen Sicherheit müssen Sie sich hinsetzen. Bitte nehmen Sie Ihren Platz wieder ein.« Ihre Stimme klang gleichermaßen drängend und missbilligend, als sie sich durch den Gang herankämpfte, den Bewegungen des Flugzeugs zum Trotz. »Sir, bitte!«

Sarah drehte sich mit wachsender Panik zu ihr um. »So benimmt er sich sonst nie, da stimmt etwas nicht! Wie lange dauert es noch bis zur Landung?«

Einen schrecklichen Moment lang fürchtete er, es wäre sein Herz und er könne hier vor seinen Kindern sterben, wild um sich schlagend und nach Luft schnappend, während seine Seele entfloh. Er stieß Sarah weg und ließ sich auf seinen Sitz fallen. Sein Herz hämmerte wie rasend in der Brust, ein gefangener Vogel im Käfig seiner Rippen.

Langsam drang Jacks Stimme durch Lucys angstvolles Gezwitscher. Er hatte die Attitüde der gelangweilten Gleichgültigkeit abgelegt, und in seiner Stimme lag ein Unterton der Angst.

»Mum, was ist denn los? Dad, ist alles okay?«

Sarahs Hand legte sich auf seine Wange, kalt vor Schreck, und das holte ihn zurück in die Realität. Seine Frau sprach mit ihm und mit den Kindern, leise und beruhigend, als wäre auch er ein Kind, und nach und nach ergaben ihre Worte Sinn.

»Dad fehlt nichts … Es ist alles okay, Jez … Halte durch, wir landen gleich … Du musst atmen, Schatz, so ist es richtig … Es geht gleich wieder … Daddy geht es gut …«

Ihr Gesicht nahm wieder Konturen an, und in ihren blauen Augen leuchtete die Angst. Ihre Hand griff nach seiner und umklammerte sie, und wieder durchströmte ihn Scham – weil er sie und die Kinder so sehr erschreckt hatte.

Langsam beruhigte sich sein Puls, und er begriff, dass er nicht sterben würde. Sein Herz funktionierte noch und schlug regelmäßig und in einem beruhigenden Rhythmus. Nach und nach wurden ihm die anderen Passagiere bewusst, die gereckten Hälse und das aufgeregte Gemurmel angesichts der Aussicht auf einen Todesfall im Flugzeug, ein Festmahl für die Geier, jedenfalls ein kurzes.

Heiße Verlegenheit vertrieb die letzten Reste der Angst. Jetzt wollte er nur noch, dass das verdammte Ding landete, damit er von hier verschwinden konnte. Das hatte er noch nie getan – in Panik zu geraten und eine Szene zu machen. Er war schon unzählige Male geflogen, aber noch nie hatte er auch nur einen Hauch von Angst verspürt. Tatsächlich hatte er so etwas überhaupt noch nie erlebt. Aber noch während dieser Gedanke Gestalt annahm, stieg eine Erinnerung flirrend an die Oberfläche: wie er nachts schweißgebadet und zitternd aus einem Albtraum erwachte, ohne sich an dessen Inhalt zu erinnern. Seine Kehle war ausgedörrt vor Angst, die Nacht ein Ort des namenlosen Grauens.

Seine Zunge löste sich aus ihrem Versteck am Gaumen. »Alles okay«, krächzte er, und sein Ton strafte die Worte Lügen. »Ehrlich, alles okay.«

Er drückte Sarahs Hand und bemühte sich, das Zittern seiner eigenen zu beherrschen.

»Ich weiß nicht, was das war. Ich hab einfach für einen Moment die Kontrolle verloren, das ist alles. Aber es geht mir wieder gut, wirklich, schau nicht so besorgt. Es ist alles okay. Ich hoffe nur, die Kindern sind in Ordnung. Mein Gott, ich muss ihnen ja einen Schrecken eingejagt haben. Es tut mir leid, Schatz – es tut mir so leid.«

Das Flugzeug setzte auf der Landebahn auf, und die Schubumkehr setzte ein und zog ihn auf dem Sitz nach vorn. Er war zittrig nach dem Schock und versuchte verzweifelt, es als Stressreaktion abzutun, die mit der Rückkehr in die reale Welt zu tun hatte. Er beruhigte sich mit dieser Erklärung, so fadenscheinig sie auch sein mochte, und ignorierte das Bild der laufenden Gestalten, das auf seine Netzhaut eingebrannt zu sein schien. Sie hatten schließlich nichts mit ihm zu tun.

2

Sarah hatte darauf bestanden, zu fahren, und jetzt hockte Jeremy neben ihr auf dem Beifahrersitz. Angesichts der schlichten Tatsache, dass sie ihn für fahruntüchtig hielt, fühlte er sich entmannt, hinfällig wie eine jüngferliche Tante. Das alles wurde noch schlimmer, weil sie ihm immer wieder besorgte Blicke zuwarf, als rechnete sie damit, er werde neben ihr still entschlafen und als schlaffer Leichnam an ihrer Seite sitzen. Jeder dieser Blicke ärgerte ihn noch mehr, und er hatte Mühe, seine wachsende Gereiztheit zu unterdrücken. Er wusste, sie konnte nichts dazu, aber nach diesem Zwischenfall war er verstimmt und wütend. Solange er zurückdenken konnte, war es ihm zuwider gewesen, irgendeine Art von Szene zu machen, und obwohl er wusste, dass sein Zorn sich gegen ihn selbst richtete, konnte er nicht verhindern, dass er ihn stattdessen auf sie projizierte.

Wieder blickte sie zu ihm herüber, und diesmal platzte ihm der Kragen.

»Herrgott noch mal, Sarah, sieh mich nicht dauernd so an! Dieses Theater macht mich noch wahnsinnig. Ich war ein bisschen wacklig auf den Beinen, das ist alles. Da war nichts weiter. Man könnte ja glauben, du wärst meine Mutter oder so. Du meine Güte!«

Obwohl, wenn er darüber nachdachte, vielleicht doch nicht gerade seine Mutter. Vielleicht eine normale Mutter, die sich um ihr Kind sorgte.

Er sah die Kränkung in ihrem Gesicht und wünschte, er hätte den Mund gehalten. Sie regte sich nur selten auf. Anders als er war sie nur schwer aus der Fassung zu bringen, und auch jetzt blickte sie fest auf die Straße und tat seinen selbstsüchtigen Wutausbruch mit einer winzigen Kopfbewegung ab, einer kaum merklichen Bewegung wie dem Zucken eines Katzenohrs, das eine Fliege verscheuchte. Er wusste, dass seine Spitzen oft ins Zentrum trafen, aber als sie sprach, klang ihre Stimme ruhig und freundlich wie immer. Es war nie ihre Absicht, aber ihr Gleichmut beschämte ihn manchmal nur umso mehr.

»Ich weiß, du findest, ich übertreibe, aber ich werde es nicht einfach ignorieren. Du warst weiß wie ein Laken, Jez, und es schien fast so, als wüsstest du nicht, wo du bist. Ich sage nicht, dass es das war, aber es könnte ein Anfall oder so etwas gewesen sein, vielleicht sogar das Herz. Da kannst du nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert.«

Er erinnerte sich an den Druck in seiner Brust, an die Atemnot, an die Angst, die ihn durchströmt hatte. Er war fast in dem entsprechenden Alter, und so traute er sich nicht, ihr zu widersprechen, so gern er es auch getan hätte.

»Und ich weiß, was du sagen willst, also kannst du dir die Mühe sparen. Ich fahre jetzt, und wir fahren ins Krankenhaus.«

Sie erstickte mit einer Handbewegung jeden möglichen Protest im Keim.

»Ich möchte, dass du in die Notaufnahme gehst, um dich untersuchen zu lassen. Das ist alles. Ich will sicher sein, dass wir keinen Grund zur Sorge haben. Es hat also keinen Sinn, wenn du darüber diskutierst, denn wir werden hinfahren, ob es dir gefällt oder nicht.«

Jeremy öffnete den Mund, um zu antworten, aber dann dachte er an die Kinder auf dem Rücksitz, denen er schon genügend Angst eingejagt hatte. Teils ihretwegen schluckte er seine Worte herunter, teils aber auch, weil er wusste, dass Sarah recht hatte.

Die Kinder waren unnatürlich still; von dem Gezappel und Gezänk, das ihre Autofahrten normalerweise begleitete, war nichts zu hören. Jack konzentrierte sich wieder auf sein Handy – die Sorge um den Vater schien vergessen – , aber Lucy klammerte sich an die Sitzlehne ihrer Mutter, sichtlich verschreckt.

Tränen standen ihr in den Augen. »Mummeee«, heulte sie, »ich will nicht, dass Daddy ins Krankenhaus muss.«

Ich auch nicht, hätte er gern gesagt, aber dann hörte er seine Stimme, grundlos schroff.

»Hör auf, Lucy. Ich habe dir schon mal gesagt, niemand mag eine Heulsuse.«

Das brachte sie nur noch mehr zum Weinen.

Die Erinnerung rollte heran, ein Geist aus der Vergangenheit. Jeremys erster Schultag. Alle anderen Mütter wischten Tränen ab, beruhigend, tröstend, nur seine war ein unbeweglicher Klotz und bog seine Finger auf, die sich verängstigt in ihren Rock gekrallt hatten. Du machst eine schreckliche Szene, Jeremy. Du musst lernen, dass niemand ein Muttersöhnchen leiden mag, also sei bitte nicht so ein Jammerlappen. Und das war davor gewesen. Wie hätte er danach auch nur eine Chance haben können?

Mit einem Achselzucken schüttelte er die Erinnerung ab. Er dachte nicht gern an seine Mutter und ihre kleinen Grausamkeiten, und es ärgerte ihn, wie sie immer wieder in seine Gedanken eindrang. Jeder, der ihm in den Kopf schaute, könnte irrtümlich auf die Idee kommen, es machte ihm immer noch etwas aus.

»Es tut mir leid, Schatz, Daddy wollte dich nicht anfauchen. Mir geht es gut, du hast keinen Grund, dir Sorgen zu machen. Mummy ist nur vorsichtig, weil sie mich liebhat.«

Er legte Sarah eine Hand aufs Knie und drückte es beruhigend. Er liebte seine Familie. Warum also gelang es ihm so oft nicht, der Mann zu sein, der er sein wollte?

Jeremy setzte die letzten Koffer in der Diele ab und schloss erleichtert die Haustür. Es war spät. Sarah ging geradewegs nach oben, und die Kinder folgten ihr trödelnd. Der Ausflug zum Krankenhaus hatte sehr viel länger gedauert als erwartet, und es war längst Schlafenszeit für sie. Auf der Heimfahrt waren sie übermüdet und quengelig gewesen, und nur mit Mühe hatte er sie unter Kontrolle halten können.

In der Küche machte er sich ein Bier auf. Er war todmüde, aber an Schlafen war noch nicht zu denken. Das kam vom Krankenhaus. Alles dort hatte ihn nervös gemacht: die endlose Warterei, die Geräusche, die durch die Vorhänge ringsum gedrungen waren, das Rattern der Transportwagen, das Stimmengemurmel, die eiligen Schritte auf dem Vinylboden, das Stöhnen, die spröden Schreie. Und der Geruch. Der Geruch war das Schlimmste gewesen. Feuchte menschliche Dünste, überlagert von beißend scharfen Desinfektionsmitteln. Er hatte daran denken müssen, wie die Zeit verging, und dass auch er selbst unausweichlich älter wurde.

Und dann der Arzt. Sein jugendliches, lässiges Aussehen und seine selbstbewusst-arrogante Art hatten erst recht dazu geführt, dass Jeremy sich jedes einzelnen seiner zweiundvierzig Jahre schmerzlich bewusst war. Aber zumindest war er gründlich gewesen, der Herr Doktor. Er hatte Jeremy sein Stethoskop an die Brust gedrückt, wo die Muskeln passenderweise zu Altmännertitten hingewelkt waren, und sie hatten das komplette Programm absolviert – EKG, CT, umfassende medizinische und soziale Anamnese – , bevor Jeremy endlich entlassen war. Während der Scanner brummte und kreiste, hatte er sich gefragt, was er tun würde, wenn sich in seinem Kopf ein blinder Passagier versteckte, ein bösartiges Zellenbündel, das sich in die Falten und Ritzen seines Gehirns verkrochen hatte. Würde er sein wie sein Vater, tapfer und stoisch bis zum Ende, oder würde er zu einer schlimmeren Version seiner selbst werden, die noch nicht offenbar geworden war? Am Ende fand er es nicht heraus, denn das Urteil hatte »Panikattacke« gelautet. Du Waschlappen – das hatte der Arzt zwar nicht hinzugefügt, aber gedacht hatte er es bestimmt.

Bei der Erinnerung daran schnappte Jeremy sich ein zweites Bier aus dem Kühlschrank und suchte für Sarah eine Flasche Wein aus. Wahrscheinlich brauchte sie nach diesem Tag auch etwas zur Entspannung. Im Wohnzimmer zog er die Vorhänge zu und schaltete den Fernseher ein. Er wusste nicht, warum, aber er konnte sich auf nichts konzentrieren. Vielleicht war es nur die Müdigkeit, aber was immer es war, es gab ihm das Gefühl, losgelöst zu sein, als erlebe er alles aus der Distanz. Es war beunruhigend, und er schüttelte den Kopf, als könnte er es so vertreiben.

Ausgerechnet in diesem Augenblick kam Sarah zu ihm und beäugte ihn besorgt, weil er den Kopf so hin und her drehte. Sie ließ sich neben ihm auf das Sofa fallen, schmiegte den Kopf in seine Halsbeuge und blickte mit ernsten Augen zu ihm auf.

»Bist du sicher, dass dir nichts fehlt?«, fragte sie. »Es passt einfach nicht zu dir, so in Panik zu geraten. Du hast so … ich weiß nicht, so verzweifelt ausgesehen, glaube ich. Es hat mir Angst gemacht. Hast du eine Ahnung, was es ausgelöst haben könnte?«

Die laufenden Gestalten huschten ungebeten vor seinem geistigen Auge vorbei, und unwillkürlich schauderte ihn, was seine Unruhe noch verstärkte.

»Ich weiß es nicht.« Er blinzelte ein paar Mal schnell hintereinander, als würde er etwas Unangenehmes aus seinem Auge schwemmen wollen. »Ich habe wie immer aus dem Fenster geschaut, und im nächsten Augenblick ist es einfach passiert. Ich hab an nichts Spezielles gedacht, und ich war ganz sicher nicht angespannt. Ich weiß wirklich nicht, woher es kam.«

Er legte seinen Arm um sie und zog sie näher zu sich heran.

»Hey, lass uns nicht mehr darüber reden. Um ehrlich zu sein, ich kam mir ziemlich albern vor, und ich würde es am liebsten so schnell wie möglich vergessen.«

Er senkte den Kopf und fand ihre Lippen, warm und weich und nach Minze schmeckend. Sie hatte sich die Zähne geputzt, als sie oben war, hatte die schale Flugzeugluft weggebürstet, den sauren Geschmack der Angst, und Jeremy wünschte, er hätte ihr die gleiche Rücksicht gezollt. Irgendwie gelang es ihm immer, hinter den Erwartungen zurückzubleiben. Er wich zurück und schaute fest in den blauen Hafen ihrer Augen.

»Sarah, es tut mir leid, dass ich dich angefaucht habe – und Lucy. Das wollte ich nicht. Das Ganze hat mich beunruhigt, aber ich hätte es nicht an euch beiden auslassen dürfen. Das war nicht fair.«

Plötzlich packte ihn die Angst, er könnte etwas tun, was sie vertreiben würde, er könnte es schaffen, alles zu verpfuschen und sie auch noch zu verlieren. Die Vorstellung, noch jemanden zu verlieren, den er liebte, war mehr, als er ertrug.

»Du weißt, dass ich dich liebe, oder? Sehr viel mehr, als ich dir wahrscheinlich zeige. Ihr bedeutet mir alles, du und die Kinder.«

»Natürlich weiß ich das, und ich liebe dich noch mehr – auch wenn du das nicht immer verdienst.«

Sie drehte sich herum und setzte sich auf seinen Schoß, und er spürte den festen Druck ihrer Brüste an seiner Brust. Langsam schob er die Hände unter ihr T-Shirt, öffnete ihren BH und fühlte ihre weiche Haut unter seinen Fingern. Ihr Blick verdunkelte sich, und er spürte, wie seine eigene Distanz sich auflöste. Er war ganz hier in diesem Augenblick, mit der Frau, die er liebte, und seine Kinder lagen wohlbehalten oben im Bett. Die Welt war in Ordnung, ganz sicher.

Seine Augen öffneten sich in Blindheit. Samtschwarz und bodenlos. Einen Moment lang hatte er keine Ahnung, wo oder wer er war. Was er wahrnahm, war ein Strudel des Grauens, der blindlings in der Finsternis wirbelte. Nur allmählich wich der Schlaf zurück, und Jeremy kam zur Besinnung. Allmählich erkannte er die matten Umrisse des Fensters hinter dem Vorhang und die vertraute Luft des Schlafzimmers, und durch den Donner in seinem Kopf drang Sarah neben ihm in sein Bewusstsein. Sie schlief tief, und der beruhigende Rhythmus ihres Atems war ein Anker, der ihn zurück zur Erde zog.

Der Traum hing immer noch wie etwas Dunkles an den Rändern seines Bewusstseins. Das Flugzeug darin legte sich auf die Seite und schoss hinab, die Erde stieg ihm rauschend entgegen, und er sah, wie die rennende Gestalt aufblickte. Sie hob das Gesicht zum Himmel und sah ihn an.

Emily.

3

Der Tag hatte einen Beigeschmack von Dysphorie. Nach dem Albtraum hatte Jeremy unruhig geschlafen und war bei jedem Geräusch aufgewacht, ein scheues Mäuschen von einem Mann. Hier bei der Arbeit, im kalten Tageslicht, wusste er, wie lächerlich sie war, die Angst, die ihn erfüllt hatte. Es war nur Emilys Gesicht, das sich mit der Gegenwart mischte, von den Gedanken an seine Mutter aus der Vergangenheit heraufgezogen. Dennoch hatte es ein Summen hinterlassen … kein Summen der Angst eigentlich, eher das Gefühl, den Rhythmus der Welt verloren zu haben. Er kannte das von den seltenen Momenten, in denen er mit Sarah stritt: ein unterschwelliger Ärger über alles und jeden. Sie hatten so gut wie nie Streit miteinander, aber wenn, war es meistens seine Schuld, irgendein unbedeutendes Problem, an dem er sich festbiss wie ein scharfzahniger kleiner Terrier, der einen Knochen zu Tode schüttelte, so lange, bis sogar Sarah der Kragen platzte. Dann zeigte sie sich von einer anderen Seite. Sie wurde nicht laut, aber, oh, sie war clever, so viel cleverer als er mit seinen stumpfen Tiraden gegen die Welt. Sie maß ihre Worte genau ab, kalkulierte sie, legte den Finger in die Wunde. Genau wie seine Mutter wusste sie, wie sie ihn am besten treffen konnte. Manchmal fragte er sich, was für verborgene Abgründe sich in ihr verbargen, welcher berechnende Verstand hinter ihrem sanften Äußeren lauerte und wozu sie fähig wäre, wenn er ihr einmal wirklich wehtun sollte.

Er wandte sich wieder den Entwürfen und den Tabellen mit den geschätzten Kosten zu. Für morgen war ein Meeting mit dem Kunden geplant, bei dem die Zahlen durchgegangen werden sollten, aber er war nicht mit dem Herzen dabei. Manchmal sehnte er sich danach, sich von den Shopping Malls und den Büroblocks abzuwenden und etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Etwas Echtes zu entwerfen, etwas, das eine Seele hatte. Weniger städtisch, mehr Grand Designs. Er dachte an den Blick aus dem Flugzeugfenster. An all die kleinen Schachteln, die so viel mehr sein konnten, wenn Form und Funktionalität sich mit Kunst und Design verbündeten.

Wie aus dem Nichts kam ihm die fliehende Gestalt in den Sinn, und er fragte sich, was ihr passiert sein mochte und ob sie entkommen war. Er hatte bisher nicht bewusst an sie als ein Mädchen gedacht, aber jetzt war er sicher, absolut und kategorisch sicher. Logisch betrachtet wusste er schon, dass er zu weit weg gewesen war, um wirklich etwas erkennen zu können, und er hatte sie ja auch nur für einen kurzen Moment gesehen, aber irgendetwas hatte ihn überzeugt, etwas an der Art, wie sie sich bewegte. Als sei sie ein Mädchen auf der Flucht gewesen, ein Mädchen in Gefahr, und er fragte sich, ob er nicht etwas unternehmen sollte. Er wusste, der Gedanke war irrational, aber er ließ ihn nicht los, und unversehens fragte er sich, ob jemand als vermisst gemeldet oder, schlimmer noch, ob eine Leiche gefunden worden war.

Unruhe bemächtigte sich seiner. Die Hintergrundgeräusche des Büros kreischten wie Fingernägel auf einer Schiefertafel, und seine Haut begann zu kribbeln. Er konnte nicht länger stillsitzen, also ging er zum Wasserspender, wo er einen Augenblick stehen blieb und versuchte, seine wirren Gedanken zu sammeln. Er war erhitzt und zittrig und dermaßen außer sich, dass er sich einen Moment lang fragte, ob er gerade eine Art Zusammenbruch erlebte. Erst die Panik im Flugzeug und jetzt das.

Er stürzte einen Becher Wasser herunter und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Seine Stirn war feucht, und das verstärkte seine Anspannung noch.

Mike erschien neben ihm und grinste hinterhältig. »Alles okay, Alter?«, fragte er. »Wirkst ein bisschen durch den Wind.«

Er stieß Jeremy seinen spitzen Ellenbogen hart in die Rippen. Der Rest Wasser schwappte auf Jeremys Hemd, und jähe Kälte brannte auf seiner heißen Haut.

»Oder hattest du eine harte Sitzung gestern Abend? Ist es das?«

Jeremy schaute hinunter auf den nassen Fleck und sah dann Mike an. In einem Augenwinkel saß ein verkrusteter gelber Überrest des Nachtschlafs, und an seinem Unterkiefer zeigte ein winziges Büschel unbotmäßiger Bartstoppeln, wo sein Rasierer nicht hingekommen war. Wenn jemand eine harte Sitzung hinter sich hatte, dann ja wohl eher Mike. Jeremy spürte immer noch den Stoß des Ellenbogens an seinen Rippen, und Wut flammte in ihm auf. Jungen wie Mike hatte er schon in der Schule gekannt, Pseudotyrannen, die anderen gern Schmerz zufügten, aber nur heimlich, und dabei grinsten, als wäre alles nur ein Witz. Sie fühlten sich groß dabei. Er sah ihn vor sich, den pickligen, präpubertären Mike, wie er jemanden vorn beim Hemd packte und ihm einen ach-so-lustigen »Nippeltwist« verpasste. Der perverse kleine Scheißer.

Aber heute hatte er einfach nicht die Energie für eine schlagfertige Reaktion.

»Mir geht’s gut, Mike, danke. Ich muss nur meinen Kopf ein bisschen sortieren, das ist alles. Ich glaube, ich mache eine kurze Pause und gehe ein bisschen frische Luft schnappen.«

Plötzlich wollte er einfach nur noch raus, weg von Mike und dem beinahe übermächtigen Drang, ihm mit der Faust ins Gesicht zu schlagen – nicht, dass er so etwas jemals tun würde. Das war ihm nur einmal passiert, in der Schule, und er erinnerte sich immer noch an den animalischen Schock, den dieser Gewaltausbruch in ihm ausgelöst hatte.

Er fuhr mit dem Aufzug ins Foyer hinunter und trat hinaus auf die Londoner Straße. Einen Moment lang fühlte er sich desorientiert, überwältigt von Verkehr und Menschen, aber das Gefühl ging schnell vorbei, und sein Puls beruhigte sich wieder. Er beschloss, einen Kaffee trinken zu gehen und sich unterwegs eine Zeitung zu kaufen. Normalerweise las er die Nachrichten online oder sah sie im Fernsehen, aber heute hatte der Gedanke, sich mit Kaffee und Zeitung an einen Tisch zu setzen, etwas Beruhigendes.

Der Gehweg lag im wässrigen Sonnenlicht, und so suchte er sich einen Platz im Freien. Obwohl der Sommer streng genommen vorbei war, lag immer noch Wärme in der Luft. Wahrscheinlich kam das von dem Smog, der über der Stadt lag, aber das war ihm egal. Immer noch besser, als mit dem widerlichen Mike eingesperrt zu sein.

Er ließ sich an einem Einzeltisch nieder und fing an, durch die Zeitung zu blättern. Dabei überflog er die ersten Zeilen jedes Artikels und suchte nach Nachrichten über ein vermisstes Mädchen oder einen Leichenfund. Natürlich fand er nichts, und er verspürte ein Kribbeln der Enttäuschung. Nicht, dass er sich wünschte, ihr sei etwas zugestoßen. Nur verstärkte sich in ihm das Gefühl, dass etwas passiert war – und niemand schien davon zu wissen. Niemand außer ihm.

Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Vielleicht war die Sache noch nicht in den überregionalen Zeitungen angekommen, vielleicht war es dafür noch zu früh. Mit neuer Energie trank er seinen Kaffee aus und machte sich auf den Rückweg. Die Kostenermittlung konnte warten; das hier kam ihm plötzlich sehr viel dringender vor.

Im Büro suchte er mit Google nach Lokalzeitungen aus der Gegend von Gatwick und überflog als Erstes die neueste Ausgabe des Crawley & Horley Observer. Nichts. Das gleiche bei Crawley News 24. Mit wachsender Frustration rief er die BBC News auf und gab »Region Horley« ein, aber auch da fand er nichts außer einem Bericht über Drohnen am Flughafen und die Gefahr einer neuen Startbahn. Er seufzte unwillkürlich auf. Als er merkte, dass Mike herüberspähte und einen langen Hals machte, um zu sehen, was er auf dem Monitor hatte, gab er widerwillig die Suche auf, um zu AutoCad und den Plänen zurückzukehren. Doch die Linien, Quadrate und Kreise des Lageplans verwandelten sich in Straßen, Häuser und Bäume, wie vom Flugzeug aus gesehen.

Sie hatten früh zu Abend gegessen und die Kinder bereits ins Bett gebracht. Sarah war in ihren Pyjama geschlüpft und hatte sich neben ihm auf dem Sofa zusammengerollt. Sie war in eine Backsendung vertieft, die sich auf die Fahnen geschrieben hatte, besonders witzig zu sein, und einen Kalauer nach dem anderen raushaute. Normalerweise hätte Jeremy sich gemeinsam mit Sarah dabei amüsiert, aber heute Abend war es ihm viel zu schrill, und er konnte sich nicht darauf einlassen. Er empfand die gleiche Rastlosigkeit wie schon am Tag und rutschte nervös auf dem Sofa hin und her.

Sarah warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Jez, wenn du das nicht sehen willst, geh doch und tu was anderes. Es macht mir keinen Spaß, wenn du neben mir herumzappelst. Also geh schon.«

Er tat, als zögerte er.

»Bist du sicher? Um ehrlich zu sein, ich habe noch ein bisschen zu arbeiten.«

Das war nicht ehrlich. Kein bisschen. Er hatte nur das Bedürfnis, allein zu sein.

»Schaffst du es denn auch ohne mich, dir alle Rezepte zu merken?« Er gab ihr einen Stups, um zu zeigen, dass das als – lahmer – Scherz gemeint war.

Sarah lächelte nicht. Normalerweise tat sie so, als würde sie seine Witze lustig finden, aber diesmal blieb sie ernst. Eine Sorgenfalte erschien zwischen ihren Augenbrauen, die so schnell nicht wieder verschwinden würde.

»Bist du sicher, dass es dir gut geht, Jez? Du wirkst ein bisschen neben der Spur, seit wir aus dem Urlaub zurück sind, fast, als wärst du gar nicht richtig da.«

»Schatz, mir geht es gut, ehrlich. Ich habe nur einen Riesenhaufen Arbeit auf dem Schreibtisch, das ist alles. Du weißt doch, wie das ist. Du nimmst dir ein paar Tage frei, und am Ende musst du danach doppelt und dreifach so viel arbeiten, weil während deiner Abwesenheit alles liegen geblieben ist. Sobald ich den Stapel abgearbeitet habe, geht’s mir wieder gut.«

Jeremy wusste nicht genau, warum er sie anlog. Es gab nichts, was nicht bis morgen hätte warten können. Ohnehin hatte Mike während seiner Abwesenheit mehr als bereitwillig seine Projekte übernommen. Wahrscheinlich hatte er sich an den Chef herangewanzt, kaum dass er zur Tür hinaus gewesen war, dieser Arschkriecher.

Er brauchte ein bisschen Zeit zum Nachdenken über das, was er vom Flugzeug aus gesehen hatte, und das wollte er Sarah nicht sagen. Sie sollte nicht glauben, dass er verrückt wurde, und er wusste, es würde sich so anhören. Doch es nagte an ihm und drängte sich in seine Gedanken wie ein schlechtes Gewissen, und er musste begreifen, warum.

Leise ging er aus dem Zimmer und hinauf in sein Arbeitszimmer. Es war noch nicht ganz dunkel, aber er zog trotzdem die Vorhänge zu und schaltete die Schreibtischlampe ein. Mit einem seltsamen Gefühl, als ob er etwas zu verheimlichen hätte, rief er Google Maps auf und zoomte auf Gatwick. Er schloss die Augen und versuchte, sich an die Landmarken zu erinnern, die er gesehen hatte, bevor das Flugzeug sich auf die Seite legte. Da waren Felder gewesen, Wiesen und Vieh und ein Golfplatz. Er erinnerte sich an den reizvollen Anblick von Bunkern und Greens en miniature.

In der Nähe von Gatwick gab es gleich mehrere Golfplätze. Das Flugzeug dürfte ursprünglich von der Küste im Süden heraufgekommen sein, aber er wusste nicht, wie viele Schleifen es geflogen oder aus welcher Richtung es zur Landung angesetzt hatte. Weil ihm nichts Besseres einfiel, fing er mit den Orten an, die im Süden lagen. Die nächsten waren Ifield, Cottesmore und Copthorne; Haywards Heath und Lindfield lagen weiter weg. Nacheinander konzentrierte er sich auf diese Dörfer und versuchte, sich an die Gegend zu erinnern, wie er sie vom Flugzeug aus gesehen hatte.

Cottesmore sah vielversprechend aus, aber er wusste nicht, ob es nicht zu weit vom Flughafen entfernt war. Er kannte auch die Fluggeschwindigkeit nicht, ebenso wenig wie die Flughöhe. Ifield lag näher beim Flughafen, und wieder kam ihm die Vogelperspektive auf Fairways und Sandbunker bekannt vor.

Je länger er die Gegend studierte, desto mehr Golfplätze schien es zu geben. Copthorne und Chartham Park, Effingham und Mannings Heath – jeder davon konnte der sein, den er suchte. Er schlug frustriert auf den Tisch und legte die Stirn auf die kühle Platte. Einerseits begriff er nicht, wieso es ihm so wichtig war oder was er eigentlich herauszufinden hoffte, andererseits fühlte er sich gezwungen, danach zu suchen.

Ein kaum spürbarer Hauch bewegte die Luft hinter ihm – Sarah stand in der Tür und beobachtete ihn. Er war so vertieft gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie sie die Treppe heraufgekommen war, und deshalb wusste er auch nicht, wie lange sie schon da stand. Ihn überkam der Verdacht, sie habe sich absichtlich an ihn herangeschlichen – als habe sie sein Ausweichen vorhin gespürt und befürchtet, sie werde ihn hier im Dunkeln finden, wo er über irgendetwas brütete oder mit etwas irgendwie Ruchlosem beschäftigt war.

Als sie jetzt hinter ihn trat, hob Jeremy den Kopf von der Schreibtischplatte und versuchte hastig, den Bildschirm auszuschalten. Einen Sekundenbruchteil zu spät. Sarah sah die Luftaufnahme von West Sussex, das sich vor ihnen ausbreitete und in dessen Zentrum Gatwick wie ein Leuchtfeuer pulsierte.

»Schatz, ich wollte nur fragen, ob du Kaffee möchtest oder so was, wenn du noch arbeitest.«

Etwas in ihrem Ton konnte Jeremy nicht deuten. Sie beugte sich über ihn.

»Woran arbeitest du denn im Moment?«

»An nichts Besonderem«, sagte er. »An zwei neuen Projekten, die mir so durch den Kopf gehen.«

»Nichts Besonderes« war ein totaler Widerspruch zu dem »Riesenhaufen Arbeit«, den er vorhin erwähnt hatte. Ein neues Fädchen im Netz seiner Lügen.

»Ist das nicht Gatwick?« Sie drehte den Kopf und sah ihn an. Jetzt stand eine offene Frage in ihrem Blick, gepaart mit einem Hauch von Verwirrung.

»Jez, das ist doch der Flughafen. Wonach suchst du?« Langsam ging ihr ein Licht auf. »Hat es etwas mit der Sache im Flugzeug zu tun?«

Ihr Anwaltsverstand war zu scharfsinnig für Jeremy. Manchmal war ihre aufblitzende Intuition beunruhigend. Er dachte daran, zu lügen – warum, wusste er nicht genau – , aber dann entschied er sich für die Wahrheit.

»Okay, okay.« Resignierend hob er die Hände. »Mir war, als hätte ich vom Flugzeug aus etwas gesehen, und das beunruhigt mich aus irgendeinem Grund, das ist alles. Ich wollte nur mal sehen, ob ich die Gegend finden kann, um dann zu entscheiden, was ich tun soll. Ich wollte dir noch nichts davon erzählen, für den Fall …«

Während er redete, zog sie sich einen Stuhl heran und setzte sich. Sie war jetzt sichtlich besorgt.

»Wie meinst du das, du hast etwas gesehen? Was heißt ›etwas‹? Und warum wolltest du nicht mit mir darüber reden, wenn es dich doch so sehr beunruhigt hat, dass du eine Panikattacke bekommen hast?«

Anscheinend blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr alles zu erzählen. Aber die ganze Zeit war ihm bewusst, wie dumm es sich anhörte, wenn er es jetzt in Worte fasste.

»Weißt du, es war, als das Flugzeug sich auf die Seite legte. Der Boden war für einen Augenblick ein bisschen näher, und ich sah ein Mädchen, okay? Sie lief auf einen Wald zu und wurde von drei Leuten verfolgt, und jetzt werde ich aus irgendeinem Grund die Befürchtung nicht los, dass sie in Gefahr gewesen ist. Ich dachte, wenn ich herausfinden kann, wo es war, kann ich vielleicht auch etwas unternehmen. Mich vergewissern, dass sie wohlauf ist, oder so. Ich weiß nicht genau, warum, aber ich hatte das Gefühl, als dürfte ich es nicht ignorieren. Und bevor du etwas sagst: Ich weiß, es klingt alles ein bisschen sonderbar. Deshalb habe ich dir nichts davon erzählt.«

Er hatte jetzt keinen Zweifel mehr. Anscheinend war das, was als Verdacht angefangen hatte, zu einer harten Tatsache geronnen. Etwas überrascht erkannte er, dass er soeben von drei Leuten gesprochen hatte. Er wusste, drei hatte er nicht gesehen – zwei vielleicht, aber auf keinen Fall drei – , aber jetzt war er überzeugt, es waren drei gewesen. Tatsächlich würde er sein Leben darauf verwetten, dass da dicht außerhalb seines Gesichtsfeldes noch jemand gewesen war, und die Irrationalität dieser Überzeugung erschreckte ihn.

Sarah las etwas in seinem Gesicht und griff nach seiner Hand.

»Jez, um ehrlich zu sein, ich bin ein bisschen besorgt. Wenn du deshalb eine Panikattacke bekommen hast, ergibt es keinen Sinn. Ich will nicht sagen, dass du da nichts gesehen hast, aber wie um alles in der Welt kannst du wissen, dass es ein Mädchen gewesen ist?«

Er wollte seine Hand wegziehen, aber sie hielt sie nur noch fester.

»Und selbst wenn – woher willst du wissen, wie alt sie war oder dass sie gejagt wurde? Vielleicht war es ein Kind beim Spielen oder jemand, der einfach rannte? Alles Mögliche. Und selbst wenn sie gejagt wurde, warum um alles in der Welt reagierst du darauf so?«

Unbewusst sprach sie in dem Ton, den sie bei den Kindern benutzte, und das wurmte ihn.

»Ich weiß es nicht. Es sah nur aus, als würde sie gejagt werden, und das hat mich beunruhigt.«

»Aber es leuchtet mir wirklich nicht ein. Wir müssen ungefähr zweitausend Fuß hoch gewesen sein, wenn nicht höher. Es ist unmöglich, dass du solche Details aus dieser Höhe gesehen haben sollst, oder in den paar Sekunden, die wir tatsächlich über dem Bereich waren.«

»Aber ich habe sie gesehen. Das erfinde ich nicht.«

»Du hast aus dieser Höhe vielleicht Menschen gesehen, aber du kannst nicht in der Lage gewesen sein zu erkennen, wer sie waren oder was sie taten. Schatz, das ist einfach nicht möglich.«

Ihr Tonfall war entschieden, aber auch leicht ungläubig.

»Und selbst wenn du glaubst, du hättest etwas gesehen, wäre es unmöglich, auf Google Earth zu identifizieren, wo genau das war. Und warum die Panik? Ich verstehe wirklich nicht, wie du überhaupt auf solche Gedanken kommst.«

Ihre Logik ging ihm auf die Nerven, obwohl er insgeheim wusste, dass sie recht hatte. Es war nicht das, was er hören wollte. Er wollte, dass sie ihm glaubte und dass sie ihm half herauszufinden, was passiert war.

»Ach, du bist jetzt also auch Luftfahrtexpertin, ja?« Er sah ihr streitsüchtig ins Gesicht. »Ich sag dir was. Wenn du mir nicht glaubst, dann such dir noch irgendeine andere Kochsendung im Fernsehen. Los, geh, bestimmt gibt’s da noch was Leckeres.«

Er hörte selbst, wie spöttisch und unwirsch er klang, und er schämte sich, kaum dass er zu Ende gesprochen hatte. Sarah zog die Hand weg, als hätte er sie geschlagen.

»Sarah, es tut mir leid. Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Ich habe nicht gemeint …«

Er zwang sich, ihr in die Augen zu schauen, und erwartete einen gekränkten Blick. Was er stattdessen sah, war eher eine Art Enttäuschung, und das traf ihn noch mehr.

»Aber ich«, sagte sie. »Vielleicht ist es, weil du manchmal ein gemeines kleines Arschloch bist.« Damit wandte sie sich ab und ging.

Er hatte den ganzen Tag mit jemandem streiten wollen. Also warum nicht mit ihr?

»Was soll das heißen? Komm mir nicht mit einer solchen Bemerkung und mach dich dann einfach vom Acker, verdammt. Wenn du mir etwas zu sagen hast, nur zu! Sag es ruhig.«

Sie blieb in der Tür stehen, biss aber auf seinen Köder nicht an.

»Das ist verrückt, Jeremy, und ich glaube, tief im Inneren weißt du es. Sag mir Bescheid, wenn du bereit bist, dich wie ein Erwachsener mit mir zu unterhalten. Ich bin hier.«

Behutsam schloss sie die Tür hinter sich.

4

Die Atmosphäre beim Frühstück war angespannt. Sarah würde es niemals zulassen, dass die Kinder Unstimmigkeiten zwischen ihnen bemerkten, aber Jeremy spürte, dass sie ihm nicht verziehen hatte. Er merkte es an der flachen Präzision ihrer Stimme, wenn sie mit ihm sprach, und an einer gewissen Härte in ihrem Blick, die ihre Iris stahlgrau färbte. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie innerlich zerrissen war: Halb war sie schlicht wütend wegen seiner billigen Spitze, halb machte sie sich Sorgen um ihn und wollte darüber reden. Deshalb liebte er sie umso mehr, und es schmerzte ihn in der Brust, wenn er an seine gemeinen Worte vom Vorabend dachte.

Er sah zu, wie sie Obst und Joghurt für sich und die Kinder bereitstellte und spielerisch die Himbeeren für Lucy abzählte, indem sie sie sich auf die Fingerspitzen legte.

»Hier ist eine richtig dicke, saftige«, sagte sie und schob Lucy die auserwählte Frucht in den erwartungsvoll aufgesperrten Mund. »So, meine Süße, auf der stand ganz eindeutig dein Name.«

Sein Name stand heute Morgen leider nirgendwo. Sie machte ihm keinen Kaffee – ja, schlimmer noch, sie stellte ihm nicht mal eine Tasse hin.

Jeremy hatte oft gesehen, wie sie den Kindern das größte, saftigste Stück Kuchen gab und sich selbst nur das zerbrochene oder kleinste Stück nahm. Das gehörte anscheinend zum Muttersein dazu: dieses Verlangen, Opfer zu bringen für die, die man liebte, selbst wenn es um solche Kleinigkeiten ging. Aber aus irgendeinem Grund bewegte es ihn diesmal nicht so, wie es sollte. Statt eines warmen Gefühls erzeugte es einen Stich von ganz anderer Art, der gefährliche Ähnlichkeit mit Eifersucht hatte.

Seine Gedanken kehrten unausweichlich zu seiner Mutter zurück. Es war nie ihre Art gewesen, ihm das größte Kuchenstück zu überlassen. Jeder kleine Leckerbissen war für ihren eigenen Mund bestimmt, nie für seinen. Er sah sie vor sich, wie sie ihn beobachtete, während ihre karmesinroten Lippen sich um die letzte Praline schlossen, und wie sie mit einem gehässigen Blick seine Enttäuschung genoss.

Jemand – wahrscheinlich Onkel Ian – hatte ihm einmal erzählt, Karmesin werde aus zerquetschten Käfern hergestellt, aus einer wächsern leuchtenden Substanz, die diese Käfer das Leben kostete. Als Kind hatte er sich mühelos vorstellen können, wie seine Mutter die kleinen Kadaver zerstampfte, bevor sie sich ihre roten Sekrete auf die Lippen schmierte.

Bei dem Gedanken daran überlief ihn ein Schauder. Als er sah, dass Sarah ihn beobachtete, zwang er sich zu einem hoffentlich gewinnenden Lächeln. Nur ging es leider als Verlierer durchs Ziel. Liebevoll, beruhigend, normal hatte es werden sollen, aber stattdessen wurde daraus ein starres Entblößen der Zähne, das ihre Besorgnis ganz sicher nicht zerstreuen würde. Es war das Grinsen eines Wolfs im Schafspelz.

Er kippte den letzten Rest seines (selbstgebrühten) Kaffees herunter und ging zur Tür. Unterwegs blieb er stehen, um Sarah zu umarmen und das Kinn in einer flehentlichen Geste auf ihren Scheitel zu legen. Sie erstarrte in seinen Armen; noch war sie nicht bereit, ihm zu verzeihen.

»Es tut mir leid, Sarah«, flüsterte er in ihr Haar. »Ich bin manchmal ein solcher Idiot. Ich habe dich nicht verdient.«

Es erforderte mehr als eine Umarmung im Vorbeigehen. Sie blieb stumm und starr. Seufzend drückte er sie kurz an sich und verließ seine kleine Kernfamilie.

Im Büro war es stickig und öde, und sosehr er sich auch um Konzentration bemühte, fesselte ihn die Arbeit doch nicht mehr als am Tag zuvor. Obwohl er die Sache auch aus Sarahs Perspektive sehen konnte, wurde er das Gefühl nicht los, dass sie im Irrtum war. Er akzeptierte sogar, dass seine Ideen möglicherweise irrational waren, aber das änderte nichts an den Bildern, die in seinem Kopf aufblitzten, sobald seine Wachsamkeit nachließ. Es zerstreute die Überzeugung nicht, dass irgendwo zwischen diesen Bäumen ein Mädchen zu Schaden gekommen war, und es milderte nicht den Drang herauszufinden, wer sie war und was mit ihr passiert war.

Emily! Der Name schnitt wie eine Messerklinge durch seine Gedanken, und plötzlich wurden seine Handflächen feucht. Emily, kleine Em. Sein Herz schlug schneller. Damit durfte er nicht anfangen. Er durfte nicht an den fehlenden Teil seiner selbst denken. Warum fühlte es sich nach all den Jahren plötzlich an, als wäre sie mit ihm in diesem Raum? Als würde er, wenn er plötzlich den Kopf drehte, ihr strahlendes Lächeln sehen, das Sonnenlicht, das auf ihrem Haar spielte? Die Luft im Büro schien in Bewegung zu geraten, als würden die Moleküle sich verschieben und Platz machen, um den Geist eines toten Mädchens hereinzulassen, ohne dass einer seiner Kollegen es zu bemerken schien. Niemand sah die plötzliche Wildheit in seinem Blick oder das Zittern seiner Hände.

Der Schmerz stirbt nie, das hatte er schon früh gelernt. Man bringt ihn einfach irgendwie unter. Er gräbt sich eine kleine Höhle in deiner Seele und verkriecht sich und wartet. Wartet auf die zufällige Bemerkung, die verirrte Erinnerung, den gewissen Duft, um sich wieder zum Leben erwecken zu lassen. So war es jetzt: Etwas hatte den Schmerz aufgeweckt, und er war so frisch wie eh und je. Als wäre das alles erst gestern passiert.

Das Klingeln seines Handys trieb seine Gedanken auseinander. Die drängenden Vibrationen ließen das Telefon in panischen Kreisen auf dem Tisch herumfahren. Es war Sarahs Nummer, und ihm stockte der Atem. Sie rief ihn so gut wie nie bei der Arbeit an. Sofort dachte er an die Kinder: Hatte sich eins von ihnen verletzt, oder war, Gott behüte, Schlimmeres passiert? Dicht auf den Fersen von Emilys Geist erschien dieser Anruf wie ein böses Omen, und seine Nerven vibrierten wie ein gespannter Draht.

»Hallo?« Die Angst war in seiner Stimme zu hören, als er darauf wartete, dass die Axt fiel.

»Jeremy, ich bin’s. Ich habe eben einen Anruf vom Krankenhaus in Bristol bekommen. Deine Mutter wurde gestern Abend eingeliefert. Viel wollten sie mir nicht sagen, aber was sie gesagt haben, klang nicht gut.«

Er hörte den dringlichen Unterton in ihrer Stimme. Die schlechte Laune ihm gegenüber schien vergessen.

Er zögerte einen Herzschlag lang und bemühte sich, seine Gefühle zu ordnen. Da war Erleichterung – weil es nicht Sarah oder eins der Kinder war – , aber auch noch etwas anderes. Und dann wusste er es: Es war Bedauern. Eine mächtige Woge der Trauer um das, was hätte sein können, was hätte sein sollen. Um die Beziehung, die sie nie gehabt, die Liebe, die sie nie geteilt hatten. Reue wegen all der Kränkungen und Vorwürfe, wegen der Grausamkeiten, die er nie mehr ungeschehen machen konnte. Wegen all der Weihnachts- und Geburtstagsfeste, der großen und kleinen Feiertage, die Zeiten des Glücks hätten sein sollen. Das war nicht nur traurig für ihn, sondern auch für sie. Es überraschte ihn, dass er nach allem, was sie war, und allem, was sie getan hatte, immer noch Reue wegen der Dinge empfinden konnte, die ihr entgangen waren. Die Enkelkinder, die sie nie wirklich gekannt hatte. Die Schwiegertochter, die ihr Liebe geschenkt hätte, wenn sie sie je in ihre Nähe gelassen hätte. Ein riesiger Ozean von verpassten Gelegenheiten und Zeit, die sie nie zurückbekommen würden. Keine zweiten Chancen.

»Jeremy, bist du noch da? Alles okay?«

»Ja. Entschuldige, es ist … ich weiß nicht, ich bin überrascht, das ist alles. Was muss ich tun?«

Das war eine alberne Frage. Es war seine Mutter, nicht ihre, aber Sarah war diejenige, die pflichtbewusst Kontakt gehalten hatte. Sie hatte seine Mutter zweimal im Monat angerufen und ihr Fotos von Jack und Lucy geschickt. Sie hatte dafür gesorgt, dass seine Mutter Teil der Familie blieb, wenn auch auf Distanz. Aber ihre Beziehung hatte sie nie so recht verstanden, denn die zwischen ihr selbst und ihren Eltern hätte anders nicht sein können. Zu Anfang hatte sie sich sehr bemüht, zwischen ihnen alles in Ordnung zu bringen, bis sie begriffen hatte, dass manche Familien irreparabel verkorkst und verbogen und ihre Trümmer unter einem Berg von Geschichte vergraben waren.

»Jeremy, sie ist deine Mutter. Du musst sie besuchen. Du wirst dir niemals verzeihen, wenn du es nicht tust. Ganz gleich, wie du über sie denkst, sie hat sonst niemanden. Du bist ihr Sohn, ihr nächster Verwandter. Schatz, hör mir zu: Du kannst davor nicht weglaufen, auch wenn du es möchtest.«

Jeremy seufzte, voller Widerwillen und Überdruss, aber das war nur Effekthascherei, denn er wusste, sie hatte wieder einmal recht.

Die Fahrt von London nach Bristol verlief entspannt. Sie führte höchstens drei Stunden lang mehr oder weniger schnurgeradeaus über die Autobahn M4, und Jeremy empfand beinahe Gewissensbisse bei dem Gedanken daran, wie lange es her war, dass er diese Fahrt zuletzt unternommen hatte. Es war ein strahlender Septembertag, frisch und klar, mit einem wolkenlosen Himmel. Die Reise hätte beinahe Spaß machen können, wäre da nicht gewesen, was am Ende auf ihn wartete. Mit Krankenhäusern hatte er nie etwas anfangen können, und die Kombination von Krankenhaus und seiner Mutter würde niemals Spaß machen. Sarah hatte angeboten mitzukommen, aber obwohl die Versuchung groß gewesen war, wusste er, dass er dies allein tun musste. Wenn Frieden zu schließen war, musste er es versuchen – wenn nicht um seiner Mutter willen, dann doch wenigstens für sich.

Der Wagen fraß die Meilen sehr viel gieriger, als ihm lieb war. Hinter Reading führte die Autobahn durch eine offene Landschaft. Bäume und Hecken zu beiden Seiten zeigten die ersten Verfärbungen des Herbstes, einzelne goldene Flecken, verstreut in der grünen Weite. Wellige Felder reichten bis zum Horizont, und in der Ferne stand auf einer runden Hügelkuppe ein Zierturm, die törichte Laune eines vergangenen Grundbesitzers. Jeremy sah ihn im Vorüberfahren und dachte an seine eigene Torheit – wie konnte er bloß glauben, es könne mit seiner Mutter jemals eine Versöhnung geben? Er fühlte sich plötzlich versucht, die nächste Ausfahrt zu nehmen und sich in einer stillen Parkbucht zu verstecken, um mit seinen Gedanken allein zu sein.

Seine Mutter. Es war merkwürdig, wie oft sie gerade in letzter Zeit in seine Gedanken eindrang, fast als habe er auf irgendeiner Ebene gewusst, dass sie sich dem Ende ihres Lebens näherte. Verband der Hass sie, wie es eigentlich die Liebe täte? Oder waren sie verbunden durch eine Art morphische Resonanz, geboren aus Trauma und Verlust? Was immer der Grund sein mochte, er hatte ihre Anwesenheit in den letzten Tagen stärker gespürt als sonst.

Er betrat das stille Nebenzimmer, und da lag sie, Mrs Marian Horton. Gefiltertes Licht sickerte durch die Jalousien und berührte kühn ihr Gesicht. Es war sehr viel kühner als er. Er sah sie jetzt zum ersten Mal seit fast drei Jahren, und die Veränderung war bestürzend. Er wusste, ihr Herz hatte versagt, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sie so schwer gezeichnet sein würde. Ihre Füße ragten unter der Decke hervor, glatt gewölbt und von einem filigranen Netz aus blau-grauen Adern überzogen. Ihre Zehen sahen aus wie eine Reihe von dicken kleinen Würsten, deren Haut anfing zu reißen und zu platzen, als hätte jemand mit einer Gabel hineingestochen. Zehn kleine Schweinchen aus dem Abzählreim, die nie wieder auf den Markt gehen würden. Mit ihren wassergefüllten Fußgelenken war es genauso – sie waren elefantös, genau wie ihre Arme, und ihre geschwollenen Hände schienen ihm eine Parodie zu sein auf ihre schlanken beringten Finger, die er als Junge gekannt hatte, auf die butterweißen Handflächen und makellosen roten Nägel. Jetzt lagen sie bewegungslos auf dem Wabenmuster der Bettdecke und erinnerten Jeremy an aufgeblasene Gummihandschuhe. Eine bösartige innere Stimme flüsterte ihm zu: Wer ist jetzt fett, Mummy?