Der Frauensammler - Mark Sennen - E-Book

Der Frauensammler E-Book

Mark Sennen

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Beschreibung

Er sieht dich. Er berührt dich. Aber manchmal ist das nicht genug.

Polizistin Charlotte Savage ermittelt in einer Verbrechensserie, die ganz Plymouth in Angst und Schrecken versetzt: Mehrere junge Frauen wurden betäubt und missbraucht. Sie überlebten, erinnern sich aber an kaum etwas. Doch dann wird eines der Opfer tot und grausam verstümmelt am Strand aufgefunden. Wenig später taucht eine weitere Tote auf, und die Untersuchungen bringen ein schauerliches Ergebnis: Die junge Frau wurde eingefroren. Schnell geraten Charlotte Savage und ihr Team unter Druck, denn ein weiteres Mädchen wird als vermisst gemeldet. Können sie den Serienkiller aufhalten, bevor er erneut zuschlägt?

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Seitenzahl: 456

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Buch

Harry mag schöne Dinge.

Er sieht sie sich gerne an.

Aber manchmal ist das nicht genug.

Böser Harry.

Polizistin Charlotte Savage und ihr Team ermitteln in einer Serie von Verbrechen, die ganz Plymouth in Angst und Schrecken versetzt: Mehrere junge Frauen wurden brutal überfallen. Man hat sie betäubt, verschleppt und nach dem Angriff benommen zurückgelassen – die Opfer haben meist nur eine sehr vage Erinnerung an das, was ihnen passiert ist. Doch dann wird eine vermisste Studentin ermordet und grausam verstümmelt am Strand gefunden. Die Polizei muss ihre Anstrengungen verstärken, denn die Übergriffe auf Frauen werden immer heftiger. Als eine zweite Frauenleiche gefunden und gleichzeitig ein weiteres Mädchen als vermisst gemeldet wird, gerät Detective Inspector Charlotte Savage unter Druck. Kann sie die junge Frau retten und den Serienkiller aufhalten, bevor es zu spät ist?

Autor

Mark Sennen wurde in Surrey geboren, wuchs aber im ländlichen Shropshire auf, wo er lernte, Traktor zu fahren und Schafe zu entwurmen. Er war bislang ein wenig begeisterter Bauer, ein durchschnittlicher Schlagzeuger, ein zielloser Student und ein ziemlich guter Programmierer. Mark Sennen lebt mit seiner Frau und ihren beiden Kindern in Devon. Der Frauensammler ist sein erster Thriller.

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MARKSENNEN

Der Frauensammler

THRILLER

DEUTSCHVONVONFREDKINZEL

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel

»Touch« bei HarperCollins Publishers Ltd., London.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2013 by Mark Sennen

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Gerhard Seidl

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com

BS · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-18514-5V001

www.blanvalet.de

Für Sue und Michael

Prolog

Als Kind wohnte Harry ganz oben im Haus. Sein kleines Schlafzimmer war unter die Dachbalken gezwängt und hatte komisch geformte Wände, schräge Decken und Eisenhaken in den Balken, an denen man alles Mögliche festbinden konnte. Den größten Teil des Jahres schienen eisige Temperaturen zu herrschen, und wenn es Nacht wurde, ging er vollständig bekleidet ins Bett und versuchte, sich warm zu denken. Dann lag er im Dunkeln und lauschte auf die Geräusche des Wassertanks, der hinter einer Wand versteckt lag. Er wusste, er würde erst schlafen können, wenn er überzeugt war, dass niemand kam, aber solange es dunkel blieb, fürchtete er sich nicht. Die Dunkelheit war tröstlich. Sicher. In der Dunkelheit wurde er unsichtbar. Wenn das Licht anging, dann bekam er Angst.

Harry spähte durch das Fenster in die Düsternis jenseits des gesprungenen Glases. Nichts zu sehen außer Schwärze. Wolken verdeckten Mond und Sterne, und es gab keine Straßenlaternen, keine Autos oder andere Anzeichen von Leben. Nicht hier draußen. Harry lächelte für sich. Er bekam keine Angst. Jetzt nicht mehr. Er wandte sich vom Fenster ab und sah zu dem Mädchen. Es lümmelte in der weißen Unterwäsche, die er für es gekauft hatte, in dem Sessel. Es sagte nicht viel, saß nur reglos und mit weit offenen Augen da. Ihr Schweigen war verständlich, immerhin waren sie seit Wochen zusammen, und es gab nicht mehr viel zu sagen. Trotzdem merkte er am Verhalten des Mädchens, dass es sich nicht wohlfühlte, dass etwas nicht ganz stimmte. Harry schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. So ging das nicht. Er trat zu ihr und berührte ihre Haut. Kalt, eiskalt. Armes Mädchen, kein Wunder, dass das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden war. Er bückte sich und drehte den Heizlüfter ein wenig stärker auf. Das Gebläse protestierte lautstark, aber es schien ein wenig wärmer zu werden. Er drehte den Heizlüfter und richtete den Luftstrom aufwärts, sodass er das Mädchen erreichte. So, jetzt sah es beinahe glücklich aus.

Beinahe glücklich würde auch ihm genügen, dachte er. Er fand nicht, dass es zu viel verlangt war. Vor Jahren hatte er eine Anwältin im Fernsehen reden hören. »Es gibt Menschenrechte«, hatte sie gesagt. Diese Rechte bedeuteten, dass man Dinge bekommen konnte, die man nicht hatte. Dinge wie Glück. Nach dem Gesetz. In Büchern niedergeschrieben. Man konnte vor Gericht ziehen, um sie zu bekommen. Man konnte den Rat oder die Regierung verklagen und Schadenersatz bekommen. Aber inzwischen wusste er, dass es einfachere Wege gab.

Harrys Wege.

Er befeuchtete sich die Lippen, schob die Zunge in eine Wange und ließ die Augen über den Körper des Mädchens wandern; rosa Zehennägel, zierliche Füße, wohlgeformte Waden, nicht zu dünne Oberschenkel, gewölbter Bauch, hübsche Brüste, prächtiges, langes schwarzes Haar … Nett. Sehr nett.

Die Brüste waren das Beste an ihr. Klein und keck, die Warzen ragten aufwärts durch den weißen Stoff des BHs. Richtung Gott. Als dankten sie ihrem Schöpfer dafür, dass er ein solches Kunstwerk vollbracht hatte. Harry betrachtete das Mädchen noch einmal. Insgesamt erreichte sie neun Punkte von zehn. Vielleicht neuneinhalb. Man müsste lange suchen, um mehr Ähnlichkeit zu finden.

Harry kratzte sich das stopplige Kinn. Das bohrende Gefühl, das ihn vor einigen Wochen zuerst überfallen hatte, war wieder da. Es hatte nicht alles so funktioniert wie gedacht. Nicht mit dieser hier. Sie war wie ein Apfel, der, von außen gesehen, reif war, aber innen verfault. Voller Würmer und Maden, oder vielleicht versteckte sich eine Wespe darin. Ja, eine Wespe. Man würde gestochen werden, wenn man in eine Frucht biss, in der eine Wespe steckte. Er brauchte ein Mädchen, das sauber und rein war. Unberührt.

Die Andeutung eines Lächelns huschte kurz über das Gesicht des Mädchens. Machte sie sich über ihn lustig, oder war sie nur ein wenig glücklicher, jetzt, da es wärmer war im Raum? Es spielte im Grunde keine Rolle. Er konnte mit der Kleinen tun, was er wollte, und sie würde nichts dagegen haben, weil sie ihn liebte. Er hatte vermutlich denselben Fehler gemacht, als er ein Kind war. Er hatte seine Eltern tun lassen, was sie wollten, weil er sie liebte, aber sie hatten ihn nicht geliebt. Nie.

Harry ging ans Fenster zurück und sah wieder in die Leere hinaus. Nichts. Für ein, zwei Minuten verdüsterte sich seine Stimmung, wurde so kalt wie die Nacht. Das passierte immer, wenn er an die Vergangenheit dachte, denn es gab eine Unmenge von Erinnerungen, die er lieber vergessen hätte. Sie hörten dennoch nicht auf, ihn zu verfolgen, wie ein übler Geruch, der sich unbemerkt anschleicht. In einem Moment steigt dir ein leichter Hauch in die Nase, und im nächsten würgst du schon und bist kurz davor, dich zu übergeben.

Harry tadelte sich selbst. Es war dumm, in der Vergangenheit zu verharren. Fruchtlos. Er sah das Mädchen wieder an. Sie mochte nicht die Richtige sein, aber sie hatten trotzdem ihren Spaß miteinander gehabt. Er lächelte. Hingerissen konnte er beim nächsten sein. Jetzt würde er sich einfach ein wenig amüsieren. Er leckte sich die Lippen und begann, sich auszuziehen.

1

Bovisand, PlymouthSonntag, 24. Oktober, 9.05 Uhr

Detective Inspector Charlotte Savage erwachte mit einem Gefühl von Verlust und Trauer. Von Taubheit. So, wie sie sich nach dem Traum immer fühlte. Der letzte Albtraum war schon Monate her, aber wenn überhaupt, verschärfte das den Schock noch. Sie drehte sich herum, um auf die Uhr neben dem Bett zu sehen, stöhnte angesichts der Zeit und sah dann das Licht an ihrem Telefon blinken. Seufzend setzte sie sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Sie würde sich die Nachricht gleich anhören, aber erst wollte sie nach den Kindern sehen.

Morgenlicht sickerte ins Haus, das matte Licht eines stürmischen Herbsttags. Savage spähte durch das Gangfenster in den Garten hinaus, wo es in Strömen regnete und der Wind junge Bäume und Büsche peitschte. Hinter dem Garten fiel das Gelände zum Meer hin ab, dort stieg Gischt mit jeder Welle auf, die auf das Ufer traf. Weiter entfernt, auf der andern Seite des Plymouth Sound, lagen einige Tanker und ein Versorgungsschiff der Marine hinter dem Schutz des eine Meile langen Wellenbrechers vor Anker, der die Reede vom offenen Meer trennte. Schwere Brecher schlugen über die Felsen des Schutzwalls, es war, als versuche der Sturm, die Stadt gewaltsam zur Aufgabe zu zwingen.

Charlotte stieg die Treppe zu den Schlafräumen der Kinder hinauf und hielt an der Tür zu Clarissas altem Zimmer inne, das jetzt als Büro genutzt wurde; das vertraute flaue Gefühl im Magen war wieder da. Sie schloss kurz die Augen, und da, am Rande ihres Bewusstseins, hörte sie das leise Klingeling einer Fahrradglocke. Als sie die Augen wieder öffnete, war sie beinahe versucht, ans Fenster zu gehen und hinauszuschauen, weil sie dachte, sie könnte Clarissa vielleicht sehen, wie sie auf der Terrasse im Kreis fuhr. Idiotisch. Das Leben ging weiter, es wurde leichter, aber nie mehr wirklich gut. Sie schüttelte den Kopf und ging nach Samantha und Jamie sehen. Natürlich war alles in Ordnung mit ihnen. Samantha wachte gerade auf, ihr rotes Haar zeichnete ein wirres Gemälde auf das Kissen, ihre Glieder waren verdreht, und das Kissen lag halb auf dem Boden. Bald würde sie ohne Zweifel protestieren, weil sie aufstehen und sich anziehen musste. Die verstreut herumliegenden Teenagermagazine, die Poster an den Wänden, die Glitzerklamotten und die Unordnung auf dem Boden ließen auf das Zimmer einer Fünfzehnjährigen schließen. Charlotte musste sich in Erinnerung rufen, dass Samantha erst dreizehn war und noch für ein paar Jahre ihr kleines Mädchen bleiben würde.

Die Unordnung im angrenzenden Raum gehörte zu Jamie. Er war erst vor sechs Jahren dahergekommen, ein Wimpernschlag, wie ihr schien, unerwartet und ungeplant, und Savage war überrascht, wie sehr sie ihn liebte. Es war keine Liebe, die sie wachsen lassen und nähren musste, wie bei Samantha und Clarissa, sondern eine fürsorgliche Liebe, die sich augenblicklich eingestellt hatte und so stark wie beängstigend war. Savage ging zu dem Bett, in dem Jamie lag, zu einer Kugel zusammengerollt, die Knie bis zum Gesicht gezogen, fast genauso, wie sie ihn am Abend zuvor zurückgelassen hatte. Er erinnerte Savage an einen Igel im Winterschlaf, geschützt vor allem, was außerhalb seiner kleinen Welt vor sich ging.

Es war Sonntag, deshalb würde sie die Kinder noch ein wenig schlafen lassen. Sie würde nach unten gehen und ein paar Bagels auftauen, Tee machen, Orangensaft, Butter und Marmelade auf einem Tablett anrichten und alles in ihr Schlafzimmer tragen, wo sie sich alle zusammenkuscheln und durch das große Fenster, das aufs Meer hinausging, beobachten konnten, wie sich der Sturm zusammenbraute. Wenn Pete zu Hause war, taten sie das auch immer, und Savage hielt es für eine gute Idee, bei den vertrauten Abläufen zu bleiben, wenn er unterwegs war. Sie waren sich einig darin, wie wichtig es war, den Kindern während seiner Patrouillenfahrten ein Gefühl der Sicherheit und Normalität zu vermitteln. Die Grundlagen legen, hatte ihre eigene Mutter es genannt. Wenn die Wurzeln eines Baums stark genug waren, sagte sie, hielt er jedem Sturm stand.

Unten in der Küche blinkte die Basisstation des Telefons. Sie drückte den Knopf, und die irisch gefärbte Stimme von DC Patrick Enders ertönte. Sein optimistischer Tonfall wäre nicht fehl am Platz gewesen, wenn er eine Sendung im Kinderfernsehen angekündigt hätte, doch der düstere Inhalt seiner Nachricht strafte seine Fröhlichkeit Lügen: Drüben am Wembury Beach war eine Frauenleiche entdeckt worden. Während der Detective Constable die Einzelheiten durchgab, überlegte Savage, welche Tragödie hinter alldem stecken mochte, und für wen. Wartete irgendwer irgendwo darauf, dass es an der Tür klopfte und jemand erzählte, was mit dem geliebten Menschen geschehen war? Oder, was noch deprimierender wäre, war die Frau von niemandem geliebt worden und wurde von niemandem vermisst? Enders ließ sich nicht darüber aus, er sagte nur, bei der nächsten Ebbe würde eine Bergungsaktion stattfinden, und Detective Superintendent Hardin habe um Savages Teilnahme gebeten.

Sie würde Stefan anrufen und ihn fragen müssen, ob er für ein paar Stunden vorbeikommen und auf die Kinder aufpassen konnte. Sonntag hatte er eigentlich frei, aber wenn Savage das raue Wasser draußen im Sund sah, glaubte sie nicht, dass er heute auf dem Meer sein würde.

Es war wie ein Geschenk Gottes für die Familie gewesen, dass sie Stefan gefunden hatten. Sie hatten ihn eines Morgens im August unten im Jachthafen entdeckt, wo er mit Leichenbittermiene herumlief und darauf wartete, dass die Fastnet-Race-Jachten ins Ziel kamen. Er hätte auf einem der Boote mitfahren sollen, hatte sich aber in der Woche zuvor den Arm gebrochen. Im Gespräch mit Savage hatte er erzählt, er komme aus Schweden und sei von Beruf Grundschullehrer. Eigentlich lebe er jedoch für das Segeln. Eins führte zum andern, und zwei Wochen später wohnte er als inoffizieller Au-pair der Familie im Anbau der Großmutter. Nun, da Pete als Kommandeur seiner Fregatte auf einer Atlantikreise war und Charlotte häufig lange im Büro zu tun hatte, war seine Hilfe unentbehrlich geworden.

Savage löschte die Nachricht und warf einen Blick zum Kühlschrank, wo die Gezeitentabelle für die aktuelle Woche im Rachen eines purpur-grünen Magnetdinosauriers hing. Ebbe in Devonport war um 11.37 Uhr. Sie lächelte für sich; die Zeit reichte noch für die Bagels.

Der Regen trieb weiter von Südwesten herein, und die tief hängenden Wolken drohten, den Tagesanbruch rückgängig zu machen. Die Fahrt von ihrem Haus nach Wembury, einem Dorf ein paar Meilen südöstlich von Plymouth, war tückisch gewesen. Überall stand Wasser, und zweimal hatte Savage scharf bremsen müssen, um herabgefallenen Ästen auszuweichen, die halb die Straße versperrten. Erleichtert hielt sie auf dem Parkplatz am Strand und stellte den Motor ab. Jetzt wurde die rohe Gewalt des Winds erst offensichtlich, der Wagen erzitterte unter einer Bö von der Küste herauf, und der Regen trommelte noch heftiger an die Fenster. Sie dachte an einen Frühlingstag vor vielen Jahren, als sie und Pete bei der Hochzeit eines Freunds in der Kirche auf der Klippe über dem Strand gewesen waren. Die Aussicht war spektakulär gewesen, das Meer hatte unwirklich blau wie in einem Urlaubsprospekt ausgesehen und in der Morgensonne geglitzert. Zusammen mit der fröhlichen Stimmung des Anlasses hatte man sich dem Himmel nahe gefühlt. Jetzt, Ende Oktober, da bereits das nächste Atlantiktief hereindrückte, war das Nirwana unerreichbar, Erlösung unmöglich. Es sei denn, man war schon tot.

Auf der anderen Seite des Parkplatzes stand eine Gruppe uniformierter Polizisten dicht gedrängt vor dem geschlossenen Café. Sie waren hier, um Leute davon abzuhalten, an den Strand hinunter oder am Küstenwanderweg entlangzugehen. Sie hatten allerdings nichts zu tun. Das blau-weiße Absperrband, das sie gespannt hatten, flatterte im Wind und wurde nur von den Insassen eines ankommenden Wagens wahrgenommen, die Kinder auf dem Rücksitz drückten ihre Handykameras an die Scheiben, in der Hoffnung, irgendwelche schmutzigen oder schockierenden Bilder einzufangen. Ein Rettungswagen stand ebenfalls neben dem Café, seine Lichter blinkten durch die Düsternis, die Mannschaft stand in ihren reflektierenden Jacken an der Hecktür.

Savage stieg aus und holte die wasserdichten Sachen aus dem Kofferraum, sowohl Jacke als auch Hose, denn der Regen kam beinahe waagrecht daher. Die Jacke versuchte abzuheben wie ein Drache, ehe es ihr gelang, den Reißverschluss zu schließen und die Kapuze über den Kopf zu streifen. Ein paar widerspenstige rote Haarsträhnen musste sie noch darunterstopfen, dann konnte sie die Kordeln stramm um ihr Gesicht zuziehen. Sie ging auf die andere Seite des Parkplatzes und bückte sich unter dem Absperrband hindurch, das einer der Bobbys für sie hochhielt.

»Guten Morgen, Ma’am. Ist eine üble Sache da unten.« Aus dem Gesicht des jungen Beamten war alle Farbe gewichen, und Savage wusste nicht, ob es am Wetter lag oder an dem, was er gesehen hatte.

»Danke. Netter Tag, was?« Savage lächelte ihn an. »Wer ist vor Ort?«

»DI Davies.« Er spuckte den Namen aus, als hätte er Dreck auf der Zunge. »Die TAG ist ebenfalls da, die D-Sektion. Mit ihrem verdammten Monsterschlauchboot.«

Die Tactical Aid Group bot jede Art von Unterstützung bei Einsätzen, wobei die D-Sektion für alles zuständig war, was mit dem Meer zu tun hatte. Inspector Nigel Frey leitete das Team, und Savage schätzte ihn sehr. Wie sie und ihr Mann war er ein leidenschaftlicher Segler, und sie hatten so manches Rennen gegeneinander draußen auf dem Sund bestritten und die unvermeidlichen Meinungsverschiedenheiten, die Jachtrennen auf enge Distanz mit sich brachten, immer anschließend bei einem Bier begraben. Schade nur wegen Davies.

Savage nickte und ging den Weg zum Strand hinunter. Im Grund war es gar kein Strand, sondern nur ein Streifen nasser, grauer Sand, umgeben von Felsen und halb bedeckt von Tang und ein paar Plastikflaschen, durchweichten Pommes-Tüten und anderem Müll. Beliebt bei den Einheimischen im Sommer, und an schönen Wintertagen ein guter Ort, um den Hund spazieren zu führen, war er heute menschenleer.

Auf ihrem Weg über den Sand wich sie vom Wind getriebenen Schaumkugeln aus, die ihr entgegenrollten wie die Bälle aus Gestrüpp in alten Westernfilmen. Am Ende des Strands musste sie auf ein Felsplateau klettern. Tang, Schlamm und die Gischt in der Luft machten den Weg über die Felsen schwierig, und sie musste zweimal auf allen vieren weiterkriechen. Schließlich kam sie zu einer sandigen Ausbuchtung, die vom Meer bis ins Plateau reichte. Sie sprang von den Felsen auf die Sandfläche hinunter und ging zu den vier Männern, die dort beisammenstanden: DI Philip Davies, DC Little John Jackson, einer von Davies’ Kumpeln, und zwei CSI-Beamte in weißen Schutzanzügen. Davies blieb mit dem Rücken zu ihr stehen, als sie näher kam, eine Geste, die wohl ausdrücken sollte, dass er sich für den weitaus überlegenen Detective hielt, auch wenn sie denselben Rang innehatten. Seine Haltung störte Savage nicht. Dumme kleine Jungs spielten dumme kleine Spiele.

Davies drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um nicht allzu rüde zu wirken. Er sah sie aus einem groben, pockennarbigen Gesicht höhnisch an; seine Nase war erkennbar mehr als einmal gebrochen worden.

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie hier wollen, Charlotte.« Er kratzte über die zwei Tage alten Stoppeln auf seinem Kinn, die grau wie sein Haar waren, und schüttelte den Kopf. »Hier geht es um Mord, nicht um ein paar kleine Mädchen, die zu viel getrunken haben und mit dem falschen Typen nach Hause gegangen sind.«

»Lassen Sie den Quatsch, Phil.« Savage drängte an ihm vorbei und sah zum Meer hinaus, wo ein paar Taucher am äußeren Rand eines riesigen Stücks Betonmauer, dem Überrest einer Befestigung aus Kriegszeiten, in den Wellen auf und ab tanzten. Die Wellen waren hier nicht so hoch wie am Strand, weil der Mewstone, eine kleine Insel achthundert Meter weit draußen im Meer, einen Windschatten bildete. Bei Ebbe lagen die Felsen vor der Küste frei und boten ein wenig Schutz vor der offenen See, dennoch ließ die Dünung die Taucher auf und nieder hüpfen und drohte, sie an der Betonwand zu zermalmen. Zwanzig Meter weit draußen im Wasser manövrierte das Schlauchboot der Taucher hin und her und hielt die Stellung wie eine besorgte Glucke. Nigel Frey am Ruder hob eine Hand und winkte Savage zu. Sie winkte zurück, das Heulen des Winds machte jedes Gespräch auf diese Entfernung unmöglich.

Eine Art Rohr, vielleicht einen Meter im Durchmesser, lag halb versunken im schäumenden Wasser. Es ragte aus der Betonmauer ins Meer hinaus, und die Taucher konzentrierten ihre Bemühungen um das Ende dieses Rohrs herum. Wenn die Wellen zurückschwappten, wurde jeweils ein Objekt sichtbar, das in dem Rohr feststeckte, schwarzes Plastik und etwas, das blass, weiß und wassergetränkt war.

»Ebbe«, erklärte Davies. »Ein Fischer hat sie in der Nacht entdeckt. Wieso zum Teufel der bei diesem Wetter zum Fischen draußen war, weiß ich auch nicht.«

»Sie?«

»Man sieht es jetzt nicht, aber vor ein paar Minuten konnte man es sehen. Lange Haare, Titten, oder was von ihnen übrig war.«

Jackson bemühte sich offenbar, Davies’ höhnischem Gerede nachzueifern, und murmelte etwas, worüber beide lachen mussten. Savage nahm an, es war beleidigend, aber der Wind trug seine Worte fort.

»Sie behaupten jedenfalls, es sei eine Frau«, fuhr Davies mit einem Nicken in Richtung der Taucher fort. »Und ich glaube nicht, dass sie für ein Picknick hier heruntergekommen ist.«

Ein Taucher kam ans Ufer, wo ihm einer der Männer von der Spurensicherung ein Werkzeug gab, das an eine riesige Beißzange erinnerte. Der Taucher watete wieder ins Wasser und verschwand unter der Oberfläche; um das Rohr stiegen Blasen auf, und man nahm heftige Bewegung im Wasser wahr.

»Was ist das denn?«, wandte sich Savage an den Mann, der das Werkzeug gebracht hatte.

»Bolzenschneider«, sagte er. »Sie war in Plastikfolie gewickelt, die von Klebeband zusammengehalten wurde, und dann an das Gitter gekettet.«

»Gitter?«

»In dem Rohr ist ein Metallgitter, etwa einen Meter tief drin. Jetzt, nach dem Gezeitenwechsel, steckt die Leiche richtig fest im Rohr.«

Der Taucher kam wieder an die Oberfläche und schleuderte das Werkzeug an den Strand, dann begannen er und sein Partner, die Leiche aus dem Rohr zu zerren. Schließlich schafften sie, unterstützt von den Wellen, die leblose Masse halb schwimmend, halb watend in Richtung Ufer.

»Scheiße.« Jackson schluckte schwer und wandte sich kurz ab. Davies schaute nur blasiert drein.

Zwischen den schwarzen Plastikbahnen und dem silbernen Klebeband schien der Körper in einem fortgeschrittenen Stadium des Zerfalls zu sein. Von Krabben oder durch Reibung waren ausgedehnte Hautflächen weggerissen worden, was blieb, war aufgedunsen. Wo die Haut fehlte, war das faserige Fleisch weiß geworden, wie Fisch, der beim Kochen seine Farbe verändert. Krabben und Läuse krochen über die Gliedmaßen, und die verwesenden Lippen teilten sich zu einem irren Lächeln.

Die Taucher hatten die Leiche jetzt im seichten Wasser, der durch Gase geschwollene Bauch ließ sie aussehen wie einen gestrandeten Wal. Mit jeder Welle schaukelte sie im Wasser, Arme und Beine gingen auf und nieder, als würde ein Ertrinkender in Zeitlupe gefilmt. Jetzt sah auch Savage, dass es die Leiche einer Frau war, aber sonst ließ sich nicht viel feststellen; die vom Wasser runzlige Haut gab keinen Hinweis auf ihr Alter.

Mit einiger Mühe begannen die Taucher mithilfe der CSI-Beamten, die Tote in einem bereitliegenden Leichensack zu verstauen. Savage trat vor, um einen genaueren Blick auf sie zu werfen.

»Großer Gott, seht euch das Loch in ihrem Kopf an!« Jackson war ebenfalls näher gekommen, und Savage verstand, warum er es bereute. Ein großer Teil des Haars auf der Kopfhaut war verschwunden, und weißer Knochen schimmerte durch. Unmittelbar über der rechten Schläfe war ein sauberes, rundes Loch etwa von der Größe eines Pennys.

Savage sah Metall um den Hals der Toten aufblitzen. Ein kleines Kreuz an einer Silberkette. Nie hatte blindes Vertrauen armseliger gewirkt, dachte Savage.

»Könnten Sie …?«, wandte sie sich an einen der CSI-Beamten und deutete auf das Kreuz.

Er bückte sich, hielt das Kreuz in der behandschuhten Hand und drehte es um. Auf der Rückseite waren drei Buchstaben eingraviert.

»RSO«, sagte der Beamte.

»Rosina Salgado Olivárez«, sagte Savage. »Unsere vermisste Studentin.«

»Scheiße. Hardin wird fuchsteufelswild sein«, brummte Davies. Er sagte weiter nichts, sondern schlug nur den Jackenkragen hoch und stapfte davon. Jackson hastete hinter ihm her wie ein Terrier hinter seinem Prolo-Herrchen.

2

Liebe. Harry verstand nicht, warum, aber er hatte nie viel davon bekommen. Zumindest nicht von seinen Eltern. Der Katze hatten sie mehr Zuneigung entgegengebracht. Er erinnerte sich, wie seine Mutter gegurrt und dem Kätzchen Leckerbissen vom Abendbrottisch gefüttert hatte. Es wurde immer gestreichelt, selbst wenn es unartig gewesen war. Harry wurde nur geschlagen. Er liebte das kleine getigerte Ding, aber er wurde immer wütend, wenn es um Aufmerksamkeit mit ihm konkurrierte. Also erwürgte er es. Er begrub den Kadaver im Garten und markierte das Grab mit einem Ziegelstein. Monate später, als er einsam war und eine Schmuseeinheit brauchte, hob er den Ziegel weg und fing zu graben an. Überrascht stellte er fest, dass nur mehr die weißen Knochen des Skeletts übrig waren. Das Fleisch der Katze war zerfallen, die Seele des Tiers in den Äther entwichen, für immer seinem Zugriff entzogen. Die Entdeckung rief in Harry die Frage wach, wie man Dinge konservierte, wie man verhinderte, dass das Fleisch, das man liebte, verrottete. In seinem Leben schien es nichts anderes als Verfall zu geben.

Es gibt mich, Harry, mich.

Trinny.

Ihre Stimme riss ihn aus seinem Halbschlaf; er setzte sich abrupt auf und war einen Moment lang verwirrt. Er rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf, um die verworrenen Fäden seines Bewusstseins in eine Art Ordnung zu bringen. Ein schwaches Licht schlüpfte durch den Vorhang und tauchte das Zimmer in die schreckliche Kälte der Wirklichkeit.

Böser Harry.

Ja, aber es gab kein Zurück, nicht nach allem, was er Trinny angetan hatte.

Es macht mir nichts aus, Harry. Ich liebe dich, genau wie damals vor vielen Jahren.

Damals vor vielen Jahren, als er ein Kind war. Es hatte immer ein Mädchen als Aushilfe im Haus gegeben, eine Nanny oder ein Au-pair-Mädchen, für die Aufgaben, die seinen Eltern zu lästig waren. Diese Mädchen waren die Einzigen gewesen, die ihn geliebt hatten. Er war überzeugt, sie hatten auch etwas wegen seiner Eltern geahnt. Sie mussten in der Stille der Nacht die Schreie gehört und sich gefragt haben, was los war. Und auch wenn sie nie etwas sagten, sahen sie morgens die blauen Flecken, wenn sie ihn in den Armen wiegten und seine Tränen trockneten. Ein klein wenig half es. Zu glauben, jemand machte sich etwas aus ihm, gab ihm das Gefühl, doch etwas wert zu sein.

Vielleicht hatte er ihnen wirklich etwas bedeutet, damals vor vielen Jahren, aber sie waren nie lange geblieben. Ein paar Monate höchstens, dann war ihnen sein Vater, der seine Hände nicht bei sich behalten konnte, zu viel geworden.

Er war widerlich, Harry. Schmutzig!

Also gingen sie. Verließen ihn. Zerfielen.

Ich bin gegangen, Harry, ja. Aber zerfallen? Nein. Nie. Du hast mich nie vergessen, und ich habe dich nie vergessen. Ich bin immer noch da, oder?

Ja, Trinny war noch da. Als Teil seiner Sammlung. Seiner wachsenden Sammlung.

Harry? Ich bin die eine. Du willst mich, nicht die anderen.

Richtig. Er wollte sie tatsächlich. Und er hatte sie gehabt. Viele Male. Das war nicht gut. Nicht richtig. Eine Schande.

Eine Schande? Harry, du irrst dich. Sex ist schön. Ich meine, die Sachen, die du letzte Nacht mit mir gemacht hast… Ich habe alles geliebt. Jede Minute. Jeden Zoll!

Trinnys Worte endeten mit einem dreckigen Lachen. Das war schlecht. Sie war zu anstrengend geworden, nicht wie er es erwartet hatte. Er musste das Problem mit ihr ein für alle Mal klären. Trinny schien seine Gedanken zu lesen, denn ihre Stimme wurde ernst, mit einem tadelnden Ton, der ihm ins Herz schnitt.

Harry, liebst du mich noch? Ich meine, so wie früher, wie damals?

Er wusste es nicht. Er biss die Zähne zusammen und bemühte sich, den Speichel zurückzuhalten, der sich in seinem Mund bildete. Aber er sollte es wissen, oder? Es war seine Aufgabe, es zu wissen. Wenn er etwas nicht wusste, wurde er ein wenig nervös, Panik setzte ein, und er atmete zu schnell, und das gefiel ihm nicht. Das gefiel ihm wirklich nicht.

Harry?

Er schluckte den Speichel, den Schleim und saugte Luft ein. Ein, aus, ein, aus, ein, aus. Letzte Nacht hatte er Trinny weggesperrt. Unten. Deshalb verstand er nicht, warum sie ihm immer noch keine Ruhe ließ. Sie war nicht das Mädchen, nach dem er suchte, denn sie war zu schmutzig. Sie wusste es. Er hatte es ihr gesagt.

Du hast es mir gesagt, ja. Du hast mich eine Nutte genannt. Und nachdem du mich eine Nutte genannt hast, hast du mich gefickt. Wie passt das zusammen?

Er konnte es nicht erklären. Es war zu kompliziert.

Kompliziert?

Ja. Kompliziert. Trinny würde es nicht verstehen können. Niemand verstand es. Niemand außer ihm wusste, was es hieß, wütend zu sein.

Ja, Harry. Ja, du bist wütend. Ganz zu schweigen davon, dass du böse und traurig bist. Du kannst nicht herumlaufen und…

Harry ertrug das Gequatsche nicht mehr, deshalb schaltete er den Radiowecker neben seinem Bett ein, und Trinnys Stimme verschwand hinter dem Jingle des Lokalsenders. Die Nachrichten zur vollen Stunde. Statt dem üblichen uninteressanten regionalen Zeug erzählte die erste Meldung eine Geschichte von Vergewaltigung und Mord. Die Polizei hatte eine Frauenleiche unten am Wembury Beach gefunden.

Er schaltete den Radiowecker schnell aus. Nicht gut. Gar nicht gut.

Carmel, Harry! Carmel ist wieder da! Igitt! Ich wette, sie sieht jetzt nicht mehr so hübsch aus.

Trinny klang aufgeregt. Hysterisch. Aber konnte es wirklich Carmel sein? Übelkeit stieg in ihm auf wie schmutziges Wasser, das aus einer verstopften Toilette überläuft. Er kämpfte gegen einen Brechreiz an.

Carmel. Du hast sie nicht bekommen, oder? Jetzt ist sie für alle Zeit verloren. Zerfallen.

Er ignorierte Trinny und fragte sich, ob die Geschichte etwas zu bedeuten hatte. Carmel zurück von den Toten. Um ihm zu sagen, dass er auf dem richtigen Weg war, aber auch, um ihn daran zu erinnern, dass sich Trinny nicht mit ihr messen konnte. Nicht die eine sein konnte.

Harry, wie meinst du das?

Er hatte sie behalten, weil er gehofft hatte, sie würde sich ändern. Am Anfang hatte es Spaß gemacht mit ihr. Sie war süß gewesen, nett, überschäumend. Aber jetzt maulte und nörgelte sie in einem fort. Und sie war unanständig. Sehr unanständig. Er hatte sie ein paar Mal geohrfeigt, aber es hatte nichts bewirkt. Das Einfachste wäre eine saubere Trennung. Es wäre das Beste für sie beide.

Harry! Du Mistkerl! Ich bin dein Mädchen. Ich. Nicht Carmel. Sie ist tot. Verwest. Mitchell hat sie getötet. Weißt du noch?

Mitchell.

Harry hörte den Namen nicht gern. Nicht nach dem, was Mitchell mit Carmel gemacht hatte.

Mitchell war dein Freund!

Mitchell war früher einmal sein Freund gewesen, das stimmte, auch wenn Harry eigentlich nicht wusste, wie ein Freund sein sollte, und er hatte Mitchell nicht direkt danach fragen wollen für den Fall, dass er alles falsch verstanden hatte. Trotzdem, Mitchell war gut zu ihm gewesen. Nett. Er hatte ihm geraten, die Tabletten nicht mehr zu nehmen.

Eine schlechte Idee, Harry. Mithilfe dieser Tabletten bist du normal geblieben, oder? Hast keine Dinge gesehen.

Trinnys Tonfall war spöttisch, aber sie hatte recht. Die Tabletten hielten ihn behaglich in seiner kleinen Welt eingesponnen. Die Tabletten brachten auch die Stimmen zum Schweigen. Wie es der Doktor gesagt hatte. Aber der kluge Doktor lächelte mit zu vielen Zähnen, hatte ein arrogantes Auftreten, ein schnittiges Auto und eine hübsche Sekretärin, die einen Rock trug, der so kurz war, dass man das obere Ende ihrer Strümpfe sah, wenn sie sich bückte. Harry mochte den Rock, auch wenn er den Mann nicht ausstehen konnte.

Wer ist jetzt hier unanständig, Harry?

Es war immer dasselbe mit Frauen. Wenn sie sich wie Püppchen kleideten und Haut hervorlugte, gingen seine Blicke auf Wanderschaft. Trotzdem, nichts dabei, er schaute nur ein bisschen, ein kurzer Blick auf etwas Verbotenes.

Es gibt Dinge, die gehen über das Schauen hinaus, Harry. Das ist das Problem.

Ein Problem, ja. Eins, für das er Mitchell verantwortlich machte. Mitchell war außer Rand und Band. Samstagnachts. Betrunkene Mädchen, die in Schwierigkeiten gerieten. Partytime. Harry ekelte sich vor sich selbst, weil er Mitchells Spiele mitspielte, andererseits wurde es ihm allmählich zur Gewohnheit, angewidert zu sein.

Aber Harry? Wieso das denn?

Mitchell ließ ihn die Mädchen berühren. Harry wollte es zuerst nicht. Später konnte er nicht mehr damit aufhören.

Und dann?

Und dann war Mitchell hergegangen und hatte Carmel getötet, was bedeutete, dass Harry keine Freunde mehr hatte.

Harry dachte an Carmel. Es hatte ihm nicht gefallen, dass sie gestorben war, überhaupt nicht gefallen. Zu sehen, wie das viele Blut das schöne Haar des Mädchens ruinierte, hatte ihn wütend gemacht. Schöne Dinge sollten nicht ruiniert werden. Sie sollten aufbewahrt werden, für immer.

Wie ich!

Nein. Ganz und gar nicht wie Trinny. Er würde Trinny nicht für immer behalten. Er musste sie loswerden, und zwar schnell. Vielleicht sogar schon heute Abend. Sie würden zusammen irgendwohin fahren, und unterwegs würde er es ihr auf möglichst freundliche Weise erklären. Wenn er es ihr schonend beibrachte, würde sie ihm vielleicht vergeben. Man musste grausam sein, um gütig zu sein, nicht wahr? Eine traurige Art, ihre gemeinsame Zeit zu beenden, aber Trinny war nicht die Richtige. Und überhaupt hatte er erst gestern bemerkt, dass sie nicht mehr schön war. Ihre Haut wurde stellenweise ein wenig schlaff. So war das eben, wenn man älter wurde, aber Harry fand nicht, dass er Zugeständnisse machen durfte. Nicht jetzt. Nicht, wenn andere darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen.

3

Crownhill Police Station, PlymouthMontag, 25. Oktober, 8.30 Uhr

Davies hatte recht gehabt, was Hardins Reaktion anging, und die Scheiße flog ihnen gleich Montag früh um die Ohren. Savage hatte sich eben einen Kaffee geholt und zu den Büroräumen der Abteilung für Schwerverbrechen gebracht, als es losging.

Die Doppeltür flog krachend auf, und Detective Superintendent Conrad Hardin kam in den Raum, als würde er eine Drogenrazzia anführen. Obwohl er unbewaffnet war und keinen Rammbock mit sich führte, hätte sein Auftritt nicht dramatischer ausfallen können. Er hatte nicht nur die Muskeln und die Statur eines Schwergewichtsboxers, sondern auch die Ausdrucksweise und das Temperament eines Straßenkämpfers. Sein Gesicht war feuerrot, und er sah aus, als würde er jeden Moment explodieren, als er durch den Gang walzte und alle zwang, zur Seite zu springen, die in seinen Weg gerieten.

»Rosina Salgado Olivárez«, dröhnte seine Stimme, und er klang wie ein Vikar bei einer Hochzeit oder ein Richter, der einen schuldigen Gefangenen ansprach. Der Geräuschpegel im Raum sank auf null, und Hardin hielt ein großes Blatt Papier in den Händen.

Savage hoffte, er würde sich seinen Zorn für das Briefing der hochrangigen Beamten aufheben, das im Lauf des Vormittags stattfand. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht.

»Was für ein beschissener Amateurladen sind wir hier verdammt noch mal eigentlich?«, ätzte er und knallte das Blatt Papier an eins der Whiteboards, sodass alle es sehen konnten.

»Eine Quelle hat mir die Nachmittags-Sonderausgabe des Herald per E-Mail geschickt, die demnächst gedruckt wird. Eine achtseitige Beilage mit dem Titel: ›Die Stadt der Sex-Verbrechen – Ist es jetzt Mord?‹«

Hardin sah sich um, sein Blick fiel der Reihe nach auf jeden Einzelnen.

Savage holte Luft und wappnete sich für die nächste Attacke.

»Heute Morgen rief mich der stellvertretende Polizeichef an. Bei ihm wiederum hatte sich der Bürgermeister gemeldet, beide Unterhaus-Abgeordnete der Stadt, der Vizekanzler der Universität, irgendein Wurm aus dem Außenministerium und natürlich der Polizeichef. Zu behaupten, er sei nicht glücklich gewesen, wäre die Untertreibung des Jahres. Es wird Sie nicht überraschen zu erfahren, dass ich ebenfalls nicht glücklich bin. Noch sind es die armen Eltern von Miss Olivárez oder einem der anderen Mädchen. Wir haben eine Fürsorgepflicht für die Menschen, die in dieser Stadt leben oder sie besuchen, und die haben wir in diesem Fall unterirdisch schlecht erfüllt. Wie viele von Ihnen haben eine Tochter zu Hause?« Hardin sah Savage wieder an. »Fragen Sie sich, ob Sie mit unserer Arbeit zufrieden wären. Los, fragen Sie sich, verdammt noch mal!«

Hardin machte kehrt und stampfte aus dem Raum.

»Puh!«, entfuhr es jemandem. »Ich möchte ja nicht hier sein, wenn er mal mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden ist.«

Savage sah nicht, wer die Bemerkung gemacht hatte, aber sie brachte einige Leute zum Lächeln, und ein paar von den üblichen Verdächtigen fingen mit ihren Witzeleien an. Savage konnte nur an das bevorstehende Meeting denken und verglich es im Geiste mit einem Gang ins Büro des Schuldirektors. Trotzdem – Hardin hatte jedes Recht, wütend zu sein, denn Operation Leine war zu einem Witz geworden, und nun, da eins der Mädchen tot war, wandelte sich die Farce zur Tragödie.

Vorhin, auf ihrer Fahrt ins Büro, hatte Savage über die jüngste Entwicklung nachgedacht. Dreißig Minuten typischer Berufsverkehr für einen Montagmorgen hatten ihr viel Zeit dazu gelassen. Auf der Ostseite der Laira Bridge war ein Ablauf verstopft gewesen, die zweispurige Straße war auf eine Fahrbahn verengt, auf der die Autos langsam durch das fast kniehohe Wasser krochen. Die Leute saßen in ihren Fahrzeugen und schauten unglücklich drein, und mit Olivárez’ Tod fühlte sich Savage ebenfalls niedergeschlagen.

Operation Leine war vor einem Jahr ins Leben gerufen worden, nachdem die Polizei einen Zusammenhang hinter einer Serie von Vergewaltigungen erkannt hatte. Seither hatten sich die Vergewaltigungen fortgesetzt, die Opfer waren immer unter fünfundzwanzig und Studentinnen, häufig aus dem Ausland, und sie wurden in Klubs und Bars der Altstadt abgeschleppt. Vom Zentrum brachte man sie dann per Auto in ein großes Haus, wo zwei oder mehr Männer sie vergewaltigten. Nach mehreren Stunden wurden die Frauen irgendwo am Stadtrand abgesetzt, und man schärfte ihnen ein, wenn sie stillhielten, würde ihnen weiter nichts geschehen. Diese Drohung zum Abschied ließ das Ermittlungsteam vermuten, eine Reihe von Opfern könnte zu eingeschüchtert sein, um das Verbrechen zu melden. Die Opfer verließen die Sicherheit der Klubs, weil man ihre Drinks mit Gamma-Hydroxybuttersäure, auch bekannt als GHB, versetzt hatte. Es gab eine Unmenge von Straßennamen für die Partydroge, etwa Liquid Ecstasy. Der aktuelle Favorit der Ermittler war Easy Lay. Savage fand das zwar politisch nicht korrekt, aber passend. In einem letzten verzweifelten Versuch, die Zahl der Angriffe zu verringern, hatten uniformierte Beamte kostenlos Drogenerkennungstests und Alarmgeräte ausgegeben. Bei Tausenden von Studenten in der Stadt war es ein hoffnungsloses Unterfangen. Die Vergewaltiger schienen ihre Taten weiter dreist und ungestraft fortsetzen zu können, was alle beteiligten Beamten allmählich als persönliche Beleidigung auffassten.

Die Ermittlungen in dieser Sache nahmen einen großen Teil der Zeit der Abteilung für Schwerverbrechen in Anspruch, mehr Zeit als wünschenswert oder nötig, wie Hardin dem Team in der Vorwoche erklärt hatte. Sein neuester Geistesblitz war eine verdeckte Operation mit so vielen Kräften, wie sich nur aufbieten ließen. Sie würden die Klubs mit Beamten durchsetzen, die sich als Studentinnen und Studenten ausgaben, die aber nicht als Lockvogel fungierten, sondern als diskrete Beobachter, die vielleicht etwas bemerkten, wenn es geschah. Big Night Out, ein Name, den einige der jüngeren Beamten geprägt hatten, war für Samstagabend geplant, und schon jetzt war es das Gesprächsthema auf dem Revier, was die Teilnehmer tragen würden. Savage hielt es für Zeitverschwendung. Jeder, der älter als Mitte zwanzig war, würde auffallen, und die Chance, in einem schummrigen, lauten und überfüllten Klub irgendetwas mitzubekommen, war minimal. Aber wie Hardin gesagt hatte, klammerten sie sich inzwischen an jeden Strohhalm. Und wenn Big Night Out zu keinem Ergebnis führte, würde Hardin nächsten Montag in schlechterer Stimmung denn je sein und nach ein, zwei Skalps Ausschau halten, die er dem Polizeichef anbieten konnte. Savage würde ihm wahrscheinlich keinen Vorwurf daraus machen, wenn er das tat.

Als Hardin weg war, stellte sich die übliche Lautstärke im Büro wieder ein, Telefone läuteten, Tastaturen klapperten, und Leute rannten hierhin und dorthin. An einem der Whiteboards schrieb Enders Notizen neben ein neues Foto, das er in die Mitte geklebt hatte. Es war nicht mehr eins von zehn Opfern, sondern hatte einen Ehrenplatz. Er blickte auf, als sich Savage näherte, sein junges Gesicht strahlte unter einem zerzausten Schopf seines braunen Haars hervor. Enders kam Savage immer eher wie ein Mitglied einer Boygroup vor und nicht wie ein hart arbeitender Detective, aber sie fand an seiner Leidenschaft und Begeisterung für den Job nichts auszusetzen.

»Fassen Sie für mich doch noch einmal die Einzelheiten im Fall des unglücklichen Mädchens zusammen, Patrick«, sagte Savage.

»Rosina Salgado Olivárez, einundzwanzig, Spanierin, Studentin, lebte in einer Wohngemeinschaft in Mutley. Wurde vor acht Monaten vergewaltigt, am 15. Februar, einem Samstagabend. Im Morgengrauen des Sonntags hat man sie am Eingang zum Saltram Park abgesetzt. Trotz ihres Zustands brachte sie es fertig, den ganzen Weg von dort bis zu ihrer Wohnung zu Fuß zu gehen. Zu Hause angekommen, brach sie zusammen und schlief den ganzen Tag. Am Abend hat sie dann ihrer Mitbewohnerin von dem Überfall erzählt, und die hat es der Polizei gemeldet.«

»Die Vorgehensweise?«

»Passt zu den anderen. Nach ein paar Drinks klagte sie über Schwindelgefühl und sagte zu ihren Freunden, sie würde früher nach Hause gehen. Leicht benommen geht sie nach draußen, wo ihr jemand eine Mitfahrgelegenheit anbietet. Sie steigt in den Wagen und bricht bewusstlos zusammen. Das Nächste, woran sie sich erinnert, ist, dass sie an ein Bett gefesselt ist und zwei Männer sie vergewaltigen. Nach ein paar Höllenstunden wird sie losgebunden, gezwungen zu duschen und schließlich irgendwo abgesetzt. Da die Männer außerdem Kondome benutzten, ließ sich keine DNA ermitteln, genau wie in allen anderen Fällen.«

Savage schüttelte den Kopf und seufzte.

Enders fuhr fort. »Nachdem wir sie vernommen hatten, beabsichtigte sie verständlicherweise, nach Spanien zurückzukehren. Wir haben sie am 21. Februar zur Fähre nach Santander begleitet, sie ging durch die Passkontrolle, und wir haben nichts mehr von ihr gehört, bis die Guardia Civil mit uns Kontakt aufnahm. Offenbar kam sie nie in ihrer Heimatstadt Saragossa an. Jetzt wissen wir, warum.«

»Die erste Frage lautet also: Warum wurde sie getötet?«

»Und die zweite: Wie um alles in der Welt kam sie nach Plymouth zurück?«, sagte Enders.

»Genau.«

Savage schleppte sich zu Hardins Büro hinauf, wo DCI Mike Garrett und DI Davies bereits warteten. Als Superintendent genoss Hardin den Luxus eines eigenen Büros, auch wenn er sich nicht viel Mühe gab, es persönlich zu gestalten. Das obligatorische Bild von ihm in Uniform mit seiner Frau an der Seite bei irgendeiner Veranstaltung stand in einer Ecke des aufgeräumten Schreibtischs. Es gab einen Kalender mit griechischen Inseln an einer Wand – er war vom letzten Jahr –, und im Bücherregal steckten neben juristischer Literatur und Handbüchern über Polizeiarbeit einige Romane von P. D. James. Dieses Büro war schwerlich ein zweites Zuhause.

Savage nahm neben Davies Platz. Er hatte sich inzwischen rasiert, sah aber immer noch rau aus. Garrett war adrett wie immer, aber die Miene des älteren Detective war bedrückt, frische Sorgenfalten durchzogen sein Gesicht. Als leitender Beamter der Operation Leine hatte er sich wohl eine gepfefferte Standpauke von Hardin eingehandelt, vermutete Savage. Doch nachdem er nun Dampf abgelassen hatte, klang der Superintendent durchweg versöhnlich und murmelte sogar eine Art Entschuldigung wegen seines Verhaltens vorhin in Richtung Savage.

»Diese verdammte Diät schlägt mir aufs Gemüt. Haben Sie mal versucht, statt eines Donuts zum Morgenkaffee auf so einem Stick zu kauen?«

ENDE DER LESEPROBE