Der Fluch von Eddessen - Emlin Borkschert - E-Book

Der Fluch von Eddessen E-Book

Emlin Borkschert

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Beschreibung

Der dreiundzwanzigjährige Focke Löhr erhält aus seinem Heimatdorf Manrode einen unerwarteten Hilferuf. Es geht um Kinder. Als angehender Journalist chronisch neugierig, begibt er sich in das kleine Dorf in der ostwestfälischen Provinz, das er vor vielen Jahren nach der Scheidung seiner Eltern verlassen und seitdem nie wieder besucht hat. Kaum angekommen, wird eine Leiche gefunden. Es ist der Auftakt einer Reihe mysteriöser Vorfälle, die Focke ins Kinderhaus Eddessen führen, wo sein Vater als Betreuer gearbeitet hat. Dann verschwindet dort eines der Kinder. Focke entdeckt, dass sein Vater mehr darin verwickelt ist, als ihm lieb ist. Und auch die Geschichte seiner eigenen Kindheit muss neu geschrieben werden ...

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Emlin Borkschert

Der Fluch von Eddessen

„Betrogene Liebe ist wie Menschenblut;

sie schreit aufwärts nach Rache.“

Matthias Claudius (1740 - 1815), deutscher Dichter

Für meinen besten Freund Timmy

Danke, dass ich dein Herrchen sein durfte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-95954-101-5

E-Book-Ausgabe

© Emlin Borkschert

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht auf Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Coverfoto: Jörg Mitzkat

Verlag Jörg Mitzkat

Holzminden 2020

www.mitzkat.de

Emlin Borkschert

Der Fluch

von Eddessen

Krimi

Verlag Jörg Mitzkat

Holzminden 2020

Prolog

Die Neonröhre unter der Decke flackerte, doch es fiel ihr ebenso wenig auf wie der Schimmelfleck an der Wand, der sich immer weiter ausbreitete. Kristyna öffnete ihren Spind und nahm ihren weißen Kasack heraus. In den ersten Monaten hatte sie sich zwingen müssen wegzusehen. Sie wusste, wer es wagte, den Mund aufzumachen, durfte sich ganz schnell die Frage anhören, ob man unzufrieden wäre. Ob man lieber woanders arbeiten würde. Und jedem hier war klar, was das bedeutete. Und so hatte sie, wie die allermeisten vor ihr auch, für sich entschieden, dass Schimmelflecken oder flackernde Neonröhren das weitaus kleinere Übel waren.

Kristyna warf Jacke und Tasche in dem Spind und zog den Kasack über. Mit geübten Handgriffen band sie sich ihre Haare zum Zopf und wechselte die Schuhe. Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. Maminka, warum musst du schon wieder weg?, hatte Milan gerufen, im frühen Morgengrauen, dann geschrien und angefangen, an ihrem Bein zu zerren. Sie hatte es nicht ausgehalten und ihre Sachen genommen, dabei kurz aus dem Fenster geblickt. Sechs Stockwerke unter ihr war die Stadt noch so friedlich, der Berufsverkehr, der die Pendler oftmals zur Verzweiflung brachte, nicht mehr als sich bewegende Lichter in der Dunkelheit. Sei schön artig und tu, was babička dir sagt. Einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, dann hinaus ins Treppenhaus – und auf der Stelle kehrtmachen und sturmklingeln. Ihre Mutter hatte geöffnet, das faltige Dekolletee nur unvollständig vom Bademantel bedeckt, in der anderen Hand ihr Schlüsselbund. Und dieser mitleidsvolle Blick in den Augen. Kristyna wusste, was er bedeutete. Dass wieder einer dieser besonderen Tage war. Zwei Kolleginnen, die redend und lachend den Raum betraten, holten sie früher als ihr lieb war in die Gegenwart zurück.

Kristyna grüßte sie mit einem Kopfnicken und warf einen letzten Kontrollblick in den Spiegel auf der Innenseite der Schranktür. An solchen Tagen war es gut, dass ihr Spind in der dunkleren Hälfte des Raumes lag. Dass ein weites Hemd mit V-Ausschnitt für eine Frau nicht unbedingt schmeichelhaft war, daran hatte sie sich gewöhnt. An das Gesicht, in das sie schaute, seine unnachgiebige Härte vielmehr, jedoch nicht. Eine getönte Tagescreme hielt es davon ab, völlig fahl zu wirken. Kristyna schminkte sich bewusst nicht bei der Arbeit. Und erst am Abend, wenn sie den künstlichen Geruch nach Erdbeere, den außer ihr sonderbarerweise niemand wahrzunehmen schien, mit viel Salz weggerubbelt und abgeduscht hatte, würde sie sich zurück in ein menschliches Wesen verwandeln, noch kurz mit Milan spielen, vielleicht an den See fahren und von einem besseren Leben träumen. Doch bis dahin lag viel Arbeit vor ihr. Und Franz.

Es war noch früh, als Kristyna wenige Schritte weiter das Untersuchungszimmer betrat, in dem ein neunjähriger Junge wartete. Er hatte, wie sie wusste, bereits die dritte Nacht bei ihnen verbringen müssen, was keinesfalls Standard war. Normal sollte es nur eine Übernachtung sein, maximal zwei, aber manchmal, wie dieses Mal, lagen die Umstände eben so, dass es sich nicht verhindern ließ. Franz saß auf dem Metallbett, hielt das kleine Plastikauto fest an sich gedrückt und schaute zur gegenüberliegenden Wand auf das bunte Plakat von Pinocchio. Sofort versuchte Kristyna zu lächeln, sodass ihre Stimme möglichst unbeschwert klang. Was ihr bei einem Jungen besonders schwer fiel. „Guten Morgen, malý muž“, begrüßte sie ihn. „Wie geht es dir?“

Franz antwortete nicht. Vielleicht hatte er sie nicht richtig verstanden, da ihr Akzent, trotz der Berufserfahrung, die sie sich inzwischen angeeignet hatte, noch immer recht ausgeprägt war. Bei der Untersuchung vor zwei Tagen hatte er ein paar Mal nachfragen müssen.

„Hast du gut geschlafen?“

Wieder keine Antwort.

„Wir haben das Blut untersucht, das ich dir vorgestern abgenommen habe. Es ist alles in Ordnung.“

„Ah, ok“, sagte der Junge traurig. Er hatte sie also doch verstanden, hatte nur nicht reden wollen.

„Es ist nur eine Kleinigkeit, die wir korrigieren müssen. Das kriegen wir ganz schnell in den Griff."

Er hob den Kopf und schaute sie mit großen Augen an. „Was meinst du damit? Tut das weh?“

„Nein, natürlich nicht. Du musst keine Angst haben.“ Sie trat ans Fenster und zog die Vorhänge ein Stück zur Seite, was unnötig gewesen war, denn draußen war es nach wie vor dunkel. In Wahrheit hatte sie sich einfach wegdrehen müssen, um die Spuren in ihrem Gesicht zu verbergen. Wie konnte sie den Jungen nur so anlügen? Dass sie es nicht nur für sich tat oder für Milan oder für ihre Mutter, deren zweiter Mann mit all ihren Ersparnissen abgehauen war, half ihr in diesem Moment kein bisschen weiter, hatte es nie.

„Ich habe Hunger“, hörte sie ihn sagen.

„Hunger?“ Sie riss sich zusammen und klatschte begeistert in die Hände. „Das ist ja toll. Ich weiß zufällig, dass es gleich im Anschluss ein super Frühstück gibt. Sogar mit Schokoladenpudding. Aber den magst du bestimmt nicht.“

„Doch.“ Franz lächelte schüchtern, das erste Mal. Das Eis war gebrochen, er vertraute ihr. Es war so einfach.

Kristyna sah auf die Uhr. Es wurde Zeit, die nächste Phase einzuläuten, die letzte, was sie betraf. „Hier schau mal“, sagte sie. „Unsere Pilotenmaske.“

„Wow, cool.“ Der Junge schien seine Zurückhaltung abzulegen und blickte neugierig auf das dreieckige Teil in ihren Händen. „Und was macht die?“

„Da ist ein Ballon drin, den darfst du jetzt aufpusten. Meinst du, du schaffst das?“

„Ein Ballon? Na klar.“

„Dann leg dich hin.“

Er gehorchte bereitwillig, man brauchte es ihm kein zweites Mal zu sagen.

Sie setzte die Maske auf sein Gesicht, tat, was getan werden musste und gab ein Zeichen, dass er mit Pusten anfangen konnte. Die meisten Kinder schafften drei bis vier Atemzüge, bis sie einschliefen. So auch Franz.

Als es genug war, drehte sie schnell das Ventil wieder zu, doch dieser ekelhafte Erdbeergeruch hatte sich bereits in jede ihrer Poren gesetzt. Kristyna nahm ihm die Maske ab und verstaute alles in dem Metallschrank. Am liebsten hätte sie sich gehäutet. Dabei war das, was dahintersteckte, doch absolut wichtig. Sie musste es sich nur immer wieder einreden.

Mit diesem Mantra fuhr Kristyna sich über die Wangen, straffte ihren Rücken und gab dem Kollegen mit dem Narbengesicht Bescheid, dass er Franz abholen und ihm den Venentropf legen konnte. Und sie würde sich irgendwo eine ruhige Ecke suchen, zuhause anrufen und Milan sagen, dass sie ihn liebte.

1. Kapitel

Oh, sorry“, murmelte Focke, nachdem er beim Fotografieren den Kollegen vom Westfalen-Blatt angerempelt hatte, und gab sich erst gar nicht die Mühe, sein Grinsen zu verstecken. Das wollte er schon länger getan haben. Noch bevor der ihm nach dem Herbstkonzert des Sinfonischen Blasorchesters der Feuerwehr Gütersloh in der Stadthalle die – zugegeben etwas saloppe – Unterzeile geklaut hatte. Aus „Publikum ist Feuer und Flamme“ war „Publikum brennt vor Begeisterung“ geworden, ein billiger Abklatsch in Fockes Augen, aber dennoch eindeutig seine Idee. Der besagte Typ nickte ihm zu, was alles oder nichts heißen konnte, schlimmstenfalls eine Tracht Prügel. Focke machte weitere Aufnahmen, um die Transzendenz der Skulpturen bei gleichzeitiger werkstofflicher Präsenz, über die der Mitarbeiter des Kulturzentrums Alte Weberei gut zwanzig Minuten referiert hatte, einzufangen. Ob es ihm gelang, stand auf einem anderen Blatt. Für seinen Geschmack waren die Werke der VHS-Kursteilnehmer eher billige Plagiate der Ausstellung in der Bielefelder Kunsthalle, die er sich neulich angesehen hatte. Egal, für einen Artikel der geforderten Länge würden seine Notizen reichen. Er kontrollierte die Fotos auf seinem Tablet, war zufrieden und überlegte, entweder ein schnelles Getränk an der Bar oder zurück zum Auto, und entschied sich nach einem Zeitcheck für Letzteres. Kurz nach Vier, da müsste er sich schon ranhalten, um es halbwegs pünktlich zu seinem Date zu schaffen. Focke packte seine Sachen zusammen und schob sich durch die Besucher Richtung Ausgang, nicht ohne sich zu vergewissern, dass der Typ vom Westfalen-Blatt ihm tatsächlich nachblickte. Focke lachte und quetschte sich durch die zufallende Tür.

Draußen schien sogar die Sonne, was nach den letzten trüben Tagen eine Überraschung war. Focke zog trotzdem sein Cordsakko über, immerhin war es brandneu und hatte einen coolen Schriftzug am Rücken sowie Aufnäher an den Ellbogen. Außerdem parkte sein Wagen in der Roonstraße, wo man kein Ticket brauchte, dafür bedeutete es ein paar Minuten Fußmarsch durch die Gütersloher Innenstadt. Die war zwar nicht besonders aufregend, für die Größe der Stadt sogar recht provinziell, in dem Bereich mit den alten Gründerzeithäusern aber zumindest ganz ansehnlich.

„Auch hi“, grüßte er einen Typen in seinem Alter mit Freundin, die am Mohn-Brunnen auf einer Bank herumlümmelten. Wenn der Straßenverkehr einigermaßen gut lief, würde er sich in einer knappen Dreiviertel Stunde hoffentlich in einer ähnlichen Position befinden. Das Leben meinte es gerade richtig gut mit ihm. Für ein paar kostbare Tage war er niemandem Rechenschaft schuldig, wo willst du hin, wann kommst du zurück, mit wem triffst du dich. Dass seine Mutter meinte, er solle sich endlich fest binden, stand so ziemlich im genauen Gegensatz zu seiner eigenen Lebensplanung. Doch da sie für ein paar Tage nach Passau verreist war, würde er keinen Gedanken an sie und ihre Dramen, die sie für gewöhnlich aus allem machte, verschwenden. Er sprang auf den niedrigen Stahlzaun, der ein Blumenbeet abgrenzte, rutschte herunter und probierte es erneut. Nach zwei Metern drohte er ein weiteres Mal herunterzurutschen und stieß sich in letzter Sekunde ab, um genau vor einer älteren Dame mit Rollator zu landen. Sie sah ihn erschrocken an, doch als er anfing zu grinsen, lächelte sie zurück. „Ich muss verrückt sein“, sagte er zu ihr und rannte los wie ein Schulkind, das etwas ausgefressen hatte.

Über den Dreiecksplatz und an der Eisdiele vorbei, wo ein Akkordeonspieler sein Bestes gab und er deswegen das Klingeln fast überhörte. Focke holte sein Smartphone aus der Jeanshose und schaute drauf. Unbekannte Nummer. Das kam öfter vor und hielt ihn nicht ab. „Ja, hallo?“, fragte er liebenswürdig.

„Focke, bist du es?“

„Wer will das wissen?“ Die Stimme kam ihm seltsam vertraut vor, aber eher wie aus einer Erinnerung.

„Hier ist Tjark.“

„Tjark.“ Focke pustete die Backen auf. Es kam nur selten vor, dass man ihm derart schnell aus dem Konzept brachte. Eigentlich nie.

Dem Anrufer ging es offenbar ähnlich, dem Zögern nach zu urteilen. Kein Wunder, es war ewig her und nicht unbedingt mit angenehmen Erinnerungen verbunden, dachte Focke beschönigend. Um sie nicht heraufzubeschwören, fragte er: „Und, was gibt’s?“

„Nun, mich nur zu erkundigen, wie es dir geht, wäre nicht sehr glaubwürdig, oder?“

„Wohl eher nicht, nein.“

„Nein, du hast recht. Ich habe in der Tat eine Bitte. Ich... brauche deine Hilfe. Können wir uns sehen?“

„Sehen? Wann?“

„Jetzt?“

„Jetzt? Du machst Witze.“ Focke lachte aber nicht, sondern fuhr sich durch die Haare, bis ihm klar wurde, dass er gerade seine Frisur ruinierte. Und die brauchte er noch für sein Date. „Du weißt schon, dass das ziemlich merkwürdig bei mir an– ...“

„Ja, tut mir leid“, unterbrach Tjark ihn. „Vielleicht können wir später in Ruhe ... Na, du weißt schon. Über alles reden und so. Ich weiß, dass es da einiges zu klären gibt. Aber jetzt brauche ich deine Hilfe. Es ist wichtig, verstehst du?“

Focke war schon beim ersten Mal bei den ungewohnten Wort mit H stutzig geworden. Dass Tjark über die Vergangenheit reden wollte, haute ihn glatt um. Er gab sich jedoch Mühe, es nicht zu zeigen. „Ok, ok“, sagte er cool. „Also, worum geht’s?“

„Das will ich nicht am Telefon besprechen.“

„Ach so, klar. Darum geht es. Wie viel brauchst du?“

„Nein, das ist es nicht, Herrgott,“ rief Tjark, schnaufte laut und entschuldigte sich fast zeitgleich über den Tonfall. Dann nannte er ihm die Adresse. Es war noch immer dasselbe Kaff wie früher.

Leider, dachte Focke. Dabei war es durchaus zu erwarten gewesen.

Zwei Minuten später hatte er seinen VW Golf erreicht, sich hineingesetzt und angefangen nachzudenken. Sollte er den Anruf ignorieren? Das würde nicht so leicht funktionieren, dazu war die Situation zu ungewöhnlich. Tjarks Bitte um Hilfe und eine Entschuldigung dafür, dass er kurz lauter geworden war, war eine Konstellation, die Focke sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt hatte. Und wenn er es wenigstens versuchte? Nein, unmöglich, seine Neugierde war definitiv geweckt. Und nicht nur die. Auch ein tiefes, längst verdrängt geglaubtes Gefühl drohte an die Oberfläche zurückzukehren, was keinesfalls angenehm war, im Gegenteil. Doch davon würde er sich nicht unterkriegen lassen. Vielleicht war es die Chance, dem Dämon der Vergangenheit ins Auge zu blicken.

Er warf einen Blick in den Rückspiegel, kontrollierte sein Aussehen und schoss mit seinem Smartphone ein Selfie, um den seltenen Moment festzuhalten. Das Grinsegesicht auf dem ersten Bild sah gequält aus, wurde beim zweiten schon besser und wirkte beim dritten fast natürlich. Focke stellte es online und aktivierte die Spracherkennung. „Leute, es ist Dienstag, der achtzehnte Oktober“, sagte er, „gleich sechzehn Uhr vierunddreißig. Gerade ist etwas Unglaubliches passiert. Wollt ihr wissen, was? Ich weiß es selbst nicht so genau. Drum haltet euch fest, ich nehme euch mit auf eine Reise in meine Kindheit.“

Er programmierte das Navigationsgerät. Etwas über eine Stunde Fahrzeit lag vor ihm. Genügend Zeit, um zu spekulieren, warum Tjark ausgerechnet jetzt über seinen Schatten gesprungen war. Dass er beim Thema Geld blockiert hatte, musste nicht bedeuten, dass es um etwas anderes ging, schätzte Focke. Und stieß einen Fluch aus, weil er eigentlich andere Pläne hatte. Allerdings keine, die sich nicht auch mit jemand anderem umsetzen ließen, also tippte er eine Nachricht, um mit einer Mischung aus Bedauern und blabla abzusagen.

Als er fünfzig Minuten später bei Borgentreich die B241 verließ, war er mit seinen Überlegungen nicht groß weitergekommen. Viel zu lange hatten sich die beiden nicht mehr gesehen, dreizehn Jahre, um genau zu sein. Dazwischen nur sporadischen Kontakt gehabt, Anrufe oder Postkarten, die jedes Jahr seltener geworden waren. Wenn Tjark kein Geld brauchte, war er vielleicht krank. Oder er wollte wieder heiraten. Die Frage war nur, wie er – Focke – ihm dabei behilflich sein sollte. Als Trauzeuge etwa? Er lachte bei der Vorstellung, doch es war kein fröhliches Lachen.

Und selbst das verging ihm, als er im Dörfchen Bühne die Tankstelle passierte und Bauchschmerzen bekam beim Gedanken an die Massen an Süßigkeiten, die er dort früher gekauft hatte, und was man wahrscheinlich noch immer tun konnte. Er hielt kurz an, machte mit seinem Smartphone ein Foto der Tankstelle und stellte es online. Nun war es wirklich nicht mehr weit bis in sein altes Heimatdorf. Die Nachbarszwillinge Lars und Lukas tauchten vor seinem inneren Auge auf, genauso klein, wie er damals gewesen war, und leiteten eine Art Kurzfilm ein. Die vielen Nachmittage draußen, ohne dass jemand wusste, wo man gerade steckte. Die immer häufigeren Auseinandersetzungen seiner Eltern beim Abendbrot. Das Schluchzen seiner Mutter, das bis in sein Zimmer hinein drang und unter die Bettdecke, die er sich über seinen damals noch hellblonden Haarschopf gezogen hatte. Besonders schlimm war es in dem Sommer geworden, als Tante Renate zu Besuch gekommen war ...

Sein Smartphone unterbrach die Handlung, gerade rechtzeitig, bevor der traurige Teil anfing. Eine Nachricht von Nicki. Wie lief es in der Weberei? Machst du den Artikel heute noch fertig?

Focke schrieb zurück: Naja ging so, motze das ein bisschen auf, dann passt es schon. Weiß noch nicht ob ich es heute schaffe, mir ist noch was dazwischengekommen.

Es dauerte keine Minute, bis Nicki antwortete. Ach so? Jemand, den ich kenne? 

„Hallo?“, rief Focke laut. „Bilde dir ja nichts ein, das ist vorbei, ok?“ Er schrieb zurück: Nein, nicht so was. Ich kann dir noch nicht sagen, worum es geht. Melde mich.

Die Antwort darauf war erwartungsgemäß kühl: Dann maile mir den Artikel halt zu, sobald du ihn hast. Bis morgen!!

Focke unterließ es, darauf zu reagieren. Es war nicht gerade unkompliziert zusammenzuarbeiten, wenn man noch vor wenigen Wochen jede Gelegenheit dazu genutzt hatte, miteinander zu vögeln. Nicki hatte ihn im Sommer auf einer Party mit Sex und einem Job bei Gütersloh-Online geködert. Wozu er schlecht nein sagen konnte, vor allem, da er seiner Mutter zuliebe die Zeit bis zum Jahresende eh in Gütersloh überbrücken wollte. Aber seine Dankbarkeit deswegen brauchte ja nicht ewig zu dauern.

Er fuhr weiter und spürte beim Abbiegen auf die K30 deutlich, dass einem der Bauch auch ohne Süßigkeiten drücken konnte. Zum ersten Mal stand dieser Name auf dem Straßenschild: Manrode. Dieses Dorf im tiefsten Ostwestfalen, von dem er lange geglaubt hatte, ihm entkommen zu sein. Das schon damals so klein war, dass man sich unwillkürlich fragte, ob es überhaupt noch existierte. Selbst die Sonne hatte sich irgendwo auf dem Weg hierher verzogen. Trübes Herbstlicht machte den Anblick nicht besser. Abgeerntete und vom Regen der letzten Wochen vollgesogene Felder, die in Wellen einen Hügel hinaufführten, auf deren Spitze das Dorf lag. 1009 erstmals als Ananroth erwähnt, war für seine Gründung Wald gerodet worden, wie die Endung des Ortsnamens verriet. Drumherum nichts als Gegend. Hätte er seine Jugend hier verbringen müssen, wäre er bestimmt verrückt geworden. Insofern hatte die Trennung seiner Eltern und der unausweichliche Umzug nach Gütersloh durchaus sein Gutes gehabt.

Er passierte den Sportplatz, auf dem er als Kind seine letzten Fußballspiele angesehen hatte. Gleich darauf bog links eine schmale Straße hinab ins Tal, wo seine Familie zwischen Mühlenberg, Kreuzbusch und Dörner einst eine kleine Hütte mit Fischteich besessen hatte. Sicher war der Grund längst anderweitig verpachtet oder verkauft. In einiger Entfernung tauchte das Ortsschild auf. Fockes Herz begann zu klopfen, als er die letzte Steigung nahm und zu seiner Linken der Heizungs- und Sanitärbetrieb Dierkes näher kam. Verdammt, hier sah alles so anders aus, als er es sich ausgemalt hatte. Keine zerfallenen Häuser. Keine Fäkalien in den Rinnsalen. Keine offenen Feuer in den Straßen. Manrode. Orgelstadt Borgentreich. Kreis Höxter. Der Zusatz Orgelstadt war neu. Focke machte im Vorbeifahren ein Foto vom Ortsschild, für später.

Gegen halb sechs, wie die Uhr ihm zeigte, fuhr er tiefer ins Dorf hinein. Es fing bereits an zu dämmern. Trotzdem sah man überall die charakteristischen Bauernhöfe und Scheunen, klein oder groß, gepflegt oder weniger, die darauf hinwiesen, dass selbst tausend Jahre später die landwirtschaftliche Prägung noch vorherrschte. Er passierte nebenbei den Friedhof, ein sogenanntes Alpaka-Lädchen, die Kneipe, in die schon früher niemand ging, und seine alte Bushaltestelle und erreichte schließlich die Adresse im Unterdorf, die Tjark ihm zum Ende des Telefonats genannt hatte. Dass auf den letzten Metern ein entgegenkommender Trecker fast seinen Golf gerammt hatte, hätte er als böses Omen auffassen sollen. Doch noch war alles ruhig. Kaum eine Menschenseele, die sich in den Gärten, Hauseinfahrten oder auf den Gehwegen blicken ließ.

Focke hätte sowieso niemanden erkannt. Besagtes Haus, ein erfrischend-markanter Bungalow inmitten von Durchschnittsarchitektur, lag im Neubaugebiet zwischen ehemaliger Schule, die bereits in seiner Kindheit geschlossen war, und Kirche, mit Blick auf Wiesen, Felder und den Deiselberg. Letzterer gehörte seines Wissens nach schon zu Hessen. Focke stellte seinen Golf ab, stieg aus und erwog, ein paar schnelle Fotos zu schießen, entschied sich aber dagegen. Lieber wollte er es hinter sich bringen. Sein Herz pochte inzwischen heftig.

Kein Wunder, dachte Focke und marschierte zur Haustür. Es fühlte sich seltsam an und verkehrt, dort mit schweißnassen Händen zu stehen und zu schellen wie ein Fremder. Der Türöffner gab ein mickriges Krächzen von sich. In wenigen Augenblicken würde er hoffentlich erfahren, was los war und wobei er helfen sollte. Eines war jedenfalls sicher: Es musste verdammt wichtig sein, wenn sein Vater sich nach so langer Zeit erstmals wieder bei ihm gemeldet hatte.

2. Kapitel

Sie umarmten einander nicht. Focke hatte sich vorgenommen, auf keinen Fall den Anfang zu machen, doch sollte sein Vater es tun, wollte er kein Spielverderber sein. Doch nichts dergleichen passierte, außer einem unschlüssigen Arm vor, Arm zurück. Es wurde ein Händeschütteln daraus.

Nun saß Focke zum ersten Mal in diesem Wohnzimmer und tat, als wäre es ihm egal, wie sein Vater wohnte, nachdem seine Mutter und er das gemeinsame Haus nach der Scheidung verkauft hatten. Kein übermäßiges Interesse zeigen, lautete die Devise, zumindest, bis es einen konkreten Anlass dafür gab. Außerdem merkte man auch ohne Halsverrenkungen, dass der Umzug für ihn keine Verschlechterung gewesen war. Sein Getränkeangebot nahm Focke einsilbig mit „Klar!“ an.

„Ja gut, also ...“ Tjark blickte nach links und rechts, als hätte er vergessen, wo sich die Getränke befanden. „Dann gehe und hole ich uns mal was.“

„Mach das.“

Kaum war sein Vater losgegangen, hielt Focke es nicht länger aus. Wie ein Storch reckte er seinen Kopf in jede Richtung. Sekunden später hatte er sein Smartphone in der Hand und machte Fotos. Von dem meterlangen, deckenhohen Bücherregal gegenüber der schwarzen Ledercouch, auf der er saß, das dem Anschein nach gut bestückt war. Von den riesigen Schiebefenstern seitlich davon, die in einen Garten führten, mit Terrasse und Liege. Von gerahmten Kunstdrucken, die freie Wände zierten, wobei das leicht schief hängende Mohnblumenfeld neben der Tür erfreulicherweise nicht an Monet erinnerte, sondern an Otto Ubbelohde. Von zwei großen Palmen in Terrakottatöpfen und der ebenso großen, gebogenen Stehlampe im Bauhausstil, deren Schirm bis über den Couchtisch aus Glas reichte. Das Zimmer war auf eine Weise eingerichtet, mit der Focke nicht gerechnet hatte. So ... geschmackvoll. Sein Vater war doch nicht schwul geworden? Schmunzelnd über diese Vorstellung legte er sein Smartphone auf den Tisch und nahm dafür eine Zeitschrift in die Hand, Psychologie heute der Titel. Nebenan klapperte Geschirr. Viel gesprochen hatten sie nicht seit seiner Ankunft, dachte Focke, woraufhin sein Schmunzeln erstarb. Es war typisch. Tjark hatte dreizehn verdammte Jahre Zeit dazu gehabt, Getränke vorzubereiten. Warum musste er es ausgerechnet jetzt tun?

Focke blätterte durch die Seiten der Zeitschrift, ohne hineinzuschauen. Vermutlich machte seinen Vater die Begegnung genauso nervös wie ihn. Er hatte schon am Telefon so geklungen. Irgendwie abgehackt. In Fockes Erinnerung war seine Sprache viel fülliger gewesen. Um nicht zu sagen aufgebläht. Vielleicht beruhigte das Zubereiten von Kaffee ihn ja. Und auf die paar Minuten kam es nun auch nicht mehr an. Glaubte er zumindest.

Als das Geklapper verstummte, warf Focke die Zeitschrift zurück auf den Tisch, direkt auf das ledergebundene Notizbuch mit den Initialen TL, das sie verdeckt hatte. Gleich darauf trat sein Vater durch die Tür, ein Tablett in den Händen. Er hatte tatsächlich Kaffee gekocht. „Brauchst du Milch?“, fragte er.

Focke nickte.

„Früher hast du nur Kakao getrunken, weißt du noch?“

„Ach, echt? Na, da war ich ja auch noch ein Kind.“

„Stimmt. Du hast recht.“ Tjark stellte das Tablett ab und überreichte ihm eine der Tassen. Mit der anderen nahm er auf dem Sessel gegenüber Platz und strich sich sofort über seinen Dreitagebart, eine Geste, die Focke noch gut von früher kannte. „Und auf einmal bist du erwachsen. Ein gutaussehender junger Mann. Schön, dass du es so schnell geschafft hast.“

„Tja, mit nur einem Elternteil geht das anscheinend besonders fix“, erwiderte Focke trocken.

„Herzukommen, meinte ich.“

„Ach so, das. Nun, ich hatte ein Navi, damit ging es ganz leicht.“ Focke goss sich Milch ein. Einen Löffel zum Umrühren war nirgends zu finden, er wollte aber nicht nach einem fragen. Er war diesen Moment so oft im Kopf durchgegangen, hatte sich Dinge überlegt, die ihm auf der Seele brannten, da wollte er die allererste Frage nicht mit so etwas Trivialem wie Löffel verschwenden. „Nettes Haus“, sagte er und schlug sich gedanklich vor die Stirn.

„Du weißt genau, dass ich auch das so nicht gemeint habe.“

„Was?“

„Na, das ... Egal. Was soll ich zu meiner Verteidigung sagen? Ich bin nun mal nicht so der Typ für regelmäßige Anrufe.“

Focke trank einen Schluck. „Nicht schlimm, echt. Du hattest sicher wichtigere Dinge zu tun.“

Tjark lachte auf. „Der Satz hätte von deiner Mutter stammen können. Ich sage es dir, wie sie leibt und lebt. Wie geht es ihr so?“

„Warum fragst du mich nicht, wie es mir geht?“

„Du hast recht. Tut mir leid, ich ...“ Tjark räusperte sich. „Also, wie geht es dir?“

„Gut“, antwortete Focke. „Echt, total gut. Läuft ziemlich ... gut. Alles so.“

„Na prima. Also hast du jemanden oder wie?“

„Klar.“ Focke überlegte, wie viel er von sich und seinem Leben preisgeben wollte. Hätte sein Vater nach dem Job gefragt, hätte er vielleicht von seiner neuen Stelle in Hamburg zum Anfang des kommenden Jahres erzählt. Das Thema Beziehung aber war ihm zu privat für die ersten Minuten. „Und bei dir? Hast du wieder jemanden?“

„Du meinst, seit deiner Mutter? Ob du es glaubst oder nicht, es gab seitdem ein, zwei Frauen, die sich für mich interessiert haben.“

Fockes Mund verzog sich zu einem Schmunzeln. Sofort nahm er einen Schluck Kaffee, um es zu verbergen. Dieser Kerl hatte sich kein bisschen geändert. Das gleiche Gerede wie früher, die gleiche Art sich zu bewegen oder sich über den Bart zu streichen, die gleiche Kleidung, leger, aber nicht nachlässig. Ein paar Jahre älter war er geworden seit ihrer letzten Begegnung, kein Wunder, das dunkelblonde Haar, das Focke von ihm geerbt hatte, begann an Bart und Schläfen grau zu werden, der Bauch runder, aber nur ein wenig. In den besten Jahren, würde man vermutlich sagen. Lediglich die Ringe unter den Augen schienen ausgeprägter als sie sein sollten. Zu viel Alkohol oder er hatte das Rauchen wieder angefangen. Obwohl Focke bislang kein Nikotin an ihm gerochen hatte.

Tjark wechselte den Gesichtsausdruck. „Nimm’s mir nicht übel, Focke, aber ... Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir haben.“

„Warum, bist du etwa krank?“

„Was? Nein. Nein, das nicht.“ Er erhob sich, ging zum Fenster und schaute hinaus. Hinter der Scheibe war die Abenddämmerung in vollem Gange. Sie ließ die Liege und die Steinsäule dahinter allmählich mit der Umgebung verschmelzen. Zu dieser Jahreszeit war nicht mehr viel dran an den Tagen.

„Was ist dann los?“, fragte Focke.

„Eine längere Geschichte. Und nicht so einfach zu erklären, nun, du kennst mich ja, ich ...“ Tjark hielt inne, vielleicht, weil ihm auffiel, dass der letzte Satz eher unpassend gewesen war.

Focke ließ es ihm durchgehen. Vielmehr wollte er einfach wissen, was los war. „Bist du in Schwierigkeiten?“

„Nicht direkt. Oder wie man’s nimmt. Es ist ...“ Das Telefon übertönte das Wort, das er sagte. Tjark warf die Hände in die Luft. „Das ist doch zum Verrückt werden. Hat man hier denn nie seine Ruhe?“ Er ließ es schellen, jedoch ohne weiterzureden.

Wahrscheinlich wusste er, wer anrief und hatte keine Lust auf die Person, vermutete Focke. Dass der Anrufbeantworteter bereits fleißig blinkte, war ihm bei der Begutachtung des Wohnzimmers sofort aufgefallen war. Doch er wollte kein Zeuge der Aufnahme nach dem Piepton werden. „Ist schon ok. Ich muss eh kurz aufs Klo. Wo ...“

Mit einer ausladenden Geste zeigte Tjark auf den kleinen Flur, durch den sie hereingekommen waren. „Rechte Tür.“

Focke stand auf und hörte noch, wie sein Vater das Gespräch annahm und in erstaunlich süßlichem Ton einen weiblichen Vornamen nannte, ehe er die Tür zum WC hinter sich zumachte. Sofort fing es in seinem Kopf an zu rattern. Nicht ans Telefon gehen können, aber zum Kaffee kochen war alle Zeit der Welt. Wie um alles in der Welt passte das zusammen? Wenn sein Vater zu nervös zum Reden war, vielleicht sollten sie zuerst etwas in gemeinsamen Erinnerungen schwelgen? Das würde eine vertraute Atmosphäre zwischen ihnen schaffen. Oder wenigstens den Anschein erwecken.

Daraus wurde nichts. Als Focke fertig war, stand sein Vater bereits an der Haustür und nahm sich eine Jacke von der Garderobe.

„Ich muss noch mal eben weg“, erklärte er, ohne ihn anzusehen.

„Wie ... Jetzt?“

„Ja. Nichts Schlimmes, keine Bange.“

Focke fand, dass das im krassen Gegensatz zu seinem Gesichtsausdruck stand. „Und wohin willst du?“

„In die alte Hütte.“

„Echt? Du hast die Hütte noch?“

Tjark zog sich die Jacke über und erzählte, dass er vorhin kurz da gewesen war, um nach dem Rechten zu sehen. „Und nun weiß ich nicht mehr, ob ich ... ob ich den Stromgenerator ausgestellt habe. Total blöd, schon klar.“

Das klang in der Tat nach ihm, dachte Focke. Eines der wenigen Dinge seiner Kindheit, die sich unauslöschlich in sein Hirn gebrannt hatten. Schludrigkeit. Die er anderen jedoch nicht durchgehen ließ. „Dann komme ich einfach mit.“

„Nein, es ist besser ...“

„Aber ich will die Hütte sehen“, unterbrach Focke ihn. „Keine Widerrede! Ich hole nur mein Smartphone.“ Er lief zum Couchtisch, steckte es ein und konnte auf dem Rückweg nicht anders, als schnell den schiefen Bilderrahmen auszurichten. Wäre ihm bewusst gewesen, dass sein Leben kurz davor war, komplett aus den Fugen zu geraten, hätte er mit Sicherheit etwas anderes getan.

3. Kapitel

Inzwischen hatte sich die Dunkelheit über Manrode weiter ausgebreitet. Focke betrachtete die beleuchteten Häuser links und rechts der Trendelburger Straße und versuchte, sie mit früher zu vergleichen, während sein Vater mit ihm hinauf ins Oberdorf fuhr. Denselben Weg, den Focke hergekommen war, nur eben andersherum. Und mit dem Unterschied, dass eine Mercedes E-Klasse bei überhöhter Geschwindigkeit ruhiger lief als sein sieben Jahre alter VW Golf, auch wenn es ebenfalls kein neues Modell war.

Es freute ihn, die Hütte so unverhofft wiederzusehen, denn er hatte als Kind viel Zeit dort verbracht. Die Strecke von seinem Elternhaus in der Straße gegenüber des Malerbetriebs war zu Fuß oder mit dem Fahrrad gut zu schaffen gewesen, der Rückweg weniger, wegen der Steigung. Zwar war sie nur spartanisch ausgestattet gewesen, hatte weder Strom noch Heizung, und Wasser gab es nur, wenn man die alte Schwengelpumpe betätigte, dafür war sie groß genug, um darin die tollsten Abenteuer zu erleben, und urgemütlich, wenn ihm die Erinnerung keinen Streich spielte. Dass es mittlerweile einen Stromgenerator gab, den man vergessen konnte abzustellen, bedeutete, dass sein Vater sie aufgemotzt hatte und wahrscheinlich noch immer regelmäßig nutzte. Für Grillpartys beispielsweise. Focke grinste. Bei ihm selber wären es eher spritzige Dates. Er räusperte sich. Hinter dem Heizungs- und Sanitärbetrieb Dierkes stand eine riesige neue Halle, wie ihm jetzt auffiel. „Hast du eigentlich noch Fische?“

Tjark nahm den Blick nicht von der Straße, die hinter dem Ortsschild steil und kurvig wurde. Das Fahrtempo war vermutlich nur ein Grund dafür. „Was? Nein. Zu viel Arbeit. Ich bin froh, wenn halbwegs Wasser im Teich ist.“

„Du könntest ihn verpachten.“

„Und immer Fremde auf dem Grundstück haben?“

Das leuchtete Focke ein. Also wollte sein Vater die Hütte lieber für sich haben. Er spielte mit dem Gedanken, die Geschichte von damals aufzuwärmen, als sie seinen achten oder neunten Geburtstag gefeiert hatten und nebenan auf dem Feld ein Hubschrauber gelandet war, der alle Girlanden und Ballons weggeweht hatte, doch seine Neugierde gewann die Oberhand. „Du hast mir noch nicht gesagt, warum ich hier bin.“

„Stimmt. Mir geht auch im Moment so einiges durch den Kopf.“

„Ach ja? Ist nicht zu übersehen.“ Focke überlegte, einfach wild drauflos zu raten, dann überkam ihn die Erkenntnis schlagartig. Zumindest, was den Grund für ihre Fahrt zur Hütte betraf. Oh Mann, er war ja so blöd! Der Anruf vorhin, das Gesäusel ... Sicher hatte sein Vater eine ganz ähnliche Verwendung für einen einsamen Rückzugsort wie er. „Du, wenn es im Moment ungünstig ist, dann lass mich hier aussteigen und ich laufe zurück. Wir können auch später weiterreden.“

„Nein, Blödsinn. Ich habe dir doch gesagt, warum ich dorthin will.“

„Wirklich? Ich dachte nur, dass diese Sylvia vielleicht ...“

„Sylvia?“

„Vorhin am Telefon?“

„Was? So ein Quatsch!“ Tjark lachte, ein kurzes, ungläubiges Auflachen.

Mehr kam nicht von ihm, schon gar keine Antwort auf seine ursprüngliche Frage. Nur wieder dieser sture Blick geradeaus. Ein Auto fuhr ihnen entgegen, das Scheinwerferlicht huschte über ihre Oberkörper.

Focke wusste, dass er bei den Vorschlägen, die er bislang gemacht hatte, einen Bereich ausgeblendet hatte, aus gutem Grund, wie ihm schien. „Also wenn es das Geld nicht ist und du nicht krank bist: Hast du vielleicht Ärger im Job?“

„Was heißt Ärger ...“

„Na Bingo“, sagte Focke und verzog das Gesicht.

Tjark bremste ab und fragte nach, wie das gemeint war.

„Nur so.“

„Nur so? Was ist das für eine komische Antwort?“

Sie bogen rechts in die schmale Straße. Fockes Blick folgte dem Lichtstrahl ihres Wagens, der auf einen Holzzaun fiel, auf Bäume, dann auf die Fahrbahn, die bergab führte und, wie er wusste, tiefer ins Tal hinein und zu einer Handvoll Häuser irgendwann, deren Lage man mit gutem Gewissen als Wildnis beschreiben konnte. Bis zur Hütte war es nun nicht mehr weit. „Nichts. Schon gut. Hätte ich mir ja denken können.“

„Was hättest du dir denken können? Wovon redest du überhaupt?“

„Na, dass es mal wieder um deine Schützlinge geht. Worum sonst.“ Focke sprach das Wort Schützlinge aus wie in Gänsefüßen.

„Und das ist ein Problem?“

„Nein, gar kein Problem. Alles super.“ Es musste ja etwas damit zu tun haben, dachte er. Immer nur dieses Thema. Genau wie früher. Ständig ging es um die anderen Kinder.

Tjark bedachte ihn tatsächlich mit einem kurzen Seitenblick, auch wenn es mangels Licht nicht sonderlich viel zu sehen gab. „Das klingt aber nicht so.“

„Ach, wirklich?“ Focke schnaufte. Er würde sich hüten, das zu vertiefen, was seit Ewigkeiten eine Art wunden Punkt zwischen ihnen markierte. Solange man ihn nicht anpackte, war es gut zu ertragen. Sobald man aber begann, daran zu rühren, kamen die Schmerzen.

„Es ist komplizierter“, sagte Tjark in der Zwischenzeit. „Viel komplizierter. Und ich weiß plötzlich nicht mehr, ob ...“

Focke horchte auf, war bereit zum Konter, auch wenn es wehtun würde.

„... ob ich dich da wirklich mit reinziehen soll.“

„Wie?“ Focke hatte etwas anderes erwartet. „Nun, die Entscheidung kann ich dir nicht abnehmen“, sagte er, um einen normalen Tonfall bemüht. „Ich habe ja schließlich keine Ahnung, worum es geht.“

„Natürlich nicht. Wie auch? Ich weiß es ja selber nicht. Und ich fürchte, dass ich das am Anfang gar nicht richtig eingeschätzt habe, verstehst du?“

„Nein, wie denn?!“

Tjark fuhr schwungvoll rechts heran und hielt halb auf einer Wiese, etliche Meter vom eigentlichen Ziel entfernt.

„Was ist? Warum halten wir schon?“

„Warte hier“, sagte Tjark und schnallte sich ab.

Focke ebenso. „Von wegen. Ich komme mit.“

„Ja, kannst du ja auch. In ein paar Minuten. Lass mich erst ... Lass mich erst den größten Dreck wegräumen, ok? Dann hole ich dich.“

„Wie bitte?“

Ohne ein weiteres Wort stieg Tjark aus und verschwand in der Dunkelheit.

Focke schüttelte ungläubig den Kopf und wollte hinterher, doch genau in dem Augenblick signalisierte ihm sein Smartphone eine neue Nachricht. „Ich will erst den größten Dreck wegmachen“, frotzelte er und griff wie von selbst in seine Hosentasche. Sein Vater hatte doch früher keinen Ordnungsfimmel gehabt. Und dass sich solch grundlegende Dinge änderten, war relativ unwahrscheinlich. Das Parklicht seines Mercedes hatte er brennen lassen, was hoffentlich bedeutete, dass es nicht allzu lange dauern würde. Der Holzzaun, den es anstrahlte, war an dieser Stelle halb verfallen. Vermutlich führte er hinab bis zum tiefsten Punkt, wo sich die Straße gabelte.

Focke entsperrte sein Smartphone und checkte den Nachrichteneingang. Sein abgesagtes Date hatte sich gemeldet. Kein Problem, echt. Morgen ein neuer Versuch? Gleiche Zeit, gleicher Ort?

Grinsend schrieb er zurück: Ja klar, auf jeden Fall! Bis morgen!! Schon mal süße Träume! Der Internetempfang war lausig und reichte gerade so, um den Text versenden zu können.

Focke presste seinen Kopf gegen die Stütze und starrte hinaus ins Nichts.

Wenn es bei dem Hüttenbesuch nicht um diese Sylvia ging, worum dann? Fakt war, dass er über die aktuelle Lebenssituation seines Vaters so gut wie nichts wusste. Und noch hatten sie keine Gelegenheit gefunden, das nachzuholen. Focke stellte das Autoradio an, Light my fire lief, ein uralter Rocksong, bei dem Nicki regelmäßig ausflippte und das wahrscheinlich schon seit der Veröffentlichung.

Dass sein Vater im selben Beruf arbeitete wie früher, war wenig überraschend. Er hatte seine Zeit halt immer schon lieber mit den anderen Kindern verbracht als mit ihm, dachte Focke und spürte ein Drücken im Bauch, ebenfalls genau wie früher. Ursache für die angesprochenen Schwierigkeiten im Job konnte sein, dass eines der Kinder Ärger machte. Möglich, allerdings eher unwahrscheinlich, denn für solche Fälle gab es hochbezahlte Experten. Wie sollte da ausgerechnet er eine Hilfe sein?

Das Lied im Radio wechselte zu einer unbekannten, aber coolen Popnummer, und Focke stellte lauter. Da sein Smartphone keine weiteren Nachrichten anzeigte, öffnete er die Autotür so weit, bis das Licht ansprang und es hell genug war für ein Selfie. Er machte gleich mehrere und wollte das beste an sein morgiges Date verschicken, doch der Empfang hatte ihn nun komplett verlassen. Na super, er hatte es ja befürchtet! Verfallene Häuser und Fäkalien! Wenn er eines hasste, dann kein Internet zu haben. Er drückte die Tür ganz auf und stieg aus, lief über die matschige Wiese zur Straße und weiter den Berg hinauf, Richtung Dorf. Weiter, und weiter ...

Mit dem Gefühl, dass er die Bilder genauso gut hätte persönlich vorbeibringen können, ließ er sich zurück in seinen Sitz fallen. Und erschrak, weil das Scheinwerferlicht flackerte. Als wäre jemand durch den Lichtkegel gelaufen. Sofort zog Focke die Tür zu. Und rollte mit den Augen, weil er neuerdings offenbar Angst vor Füchsen hatte. Er stellte das Radio ab und kontrollierte die Uhrzeit. Kurz nach Sieben. Um einen Generator auszuschalten, sollten zwei Liedlängen und der Versand von ein paar harmlosen Bildchen eigentlich ausreichen, groben Dreck hin oder her. Ob er nachschauen gehen sollte? Unter normalen Umständen hätte er nicht erst abgewogen, sondern wäre einfach losgelaufen. Aber sein Vater hatte Wert darauf gelegt, dass er hier wartete. Aus irgendeinem, ihm unbekannten Grund hatte Focke nicht mitkommen dürfen, sondern sollte außer Sichtweite bleiben. Und aus eigener Erfahrung wusste er, dass sein Vater furchtbar böse werden konnte, wenn man nicht tat, was er einem sagte.

Andererseits waren die Zeiten für Vorschriften lange vorbei. Focke nahm sein Smartphone, suchte die Nummer – und fand es albern. Sie befanden sich nur wenige Schritte voneinander entfernt, da konnte er genauso gut hingehen. Er stieg aus und wunderte sich sogleich über den Geruch, der ihm eben nicht aufgefallen war: Rauch.

Bauern, die etwas entsorgten, war sein erster Gedanke. Oder Jugendliche, die um ein Lagerfeuer herum hockten und Bier tranken. Focke lief die Straße hinab und brauchte im Dunkeln nicht lange nach der Stelle zu suchen. Links hinter der Böschung musste es sein. Er ging weiter und filmte dabei das helle Strahlen mit seinem Smartphone, bis schließlich das Feuer selber auf dem Bildschirm zu sehen war. Wow, dachte er, ganz angetan von der Schönheit der Flammen. Genau das Richtige für seinen Blog.

Focke war so fasziniert, dass ihm erst auf den letzten Metern bewusst wurde, was er da eigentlich filmte. Die Erkenntnis traf ihn so heftig, dass es weh tat. Er rannte los, tausend Flüche ausstoßend, so schwer von Begriff gewesen zu sein. Er lief und lief und wäre doch am liebsten auf der Stelle stehengeblieben, denn ihm war klar, je schneller er das Ziel erreichte, desto eher die Gewissheit, was los war.

Die Hütte brannte lichterloh. Das Feuer spiegelte sich auf der Oberfläche des Teichs wider, dabei brauchte es sich gar nicht größer machen, um bedrohlich zu wirken. Je näher er kam, desto lauter wurde das Knistern der Flammen, die sich durch das trockene Holz fraßen. Focke schlug das Gatter auf, das er als Kind weiß Gott wie oft durchquert hatte, rannte über einen Pfad aus losen Steinplatten. Spürte die Wärme in seinem Gesicht, aber noch gelang es ihm nicht, seinen Vater ausfindig zu machen. Vielleicht hielt er sich irgendwo auf der Wiese auf. Vielleicht lag er dort, womöglich ohne Bewusstsein, dafür in Sicherheit. An etwas anderes wollte Focke nicht denken. Er lief weiter, um zu prüfen, ob die Tür der Hütte geschlossen war oder offen stand. Es war nur schlecht zu erkennen, da diese Seite im Dunkeln lag. Was bedeutete, dass sie bislang relativ verschont geblieben war. Und eine gute Chance bestand, dass sein Vater entkommen war.

„Tjark?“, rief Focke so laut es nur ging. Die Hitze wurde stärker, viel mehr würde er nicht aushalten. „Tjark? Bist du da drinnen?“ Der Rauch biss in seinen Augen. Er hustete. Zu allem Übel sah die Tür verschlossen aus. Wenn er das Feuer nur löschen könnte! Wasser war durchaus vorhanden, aber wie im Himmel sollte er das ohne Schlauch hinbekommen, etwa mit bloßen Händen? Er fing an, nach einem Gefäß zu suchen und fand lediglich einen löchrigen Eimer. Scheiß egal, dachte Focke, als es plötzlich derart hell wurde, fast so, als hätte jemand einen Suchstrahler angeschaltet. Hatte aber niemand, stattdessen leuchtete die Hütte auf, anscheinend hatte sich das Feuer von Innen hindurchgefressen und begann nun, die unversehrten Teile zu verschlingen.

„Tjaaaaark“, schrie er, seine Stimme überschlug sich, und dann: „Papaaaa!“

Wie lange hatte Focke darauf gewartet, dieses Wort wieder laut aussprechen zu können. Seit er damals als Elfjähriger zu seiner Mutter ins Auto gestiegen war, sich zum Fenster gedreht und vergeblich darauf gewartet hatte, dass sein Vater zurückwinkte. Die Szene, an die er selbst auf dem Sterbebett in allen trostlosen Details zurückdenken würde. Und das sollte es gewesen sein? Focke hustete, der Hustenreiz wollte gar nicht mehr aufhören. Selbst das Luftholen brannte. Er drehte sich weg und lief in die entgegengesetzte Richtung, nach Sauerstoff japsend. Es müsste ihm doch irgendwie gelingen, in die Hütte zu kommen. Sich zu vergewissern, ob sein Vater drin war oder nicht. Oder doch erst die Feuerwehr anrufen? Aber bis die kamen, wäre es definitiv zu spät.

Vorsorglich nahm Focke ein paar Atemzüge mehr und stürzte los. Die Hitze schlug erbarmungslos zu und war zwei Schritte später schier unerträglich, dabei hatte er nicht annähernd die Tür erreicht. Seine Augen schmerzten höllisch, aus Reflex kniff er sie zusammen und sah nichts mehr, doch selbst geöffnet ließ sich kaum etwas erkennen. Und mit jeder weiteren Bewegung wurde der Raum um ihn herum dunkler, noch dunkler.

Schwarz.

4. Kapitel

Focke dröhnte der Kopf. Hinter ihm lag ein schrecklicher Albtraum, der sich in wenigen Augenblicken hoffentlich in Luft aufgelöst hatte. Er war zusammen mit seinem Vater unterwegs gewesen, irgendein Ausflug. Sie hatten geredet, belangloses Zeug, doch plötzlich war er allein, an diesem seltsamen Ort, eine Art Käfig, aus dem es keinen Ausweg gab. Und überall Dunkelheit. Wo um alles in der Welt steckte sein Vater? Focke rief und rief nach ihm, Papa, Papa, doch keine Antwort. Zum Glück konnte er sich befreien und musste als Nächstes mit einem wilden Tier kämpfen, das wie aus dem Nichts aufgetaucht und ihn gepackt hatte. Focke gelang es, das Tier in die Flucht zu schlagen, und kroch auf allen Vieren zurück nach Manrode, wo sein Vater hinter dem Terrassenfenster seines Bungalows stand und ihm fröhlich zuwinkte. Doch dann ging von einer Sekunde auf die andere das Haus in Flammen auf und brannte lichterloh. Überall liefen Leute herum. Ein Feuerwehrmann schrie, er solle beiseite gehen ...

Focke schlug die Bettdecke zurück und fühlte den Schweiß überall an seinem Körper. Der Blick durch seine halb geöffneten Augen fiel auf einen Kleiderschrank und wanderte weiter zu einer Wand, einer Tür, einem Nachttisch mit einer kleinen Lampe darauf. Das alles war so völlig anders als sonst. Ein Krankenhauszimmer schloss er aus, dazu war die Einrichtung zu persönlich. Neben der Lampe stand ein Radiowecker, der die Uhrzeit zeigte, gleich neun Uhr morgens. Und daneben ein Bilderrahmen mit dem Foto einer Person, die ihm ziemlich bekannt vorkam: ein etwa neunjähriger Junge mit hellblondem Haar auf einem Pony sitzend und stolz wie Oskar. Nur Minuten nach dieser Aufnahme war das Pony losgerannt und der Junge heruntergefallen. Focke fuhr sich über den Unterarm und konnte den Schmerz von damals fühlen. So realistisch. Oder warum sonst tat ihm alles weh? Ihm schwante es. Er lag im Schlafzimmer seines Vaters. Und wenn er im Schlafzimmer seines Vaters lag, dann war sein Traum vermutlich gar kein Traum gewesen.

Er setzte sich auf die Bettkante und stellte fest, dass er bis auf Jacke und Schuhe vollständig bekleidet war. Nur, wie er hierhergekommen war, wollte ihm nicht einfallen. So sehr er sich anstrengte, er kam nicht drauf. Einen derartigen Filmriss kannte er sonst nur von einer durchzechten Partynacht in der Hechelei in Bielefeld. Und gestern hatte er definitiv keinen einzigen Schluck getrunken.

Da, das unter dem Hocker sah nach seinen weißen Turnschuhen aus, das auf der Sitzfläche nach seiner neuen Cordjacke, den coolen Schriftzug auf dem Rücken würde er selbst im Dunkeln erkennen. Focke ging hin, ein bisschen wie auf rohen Eiern, und begann, sämtliche Taschen zu durchwühlen. Als Erstes entdeckte er den Schlüsselbund seines Vaters, mit dem er ins Haus gekommen sein musste, und dann, zwar nicht am üblichen Platz, aber egal, sein Smartphone. Halleluja! Er gab den Entsperrcode ein, vertippte sich die ersten beiden Male, wählte dann eine Handynummer und horchte, was passierte. Ob sein Vater dranging oder nicht. Ob das alles nur ein riesengroßes Missverständnis war. Noch nie hatte er so ungeduldig auf das Zustandekommen einer Funkverbindung gewartet. Um gleich nach den ersten Worten laut zu schnaufen und entnervt wieder aufzulegen. Der gewünschte Gesprächspartner ist vorrübergehend und so weiter. Was zum Teufel war gestern Abend geschehen?

Ein Poltern im Nebenzimmer ließ ihn zusammenfahren. „Oh Mann, Tjark“, seufzte er und spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel, was mindestens doppelt so laut gewesen wäre. Vor der Schlafzimmertür blieb er stehen, weil ihm komisch vorkam, dass eben keine Verbindung zustande gekommen war. Gut, sein Vater konnte das Handy einfach ausgeschaltet haben. Oder er war gar nicht derjenige, der das Geräusch verursacht hatte.

Erleichtert, nicht gleich drauflosgestürzt zu sein, und gleichzeitig hellwach, öffnete er die Tür einen Spalt, dann ganz. Ein kleiner Flur kam zum Vorschein. Links lag vermutlich das Badezimmer, rechts war hinter einem breiten Durchgang ein Stück Bücherregal zu erkennen. Das Wohnzimmer. In dem sich zweifellos jemand aufhielt, jemand, der keinerlei Anstalten machte, leise zu sein. Im Gegensatz zu Focke, der auf Zehenspitzen vorwärts schlich, immer an der Wand entlang. Eigentlich spielte er nicht gern den Helden. Nach dem gestrigen Abend, was auch immer an der Hütte vorgefallen war, hatte er allerdings das Gefühl, dass es schlimmer nicht mehr werden konnte.

Am Durchgang blieb er stehen und wagte es kaum, Luft zu holen. Vorsichtig streckte er den Kopf ins Wohnzimmer und entdeckte am anderen Ende des Bücherregals eine Frau, die ihm den Rücken zudrehte. Wie selbstverständlich räumte sie in den Fächern herum, begutachtete einen futuristischen Chrom-Kerzenständer, verschiedene Kristallvasen, warf Bücher auf den Fußboden oder stellte sie wieder zurück. Die Putzfrau, schoss es ihm durch den Kopf, doch dazu war sie zu gut gekleidet. Und die würde wohl kaum die Dinge, die auf dem Boden gelandet waren, aufheben und in ihre Tasche stecken, eine lederne Handtasche mit goldener Schnalle in Form eines Schwans.

Focke fand, dass es ein kalkulierbares Risiko war, sich bemerkbar zu machen, doch die Frau lief ins Zimmer nebenan. Er hinterher. Dort, in einer Art modernem Esszimmer mit Büroecke, untersuchte sie den Schreibtisch, riss alle Fächer auf, nickte zufrieden und steckte eine kleine Schachtel ein.

Als sie ihr Gesicht in seine Richtung wandte, machte er einen Satz zurück. Ein alberner Reflex, entschied er und trat vor. „Hallo? Was machen Sie da?“, rief er.

Die Frau zuckte zusammen, als hätte sie einen Geist gesehen, und legte, als sie wohl festgestellt hatte, dass es keiner war, sofort eine Hand auf ihre Brust.

„Wer sind Sie überhaupt?“, legte Focke nach.

„Und wer sind Sie?“, kam die Gegenfrage. Ein osteuropäischer Akzent war zu hören.

Die beiden taxierten sich einen Moment lang. Dass sie die Putzfrau sein sollte, schloss Focke inzwischen komplett aus. Sie war in etwa so alt wie sein Vater und trug eine wuchtige Goldkette um den Hals. Das blonde Haar wurde am Ansatz wieder dunkel und war hochgesteckt, das Gesicht geschminkt, vor allem die Augen, die sie zusammenkniff, als wäre ihr etwas eingefallen. „Warte. Du musst Tjarks Sohn sein“, sagte sie und streckte ihm eine Hand mit etlichen Armreifen entgegen.

Focke ergriff sie zögerlich und nannte seinen Namen. „Und Sie sind ...?“

„Freut mich. Ich bin Jana. Die Ex von deinem Vater. Wo steckt er überhaupt? Schläft noch, wie?“

Er spürte, wie sein Hals trocken wurde. „Nein.“

„Nicht? Ist egal. Ich will mir nur ein paar Sachen holen, die mir gehören.“

„Wie sind Sie hier reingekommen?“

„Ich habe die Terrassentür aufgebrochen.“

Focke starrte sie mit offenem Mund an.

„Das war ein Scherz“, erklärte Jana kopfschüttelnd. „Ich habe einen Schlüssel, ok? Tjark hat mir gesagt, ich soll vorbeikommen und die Sachen holen, die im Laufe der Zeit hier gelandet sind. Hast du Geld?“

„Warum?“

Sie stellte sich ganz nah vor ihn, auf ihren hochhackigen Schuhen, und nahm sein Kinn in ihre Hand. „Du bist wie alt? Zweiundzwanzig?“

„Noch dreiundzwanzig“, nuschelte er.

„So jung.“ Jana stieß einen Lacher aus und ließ ihn los. „Weil Tjark mir noch was schuldet, weswegen denn sonst? Nun schau mich nicht so an. Du solltest duschen gehen. Nur für den Fall, dass du es nicht gemerkt hast: Du stinkst.“ Sie wandte sich ab und setzte die Untersuchung des Schreibtisches fort.

Focke schnüffelte an seinem Shirt. Sie hatte recht, es stank erbärmlich, genau wie der Rest an ihm. Dennoch zog er einen Stuhl vom Esstisch zurück und setzte sich hin. „Mein Vater schläft nicht mehr. Ich weiß nicht, wo er ist.“

„Was sagst du?“

„Gestern Abend hat es einen Unfall gegeben. In der alten Hütte. Ein Feuer.“

Die Frau stoppte in ihrer Bewegung und sah ihn entsetzt an. „Ein Feuer? Ist er verletzt?“

„Ich weiß es doch nicht“, rief Focke laut und spürte, wie ihm heiß wurde, als breitete sich das Feuer erneut aus. „Die ganze Hütte hat plötzlich in Flammen gestanden. Der Stromgenerator, keine Ahnung, vielleicht ein Kurzschluss oder so. Ich wollte rein, aber es ging nicht.“

„Was heißt das, du weißt es nicht?“ wiederholte Jana, als hätte er das Letztere gar nicht gesagt. „War dein Vater in der Hütte oder nicht?“

„Es hieß, dass jemand drin gewesen wäre.“

„Und wer?“

„Konnten sie nicht sagen.“

„Wer nicht sagen?“

„Die Feuerwehr.“ Plötzlich fiel ihm alles wieder ein, ein wenig trübe zwar, dafür in einer Version, die sich deutlich von der kurz nach dem Aufwachen unterschied. Dass ihm bei dem Versuch, in die Hütte zu gelangen, schummrig geworden war. Dass sich wie aus dem Nichts ein riesen Tumult gebildet hatte, mit Blaulicht und Krankenwagen und er mittendrin, in eine Decke gehüllt und mit Sauerstoffmaske im Gesicht. Das Gespräch mit einem Polizeibeamten in Uniform. Ein Feuerwehrmann, der dazwischengerufen hatte, es befände sich jemand in der Hütte. Und schließlich sogar, wie er im Polizeiwagen hierher zurückgebracht worden war. Klar, dass er das am Morgen lieber verdrängt hatte.

Jana setzte sich neben ihn, kreidebleich geworden, und holte eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Handtasche. „Du musst du Polizei anrufen“, sagte sie und zündete sich wie selbstverständlich eine an. „Du musst fragen, ob sie schon was herausgefunden haben.“

„Die haben gesagt, sie melden sich, sobald sie was wissen.“

„Machst du immer alles, was man dir sagt?“ Jana sprang auf und holte das Telefon aus dem Wohnzimmer. Sie schien sich gut auszukennen. „Hallo?“, rief sie, nachdem sie getippt und gewartet hatte. „Hier spricht Jana Pecková. Ich bin eine Angehörige von Tjark Löhr. Es hat gestern Abend ein Feuer in seiner Hütte in Manrode gegeben. Ich hätte gerne Informationen dazu. Ja, ich warte.“

Focke bezweifelte, dass das zum Erfolg führte. Die Polizei war bei Nachfragen in der Regel äußerst zugeknöpft, besonders bei Fremden und am Telefon, wie er aus eigener Erfahrung wusste. Aber wenn es sie beruhigte, sollte sie, er konnte es nachvollziehen. Er selber wusste so gar nicht, wie er sich fühlen sollte. Schockiert? Traurig? Es war doch alles total unwirklich!

„Ja, ich höre.“ Jana zog an ihrer Zigarette und deutete mit der Spitze auf den Esszimmerschrank hinter sich.

Focke sprang auf und fand in einem der Fächer einen Aschenbecher, den er ihr reichte. Am anderen Ende der Leitung sprach eine Männerstimme, doch leider zu leise, um etwas zu verstehen.

Auch Jana war keine Hilfe. „Aha“, machte sie nur. Und „Ja, verstehe.“

„Was sagen sie?“, wollte Focke wissen.

Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte zeitgleich den Kopf. „Ja, ist gut. Danke.“

„Und?“

Jana legte auf und nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. „Sie können mir noch nichts sagen. Wir sollen warten. Typisch deutsche Beamte!“

Focke wollte ihr erklären, dass das so üblich war, doch sie redete schon weiter: „Also ich brauche jetzt einen Sliwowitz. Was ist mit dir, willst du auch einen?“

Er nickte unschlüssig.

„Stell dich nicht an, das ist Medizin. Ich hole uns einen. Und danach gehst du duschen, klar?“

5. Kapitel

Heißes Wasser aus Massagedüsen und reichlich Duschgel taten gut und spülten sogar das Brummen seines Schädels fort. Vielleicht hatten auch die zwei Gläser Sliwowitz mit Jana alles schön in Watte gepackt, dachte Focke beim trocken rubbeln. Er kämmte und föhnte sich, fand aber kein Haarspray, um die Frisur zu fixieren, was unter normalen Umständen einer mittleren Katastrophe gleichgekommen wäre. Doch an diesem Tag ließ ihn der Blick in den Spiegel nahezu unberührt. Dann sollte man den Wirbel halt sehen! Dass zuvor bereits die Rasur ausgefallen war, würde dagegen niemand bemerken bei seinem spärlichen Bartwuchs. Sogar eine frische Zahnbürste hatte er gefunden, im Fach unter dem linken Waschbecken.

Das eigentliche Drama war das Anziehen. Die Klamotten seines Vaters rochen zwar annehmbar, waren ihm dafür mindestens drei bis vier Nummern zu groß. Focke war kurz davor, zurück nach Gütersloh zu fahren, um sich seine eigenen zu holen, da entdeckte er in einem der Schlafzimmerschränke eine Kiste mit Pullovern und Hosen, die zwar deutlich aus der Mode gekommen waren, dafür passten sie einigermaßen.

Er schaute im Esszimmer vorbei, um sich Jana zu präsentieren, doch sie war bereits gegangen. Es kam ihm nicht ungelegen. Beim ersten Sliwowitz hatte die Ex seines Vaters noch die Fassung bewahrt. Beim zweiten Glas war die Stimmung jedoch umgeschlagen und sie hatte geschluchzt, dass Tjark bestimmt tot wäre, sie hätte es deutlich im Gefühl. Das dritte Glas hatte Focke auch deswegen abgelehnt. Er wollte nicht automatisch vom Schlimmsten ausgehen, was den vorherigen Abend betraf, und ertrug es nur schwer, wenn das jemand in seiner Nähe tat. Genauso wenig wollte er darüber spekulieren, erst recht nicht mit wildfremden Personen.

„Ich habe die Terrassentür aufgebrochen“, murmelte Focke, ging hin und erschrak, da das Schiebefenster, vor dem keine Palme stand, tatsächlich nur zugeschoben war, nicht verriegelt. Jana hätte wirklich auf diesem Wege ins Haus gelangt sein und nur geschickt geblufft haben können. Er schob das Fenster zur Seite und breitete seine muffigen Sachen auf der Terrassenliege aus. Anschließend schloss er das Fenster und versuchte, es ordnungsgemäß zu verriegeln. Ohne Erfolg. Der Mechanismus war offenbar kaputt, deswegen wohl auch der lange Holzbalken. An die richtige Stelle gelegt, sollte er verhindern, dass man das Fenster von außen aufschieben konnte. Eine hundertprozentige Sicherheit war das nicht, vermutete Focke und legte den Balken an seinen ihm zugedachten Platz.

Dann suchte er sich eine halbwegs gescheite Jacke von der Garderobe und verließ das Haus. Ohne links und rechts zu schauen, lief er zu seinem Golf, trotz des fortgeschrittenen Kilometerstands die bislang größte Investition seines Lebens, und stieg ein. Beim Blick auf die Uhr fiel ihm schlagartig ein, was er vergessen hatte. Er schrieb Nicki eine Nachricht, dass er heute unmöglich zu Arbeit kommen konnte und bat darum, das an den Chef weiterzugeben.

Die Antwort kam prompt. Ja, mache ich. Sag, war es so anstrengend gestern? 

Focke verdrehte die Augen und schrieb zurück: Wenn du es genau wissen willst: Habe meinen Vater in Manrode besucht. Wie es aussieht, ist er verschwunden. Ich warte auf Infos der Polizei. Und nein, der Artikel ist noch nicht fertig, danke!!!

Er schnaufte. Drei Sekunden später fing sein Smartphone an zu klingeln. Nicki stand im Display. War klar, dachte Focke und drückte den Anruf auf lautlos. Erst blöde Sprüche reißen und dann Entschuldigungen nachschieben. Darauf konnte er gerne verzichten.

Ob sein Vater wirklich nur verschwunden war, wie er es formuliert hatte? Aber was sollte es sonst sein? Hoffentlich meldete sich die Polizei bald, sonst würde er womöglich dasselbe wie Jana machen und einfach wild drauflos telefonieren. Einer Eingebung folgend, wählte er die Mobilnummer seines Vaters und zuckte vor Schreck zusammen. Nicht wegen des Spruchs, der war derselbe wie vorhin, nein, es lag an der alten Frau. Bereits gestern Nachmittag bei seiner Ankunft war sie ihm aufgefallen, hinter dem Zaun des Nachbargrundstücks, eine grantig wirkende Frau im Arbeitskittel, wie aus der Zeit gefallen. Jetzt stand sie direkt vor seinem Auto, steckte sich etwas in den Mund und glotzte ihn dabei durch die Scheibe an. Eben war die Straße doch noch menschenleer gewesen. Focke warf sein Smartphone auf den Beifahrersitz und deutete ein Kopfnicken an, woraufhin sie zurückgrüßte. Besser er legte den Gang ein und fuhr sofort los.

Die Sonne blitzte durch die Bäume, als er Manrode verließ und beschleunigte. Das Laub hatte längst angefangen, sich zu verfärben. Ein goldener Oktobertag, der so gar nicht zu dem passen wollte, was passiert war. Hinter der Kurve öffnete sich das Land und schlug sanfte Wellen bis zum Horizont. Der Desenberg erhob sich stolz in der Warburger Börde, im Norden die winzige weiße Kugel der Radarstation in Auenhausen. Die zahlreichen Windräder standen nahezu still. Und rechts führte eine schmale Straße ins Tal hinab. Focke wünschte, er hätte keine Ahnung, wohin man kam, wenn man ihr folgte. Er wollte die Hütte, oder das, was von ihr übrig geblieben war, nicht sehen. Irgendwann mal, ja, aber nicht jetzt.

Sein Ziel war eh ein anderes. Er fuhr die K30 weiter geradeaus bis zur Kreuzung, bog rechts ab auf die Landstraße Richtung Haarbrück und folgte ihrem Verlauf knapp einen Kilometer, bis links ein winziges Schild auftauchte, mit den Worten, die ihn interessierten. Von dort führte ein schlecht zu fahrender Feldweg tiefer in die Landschaft hinein und von der Zivilisation weg. Die Bäume links und rechts der Fahrbahn, Buchen, Eichen und ein paar Tannen, wuchsen dichter und dichter, bis man es Wald nannte. Unglaublich, dass regelm