Der Fluch von Düsterstein - Jenny Rubus - E-Book

Der Fluch von Düsterstein E-Book

Jenny Rubus

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Beschreibung

Meer gegen Bäume. Fische gegen Klöße. Der Umzug von Kiel in den Thüringer Wald lässt für die siebzehnjährige Ellie eine Welt zusammenbrechen. Ihre Familie will das leerstehende Barockschloss »Düsterstein« zu einem Hotel umbauen. Doch eine mysteriöse Macht hat Einwände. Der Geist des verfluchten Grafen Balthasar treibt sein Unwesen in den Mauern - jeder bisherige Besitzer des Schlosses verunglückte. Doch nicht nur Balthasar kann seinen eigenen Tod nicht akzeptieren. Bald wird klar, dass Ellie nach fast vierhundert Jahren diejenige ist, welche die Geister erlösen und ihre Familie vor einem tragischen Schicksal bewahren muss. Und es ist nicht hilfreich, dass in Ellie Gefühle für den unnahbaren Grafen erwachen.

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Seitenzahl: 526

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Der Fluch von Düsterstein

Jenny Rubus

Copyright © 2023 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Mira Manger – Herzgestein

Korrektorat: Sarah Nierwitzki – Wortkosmos

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlag- und Farbschnittgestaltung:

Christin Thomas – Giessel Design

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-940-1

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltswarnung:

Blut, Gewalt, Tod, auch bei Tieren

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Danksagung

Drachenpost

Für alle,

die daran glauben,

dass Liebe und Freundschaft

den Tod überdauern können

Kapitel1

Ich glaube nicht an Geister. Auch nicht an Monster, Hexen, die Existenz von Fabelwesen oder Besessenheit. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass man eine Teenagerseele nachhaltig durch einen Umzug zerstören kann. In diesem Fall – meine.

Das wiederum könnte dazu führen, dass ich Dinge sehe, die eigentlich nicht existieren. Womit wir wieder bei den Geistern sind.

Mein Herzschlag setzt kurz aus. Für einen Moment vergesse ich sogar, wieso meine Augen brennen. Dort drüben, am anderen Ende des Innenhofes, schwebt er aus dem Haupteingang von Schloss Düsterstein.

»Ein Geist!«, ruft mein Bruder Max euphorisch und klettert über Omas Beine hinweg aus der offenen Autotür. Typisch für einen Achtjährigen verfügt er über schier endlose Energie.

»Ellie, kannst du den nehmen?«, bittet mein Vater, ohne das Zauberwort zu benutzen, wie er es umgekehrt immer von uns verlangt. Schwungvoll reicht er einen Koffer an mich weiter, doch ich reagiere zu langsam und er landet auf meinen Zehen. Ein dumpfer Schmerz, der kaum zu mir vordringt. Viel mehr beschäftigt mich, dass der Geist, den ich sehe, so sehr dem Klischee entspricht, dass es lächerlich ist: weiß, bettlakenartig, mit zwei dunklen Löchern als Augen. Darüber hinaus befindet er sich in Begleitung meiner Tante, ihres Mannes sowie meiner Cousine.

»Bei allen Auren des Mondes!« Mum zischt an mir vorbei wie eine ferngesteuerte Drohne. Ihre gelockte braune Haarpracht wippt fast senkrecht hinter ihr her. »Spürt ihr dieses Karma? Diesen Duft von Legenden? Romantik, Ballsäle! Einfach märchenhaft!«

Habe ich schon erwähnt, dass es sich manchmal wie in einer Sitcom anfühlt, mit meiner Familie zusammenzuleben? Nein? Mum ist der Beweis. Einer von vielen.

Dass irgendetwas hier jemals Karma besessen hat, bezweifele ich. Höchstens im 17. Jahrhundert. Und seit wann kann man Legenden riechen?

Halb im Sprung steuert meine Mutter auf ein verwildertes Beet in der Mitte des Innenhofes zu. Abgesehen von diesem graubraunen Unkrauthaufen sind innerhalb der Schlossmauern keine Pflanzen zu entdecken. Das goldgelbe Laub, das den Boden vor meinen Füßen sprenkelt, muss von außerhalb stammen. Ein Zeichen, dass es hier ziemlich windig werden kann.

»Oh, Herzchen, da seid ihr ja!«, tönt Tante Theas schrille Stimme herüber, was ein dumpfes Echo an allen Seitenflügeln erzeugt. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht, nachdem wir von diesem Unfall auf der A7 gehört haben. Mel, was machst du da? Hast du was verloren?« Sie wirkt ebenfalls ein bisschen so, als hätte sie einen Geist gesehen. Oder einfach Mum, die jetzt bäuchlings auf dem sandigen Boden liegt und mit dem Smartphone in der Hand ein Foto schießt.

Der Geist neben ihnen hat sich zwischenzeitlich als mein Cousin Finn entpuppt. Mir ist nicht klar, warum er sich ein Bettlaken übergestülpt hat. Vielleicht, um Max eine Freude zu machen. Oder mir Angst. Oder beides.

»Hallo, Thea. Bei uns ist alles gut«, erwidert Mum krächzend und schießt noch ein paar weitere Fotos aus ihrer Liegeposition. Über Kopf.

Während sich Thea und ihr Mann zu Mum begeben, um am Boden nach etwas zu suchen, das ihr nie heruntergefallen ist, schlendern ihre Kinder mit Max im Schlepptau zu uns. Das dauert eine Weile. Gefühlt sind sie unglaublich weit weg. Der quadratische Innenhof ist riesig, zweiundzwanzigtausendfünfhundert Quadratmeter, um genau zu sein. Ich habe es gegoogelt.

Für mich fühlt es sich trotzdem an wie ein Gefängnis. Weil zwischen mir und meinen Freunden knapp fünfhundert Kilometer liegen. Weil ich mich als Küstenkind hier, mitten im Thüringer Wald, wie ein Shrimp auf dem Trockenen fühle. Meer gegen Bäume, Fische gegen Klöße. Ich möchte schreien.

Und die Anwesenheit der Familie von Mums Schwester macht es noch schlimmer.

»Loretta! Finn! Was für eine Freude, euch zu sehen!«, grüßt Dad überschwänglich, als die beiden endlich bei uns angekommen sind. Als wäre unsere Begegnung hier rein zufällig. »Wie waren die ersten Nächte als vornehme Herrschaften?«

Sein Flachwitz führt dazu, dass sich das Gesicht meiner Cousine Lory noch mehr verfinstert. Abgesehen vom gleichen Alter haben wir beide nicht viel gemeinsam. Max kriecht in der Zwischenzeit unter das Geisterlaken, das Finn ihm überreicht hat.

»Hii«, presst Lory widerwillig hervor. Sie sagt es immer so, mit Betonung auf dem zweiten i, was ein bisschen klingt, als würde sie Japanisch üben. Ihr mürrischer Gesichtsausdruck steht im krassen Gegensatz zu ihrem restlichen Aussehen. Helle Bluse, Markenjeans, die schulterlangen Haare zu niedlichen Zöpfen geflochten, jedes Hautglänzen mit Puder niedergekämpft. Optisch würde ihre ganze Familie super auf einen Ausflugsdampfer vor Mallorca passen.

Ich will gar nicht wissen, wie ich daneben aussehe. Nach der durchweinten Nacht, sechs Stunden Fahrt und einer Pause, die wir damit verbracht haben, Opa aus einem Rasthofklo zu befreien, weil er die Tür nicht mehr aufbekommen hat.

»Hallo«, erwidere ich höflich und weniger japanisch. Oma hat es ebenfalls geschafft, aus unserem Familien-Van auszusteigen, und gibt beiden die Hand. Dad kämpft mit Opa, der sich mit einer Hand auf der Motorhaube abstützt. Die erwartete Moralpredigt über Fettschichten auf Lack bleibt jedoch aus.

»Passt schon«, erwidert Finn auf Dads Frage, schlägt sich einen türkisfarbenen Schal über die Schulter und verlagert sein Gewicht lässig auf ein Bein. Optisch könnten er und Lory zweieiige Zwillinge sein. Die gleichen blonden Haare, bei Finn bloß lockig und mit Pony, der ihm ständig in die Stirn fällt. Die gleichen graublauen Augen. Lediglich seine Haut ist eine Nuance dunkler als jene seiner Stiefschwester, und er ist schlaksiger. Sie sind keine Zwillinge, nicht mal gleich alt. Mein Onkel hat den neunzehnjährigen Finn aus erster Ehe mitgebracht, als wir alle Kleinkinder waren.

»Hast du etwa geheult?« Finn mustert mich unverhohlen.

Autsch.

Etwas in mir zieht sich zu einer stacheligen Kugel zusammen, als er mich mit seiner Frage daran erinnert, warum mein Magen in dieser Mischung aus Völlegefühl und totaler Leere drückt. Warum ich seit zwei Tagen nicht ordentlich gegessen habe und warum mein Kopf platzen möchte vor Schmerz.

Ich hasse Veränderungen. Diese hier ist so krass, dass ich mich fühle wie ein zerknülltes Stück Papier. Oder etwas, das mit zerknülltem Papier ausgestopft wurde.

Etwas zu dramatisch für eine Siebzehnjährige? Mag sein, aber wie soll ich auch sonst denken? Immerhin wurde unser gesamter Besitz auf drei Umzugstransporter komprimiert, die unter einem der Arkadenbögen parken. Und auf ein paar Koffer mit dem Nötigsten, von denen einer immer noch auf meinen Zehen steht. Außerdem haben wir auf dem Weg hierher die deprimierendsten Ortsschilder passiert, die ich je gelesen habe. Ich meine, Düsterstein, Finsterwald oder Grabsleben? Das klingt ja schon nach Tod und Verderben.

Eine Brise ungewohnt salzlose Luft bläst ein paar dunkle Haarsträhnen auf meine Wange. Mühsam unterdrücke ich einen neuen Schwall Tränen und zwinge mich zu einem Lächeln. »Nein. Wahrscheinlich habe ich durch die ganzen Schimmelsporen hier schon eine Erkrankung der oberen Atemwege entwickelt.«

So stolz ich auf meine schlagfertige Antwort bin, so verräterisch glühen meine Wangen. Ganz kurz ertappe ich mich bei dem unfairen Wunsch, dass ihm der Umzug genauso schwergefallen ist wie mir.

»Was ist mit Wadenwickel?«, fragt Opa und greift an sein Ohr.

»Egon, wo ist dein Hörgerät?« Oma redet übertrieben laut.

»Ich hör euch doch«, gibt Opa genauso laut zurück.

Dad stöhnt. »Ich such es.«

In der Mitte des Innenhofes zieht meine Tante Mum wieder auf die Beine, die ihr aufgeregt plappernd etwas auf ihrem Handy zeigt.

»Hast dich bestimmt erschrocken, als du den Geist gesehen hast, was?«, höhnt Finn so leise, dass nur meine Cousine und ich es hören. Dabei deutet er auf Max, der neben uns im Kreis hüpft und Mühe hat, nicht auf das viel zu lange Laken zu treten. Das hält ihn allerdings nicht davon ab, uns zu verkünden, dass er morgen auf Geisterjagd gehen wird. Mithilfe seines Protonenstrahlers aus Plastik.

»Ist mir egal«, murmele ich, ohne zu definieren, was genau. Weil mir quasi alles egal ist. Meine Freunde für sehr lange Zeit nicht wiederzusehen und stattdessen mit dem größten Mobber meiner Kindheit unter einem Dach zu leben, erdrückt mich. Nicht mal die Volljährigkeit hat ihn erwachsen gemacht.

Der Gedanke sorgt dafür, dass ich mich abwende, um scheinbar hochinteressiert zu beobachten, wie mein Vater einen kleinen Gegenstand aus dem Handschuhfach des Wagens holt, an Opas Ohr befestigt und sich anschließend am Kofferraum zu schaffen macht. In Wahrheit will ich die einzelne Träne verbergen, die sich ihren Weg über meine Wange bahnt.

Ich möchte einfach nur zurück nach Kiel. Schloss Düsterstein ist verlassen und grau. Nichts an diesem Ort besitzt Karma oder etwas Märchenhaftes. Im Gegenteil. Der muffige Geruch des schimmeligen Außenputzes weht quer über den Innenhof, sodass eine Atemwegserkrankung auf Dauer tatsächlich nicht ausgeschlossen ist. Davon abgesehen komme ich mir schrecklich beobachtet vor. Wegen der gefühlt drei Millionen Fenster um uns herum, deren Scheiben zum Großteil zerschlagen sind. Zusätzlich habe ich den Eindruck, dass man mich bis zur gegenüberliegenden Seite des Innenhofes atmen hören kann. Jedes Wort verursacht ein merkwürdiges Echo, als würden die fleckigen Wände flüstern. Als würde das Gebäude uns nicht nur beobachten, sondern auch eine Warnung entgegen hauchen. Die ganze Kulisse erzeugt ein beklemmendes Gefühl, das ich von Museumsbesuchen kenne. Schwermut, weil alles, was man betrachtet, irgendwann mal war, jedoch nicht mehr ist. Als wäre man fehl am Platz, weil die Dinge eigentlich verstorbenen Menschen gehören.

Natürlich können wir uns kein eigenes Schloss leisten, nicht mal ein dermaßen baufälliges wie dieses. Schlimmer noch: Weil Dads Betrieb vor einigen Wochen Insolvenz anmelden musste und Mum mit ihrer Selbstständigkeit als spirituelle Raumausstatterin nicht genug verdient, hätten wir bald nicht mal mehr unsere Miete zahlen können. Zum Glück – oder wie auch immer man es bezeichnen möchte – besitzt meine Mutter eine reiche Schwester, die einen noch reicheren Mann gefunden hat, der an der Börse handelt und in Immobilien investiert. Aufgrund der ganzen Gerüchte und Legenden war das fast fünfhundert Jahre alte Düsterstein ein Schnäppchen. Da hier nachweislich Menschen gestorben sind. Durch die Hand eines Geistergrafen.

Dad stellt eine Transportbox mit übel gelauntem Inhalt neben dem Auto ab. Das permanente Miauen nehme ich schon gar nicht mehr wahr, weil mein Gehirn in den letzten sechs Stunden gelernt hat, es auszublenden wie eine lästig tickende Pendeluhr. Trotz Bachblütentropfen im Nacken übertrumpft unser Kater Capkin meinen Widerwillen gegen diesen Ort deutlich.

»Das Paranormale hier ist ohnehin nicht erwiesen«, meint Onkel Henry, als er, Thea und Mum sich in diesem Moment wieder zu uns gesellen. Nach wie vor strahlen die Augen meiner Mutter, wie sie es seit Wochen beinahe ununterbrochen tun.

Wie bereits erwähnt: Ich glaube nicht an Übernatürliches. Trotzdem ist Düsterstein ein Gruselschloss mit dunkler Vergangenheit. Jeder bisherige Besitzer kam auf mysteriöse Weise ums Leben. Das halbe Bundesland ist überzeugt davon, dass der Geist eines rachsüchtigen Barockgrafen über das Gelände streift. Darum steht das Schloss seit fast vierhundert Jahren leer. Trotzdem haben meine Eltern uns das angetan. Dad, weil er die Legenden für Quatsch hält. Und Mum, weil sie den Geistern helfen möchte.

Am liebsten würde ich einfach wegrennen.

Bevor ich das tun kann, bemerke ich Opas leeren Blick. Aufgrund seiner Schwerhörigkeit kann er unseren Gesprächen manchmal nicht folgen. Dieser Blick hier wirkt trotzdem anders. Sein altersfleckiges Gesicht ist kreidebleich, die Lippen zittern. Er sieht zu mir herüber und doch irgendwie nicht. Unheimlich. Als wäre es nicht mein Großvater, der durch seine trüben Augen blickt, sondern jemand anderes. Ein Gedanke, der so nach Mum klingt, dass es mich erschüttert, ihn in meinem eigenen Kopf zu hören.

Außer mir bemerkt es niemand.

Dad plappert mit heller Stimme auf unseren Kater ein, Thea kommentiert etwas auf Mums Handy. Max stolpert über das Laken. Finn fängt ihn auf und wuschelt ihm kumpelhaft durchs Haar. Lory wirkt nach wie vor genervt und gelangweilt.

Wie ferngesteuert öffnet Opa den Mund. Als er redet, klingen seine Worte ungewohnt hohl. Als würde jemand anderes ihn bloß als Marionette benutzen.

Besessenheit.

Das Wort ist so abwegig und zugleich zutreffend, dass mein Herz zu rasen beginnt. Es ist allerdings nicht der Klang von Opas Stimme, der dafür sorgt, dass sich jeder Zentimeter meiner Haut mit Gänsehaut überzieht. Seine Worte sind es. Worte, die er unmöglich selbst erfunden haben kann. Worte wie aus einem Gedicht. Einem ziemlich schlechten, das sich nicht reimt, mein Blut dennoch zu Eis erstarren lässt.

Der Koffer kippt von meinen Zehen und plumpst auf die Seite. Ich stoße ein hilfloses Keuchen aus.

»Wenn hörbar wird, was nie gehört,

wenn Liebe weicht unerweichbar Herz,

des Meeres Brise weckt die Sehnsucht.

Doch ist’s der Wälder Fürst allein,

zu welchem trägt die Asche hin.

Dann wird für einen einz’gen Tage,

sich öffnen das Tor zu der Ewigkeiten Pfade.«

Kapitel2

Eine Stunde später sitze ich in meinem neuen Zimmer, starre jenem Grafen in die Augen, der angeblich seit fast vierhundert Jahren Menschen ermordet, und fühle mich so einsam wie noch nie in meinem Leben.

Onkel Henry hat mir erklärt, dass neben dem Haupttrakt nur zwei Zimmer im Osttrakt, über dem alten Stall, auf die Schnelle hergerichtet werden konnten, weil sich Löcher in Boden und Wänden hier in Grenzen halten. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gängen, bei denen jeder unbedachte Schritt dafür sorgen kann, dass man sich eine Etage tiefer wiederfindet. Trotzdem wollte ich mir vor Finn nicht die Blöße geben, darum zu betteln, mit meinen Eltern und Max ein Schlafzimmer zu teilen.

Nun befinde ich mich über einhundert Meter von den anderen entfernt. Mutterseelenallein, abgesehen von einem schrecklichen Wandbild des ehemaligen Schlossgrafen. Der Vorfall im Innenhof hat gereicht, um mich nachhaltig an meiner Einstellung zweifeln zu lassen, dass man alle Dinge rational erklären kann.

Nach Opas Gedicht war eine eigenartige Ausdruckslosigkeit in seine Augen getreten. Als stünde er unter Betäubungsmitteln. Ein paar Sekunden beklemmende Stille später hat er geblinzelt, geschluckt und uns verwirrt gefragt, in welchem Koffer sich seine Stützstrümpfe befinden. Er beteuert, sich an kein einziges Wort erinnern zu können! Im Gegensatz zu uns anderen. Mum, Oma und Max sind seitdem vor Freude ganz außer sich. Eine verstorbene Seele könnte meinen Großvater als Medium benutzt haben, meinen sie.

Dad dagegen hat uns versichert, dass man frühe Anzeichen von Demenz oft an seltsamem Verhalten und Aussetzern erkennt. Jedoch bezweifele ich, dass das fehlerfreie Vortragen barock klingender Gedichte zu den Symptomen von Alzheimer zählt.

Und ich selbst? Habe keine Ahnung mehr, was ich glauben soll. Ich meine, ich glaube ja auch nicht an negative Frequenzen im Kleiderschrank, wenn ich aus Versehen einen blauen Schlüpfer zur weißen Jeans lege. Mum schon, sie besitzt sogar ein Buch darüber.

Das mit Opa war allerdings wirklich gruselig.

Erschöpft ziehe ich mich um und beschließe, dass ich nicht sofort Karies bekommen werde, wenn ich heute Abend ausnahmsweise nicht die Zähne putze. Das zweite hergerichtete Zimmer, mein persönliches Badezimmer, befindet sich direkt nebenan. Um dort hinzugelangen, müsste ich allerdings über einen Gang, in dem mehr Spinnen leben als in ganz Australien. Wobei selbst meine Spinnenphobie lächerlich wirkt im Angesicht dieses stechenden Blickes.

Nur ein Bild, es ist nur ein Porträt. Doch egal, wie oft ich diesen Satz in Gedanken wiederhole, egal, wie sehr ich mich bemühe, nicht zum Kamin zu sehen: Ich kriege sein Gesicht einfach nicht aus meinem Kopf. Oder das eisige Gefühl seiner Anwesenheit.

Was ist nur los mit mir?

Mit einem übergroßen Schlafshirt bekleidet, kuschele ich mich unter die Daunendecke des Himmelbettes. Ein riesiges, klobiges Teil, laut Thea der Prototyp für die Betten der späteren Luxussuiten. Das ist nämlich der Grund für das alles hier. Weil Thea und Mum finden, dass Düsterstein eine super Investition ist, um es zu einem Hotel umzubauen und barocke Ferien anzubieten. Mit Dienern, Kutschfahrten, Zimmern im Barockflair und dressierten Geistern. Natürlich mit Strom und warmem Wasser. Das Beste aus zwei Epochen sozusagen.

Der erste Eindruck kann sich sehen lassen. Blumenranken und andere aufwendige Schnörkel verzieren das edle Eichenholzgestell des Bettes. Was eines davon kostet, mag ich mir gar nicht ausmalen. Der Baldachin fehlt. Das kommt mir allerdings recht. Wenn ich nachts aufwache, sehe ich lieber die Decke.

Fröstelnd ziehe ich mir die Bettdecke bis unters Kinn. Henry hat versprochen, dass der vorgesehene Heizstrahler morgen geliefert wird. Ich hoffe es. Die Feuerstelle des massiven Kamins gegenüber meinem Bett ist weder mit Holz gefüllt noch überhaupt funktionsfähig. Darüber hinaus entspricht der Schornstein vermutlich keiner gängigen Feuerschutzvorschrift mehr. Für die späteren Gäste wäre offenes Feuer ohnehin viel zu gefährlich, darum wird er bloß eine Attrappe bleiben. Mit flackernder LED-Beleuchtung zusätzlich zur modernen, eingebauten Heizung. Ich mag das eiserne Gitter und die kleinen eingravierten Schlosswappen in jedem zweiten Stein des breiten Simses. Jemand, vermutlich Thea, hat drei Teller dort aufgestellt. Schwarzes Porzellan mit goldenen Verzierungen. Definitiv neu gekauft, auch wenn ich keinen Schimmer habe, was ich hier oben mit Geschirr soll. Ich besitze ja nicht mal einen Abwaschlappen.

Trotzdem ist der Kamin eines der wenigen Dinge, die mich irgendwann mit meinem neuen Zuhause aussöhnen könnten … würde nicht das gruseligste Porträt, das ich je gesehen habe, direkt über dem Sims hängen.

Jeder, der schon mal ein Schlossmuseum besucht hat, kennt diese düsteren Bilder von bleichen Gestalten irgendwelcher Adeligen, die man nicht im Schlafzimmer hängen haben möchte. Erst recht nicht, wenn darauf die Person abgebildet ist, die angeblich als Geist regelmäßig die neuen Besitzer ermordet.

Missmutig frage ich mich, wem ich seine Anwesenheit zu verdanken habe. Thea? Lory und Finn? Wer von ihnen war der Ansicht, dass der Graf ausgerechnet in meinem Zimmer hängen soll? Zutrauen würde ich es allen dreien.

Der Hintergrund des Bildes verläuft von Grau in fröhliches Schwarz. Aber auch ohne den deprimierenden Untergrund jagt mir das abgebildete Gesicht frostige Schauer über den Rücken, die nicht mal mein Federbett aufhalten kann.

Balthasar von Düsterstein, der letzte Graf des Schlosses vor fast vierhundert Jahren. Viel weiß ich nicht über ihn. Bisher hat mein Selbstmitleid verhindert, dass ich mich mit den schaurigen Legenden rund um das Gebäude befasst habe. Ein Umstand, den ich allmählich bereue, jetzt, da ich quasi ein Zimmer mit ihm teile. Wobei: Vielleicht ist es auch besser so. Von den wenigen Fakten, die ich aus Omas Erzählungen aufgeschnappt habe, weiß ich, dass er ein grausamer Choleriker gewesen sein soll, der seine Bediensteten ungerecht behandelt und in jungen Jahren Selbstmord begangen hat. Mit Anfang zwanzig.

Was immer an den Geschichten über ihn stimmt – wenn er zu Lebzeiten so ausgesehen hat wie auf diesem Bild, litt er entweder an einer zehrenden Krankheit oder der Künstler konnte ihn nicht leiden. Seine Gesichtsfarbe wirkt so blass, als hätte er selten Tageslicht gesehen. Wenn mich mein spärliches Geschichtswissen nicht täuscht, war Blässe zu seiner Zeit ein Schönheitsideal und der Einsatz von Puder oder sogar Quecksilber selbst bei männlichen Adligen an der Tagesordnung. Allerdings muss ich dabei automatisch an rundwangige, wohlgenährte Personen denken.

Balthasar ist weder das eine noch das andere. An Wangen und Schläfe sind die Knochen deutlich sichtbar. Unter seinen Augen prangen dunkle Ringe, die Beweis genug sind, dass keinerlei Puder seine wahre Hautfarbe kaschiert. Darüber hinaus trägt er eine dieser typischen Barockperücken, die ihn ein bisschen wirken lassen wie aus einer Scripted-Reality-Richtersendung gepurzelt. Sie ist nicht weiß, sondern grau und ausgefranst, als hätte er nächtelang damit geschlafen.

Okay, die Leinwand ist uralt, die Farben im Laufe der Jahrzehnte getrübt. Ein Wunder, dass das Bild überhaupt so gut erhalten ist. Nach so vielen Jahren in einem leer stehenden Schloss, Kälte, Hitze und Antiquitätenhändlern ausgesetzt …

Obwohl unter der Decke bereits wohlige Wärme herrscht, lässt genau dieser Gedanke mich erneut frösteln. Warum existiert das Bild noch? In beinahe tadellosem Zustand? Ist es eine Fälschung? Oder wurde es restauriert?

Der herablassende Ausdruck seiner stechend grauen Augen scheint mich zu fixieren. Überhaupt sind sie das Markanteste an ihm. Unheimlich lebendig, gleichzeitig tot. Ab heute werden sie mich bei allem, was ich in diesem Zimmer tue, verfolgen. Beim Schlafen, beim Umziehen … Vielleicht sollte ich es einfach abhängen und in den Gang stellen, dann kann er die Spinnen beobachten.

Ich schließe die Augen, versuche krampfhaft, meine Atmung zu beruhigen. Jetzt denke ich schon genau so paranoid wie Mum. Es sind bloß Farben auf einer Leinwand, mehr nicht. Dass Augen einen verfolgen, denkt man bei solchen Bildern immer. Wie bei Puppen. Die ich deswegen schon seit frühester Kindheit nicht leiden kann. Ab heute dann offiziell auch keine barocken Porträts.

Dennoch übt der Graf eine Faszination auf mich aus, die ich nicht genau beschreiben kann und die mich den Gedanken verwerfen lässt, ihn aus meinem Zimmer zu verbannen. Er war ein junger Mann, kaum älter als ich, mit Augen, die wirken, als hätte er mehr gesehen, als jemand in unserem Alter es sollte.

Ist er wirklich der Geist, der hier sein Unwesen treibt? Wenn ja, warum?

Grimmig drehe ich mich auf die Seite und greife nach meinem Handy, auf dem ungelesene Nachrichten blinken. Eigentlich wollte ich Infos über den Grafen suchen, doch das Internetsymbol fehlt. Dad hatte so etwas angedeutet. Dass wir hier wieder lernen werden, uns mit den wirklich wichtigen Dingen zu beschäftigen, weil das Netz im Thüringer Wald nicht flächendeckend ausgebaut ist. Na toll.

Enttäuscht öffne ich die Freak-Labergruppe, die nur aus drei Leuten besteht und in der sich im Laufe des Tages, als ich noch Empfang hatte, meine besten Freunde Danielle und Adrian nach mir erkundigt haben. Das heißt, weniger direkt nach mir. Katzenliebhaberin Dani will wissen, ob Capkin die Fahrt gut verkraftet hat. Adrian fragt, wie es den Geistern geht. Außerdem erklärt er mir, dass ein Umzug vergleichbar damit ist, als würde das Leben auf Werkseinstellungen zurückgesetzt. Mit unvollständigem Back-up. Leider hilft das gar nicht. Ich bin kein Laptop, auch wenn ich gerade einiges dafür tun würde, so wenig Emotionen wie eine gelöschte Festplatte zu besitzen – nämlich gar keine.

Wenn ich eine Skala erstellen müsste, was mir am meisten fehlt, gewinnen definitiv diese beiden Nerds, die mir mehr bedeuten als die gesamte restliche Oberstufe unserer Schule. Ihrer Schule. Meine ist es ja nicht mehr. Sie sind die Art von Freunden, die dir ins Gesicht sagen, wie blöd du dich anstellst, hinter deinem Rücken aber niemals ein böses Wort über dich verlieren. Die ihre Zeit lieber im Informatikraum oder Bastelladen verbringen als auf einer Beachparty. Die in Online-Games ohne zu zögern Ressourcen schicken, selbst wenn es bedeutet, dass sie ihr eigenes Gebäude nicht upgraden können. Die mich wegen meiner früheren Zahnfehlstellung nie Hasenfresse gerufen haben wie Finn oder Lory, und sich auch nicht daran stören, dass ich Steine mehr mag als Menschen – sogar wortwörtlich. Meine Mineraliensammlung umfasst beinahe fünfhundert verschiedene Arten, allesamt in den Tiefen der Umzugskartons verschollen, die jetzt in einem der ehemaligen Lagerräume des Schlosses stehen.

Ich schlucke einen neuen Schwall Tränen herunter.

Mein Magen drückt vor Verlangen, den beiden zu erzählen, was in mir vorgeht. Dass ich mich fühle wie in winzige Schnipsel zerfetzt. Dass ich mir so verloren vorkomme wie in meinem ganzen Leben noch nicht, obwohl ich, auch ohne die Geister und Spinnen eingerechnet, nie zuvor mit so vielen anderen Menschen in einem Gebäude gelebt habe. So still und dunkel, wie sich der Wald vor meinem Fenster erstreckt, fühlt sich auch mein Inneres an. Mit nicht ganz so vielen Tannennadeln. Wobei auch das nicht auszuschließen ist, so wie es sticht und pikt.

Morgen werde ich Dani anrufen und mir alles von der Seele reden, bis mein Gesicht vor lauter Tränen rot und verquollen ist. Wie vorgestern, als wir uns das letzte Mal für lange Zeit im Arm gehalten haben …

Ich kann nicht verhindern, dass sich zwei feuchte Rinnsale ihren Weg über meine Wange bahnen. Um mich abzulenken, schieße ich zwei Fotos. Eines vom Grafen an der Wand. Das andere von der Finsternis unter meinem Bett, wo irgendwo zwei riesige Katzenaugen glänzen. Beides stelle ich, dem fehlenden Empfang zum Trotz, in die Gruppe. Wenn es erst morgen gesendet wird, ist das auch okay. Die beiden haben schließlich Schule und sollen sich keine Sorgen um mich machen. Während ich die Fotos mit einem grinsenden Emoji und zwei Daumen hoch ergänze, fällt mir auf, dass es erst sieben Uhr abends ist. Der aufregende Tag und der frühe Oktoberabend sorgen dafür, dass es sich deutlich später anfühlt.

Umständlich schiebe ich mein Handy zurück auf den Nachttisch und probiere noch einmal, meinen verstörten Kater unterm Bett hervorzulocken. Es bringt nichts, außer dass nun Katzenleckerlis auf meinem Zimmerboden liegen und der Geruch in meine Nase steigt. Sein rostrotes Fell sträubt sich weiter, bis er aussieht wie eines dieser Viecher aus Star Trek, die nichts können, außer sich zu vermehren. Die neue Umgebung verunsichert ihn.

Resigniert drehe ich mich auf die Seite und ziehe an einer dünnen Strippe über meinem Kopf, um die Wandbeleuchtung in Kerzenhalteroptik auszuschalten.

Finsternis löscht den Grafen aus meinem Sichtfeld und damit gleichzeitig einen Teil meiner eigenen Anspannung.

Nicht jedoch den überwiegenden.

Das ist sie nun, die erste Nacht meines neuen Lebens. Die erste von unendlich vielen. Nicht bloß zwei Wochen in einem Hotelzimmer, bevor ich wieder in meinem eigenen Bett liegen darf. Mein altes Bett existiert nicht mehr. Wie alle anderen Möbel, die einen Umzug nicht überlebt hätten, befindet es sich in diesem Moment auf irgendeinem Bauhof, wo es demnächst geschreddert wird.

Ich werde nicht so schnell nach Kiel zurückkehren. Irgendwann vielleicht, weil ich mir geschworen habe, nach meinem Abschluss dort ein Studium zu beginnen. Mit Adrian und Dani in einer lustigen WG voller Funko-Pop-Figuren und Bücherregalen. Ob es so kommen wird, ist leider ungewiss. Das Schloss soll ein Familienunternehmen werden. Meine Eltern verlangen, dass ich mich am Hotelprojekt beteilige. Im schlimmsten Fall muss ich an einer Thüringer Hochschule Betriebswirtschaft studieren und später mit Lory und Finn Gewinn- und Verlustrechnungen erstellen. Oder noch schlimmer: jeden Morgen die Gästebetten aufschütteln, weil ich aus meiner aktuellen Lebenskrise nie wieder rauskomme und keinen Schulabschluss schaffe.

Mein Herz zieht sich zusammen, während sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Überhaupt ist mir die Anwesenheit meines Herzens seit einigen Tagen permanent bewusst. Als wäre es eingesperrt in einen winzigen Käfig, in dem es nicht mehr ordentlich schlagen kann. Eingezwängt, wie auch mein Magen. Beim bloßen Gedanken an das belegte Brötchen auf meiner Kommode, das Mum an einer Raststätte gekauft hat, wird mir übel.

Das hier ist kein Urlaub. Nie wieder werde ich unsere gemütliche Vierzimmerwohnung in Kiels Altbauviertel betreten. Nie wieder kichernd mit Dani über meinen Zimmerteppich rollen und dabei heiße Schokolade verschütten.

Ich habe alles verloren.

Kapitel3

Als ich aufwache, weiß ich zunächst nicht, wieso. Definitiv herrscht Nacht. Sterne glänzen am tiefschwarzen Himmel.

Es ist aber kein langsames Erwachen, wie wenn man auf Toilette muss oder so. Nein, diesmal bin ich mit einem Schlag hellwach und alarmiert.

Verstört komme ich in eine sitzende Position, taste nach meiner Brille, die ich nur nachts trage oder wenn mich keiner sieht. Tagsüber verwende ich Kontaktlinsen.

Sofort fröstele ich.

Die Verwirrung darüber, wo ich mich befinde, verfliegt nach wenigen Sekunden. Automatisch wandert mein Blick zum Porträt des Grafen, doch das Einzige, das ich erkennen kann, sind das Weiß seiner Augen und ganz schwach seine blass schimmernde Haut.

Was hat mich geweckt? Ein Albtraum? Oder das Gefühl, zu fallen, das man manchmal beim Einschlafen spürt? An nichts davon erinnere ich mich. Für eine ganze Menge Schläge meines jagenden Herzens halte ich die Luft an.

Im Zimmer herrscht Stille. Zumindest so viel Stille, wie man erwarten kann in einem Gebäude, das so alt ist, dass wahrscheinlich sogar schon die Holzwürmer an Altersschwäche gestorben sind. Alle paar Sekunden knackt oder klappert irgendwo etwas, aber das beunruhigt mich nicht. Es ist nur Holz, das arbeitet.

Ein wenig entspannter reibe ich mir übers Gesicht und ertaste meine verquollenen Tränensäcke. Meine Haarspitzen sind tränenfeucht, was darauf hindeutet, dass ich nicht besonders lange geschlafen habe. Vermutlich hat mich genau so ein Altes-Gebäude-Geräusch aus dem Schlaf gerissen, weil sich mein Unterbewusstsein noch an die neue Umgebung gewöhnen muss.

Was sonst sollte es gewesen sein?

Skeptisch betrachte ich die Tür meines Zimmers, die in den Gang führt. Ein viereckiger schwarzer Schemen an der Wand.

Gerade will ich mich wieder ins Kissen sinken lassen, weil mein Rücken auskühlt, als ich es höre.

Ein Geräusch, das nicht zum Gebäude gehört.

Es ist alles andere als leise.

Genau genommen führt es dazu, dass ich einen filmreifen Sprung aus meinem Bett direkt an die gegenüberliegende Wand mache. Sämtliche Härchen auf meinem Körper stehen steil. Mein Herzschlag droht, meinen Brustkorb zu zersprengen.

Capkin!

Mein Kater schreit in auf- und abschwellender Tonlage. Völlig hysterisch. Grausame Erinnerungen werden wach. Erinnerungen an einen Ast mit Blut, an die diabolisch grinsenden Jungs, von denen einer Finn ist …

Ich vertreibe den Gedanken, denn er lähmt mich.

Capkin sitzt nicht mehr unter meinem Bett, sondern irgendwo neben dem Kamin. Zumindest kommen seine Schreie von dort.

Zittrig schwanke ich zurück zum Bett und ziehe an der Schnur, um das Wandlicht zu entzünden. Nach den üblichen ersten Sekunden, in denen ich nur Farbblitze sehe, gewöhnen sich meine Augen langsam an die Helligkeit.

Ich versuche, das haarsträubende Katzengeschrei auszublenden, während ich den Raum nach einer Ursache für seine Panik abscanne. Doch ich finde nichts. Vom Spiegel über der Kommode starrt mir mein eigenes geplättetes Ich entgegen, was jedem mordenden Geist Konkurrenz macht. Meine Augenringe stehen jenen des Grafen in nichts nach. Meine zu große Nase erscheint durch den Schatten des Wandlichts besonders hakig und meine dunkelblonden Haare wirken wie das Nest einer Taube. Dass sie mir bis über die Schulter reichen, lässt sich aktuell nicht erkennen. Irgendwann am Morgen hatte ich mir einen Zopf gebunden, doch höchstens ein Drittel der Haare befindet sich tatsächlich noch im Gummi. Der Rest klebt irgendwo an meinem Kopf, als hätte ich eine Mütze getragen und geschwitzt. Schnell wende ich den Blick wieder ab und versichere mich, dass sich nichts und niemand Ungewöhnliches im Raum befindet. Also, abgesehen von einer hysterischen Katze und einem verängstigten Mädchen, das langsam an seinem Verstand zweifelt.

»Cap, es ist alles gut.« Ich klinge nicht halb so beruhigend, wie ich gern möchte.

Verzweifelt suche ich nach einer Erklärung für Capkins Verhalten. Seit dem Vorfall damals ist er ohnehin sehr schreckhaft. Ein Angstkater, wie die Tierpsychologin meinte. Ist er bloß hochgeschreckt, weil er nicht weiß, wo er sich befindet?

Bestimmt.

Während der Adrenalinschub nachlässt und sich meine Beine in Pudding verwandeln, taumele ich ums Bett herum. Die Schreie meines Katers verwandeln sich in tiefes Grollen, als er mich sieht. Und ich ihn. Zusammengekauert neben dem Kamin.

Sein rotes Fell steht senkrecht in die Höhe, als würde er brennen. In Kombination mit seinem irren Blick und den gefletschten Zähnen wirkt er wie ein bösartiger Gremlin.

Dann wird mir bewusst, dass seine Augen wieder starr auf eine bestimmte Stelle meines Zimmers gerichtet sind: auf die Tür zum Gang.

Natürlich ist sie verschlossen. Von innen steckt ein schwerer Messingschlüssel, und obwohl ich mir bewusst bin, dass eine Menge andere Leute jetzt wimmernd zusammenbrechen würden, bin ich nicht übermäßig beunruhigt.

Tatsächlich mag ich Horrorfilme. Einfach weil ich es lustig finde, wie alle vor Angst ins Kissen beißen. Dani zum Beispiel ist furchtbar schreckhaft. Mehr als einmal mussten Adrian und ich sie aus dem Kino direkt ins Hüpfburgenparadies schleppen. Ein paar Tage später entdeckt sie dann meist den nächsten Horrorstreifen, den sie unbedingt ansehen will.

Das hier ist leider kein Horrorfilm, sondern real. Trotzdem bin ich nicht bereit, meine Überzeugung, dass sich alles logisch erklären lässt, vorschnell aufzugeben.

»Falls du etwas damit zu tun hast, lass es«, zische ich das Grafenporträt vorwurfsvoll an, auch wenn es albern ist. Glücklicherweise hört mich niemand. Und eine Antwort bekomme ich natürlich auch nicht.

Wenigstens macht mein Körper wieder das, was er soll. Langsam nähere ich mich der Tür.

Die Gänsehaut auf meinen Armen rührt jetzt bloß noch von der Kälte. Ich erschrecke nicht, als der Parkettboden unter meinen Füßen knarzt, obwohl ich keine Schuhe, sondern nur blaue Kuschelsocken trage. Mein Herz klopft auch wieder annähernd normal, als ich den Schlüssel drehe und die Tür zum Gang öffne.

Nur um das klarzustellen: Das ist nicht lebensmüde. Das Unheimlichste, das mich erwarten könnte, ist Lory im karierten Bademantel.

Netterweise befindet sich direkt neben meiner Tür ein Lichtschalter. Mit einem vernehmbaren Klacken springt Licht über eine provisorische Überputzleitung in die nackte Glühbirne an der Decke.

Mein Blick wandert nach links, dann nach rechts. Die Gänge im gesamten Schloss sind muffig und größtenteils fensterlos. Einst waren sie mit rotem Samt ausgekleidet, aber davon sind nur fleckige Fetzen geblieben, zwischen denen großflächig nackter Putz schimmert.

So modrig die Luft, so tief die Stille. Einsam und verlassen liegt der Gang vor mir. Kein Geist, kein Massenmörder, nicht mal ein hässliches Bild an der Wand. Und auch keine schlafwandelnde Lory.

Na also. Kein Grund zur Panik. Ein paar Sekunden lang betrachte ich die Türen zu den Räumen gegenüber. Natürlich werde ich nicht hineingehen, so lebensmüde bin ich dann doch nicht. Und wenn es nur wegen der kaputten Bodenbretter ist.

Zufrieden schalte ich das Licht wieder aus und will gerade die Tür schließen, als mich ein Luftzug streift. Ein wirklich eisiger Luftzug, der deutlich aus der Masse der allgemeinen Luftzüge heraussticht, die einem hier um die Nase wehen, sobald man irgendeine Tür öffnet. Er fährt unter mein Schlafshirt, verleiht der Gänsehaut neuen Schub und kühlt meine tränenverquollenen Augen auf gleichzeitig angenehme wie auch beunruhigende Art.

Mit trommelndem Herzen will ich das Licht wieder anschalten. Leider scheint der Schalter einen Wackelkontakt zu haben. Diesmal muss ich ihn mehrmals betätigen, bis die Glühbirne erstrahlt. In der Zwischenzeit spüre ich den Luftzug ein weiteres Mal.

Capkin knurrt. Das ist kein normaler Luftzug. Es ist eine Präsenz. Mein ganzer Körper prickelt. Aura, schießt mir das Wort durch den Kopf, das Mum so gern benutzt.

Endlich ist es wieder hell. Immer noch bin ich allein. Fröstelnd, erstarrt und plötzlich doch nicht mehr so mutig. Mit einer einzigen Bewegung lösche ich das Licht erneut, schmeiße meine Zimmertür ins Schloss und drehe den Schlüssel zweimal um.

Dann stehe ich einfach da, den Rücken gegen die Tür gelehnt. Starre mit rasselndem Atem das Grafenporträt über meinem Kamin an.

»Was soll das?«, frage ich mit schwacher Stimme. Gleichzeitig ringe ich verzweifelt um Kontrolle über meine Gedanken.

Verdammt, verdammt, verdammt! Was war das gerade?

Das Bild erwidert … nichts. Logischerweise.

»Das war nur ein Luftzug«, erkläre ich mir selbst und versuche, meinen Verstand aus seiner Schockstarre zu wecken. »Hier zieht’s überall. Ich habe eine Tür geöffnet. Selbst in unserer alten Wohnung gab es solche Luftbewegungen, wenn man gleichzeitig ein Fenster und die Tür offen hatte.«

Hier steht aber kein Fenster offen, widerspricht eine kleine, abergläubische Ader in meinem Hinterkopf, deren Existenz mir bisher unbekannt war.

»Na und? Hier gibt es so viele Ritzen und morsche Bretter, dass das trotzdem passieren kann«, protestiere ich laut und komme mir gleichzeitig total behämmert vor. Weil ich Selbstgespräche führe. Weil alles, was hier gerade passiert, zu viel Gruselklischee ist, als dass es stimmen könnte. Ein Windzug, Licht, das nicht angeht, ein verstörtes Tier …

Ich schließe kurz die Augen, atme einmal tief durch. Schließlich gehe ich ein weiteres Mal um mein Bett herum, zu Capkin, der für den Moment verstummt ist. Als ich eine Hand nach ihm ausstrecke, drückt er sich noch dichter an die Wand und wirft mir diesen speziellen vorwurfsvollen Blick zu, den nur Katzen draufhaben.

»Dann eben nicht«, murmele ich und wende mich zum Fenster. Warum, kann ich nicht genau sagen. Vielleicht, weil ich zu aufgekratzt fürs Bett bin. Darum klettere ich auf die breite Fensterbank und presse beide Hände gegen die Fensterscheibe, um mehr zu erkennen.

Mein Zimmer liegt in der dritten Etage, mit Aussicht auf die ehemaligen Pferdekoppeln, die zum Stall unter mir gehören, eingerahmt von fast kahlen Obstbäumen. Dahinter erstreckt sich der Thüringer Wald, als würde er die gesamte Welt bedecken. Auf der Wiese leuchtet gefallenes Laub hell im Licht des beinahe vollen Mondes am klaren Himmel. Darum kann ich erstaunlich viele Details erkennen. Zum Beispiel die halb verfallene Umzäunung rund um die Koppeln, die wahrscheinlich ebenfalls irgendwann in all den Jahrhunderten erneuert wurde. Das schiefe Tor Richtung Stall und Kiesweg steht offen und schwingt langsam auf und zu, vermutlich angeschoben durch den Wind.

In diesem Moment beginnt Capkin wieder, zu schreien.

Ein lang gezogener, schauriger Ton, von dem ich überzeugt bin, man müsste ihn bis ans andere Ende des Schlosses hören.

Wenn es nur so wäre. Dann würde vielleicht jemand aus meiner Familie kommen, um mich zu retten. Selbst Finn oder Lory wären mir gerade recht.

Ich fahre herum.

Mein Kater sitzt nicht mehr neben dem Kamin. Allmählich geht sein Schrei in gurgelndes Miauen über, das zwar leiser, jedoch umso bedrohlicher klingt und von allen Seiten des hohen Raumes zurückgeworfen wird.

Mit einem Schlag stehen sämtliche meiner Nackenhaare wieder aufrecht. Oder immer noch.

Mein Blick wandert erneut zum Fenster.

Und da sehe ich es.

Das Koppeltor ist plötzlich geschlossen. Und dahinter, auf der Wiese, steht eine Gestalt, die gerade eben ganz sicher nicht dort gestanden hat. Etwas auf vier Beinen. Ein Pferd. Es trägt einen Reiter, und doch irgendwie nicht. Eher scheint es wie … ein halber Mensch? Als würden ihm die Beine fehlen. Eine Art Zentaur, nur dass dieses Wesen sowohl Pferde- als auch Menschenoberkörper besitzt. Sein Tierkörper wirkt ebenfalls unnatürlich. Merkwürdig glänzend. Als würde das Fell fehlen.

Was zur Hölle …?

Während mir eisiges Grauen über die Wirbelsäule rinnt, steht das Ding einfach nur dort, mitten auf der Koppel. Reglos. Bedrohlich. Beide Gesichter, Pferd wie Reiter, zeigen in meine Richtung. Im selben Moment streift mich ein weiterer eiskalter Lufthauch.

Ich stoße einen Schrei aus, springe quer durch mein Zimmer zurück aufs Bett, ziehe die Decke über den Kopf und beginne, panisch in meine Hände zu hyperventilieren.

Kapitel4

Du entwickelst Suchtverhalten«, behauptet Oma am nächsten Morgen am Küchentisch. »Schon beginnt ein ewiger Kreislauf. Du wirst schlechtere Noten bekommen, das kompensierst du mit noch mehr Sucht. Was dazu führt, dass du keinen Job findest. Daraus resultiert ein vermindertes Selbstbewusstsein, immer mehr Sucht und neue Probleme. Immer mehr und mehr, bis dein Leben verbaut ist.«

Müde blinzele ich sie an. Was ein bisschen in den Augen schmerzt. Zumindest beißt sich Omas riesige goldene Halskette schrecklich mit dem Quietschorange ihrer Bluse. Eine in Menschenform komprimierte Supernova.

»In dem Kreislauf ist sie längst drin.« Finn schnappt sich seine vierte oder fünfte Waffel vom großen Teller in der Mitte, platziert einen Klecks Himbeersoße darauf und garniert das Ganze mit Schokoladenraspeln aus einer Tüte, bis es aussieht wie etwas, das in einem Hochglanz-Küchenmagazin abgebildet sein könnte. »Ihre Noten sind doch maximal mittelmäßig. Und selbstbewusst ist sie gar nicht. Hat bestimmt die halbe Nacht am Handy gehangen, darum sieht sie jetzt auch aus wie ein Junkie.«

Seine Worte sollten mir wehtun und das hätten sie, wäre ich nicht damit beschäftigt, fanatisch auf meinem Smartphone zu tippen. In einem Punkt liegt Finn falsch: Ich habe nicht die halbe Nacht am Handy gehangen. Wie auch, ohne Internet? Ich konnte ja nicht mal das Wort Monsterpferd in die Suchleiste tippen, ohne dass mich ein bedröppeltes Emoji darauf hingewiesen hat, dass der Server nicht zu erreichen ist. Wie ein Junkie dürfte ich trotzdem aussehen. Nach dem Vorfall mit Capkin und dem Pferd habe ich stundenlang wach gelegen, die Decke angestarrt und verzweifelt meinen eingeschüchterten Verstand angefleht, zu beweisen, dass ich mir alles nur eingebildet habe.

Irgendwann hatten sich mein Kater und mein Herzschlag wieder beruhigt, weshalb ich mich noch einmal ans Fenster traute. Das Pferd war verschwunden und ich hätte es als Einbildung abtun können. Doch irgendwie will ich das nicht mehr. Keine Ahnung, woher mein Sinneswandel kommt, aber dieser Graf hat mich neugierig gemacht. Ich möchte mehr über die Legenden des Schlosses wissen. Selbst wenn es nur dazu dient, mich von meiner Sehnsucht nach Kiel abzulenken.

Für den Moment ist meine Gänsehaut verschwunden. Hier, in der Küche im Haupttrakt, wirkt nichts gruselig. Okay, vielleicht der Kühlschrank, der aus einer Science-Fiction-Serie stammen könnte. Thea hat ihn kurz geöffnet, um eine Flasche O-Saft für Max herauszunehmen, und nun glaube ich, dass das Ding nicht nur den erwähnten Eiswürfel-Maker, den Bierhalter und das großzügige Gefrierfach enthält, sondern auf Knopfdruck auch Tragflächen ausfahren und nach Paris fliegen kann.

Abgesehen davon und würde es hier nicht penetrant nach Holzschutzmittel riechen, könnte man denken, wir sitzen in dem Einfamilienhaus, das Theas Familie bis vor zwei Wochen in Kiel bewohnt hat.

Zunächst beobachte ich jedoch Karma beim Wirken. Ein Klecks Himbeersoße tropft auf Finns helles Hemd. Fluchend wirft er die restliche Waffel zurück auf den Teller.

»Selber Junkie«, kommentiere ich nicht besonders erwachsen und kann mir ein Lachen nicht verkneifen, als er nach einer Serviette greift und den roten Fleck damit nur verschmiert.

Warum trägt er überhaupt ein Hemd? Er muss nicht mal das Haus verlassen, weil er noch zur Schule geht wie Lory und ich. In Thüringen haben die Herbstferien gerade begonnen. Mir bleiben also zwei Wochen Zeit, bevor ich mich dem nächsten Horror stellen muss: einer neuen elften Klasse. Mindestens fünfundzwanzig Köpfe, die tuschelnd zusammengesteckt werden, wenn die Neue mit der großen Nase in ihren eingefleischten Verband stolpert. Kein Adrian, der mich jeden Morgen mit einem selbst ausgedachten Handschlagritual begrüßt. Keine Dani, die mich wenigstens einmal am Tag nach Taschentüchern und Allergietabletten fragt, weil sie immer alles vergisst. Mir graut jetzt schon davor.

»War die erste Nacht so schlimm?« Mum holt mich deutlich empathischer zurück in die Küche.

Lory wirft mir einen Blick zu, aus dem hämische Neugier spricht, allerdings auch Verunsicherung. Sie lehnt an einer glänzenden beigefarbenen Küchenzeile vor einem Messing-Wasserkocher, der aussieht wie ein Miniatur-Raumschiff.

»Ellie, Schätzchen?«, hakt Mum nach und legt eine angebissene Waffel mit Schokoladencreme zurück auf den Teller. »Ist alles okay?«

Abgesehen von einem finsteren Reiter, einer hysterischen Katze und kalten Luftzügen? Klar.

Ich ringe mir ein Lächeln ab und schiebe mein Handy neben den Teller, bevor Oma weiterhin so tut, als hätte ich begonnen, Methamphetamin zu konsumieren. Dabei wollte ich bloß recherchieren. »Ja, alles gut. Habe mich die ganze Nacht prächtig mit den Geistern amüsiert.« Es soll ein Scherz sein, doch mir fällt selbst auf, wie hohl er klingt.

Lory schnaubt.

»Geister? Du hast welche gesehen?« Max quietscht und rutscht ungeduldig auf der Eckbank umher. Es ist untypisch für ihn, an einem schulfreien Tag um neun Uhr morgens freiwillig auf den Beinen zu sein. Vielleicht liegt es an den Waffeln, die Oma gebacken hat und die er ebenso liebt wie ich. Auch wenn ich gerade keine einzige hinunterbekomme. Wahrscheinlicher ist aber, dass er in Gedanken schon dabei ist, in dem Ghostbuster-Kostüm, das er Anfang des Jahres zum Fasching getragen hat, durch die Gänge des Schlosses zu streifen und nach Spuren von Ektoplasma zu suchen. Ein Stoff, aus dem angeblich Geister bestehen und dessen Bezeichnung ich nur deswegen kenne, weil Max es eine Zeit lang circa dreißig Mal pro Minute erwähnt hat.

Mit beiden Händen umgreife ich das warme Porzellan meiner Kakaotasse und versuche, nicht mit dem Gesicht voran hineinzukippen.

Finn murmelt etwas Unverständliches. Vielleicht geht es wieder um Handysucht. Unglaublich, dass Mum jemanden wie ihn am liebsten als Schwiegersohn hätte. Er ist so ein Ekelpaket. Genau wie seine Stiefschwester.

Die beobachtet argwöhnisch, wie Mum ihre Waffel mit drei großen Bissen verschlingt. Was ihre hochgezogene Augenbraue bedeutet, verstehe ich wortlos. Dass Mum mit Konfektionsgröße sechsundvierzig lieber die Schokocreme weglassen sollte. Und wie unvorteilhaft ihr grünes Jerseykleid mit den roten Kringeln ist. Zu ihrem Glück spricht Lory nichts davon an. Andernfalls wäre ich gerade wirklich in der Stimmung, meinen Kakao ganz aus Versehen über ihr Tablet zu kippen, das auf der Eckbank liegt. Allein der Gedanke an ihre Oberflächlichkeit schnürt mir den Hals zu.

Manchmal frage ich mich, ob wir tatsächlich alle verwandt sind. Vor allem Mum und Thea. Abgesehen von ihrer gemeinsamen Neigung, sich so bunt gemustert zu kleiden, dass auf ihren Rücken optische Täuschungen entstehen würden, wenn sie schnell genug auf der Stelle hüpften, sind sie sich nicht besonders ähnlich, weder charakterlich noch äußerlich oder … na ja, spirituell. Max und ich kommen nach Dad – mager, große Nasen, undefinierbare Augenfarbe. Darum könnten wir auch als Theas Kinder durchgehen, ihre Rundungen sind genauso spärlich wie meine.

Mum hat keine Modelmaße. Außerdem sind ihre Wangen immer leicht gerötet, weil sie eine Hautkrankheit hat, eine Rosazea. Na und? Dafür strahlen ihre hellen Augen zu jeder Tages- und Nachtzeit gut gelaunt. Vor allem hat sie Max und mir beigebracht, Dinge zu schätzen. Darüber hinaus gibt es keine elementare Schwingung, die ihr entgeht, keine heilsame Frequenz, die sie nicht nutzt, um Omas Spreizfuß zu behandeln. Für jede Art von Esoterik ist sie zu begeistern, egal, ob Mondphasen, Feng-Shui oder klassisches Pendeln.

»Ellie?«, drängt Oma.

Jetzt erst registriere ich, dass meine Gedanken schon wieder ganz woanders sind. »Hm, was?«

Finn schüttelt den Kopf und nimmt einen großen Schluck Kaffee.

»Ob es okay ist, dass Balthasar in deinem Zimmer hängt, wollte ich wissen.«

Es dauert kurz, ehe ich kapiere, dass sie vom Gruselgrafen redet, als wäre er ein alter Bekannter.

Das scheint Opa ebenfalls zu denken, der ein Kreuzworträtsel in einer Illustrierten löst, als wäre nicht auch sein Leben gestern auf den Kopf gestellt worden. »Sag nicht seinen Namen, als würdest du ihn persönlich kennen. Du bist zwar alt, aber nicht so alt.«

Empört schnellt Omas Kopf herum, wodurch die Kreolen, die an ihren Ohren baumeln, mitsamt der daran befestigten pinken Federn wackeln. Wenn ich so was tragen würde, müsste ich mich ständig am Hals kratzen.

»Egon! Alter ist mehr als eine Zahl«, gibt sie schnippisch zurück.

Was bei ihr sogar stimmt. Die obligatorische Dauerwelle, wahlweise mit Violettstich, sucht man bei ihr vergebens. Sie trägt ihre Haare lang und zum Zopf gebunden. Mit brauner Tönung. Das lässt sie deutlich jünger wirken. Was mich spontan daran erinnert, dass ich mir auch mal wieder die Haare kämmen sollte. Das habe ich seit Kiel nicht mehr getan. Stattdessen habe ich meinen Zopf einfach unter die türkisfarbene Fleecejacke gestopft, die ich trage, weil ich nach wie vor durchgefroren bin von meinem heizungslosen Zimmer.

Oma legt ein süßes Lächeln auf und wendet sich wieder an mich. »Sollen wir das Bild weghängen?«

»Stört mich nicht.« Die Worte purzeln einfach aus meinem Mund. Ich bemerke Lorys bohrenden Blick und setze noch einen drauf. »Ist doch okay, nachts von einem überdimensionalen Toten mit stechenden Augen beobachtet zu werden, ehrlich«, versichere ich lächelnd.

Meine Cousine stößt ein Geräusch aus, das von Erschütterung bis Krampf im Bein alles bedeuten könnte.

»Thea wollte ihn nicht in der Küche haben, weil sie glaubt, dass er verflucht ist«, erwidert Oma leichthin.

Aha. Darum ist er also bei mir gelandet. »Ist das Bild wirklich original?«, will ich wissen. »Wie konnte es die lange Zeit überdauern?«

»Na, weil es verflucht ist!«, haucht Finn mit rauchiger Stimme, was deutlich eindrucksvoller wäre, wenn er keinen Waffelkrümel am Kinn kleben hätte. Oder Himbeersoße auf dem Hemd. »Jetzt holt er dich, wie alle Schlossbesitzer zuvor.«

»Dir ist klar, dass genau genommen dein Vater der Besitzer ist?«, frage ich herausfordernd. So sehr ich mich auch bemühe – die Vergangenheit kann ich nicht vergessen. In Kombination mit Schlafmangel lässt mich das gerade streitsüchtiger werden als normalerweise.

»Wie gut, dass er nicht an Geister glaubt. Genau wie ich«, kontert Finn.

»Das ist unlogisch. Erst behauptest du, er würde mich holen. Dann gibst du zu, nicht daran zu glauben. Was denn nun?«

»Kinder!«, tadelt Thea, die frisches Geschirr aus der Spülmaschine räumt. Sie unterbricht ihre Arbeit und wischt gedankenverloren mit einem Küchentuch über ihre manikürten Finger. »Das Bild ist Teil des Besitzes der Stiftung für Thüringer Schlösser. Eines der wenigen erhaltenen Originale. Wir konnten es als Dauerleihgabe zurückerlangen, damit es hier Teil seines angestammten Platzes werden kann.«

»Der Geistergraf holt nur die, die so naiv sind, an ihn zu glauben«, stichelt Finn weiter und ignoriert seine Mutter.

»Dann droht für mich ja keine Gefahr«, grummele ich, während ich mich ärgere, in diese kindische Diskussion eingestiegen zu sein.

Thea zieht eine perfekt gezupfte Augenbraue hoch.

»Hört auf damit, es gibt keine Geister«, murmelt Lory. Ihr Tonfall macht mich stutzig. Höre ich da unterschwellige Angst heraus? Die Art, die deutlich macht, dass sie das in erster Linie sagt, um sich selbst zu überzeugen?

»Falls doch – ist es wirklich dieser Graf, dem man die Morde zuschreibt?«, frage ich und steige darauf ein.

»So behauptet man«, erwidert Mum eifrig. »Zeugen wollen seine markanten Augen erkannt haben.«

Mein Herz klopft schneller. Wenn er tatsächlich diese stahlgrauen Augen besessen hat wie auf dem Porträt, dann sind sie unverwechselbar.

»Endlich zeigst du Interesse«, merkt Mum erfreut an, die ohnehin findet, dass ich mich zu wenig für das Übernatürliche begeistere. Mit einem abgedrehten Pferdewesen vor dem Fenster bleibt mir leider aktuell keine Wahl. Bevor ich allerdings nicht ausschließen kann, mir das Ganze nur eingebildet zu haben, werde ich meine Sichtung für mich behalten. In dieser Familie kann ich es sowieso niemandem erzählen, der nicht in Lachkrämpfe ausbricht, mich für bescheuert hält oder sofort mit einem Ouija-Brett in mein Zimmer rennt. Darüber hinaus wirkt es bei Tageslicht betrachtet so unrealistisch, dass es auch ein Albtraum gewesen sein könnte.

»Würdet ihr mir etwas mehr erzählen? Über das Schloss und die Gerüchte?«, frage ich und ignoriere Finn, der an dieser Stelle die Augen verdreht und »Jetzt will die auch noch die Geister dressieren« murmelt.

Opa sieht kurz von seinem Rätsel auf und wirft mir einen Blick zu, als wäre ich nicht ganz dicht.

Lory guckt zwischen Mum und mir hin und her, als hätten wir Schläger ausgepackt, um Federball zu spielen.

Max klatscht in die Hände. »Wir können doch mal den Stall erkunden! Oder die Gruft. Finn, zeigst du mir die Gruft? Bitte, bitte!«

»Es gibt eine Gruft?« Wenn ein Wörtchen gerade nicht dazu beiträgt, dass ich mich wohler fühle, dann Gruft.

»Klar. So was gibt es in jedem größeren adligen Anwesen.« Finn ignoriert die Bitte meines Bruders, während Oma wortlos aufsteht und den Raum verlässt.

Onkel Henry und Dad befinden sich nicht in der Küche. Mein Vater ist unterwegs zu einem Vorstellungsgespräch bei der örtlichen Talsperre. Henry ist irgendwo nebenan. Als selbstständiger Immobilienmakler kann er den Großteil seiner Arbeit im Homeoffice verrichten. Durch seinen Job kam er an Düsterstein. Obwohl er selten das Haus verlässt, kenne ich ihn nicht ohne gegelte Haare und Anzug. Da Finn offenbar in seine Fußstapfen treten will, ist allein das Grund genug, ihn von der Liste meiner zukünftigen Ehemänner zu streichen. Mal ganz abgesehen davon, dass es sich komisch anfühlen würde, meinen Cousin zu daten, selbst wenn wir nicht blutsverwandt sind. Somit ist die Liste übrigens leer.

»Mach dir keine Sorgen. Ich beschütze dich«, beteuert Max und reckt eine Faust von der Größe einer Mandarine in die Luft. Ich bezweifele, dass er damit einer untoten Seele Angst einjagen kann. Nicht mal in Verbindung mit seinem Protonenstrahler aus Plastik, der nur blinkt und nervige Laute von sich gibt.

In der Zwischenzeit hat Mum einen Bauplan auf dem Tisch ausgebreitet, wo auch immer sie den so schnell herhat. Die Zeichnung zeigt das komplette Schloss. »Hier befinden wir uns.« Sie tippt auf den Mittelteil des Gebäudes, den Haupttrakt. »Eine Hälfte des Hauptflügels wurde komplett bewohnbar gemacht. Das ist der Wohnbereich von Thea und ihrer Familie. Uns gehört später mal ein Teil des Ostflügels über dem Stall. Dein Zimmer wird auch dazuzählen.«

Beim Wort Stall holt Lory zischend Luft und stellt die Tasse Kaffee ab, die sie sich gerade eingegossen hat.

Okay, ein detaillierter Bauplan des Schlosses war zwar nicht Sinn meiner Bitte nach mehr Informationen, überflüssig ist dieses Wissen aber auch nicht.

»Wenn du dich zu sehr fürchtest, kannst du auf einer Matratze bei uns im Wohnzimmer schlafen.« Mum spricht mit mir, als wäre nicht nur Max sieben Jahre alt, sondern auch ich. »Oder Loretta tauscht mit dir.«

»Auf gar keinen Fall!«, ruft meine Cousine energisch. »Niemals. Das ist zu … Ich brauche die Nähe von … Also, eigentlich vor allem WLAN und …«

»Wir haben es kapiert, Lo.« Finn schnaubt. »Du hast Schiss.«

»Was ist mit dir?«, fragt Max ihn begeistert. »Spielst du nicht Baseball? Damit könntest du die Monster und Geister verprügeln.«

»Cricket«, erwidert Finn.

»Ist das nicht dasselbe?«

»Ist es nicht. Beim Cricket muss man den Ball rückwärts, vorwärts oder seitlich treffen, um mehr Runs zu holen. Beim Baseball dagegen …«

»Ich glaube, Max wollte nur auf die Schläger hinaus«, unterbreche ich ihn. Was für ein Angeber.

»Ich möchte im Ostflügel schlafen!« Auf dem Shirt meines Bruders klebt ebenfalls Himbeersoße. So großflächig, dass ich es bisher für einen Aufdruck gehalten habe. »Mama, darf ich? Ich gehe auch jeden Abend pünktlich ins Bett, versprochen.«

Mum lächelt milde. »Ihr könntet zusammen dort schlafen. Was meinst du, Ellie?«

»Max und ich?« Ich muss aufpassen, mich nicht an meinem Kakao zu verschlucken. Lieber lege ich mich auf die Koppel und kuschele mit dem Gruselpferd. Ich liebe meinen Bruder, möchte mein Zimmer aber keinesfalls mit einem hyperaktiven Grundschulkind teilen, das seit einem Jahr ausschließlich in Bettwäsche von Star Wars schläft. Im letzten Schwarzwald-Urlaub hat er mich mal nachts mit seinem Kopfkissen verprügelt, weil er geträumt hat, er wäre Darth Vader. »Balthasar leistet mir doch schon Gesellschaft«, gebe ich zurück.

Lory wirkt, als würde sie einen fiesen Kommentar loswerden wollen. Sie verkneift ihn sich, denn in diesem Moment kommt Oma zurück und lässt einen Stapel Zeitungsartikel so schwungvoll neben meinem Teller fallen, dass Puderzucker aufstiebt. »Keine gute Idee. Es beschwört Schlafwandelei, wenn Geschwister im selben Raum schlafen.« Sie keucht, als wäre sie gerade quer durchs Schloss gerannt. »Hier. Wenn du dich belesen möchtest, das dürfte die meisten Fragen beantworten.«

»Großes Blasinstrument«, murmelt Opa, der nichts um sich herum wahrzunehmen scheint. Weder dass sich seine Enkelkinder in den nächsten Wochen gegenseitig an die Gurgel gehen werden, noch dass Oma eine Gabel vom Tisch schubst, als sie wieder Platz nimmt und ihm damit beinahe den Oberschenkel durchbohrt. Er hat Glück, die Gabel landet geräuschvoll auf dem Fliesenboden.

»Wie viele Buchstaben?«, fragt sie routiniert und bückt sich nach dem Besteck.

»Sieben. Der vorletzte ist ein N.«

»Posaune.«

Opa trägt das Wort ein. So ist das immer. Wenn Opa etwas nicht weiß, kennt Oma die Antwort. Dabei ist es egal, ob sie gerade mit anderen redet, kocht oder meditiert. Manchmal denke ich, sie hat nach all den gemeinsamen Jahren mit Opa so viel gelernt, dass sie bei einer Quizshow mitmachen sollte. Dabei hat sie selbst noch nie ein Kreuzworträtsel gelöst.

Im Moment kann ich allerdings nicht allzu viel Bewunderung aufbringen, da mich das oberste Blatt des Papierstapels anstarrt. Ein vergilbter Zeitungsausschnitt, den jemand herausgerissen hat, mit der Schlagzeile: Mysteriöser Unfall schürt Angst vor totem Grafen. Darunter befindet sich eine schwarz-weiße Abbildung des Schlosses aus der Zeit seiner Erbauung in Kupferstich, wie eine Zeile am unteren Bildrand verrät.

Lory wirkt, als hätte Oma statt der Zeitungsausschnitte eine Schaufel Blumenerde über den Tisch gekippt. Kreidebleich nimmt sie das Tablet von der Eckbank, lässt ihren Kaffee stehen und verlässt den Raum mit den Worten: »Ich … muss Geige üben. Bis später.«

Völlig perplex sehe ich ihr nach und fühle mich angesichts ihres merkwürdigen Verhaltens gleich weniger seltsam.

»Manches widerspricht sich«, sagt Mum und deutet auf die Artikel. »Vor allem, wenn es um die Frage geht, was hier überhaupt spukt.«

»Okay«, erwidere ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll, und richte die Artikel im Neunzig-Grad-Winkel aus.

»Behauptet wird viel. Dass der Graf grausam war, cholerisch und so weiter.« Mum redet weiter. Ihr ist nicht entgangen, wie gebannt Max an ihren Lippen klebt.

»Er soll die Öffentlichkeit gemieden haben«, ergänzt Oma mit rauchiger Stimme, als würde sie eine Gruselgeschichte erzählen. Irgendwie ist es ja so. »Man sagt, er verbrachte viel Zeit damit, durch die Wälder zu streifen.«

Ich sehe sie skeptisch an. »Klingt nicht wirklich bösartig. Vielleicht mochte er einfach die Natur und war ein Einzelgänger?«

Mum und Oma tauschen einen vielsagenden Blick, von dem ich genau weiß, was er bedeutet. Dass sie es noch nie verstehen konnten, warum ich gern stundenlang allein am Meer entlangspaziere. Dass ich schon immer wenig Freunde hatte. Mal wieder möchte ich sie daran erinnern, dass ich damit keinem schade und es Menschen gibt, die eben so sind. Doch ich schweige, weil es jetzt nicht wichtig ist.

»Zu der Zeit, als Düsterstein erbaut wurde, war Thüringen in sehr viele Grafschaften gespalten. Das Schloss selbst gehörte zur Grafschaft Henneberg. Du hast sicher die Wappen draußen an den Seitenflügeln bemerkt«, fährt Mum fort, ohne auf meinen Einwurf einzugehen.

»Ja. Der unförmige Vogel.« Man hatte die Wappen im Laufe der Zeit vermutlich saniert, sonst würde man ihn nicht mehr erkennen.

»Genau. Um 1600 galt die männliche Linie nach fünfhundert Herrscherjahren als ausgestorben.« Mum bestreicht eine weitere Waffel mit Schokolade. »Man trug zwar noch den Titel im Namen, jedoch gab es keine Nachfolger mehr. Die Henneberger Linie schien dem Untergang geweiht, aber dann taucht auf einmal dieses Kind in den Überlieferungen auf.«

In der folgenden Pause denke ich an mein Wandbild. »Der Graf? Balthasar von Düsterstein?«

Mum nickt. »Er war dieser Säugling. Woher er kam, wusste keiner. Definitiv nicht von der Gräfin, die als unfruchtbar galt.«

Finn gähnt demonstrativ, steht ebenfalls auf und verlässt den Raum.

»Spekulationen gab es viele«, ergänzt Oma. »Eine Adoption. Eine Hexe, die das Kind gebracht hat. Nebenbei bemerkt dieselbe Hexe, die für den Fluch des Schlosses verantwortlich sein soll.«

»Hexe? Fluch?« Plötzlich bin ich hellwach. Auch wenn eine Hexe zur Zeit der Hexenverfolgung und des großen Aberglaubens ganz bestimmt nicht die Ursache für irgendwas gewesen ist.

Opa scheint das Gleiche zu denken. Er sieht von seinem Rätsel hoch und rückt die Brille zurecht – ein uraltes Gestell, riesig, mit dickem braunen Rand. Seit Kurzem sieht man wieder vermehrt Jugendliche mit solchen Modellen. »Glaub nicht alles, was du hörst und liest«, tadelt er, und ich bin mir nicht sicher, ob er Mum oder mich damit meint.

»Das sagt der Richtige«, widerspricht Oma. »Mit Flüchen ist nicht zu spaßen.«

»Die ganzen Ermordeten haben es bestimmt auch auf die leichte Schulter genommen.« Max kichert. »War das vielleicht der Fluch? Opas Gedicht gestern?«

Der Gedanke kam mir ebenfalls. Doch obwohl ich mich nicht an die einzelnen Worte erinnern kann, hat es nicht nach einem Fluch geklungen. Zumindest nicht nach einem, der irgendwelche Morde erklärt.

»Auch das weiß keiner genau.« Mum beißt genießerisch in ihre Waffel, was mich an das längst kalte Exemplar auf meinem Teller erinnert. Halbherzig zupfe ich an dessen Rand herum. »Auf jeden Fall soll der Fluch dazu geführt haben, dass jeder Besitzer dieses Schlosses ums Leben gekommen ist. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir herausfinden, wie wir ihn brechen können.« Sie strahlt.

Ach ja, die Sache mit den gebeutelten Seelen, die man bloß beschwichtigen muss, damit alles wieder ins Lot kommt. Innerlich verdrehe ich die Augen. »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Grafen und einem Fürsten?«, werfe ich dann ein.

»Keiner so wirklich«, antwortet Oma. »Grafen zählen zum Fürstenstand.«

»Okay.« Ich stopfe mir ein Stück Waffel in den Mund.

»Jedenfalls war da plötzlich doch ein männlicher Nachfolger«, erzählt meine Mutter weiter. »Die benachbarten Herrscher, die scharf auf Düsterstein und die umliegenden Ländereien waren, zeigten sich wenig begeistert und unterstellten dem damaligen Grafenpaar Verrat. Balthasars Herrschaft stand also von Anfang an unter einem schlechten Stern.«

»Was zusätzlich zur allgemeinen Lage im Land natürlich alles andere als vorteilhaft war«, fügt Oma hinzu. Es ist erstaunlich, wie die beiden sich diese Erzählung aufteilen. Als hätten sie das vorher einstudiert. Thea sagt überhaupt nichts mehr. Sie räumt Geschirr an der Küchenzeile hin und her und wirkt sehr beschäftigt.

Opa schüttelt nur den Kopf und wendet sich wieder seinem Rätsel zu.

»Allgemeine Lage?«, bohre ich nach. In der Schule mogele ich mich meistens mithilfe meines Kurzzeitgedächtnisses durch die Prüfungen. Zwei Stunden vorher im Bus alles noch mal lesen und merken, beim Test oder in der Klassenarbeit aufschreiben und danach wieder vergessen. Entsprechend durchschnittlich sind meine Noten.

»Stichwort Dreißigjähriger Krieg«, antwortet Oma.

Ah, ja. Da klingelt was. »1618 bis 1648«, erwidere ich und bin selbst erstaunt, mir das gemerkt zu haben.