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»Ein atmosphärischer Venedig-Krimi jenseits ausgetretener Klischees.« Buchkultur. Commissario Antonio Morello, genannt »Der freie Hund«, hat in Sizilien korrupte Politiker verhaftet und steht nun auf der Todesliste der Mafia. Um ihn zu schützen, wird er nach Venedig versetzt. Er hasst die Stadt vom ersten Augenblick an. Zu viele Menschen, trübes Wasser, Kreuzfahrtschiffe, die die Luft verpesten und die Stadt gefährden – selbst der Espresso doppio, ohne den er nicht leben kann, schmeckt ihm in Sizilien besser. Doch Venedig ist eine große Verführerin. Als Silvia, die schöne Nachbarin, ihm ihr persönliches, verborgenes Venedig zeigt, werden Morellos Widerstandskräfte auf eine harte Probe gestellt. Da wird der junge Anführer einer Bürgerinitiative gegen die Kreuzfahrtschiffe ermordet, und der freie Hund hat seinen ersten Fall, der ihn tief in die Verstrickungen von italienischer Politik und Verbrechen führt. Wolfgang Schorlau, Erfinder des Privatermittlers Georg Dengler, und Claudio Caiolo, in Sizilien geboren und in Venedig zum Schauspieler ausgebildet, werfen einen neuen Blick auf ein altes italienisches Desaster.
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Seitenzahl: 401
Wolfgang Schorlau / Claudio Caiolo
Kommissar Morello ermittelt in Venedig
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Wolfgang Schorlau / Claudio Caiolo
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Hinweis
Widmung
1. Tag
2. Tag
3. Tag
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5. Tag
6. Tag
7. Tag
8. Tag
9. Tag
10. Tag
11. Tag
12. Tag
13. Tag
14. Tag
15. Tag
16. Tag
17. Tag
Dank
Inhaltsverzeichnis
Abdruck der Zitate aus den Liedern von Fabrizio De André (Lied1, Lied2, Lied3) mit freundlicher Genehmigung des Musikverlages Hal Leonard Europe
Weitere Informationen:
www.commissario-morello.com
Inhaltsverzeichnis
Für Jenna.
In Erinnerung an Paolo Borsellino und Giovanni Falcone – und Andrea Camilleri
Inhaltsverzeichnis
Mittwoch
Diesmal nicht.
Sie ruft ihm nicht aus der offenen Tür zu: Ich muss los, Antonio. Ciao!
Diesmal reißt ihn kein berstendes Metall aus dem Schlaf. Diesmal ist es nicht das Womm der Bombe.
Kling-dong, kling-dong, kling-dong.
Es ist nur eine Kirchenglocke.
»Cazzo!«
Morello schnaubt und wirft sich auf die andere Seite.
Kling-dong, kling-dong, kling-dong.
Er zieht die dünne Decke über den Kopf. Sofort kriecht eine Gänsehaut über seine Schenkel. Seine Zehen greifen den Zipfel der Decke und ziehen sie wieder nach unten. Doch die Hände geben nicht nach.
»Cazzo!«
Die Augen immer noch geschlossen, tastet er mit der rechten Hand nach dem Handy, das irgendwo auf dem Nachttisch liegen muss. Er zieht es unter die Decke und starrt auf das erleuchtete Display.
Sechs Uhr.
Zu früh zum Aufstehen, zu früh zum Frühstücken, zu früh zum Schimpfen, zu früh für alles.
Kling-dong, kling-dong, kling-dong.
Mit zwei kräftigen Tritten strampelt er die Decke beiseite, schwingt die Füße auf den Boden und setzt sich auf den Rand des Bettes, den Kopf in die Hände gestützt. Die Kirchenglocken dröhnen und klingen so nahe, als schwängen sie ihre Klöppel direkt vor seinem Schlafzimmer. Morello reibt sich die Augen. Er steht auf und tappt zum Fenster. Vorsichtig schiebt er den Vorhang beiseite.
Der Turm der Basilica di San Pietro di Castello steht schief und neigt sich gefährlich in seine Richtung. Wenn er kippt, wird er die Schindeln des Daches und die Decke seiner Wohnung durchbrechen. Die Glocken werden in sein Schlafzimmer stürzen und ihn erschlagen. Unausweichlich. Doch andererseits: Der Turm steht schon einige Hundert Jahre schief. Morello kratzt sich am Kopf. Das ist gut zu wissen, aber noch lange keine Garantie, dass er nicht gerade jetzt umfällt.
Er reibt sich noch einmal die Augen. Bleib vernünftig: Die Chancen stehen nicht schlecht, dass der Turm noch einige Jahrzehnte lang krumm wie ein Schafhirte verharrt, mindestens so lange, wie Morello gezwungen ist, in Venedig zu bleiben.
Cazzo … Er hofft, dass er bald wieder von hier verschwinden kann.
Die Mühle steht gut sichtbar auf der Arbeitsfläche der Einbauküche. Aber wo ist die Kaffeemaschine? Morello öffnet die Türen der beiden Unterschränke. Nichts. Es wird in dieser Wohnung doch eine Kaffeemaschine geben! Er öffnet den ersten Schrank. Teller, Tassen, Gläser, Becher, Unterteller. Alles, nur keine Kaffeemaschine. Das kann doch nicht wahr sein. Morello knallt die Tür zu. Er zieht an dem Griff des zweiten Schrankes und schon glitzert ihm silbern ein kleiner Bialetti-Espressokocher entgegen.
Sein Puls normalisiert sich wieder.
Er schraubt die Kanne auseinander und füllt den unteren Teil mit Wasser. Der Kaffee? Ach ja. Er stellt das achteckige Unterteil der Kanne ab, geht in den Flur und zieht aus seiner Reisetasche den Beutel mit Kaffee, den er vorgestern noch in Palermo gekauft hat. In der Küche mahlt er die Bohnen, gibt das Pulver vorsichtig in den Trichtereinsatz der Bialetti, schraubt das Oberteil auf und stellt die Kanne auf den Herd.
Cazzo … Er kennt sich nicht aus. Weder in dieser Wohnung, noch in dieser Stadt.
Noch vor drei Tagen hätte er sich nicht vorstellen können, dass er nach Venedig versetzt wird.
Vittorio Bonocore, der Vice Questore in Cefalù und sein Chef, hatte ihn in der Kaserne in Palermo angerufen, wo sie ihn nach dem Anschlag untergebracht hatten.
»Es gibt Neuigkeiten«, sagte er, als Morello eine Stunde später vor seinem Schreibtisch saß. »Du wirst versetzt. Wir nehmen dich für eine Weile aus Sizilien heraus. Du wirst Kommissar in Venedig.«
Morello dachte zunächst, Bonocore mache einen seiner berüchtigten Witze, über die man pflichtschuldig zu lachen hatte, obwohl sie selten lustig waren.
»Ich kenne den dortigen Vice Questore: Lombardi, Felice Lombardi, ein guter Mann. Du wirst die Abteilung für Gewaltverbrechen leiten. Der bisherige Abteilungsleiter wurde nach Rom ins Ministerium berufen.«
Langsam dämmerte es Morello: Sein Chef meinte es ernst.
Bonocore beugte sich vor. »Du hast einen Anschlag überlebt. Mit der Durchsuchung des Hafens von Palermo hast du unsere Freunde von der Mafia noch einmal ziemlich verärgert. Du stehst auf ihrer Todesliste ganz oben. Ich will keine Rede auf deiner Beerdigung halten müssen. Deshalb gehst du nach Venedig. Für eine bestimmte Zeit. Danach sehen wir weiter.«
Erschöpft von dieser für seine Verhältnisse langen Rede warf sich Bonocore in seinem ledernen Schreibtischstuhl zurück.
»Ich bin mitten in den Ermittlungen …«
Der Vice Questore machte eine beschwichtigende Geste. »Ich weiß, ich weiß«, sagte er. »Ich werde die Sache persönlich weiterführen.«
Morello richtete sich auf: »Sie kaufen antike Kunstwerke vom Islamischen Staat und finanzieren damit das Überleben dieser Terrororganisation. Die Mafia verkauft zurzeit Kunstschätze von unsagbarem Wert aus dem Baaltempel, den der IS in der Wüstenstadt Palmyra gesprengt hat.«
»Du weißt das, ich weiß das – aber wir haben dafür keinen Beweis. Absolut nichts. Fakt ist: Wir haben nichts gefunden. Du hast den Hafen durchsucht, du hast Lagerhäuser durchsucht, du hast Galerien durchsucht, doch wir haben kein einziges Stück aus Palmyra sichergestellt. Du hast Staub aufgewirbelt. Viel Staub. Und seitdem du diesen korrupten Politiker festgenommen hast, wollen sie dich umlegen.« Er seufzte. »Es reicht. Du gehst nach Venedig.«
Morello starrte ins Leere. Ihm war klar, weshalb sein Chef entschieden hatte, ihn zu versetzen. Nach einem der vielen ungeschriebenen Gesetze der Cosa Nostra ermordeten sie Polizisten, Staatsanwälte oder Richter nur in Sizilien, niemals außerhalb der Insel. In Venedig würde er sicher sein.
Doch Morello wollte die Ermittlung zu Ende führen. Bonocore und er hatten sich vorgenommen, die Mafia von dem Geschäft mit gestohlenen Kunstschätzen abzuschneiden. Sein Chef wusste genau, dass Kunstraub für die Mafia mittlerweile ebenso wichtig war wie der Umsatz mit Drogen und mehr Geld in ihre Kassen spülte als Waffenhandel oder die klassische Schutzgelderpressung. Und was Kunstraub anging, hatte doch gerade Vice Questore Bonocore noch eine alte Rechnung mit der Cosa Nostra zu begleichen: Sein Vater hatte damals die Ermittlungen geleitet, nachdem die Mafia in der Nacht vom 18. auf den 19. Oktober 1969 das berühmteste Bild von Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, »Christi Geburt mit den Heiligen Laurentius und Franziskus«, aus dem Oratorio di San Lorenzo in Palermo gestohlen hatte. Doch bis zum heutigen Tag ist das Bild unauffindbar. Auf der Fahndungsliste des FBI gehört es zu den zehn meistgesuchten Kunstwerken der Welt. Um den Vater von Bonocore zu ärgern, schickte man ihm Fotos, auf denen zu sehen war, wie der gesuchte Boss Totò Riina das Gemälde als Bettvorleger benutzte.
Und nun? Nun zog Bonocore ihn von den laufenden Ermittlungen ab. »Wann soll ich denn nach Venedig?«, fragte er gedehnt.
»Sofort«, antwortete Bonocore. »Pack deine Sachen. Du fliegst morgen früh.«
Mit einem schnorchelnden Geräusch verkündet die Bialetti, dass der Kaffee durchgelaufen ist. Er dreht das Gas ab, nimmt eine Tasse aus dem Schrank und gießt den Kaffee ein.
Cazzo – er will nicht hier sein.
Um acht Uhr steckt Morello den ersten seiner beiden Schlüssel von außen ins Schloss seiner Wohnungstür im dritten Stock: zwei Schlüssel, zwei Schlösser. »Jeden drei Mal umdrehen!«, hat der Vermieter ihm eingeschärft.
Morello hat sich sorgfältig rasiert und seinen Anzug angezogen, den taubenblauen, eleganten Anzug, seinen besten und einzigen. In Rom gekauft. Die Coppola wird er trotzdem aufsetzen. An dem dunklen Fleck auf der rechten Seite verzweifelte bisher jede Reinigung, aber das ist ihm egal: Diese Mütze wird er immer tragen. Am liebsten sogar nachts. Mit einer schnellen Bewegung zieht er die Coppola vom Kopf und küsst sanft den Fleck.
Er setzt sie wieder auf und will die Treppe hinuntersteigen, doch er hält inne. Aus einem der unteren Stockwerke dröhnt eine Stimme herauf, laut und drängend: »Buontschiorno, Silvia!« Morello macht einen Schritt und steht am Geländer, schaut ins Treppenhaus hinunter und horcht. Eine männliche Stimme. Ein merkwürdiger Akzent. Das G gesprochen, als sei es ein Tsch – Buontschiorno. Klingt nordisch. Deutsch. Dann versteht er: »Panini e cornetti alla crema.«
Cazzo – ich habe noch nicht gefrühstückt, denkt Morello.
Er beugt sich über das Treppengeländer. Der Mann, der gesprochen hat, ist nicht zu sehen. Vorsichtig geht Morello die Treppe hinab, an der Eingangstür des zweiten Stockwerks vorbei, hinunter ins Erdgeschoss. Aus der Wohnungstür greift ein Handgelenk – che bella mano, was für ein wunderschönes schmales Handgelenk! – mit einer schnellen Bewegung nach einer braunen Papiertüte. Er hört ein knappes »Grazie«, dann kracht die Tür ins Schloss. Morello geht die letzten Stufen hinab und sieht einen Mann: etwa vierzig Jahre alt, ein kantiges Gesicht, kurz geschnittene dunkelblonde Haare, randlose Brille, braune Cordhosen, elegante graue Sneakers, straff sitzendes hellbeiges Hemd über einem muskulösen Oberkörper. Es sind Muskeln von der Art, wie sie sich nicht durch Arbeit, sondern im Sportstudio entwickeln und die zu der merkwürdigen Art trapezartigem Oberköper führen, der sich bereits über dem Halsansatz abwärts dehnt. Das muss der Deutsche sein, von dem der Vermieter erzählt hat. Wohnt im zweiten Stock, ein Dozent für Architektur an der Universität. Mmh, bei den Deutschen sehen sogar die Docenti aus wie Bodybuilder. Doch seine Panini scheinen bei der Besitzerin des wunderschönen Handgelenks nicht so gut angekommen zu sein, wie er sich das möglicherweise erhofft hat. Morello lächelt zum ersten Mal an diesem Tag. Er wünscht dem Muskelmann Buongiorno und tritt hinaus auf die Straße.
Vor der Tür bleibt er stehen und betrachtet den schiefen Turm. Irgendwann wird er umfallen. Vielleicht in hundert Jahren, vielleicht schon morgen. Vielleicht aber auch heute Nacht. Morello schüttelt den Kopf. Hoffentlich bin ich dann nicht zu Hause.
Zu Hause?
Hat er eben ›zu Hause‹ gedacht?
Cazzo. Venedig ist nicht mein Zuhause. Es wird nie mein Zuhause werden.
Doch er muss zugeben: Der Platz vor dem Haus gefällt ihm. Ein mit Pappeln gesäumter Weg durchquert ihn und führt direkt zum Eingangstor der Basilika. Unter den Baumkronen stehen Holzbänke, auf der einen ein Liebespaar, das sich trotz der frühen Stunde leidenschaftlich küsst. Zwei Männer in dunkelbraunen Anzügen sitzen auf der Bank in der Nähe der offen stehenden Kirchentür. Obwohl Morello nur ihre vorgebeugten Rücken sieht, erkennt er, dass sie stumm auf ihren Smartphones wischen.
Mehrere alte Frauen stehen vor dem Kirchenportal und unterhalten sich lautstark. Er hört, wie sie sich über den Bürgermeister beschweren: »Der interessiert sich nicht dafür, wie wir hier leben. Er wartet nur darauf, dass wir sterben!«
Die venezianischen Gesprächsbrocken klingen bis zu ihm. Ihre Rollatoren haben sie zu einer kleinen Wagenburg zusammengestellt. Die ersten Zikaden in den Pappeln spielen sich allmählich für das ohrenbetäubende Konzert ein, das sie bis in die Nacht hinein veranstalten werden.
»Buongiorno, junger Mann! Wo wollen Sie denn hin so früh, mit Ihrem feinen Anzug? Eine Hochzeit?« Eine der Damen lächelt Morello schelmisch zu.
»Schön wär’s! Ich habe heute meinen ersten Arbeitstag in Venedig.«
»Ach, wo kommen Sie denn her?«
»Cefalù, in Sizilien.«
»Cefalù!«, ruft die alte Dame begeistert aus. »Da haben mein seliger Gatte und ich unsere Flitterwochen verbracht.«
Ihre Freundinnen kichern beifällig. Eine hebt ihren Stock und winkt ihm zu. »Komm, Jungchen, dann erzählen wir dir auch mal was von unseren Flitterwochen. Da kannst du noch einiges lernen.« Jetzt prusten alle los.
Morello schüttelt lachend den Kopf, deutet auf seine Uhr und wirft den Damen zum Abschied eine Kusshand zu. Aus der Innentasche seines Jacketts zieht er den Ausdruck der E-Mail mit der Wegbeschreibung. Er streicht das Papier glatt.
Wenn Sie aus Ihrer Haustüre heraustreten, wenden Sie sich nach rechts und folgen der Calle dietro il Campanile bis zum Kanal, biegen links ab und folgen der Fondamenta Quintavalle, bis Sie rechts eine Brücke sehen.
Die Beschreibung ist gut. Er biegt nach rechts in eine kleine Gasse ein. Deshalb sieht er nicht, wie die beiden Männer auf der Parkbank aufstehen, ihre Telefone in die Hosentaschen schieben und ihm in sicherem Abstand folgen.
Morello findet die Brücke ohne Probleme. Als er sie zur Hälfte überquert hat, beugt er sich über das Geländer und sieht ins Wasser. Es ist so trübe wie seine Stimmung.
Che schifo! Was für eine Drecksbrühe. Wo ist er hier hingeraten?
Das Wasser ist nicht tief, trotzdem kann er nicht bis auf den Grund sehen. Die Brühe ist undurchdringlich – und sie stinkt. Angewidert geht er weiter. In den Wellen schaukelt eine alte Zeitung. Die Strömung versucht vergeblich, die Titelseite umzublättern. Daneben treiben eine Plastikflasche und ein gebrauchtes Kondom.
Er sieht das klare Wasser von Sferracavallo vor sich. Wie oft ist er als Junge zu dem Hafen von Sferracavallo geradelt! Später, als junger Mann, fuhr er mit seinem Fiat 500 in das Dorf, winzig und schön, in ganz Sizilien besungen wegen seines frischen Fischs. An jeder Stelle konnte er auf den Grund des Meeres schauen. Doch hier, in der stinkenden Lagune, dringt der Blick nicht einmal eine Handbreit durch die schleimige Brühe.
Er wirft einen Blick zurück. Der Glockenturm und die Kuppel der Kirche von San Pietro di Castello ragen über die Dächer von Castello, als seien sie nur gebaut worden, um ein Motiv für die Fotos der Touristen oder für die Postkarten aus Venedig zu liefern.
Die Fondamenta Sant’Anna führt Morello an einem Kanal entlang. Es begegnen ihm die ersten Touristen. Drei japanische Frauen trotten in unauffälliger hellgrauer Kleidung einige Meter vor ihm her. Eine von ihnen trägt einen Metallstab, an dessen Ende ein Smartphone befestigt ist. Um den Abstand zu vergrößern, bleibt Morello stehen. Er betrachtet die alten Häuser. Es ist verblüffend: Sie scheinen in dem stinkenden Wasser zu schwimmen. Kann man so leben? Er legt eine Hand aufs Herz und fühlt plötzlich Mitleid. Die armen Venezianer. Ob sie sich an den Gestank gewöhnt haben? Vielleicht ist ihr Geruchssinn im Laufe der Jahrhunderte abgestumpft. Er sieht auf seine Uhr. Neun Uhr.
Er hat noch Zeit.
Die drei Japanerinnen biegen ab, steigen einige Stufen hoch auf eine kleine Brücke und bleiben oben stehen. Dann geschieht etwas Überraschendes. Eine der Frauen zieht einen gelben Papierschirm aus der Tasche und spannt ihn auf. Gleichzeitig beugt sie sich nach vorne, streckt das Kreuz und hebt das linke Bein, bis es waagerecht zu schweben scheint, als würde sie auf einem Seil balancieren. War sie eben noch unauffällig und grau, so erblüht sie vor Morellos Augen und strahlt wie eine Primaballerina. Ihre Freundin hebt den Stick mit dem Handy und fotografiert sie. Die Frau senkt das Bein, hebt einen Arm, geht in die Knie, strahlt und lacht. Das Handy klickt und klickt. Als sich der Stab mit dem Telefon senkt, schrumpft sie, steht sie wieder da wie zuvor – unauffällig und klein. Sie greift nach dem Stick ihrer Freundin, und nun probt diese eine Pose und verwandelt sich innerhalb einer Sekunde in einen anderen Menschen.
Er blickt sich um. Für einen Moment bleibt sein Blick an zwei Männern in dunkelbraunen Anzügen hängen, die im Gespräch miteinander an einer Hauswand lehnen. Hat er die beiden nicht eben …? In diesem Moment kichern die drei Asiatinnen laut auf, er wendet sich um, und nun werden die Frauen Morellos Anwesenheit gewahr, sie verstummen sofort und halten verlegen die Hände vor den Mund. Als er sich wieder nach den Männern umdreht, sind diese verschwunden. Irritiert geht er weiter.
Am Ende der Fondamenta Sant’Anna endet der Kanal. Ein längeres Holzboot liegt hier vertäut, beladen mit Kisten von Gemüse und Obst. Morello sieht Auberginen, Karotten, Tomaten, Sellerie, sogar Pomodorini di Vittoria, die Kirschtomaten aus Vittoria, und Aglio rosso di Nubia, roten Knoblauch aus Nubia, Sizilien. Vorne, auf den ausgebleichten Bootsdielen, entdeckt er sogar eine Kiste mit Fichi d’India: die Kaktusfeigen, die in Sizilien überall wachsen. Alles sieht frisch und gut aus. Genau hier, beschließt Morello, wird er später einkaufen. Zumindest muss er nicht verhungern bei den Barbaren im Norden.
Nach wenigen Schritten steht er vor einem Fischladen. Der Verkäufer strahlt ihn an und weist mit großer Geste auf die Auslagen. »Möchten Sie frischen Fisch? Wir haben alles, was das Herz …«
»Auf dem Rückweg komme ich vorbei. Versprochen!«, sagt Morello. »Jetzt brauche ich erst mal einen Espresso.«
Der Mann weist mit dem Daumen auf eine Bar in Morellos Rücken. »Da verkehren keine Touristen.« Morello lacht, winkt dem Mann zu und tritt ein.
Der Espresso doppio hat ihm gutgetan. Er läuft nun durch die Via Garibaldi. Endlich eine große Straße. Endlich etwas mehr Luft. Na ja, Luft – viel Wind weht auch hier nicht. Immerhin sieht er rechts und links der Straße einige Geschäfte, Bars, Restaurants, Trattorien, einen kleinen Supermarkt, zwei Boutiquen, sogar einige Stände, die gefälschte Marken-T-Shirts oder raubkopierte DVDs verkaufen.
Als er die Steinbrücke über die Riva San Biagio passiert, sieht er den Campanile des Markusplatzes über die Dächer ragen. Während alle anderen um ihn herum ihre Fotoapparate dem Wahrzeichen der Stadt entgegenrecken, schiebt sich Morello fluchend durch eine Gruppe chinesischer Touristen, die einem Führer mit einer kleinen roten Fahne folgt. Er wird grob gegen das Geländer gedrückt. Morello stolpert und stößt gegen ein älteres englisches Ehepaar, das sich sofort bei ihm entschuldigt. Eine weitere Horde chinesischer Touristen hetzt die Treppe hinauf. Jede Lücke ausnutzend, windet sich Morello durch sie hindurch und wischt sich den Schweiß von der Stirn, als er die letzte Treppenstufe genommen hat.
Doch schon droht die nächste Brücke: Riva Ca’ di Dio. Wie Sardellenschwärme fluten Touristen die Treppen. Riva degli Schiavoni, die letzte Brücke vor dem Markusplatz, ist ein Inferno. Touristen aus Asien, aus Europa, aus Amerika drängen sich Körper an Körper schrittweise darüber. Hilflos lässt sich Morello mit der Masse treiben, drücken, schieben und erreicht endlich die andere Seite. Restaurants und Bars haben hier Stühle und Tische ins Freie gestellt. Doch daran vorbeizukommen ist eine Herausforderung! Auf der linken Seite öffnet sich der Canal Grande. Vaporetti tuckern heran, Gondeln gleiten durch das Wasser, und am Ufer gegenüber liegen protzige Jachten, eine größer, neuer und teurer als die andere. »Das ist Dantes Inferno«, sagt Morello leise, »und ich bin wegen meiner Sünden zur ewigen Verdammnis verurteilt worden in diesen schlimmsten aller Höllenkreise.«
Dass er den Höhepunkt des Irrsinns noch nicht erreicht hat, begreift er erst, als er den Markusplatz überquert. Hier tobt das wahre Inferno. Es ist neun Uhr morgens, und der Platz ist ein einziges Chaos. Alle fotografieren alles, jeden und gerne sich selbst. Ein japanischer Mann hebt freundlich lächelnd die Kamera und fotografiert sogar ihn. Morello macht eine obszöne Geste, und der Mann dreht sich erschrocken um. Was für eine Erleichterung wäre es, sofort alle Fotoapparate beschlagnahmen zu können!
Basta fotografare! Fotografieren verboten!
Morello versucht sich zu orientieren. Er zieht die ausgedruckte E-Mail aus dem Jackett: auf dem Markusplatz rechts, in die Calle della Canonica.
Er steckt den Zettel in seine Hosentasche und erstarrt.
Vor ihm steht ein dicker Mann in kurzen Hosen, mit Oberschenkeln wuchtig wie die Säulen von San Marco und San Todaro. Sein Gesicht liegt im Schatten eines breitkrempigen Cowboyhuts. Er brüllt in breitem Amerikanisch seiner Frau etwas zu, die nur zwei Meter vor ihm steht, den Fotoapparat auf Schulterhöhe im Anschlag wie ein Sturmgewehr. Auf dem Hut ihres Mannes drängen sich Tauben, nicht etwa zwei oder drei, nein, es müssen zwanzig, dreißig, vierzig sein, pickend, gurrend, kackend. Jetzt landet flügelschlagend eine weitere und drückt sich zwischen die anderen. Der dickbeinige Cowboy schleudert einige Körner auf seinen Hut. Er breitet die Arme aus, und seine Frau hebt den Fotoapparat.
Morello schüttelt den Kopf. Wo bin ich nur hineingeraten? Cazzo! Was geht in dem Kopf eines Menschen vor, der sich von seiner Frau fotografieren lässt, während ihm Dutzende Tauben auf den Kopf scheißen?
Nichts wie weg.
Er schlängelt sich durch die Touristen. »Fermiamo le grandi navi!«, hört er plötzlich eine Stimme über den Platz schallen. »Stoppen wir die großen Schiffe!« Morello dreht sich um.
»Scusi, Signora! – Scusi, Signore!«
So oft und in so kurzen Abständen hat Morello sich noch nie entschuldigt. Er drückt zwei Jugendliche zur Seite, die, den Blick auf ihre Smartphones gerichtet, wie Zombies durch die Menge schleichen. Dann, am Kai angelangt, sieht er eine Gruppe von etwa zwanzig oder dreißig Personen, die laut »No grandi navi« rufen. Sie haben ein großes Transparent entfaltet, auf dem mit großen Buchstaben zu lesen ist: »Studenti contro navi da crociera«, Studenten gegen Kreuzfahrtschiffe.
In der Mitte der Gruppe steht ein junger Mann, der ein Megafon an den Mund hält und offenbar den Ton angibt, die Gruppe orchestriert. Der Mann ist auffallend blond und – Morello erkennt es mit leichtem Neid – gesegnet mit vollen Locken, die ihm bis auf die Schultern fallen und ein schmales, intelligentes Gesicht umrahmen. Athletische Figur, groß, etwa 1,90 Meter. Morello schätzt ihn auf fünfundzwanzig. Er steht aufrecht und selbstbewusst in der Gruppe, eine Hand in die Hüfte gestemmt wie ein Pirat, die andere hält das Megafon. Ohne Zweifel – wieder verspürt Morello das leichte Unbehagen, das Neid in ihm hervorruft: Er sieht attraktiv aus. Der junge Mann gibt ein Zeichen, wieder ruft die Gruppe im Chor: »No grandi navi!« Ein Mädchen tritt aus der Gruppe, nimmt die Hand des jungen Mannes und zieht daran, sodass er sich umdrehen muss.
Plötzlich ist die Sonne verschwunden. Ein kühler Schatten fällt auf die Szene. Etwas Gespenstiges, Riesiges drängt sich durch die Lagune. Ein Monster, größer als alles, was Morello je gesehen hat. Ist das noch ein Schiff?
Cazzo! So groß wie ein Wolkenkratzer! Der Dogenpalast und der Campanile wirken plötzlich klein wie Spielzeug neben dem Monster aus Stahl.
Morello muss den Kopf ins Genick legen, um zum Deck des Schiffes sehen zu können. Kleine schwarze Figuren drängen sich an der Reling und winken hinunter auf den Markusplatz, wo für einen Augenblick alle Bewegung erstarrt. Dann bricht ohrenbetäubender Lärm aus – Trillerpfeifen und laute Schreie: »No grandi navi! No grandi navi!« Mittelfinger werden den Passagieren auf dem Deck des Kreuzfahrtschiffes entgegengereckt, die munter weiterwinken, als nähmen sie den Protest gegen sie nicht wahr.
Der blonde Lockenkopf hebt wieder das Megafon und wendet sich diesmal an die Touristen, die geschockt die Einfahrt des Monsters aus Stahl, Eisen und Glas betrachten. »Diese Schiffe zerstören die Stadt, die auf der Welt einmalig ist. Sie sind so gewaltig, dass sie unsere historischen Paläste überragen und winzig aussehen lassen. Das Vibrieren ihrer Motoren lässt den Putz an den Fassaden bröckeln. Sie erzeugen Wellen, die den Untergrund Venedigs bedrohen und dafür sorgen, dass die Stadt weiter absinkt.«
Aus den Augenwinkeln entdeckt Morello zwei Männer, die etwas abseitsstehen und sich als Einzige nicht von dem Schiff ablenken lassen. Ihr Blick weicht nicht von der Protestgruppe. Sie tragen Jeans, T-Shirts, darüber Lederjacken, neue Sneakers.
Zivilbullen.
Eindeutig.
Der blonde Lockenkopf, den rechten Arm lässig um das hübsche Mädchen gelegt und offenbar der Anführer der Gruppe, hebt wieder das Megafon.
»Wir wollen auch keinen neuen Hafen für Kreuzfahrtschiffe in der Lagune. Wir wollen diesen neuen Irrsinn nicht. Wir wollen kein Venedig 2.0! Für diesen Irrsinn sollen weiter 2,3 Millionen Kubikmeter Lagunengrund ausgegraben werden. Die dadurch gesteigerte Fließgeschwindigkeit des Wassers beschleunigt die weitere Erosion der Lagune. Es bedeutet mehr Wellengang und eine weitere Zerstörung Venedigs.«
Er hebt die Stimme und ruft: »No Venezia 2.0!«
Als die Gruppe in den Ruf einstimmen will, drängt sich ein anderer junger Mann, kleiner und kräftiger als der Anführer, vor und reißt dem Blonden mit einer schnellen Bewegung das Megafon aus der Hand. Die beiden diskutieren heftig. Die Gruppe bricht den Sprechchor ab und schaut der erregten Diskussion der beiden zu. Das Mädchen schreit den neu hinzugekommenen kräftigen Mann an. Doch die Gruppe steht zu weit weg. Morello versteht nicht, worum es geht. Doch der Blonde scheint plötzlich nachzugeben. Er nickt, und der kräftigere junge Mann gibt ihm zögernd das Megafon zurück. Das Mädchen wendet sich empört von den beiden jungen Männern ab und geht zurück zu den anderen Studenten.
Der blonde Junge hebt das Megafon, und Morello hört: »Wenn die Monster vertäut sind, laufen die Schiffsmotoren rund um die Uhr weiter, um den Betrieb an Bord aufrechtzuerhalten. Sie verwenden das schmutzigste Schweröl der Welt. Das ist eine enorme Belastung für Luft und Wasser Venedigs. So kommt es, dass, obwohl hier keine Autos fahren, Venedig eine der schmutzigsten Städte Europas ist. Ein Monsterschiff zählt wie 100000 Autos. Venedig ist krank. Es stirbt. Vor unseren Augen. Es stirbt von innen heraus. Und die Krankheit hat einen Namen: Massentourismus. Der Massentourismus vertreibt uns, die wir hier geboren sind. Wir finden buchstäblich keine Wohnungen mehr.«
Die Gruppe ruft wieder im Chor: »No grandi navi!«
Morello macht sich wieder auf den Weg. Es wird Zeit.
Auch der Cowboy starrt auf das Kreuzfahrtschiff. Eine Taube versucht, auf seinem Hut zu landen, doch mit einer schnellen Kopfbewegung vertreibt er sie. Seine Frau steht neben ihm und fotografiert das Monster, das nun die Sicht auf die Lagune komplett versperrt. Sie schießt ein Bild, kontrolliert das Ergebnis auf dem Display und hebt erneut die Kamera.
Ein etwa 18-jähriger Junge in Cargohose, T-Shirt und verstrubbeltem Haar tritt dicht hinter sie, und Morello sieht, wie sich seine Hand langsam auf die Handtasche der Frau legt. Mit einer vorsichtigen, fast zärtlichen Bewegung öffnet er den Reißverschluss.
In wenigen Schritten steht Morello vor den beiden Zivilbullen und hält ihnen seinen Ausweis direkt vor die Augen. »Ich brauche eure Handschellen«, sagt er.
Die beiden starren ihn verblüfft an.
»Avanti!«, zischt Morello. »Das ist keine Bitte. Das ist ein Befehl.«
Jetzt bewegt sich einer der beiden, langsam, als würde er gerade aus dem Tiefschlaf erwachen. Er greift nach hinten, seine Hand verschwindet unter der Lederjacke, dann zieht er zögernd ein Paar Handschellen hervor. Morello schnappt sie sich mit einer schnellen Handbewegung und wendet sich um. Er sieht, wie der verstrubbelte Junge mit spitzen Fingern in die Handtasche der Frau greift.
Morello rennt los.
Der Junge mit der Strubbelfrisur blickt auf. Für einen kurzen Augenblick sehen sie sich in die Augen. Der Dieb zieht mit einer einzigen fließenden Bewegung das Portemonnaie heraus, dreht sich um und rennt los. Er rempelt den Cowboy an und verschwindet zwischen den umstehenden Touristen. Die Frau, durch die plötzliche Bewegung aufgeschreckt, entdeckt die geöffnete Handtasche, greift hinein, wühlt darin herum und beginnt zu schreien. Morello läuft an ihr vorbei. Die Frau deutet auf ihn und schreit: »Thief, thief! Stop him!«
Der Cowboy stürmt ihm entgegen, die rechte Faust zum Schlag erhoben. Morello weicht ihm mit einem seitlichen Ausfallschritt aus. Der Faustschlag geht ins Leere. Der Cowboy taumelt von der Wucht seines eigenen Schlages nach vorne und stürzt auf die Knie. Morello stößt gegen eine Japanerin, die erschreckt zurückweicht. Er rennt weiter.
Von Weitem sieht er, wie der jugendliche Dieb sich einen Weg durch die Menge bahnt. Mit beiden Händen schiebt und drückt er zwei junge Männer beiseite, die immer noch gebannt auf das Monsterschiff starren. Einer von ihnen führt gerade begeistert die Kamera vors Gesicht. Die Rufe der Protestgruppe werden leiser, je schneller Morello sich durch die Menschenmassen drängt. »No grandi navi! No grandi navi!«
Dann endlich stehen die Menschen nicht mehr in einem dichten Haufen, und Morello spurtet dem Dieb hinterher. Er verliert ihn aus den Augen, bleibt stehen, springt in die Höhe und sieht, wie der Junge gerade zwischen zwei Löwenstatuen hindurch in die enge Calle della Canonica rennt. Um sich Platz zu schaffen, schreit Morello »Polizia! Polizia! – Fate largo!« und »Police – go away!«. Doch Touristen sind so träge wie eine Horde Rindvieh. Sie bleiben stehen und glotzen. Bis sie begreifen, dass sie zur Seite gehen sollen, ist er schon an ihnen vorbeigerannt.
Am Ende der Calle della Canonica stürmt der Taschendieb eine kleine Brücke hinauf. Er nimmt drei Stufen mit einem Satz. Morello registriert, dass der Junge nicht überlegen muss, wo er hinrennt. Ein Einheimischer. Jemand, der sich auskennt. Oben auf der Brücke schaut der Dieb sich kurz um, ob Morello ihm noch folgt. Mit einem einzigen Satz springt er die Stufen der Treppen hinab. Er biegt in die Corte Sabionera. Morello folgt ihm. Eine verdammt enge Gasse. Der Junge läuft, ohne sich umzusehen. Morello gibt nicht auf. Der Taschendieb biegt in die Calle Sacrestia und dann in die Calle de la Corona. Morello keucht. Seine Lungen beginnen zu stechen, und er bemerkt, dass sich der Abstand vergrößert. Der Dieb wird entkommen. Soll er aufgeben? Ja, schreien seine Lungen. Auf keinen Fall, befiehlt der Kopf. Er versucht, längere Schritte zu machen, das Tempo zu steigern. Doch er wird nicht mehr lange mithalten können.
Am Ende der Calle de la Corona hebt sich erneut eine kleine Brücke über einen Kanal. Der Aufgang ist von einer Gruppe japanischer Touristen blockiert, die über die Treppe fluten und dem Dieb den Weg versperren.
»Bleib stehen«, ruft Morello. »Jetzt krieg ich dich sowieso.«
Der Junge schaut verzweifelt nach rechts und links.
»Du hast keine Chance«, keucht Morello und zieht die Handschellen heraus.
Da stützt sich der Junge mit der rechten Hand auf das Steingeländer und springt mit einem Satz hinauf. Mit einem weiteren Satz landet er in einer leeren Gondel, die an der Brücke festgebunden ist.
»Endstation«, sagt Morello schwer atmend und beugt sich über die Brücke. »Komm herauf, sonst hole ich dich da unten ab.«
Eine große Gondel gleitet vorbei. Fünf ältere Damen lehnen sich in den schwarzen Sitzen nach vorne und beobachten interessiert den Jungen und Morello. Der Gondoliere, ein bärtiger älterer Mann, blickt stoisch geradeaus und führt mit minimalen Bewegungen den Remo, das Ruder. Seufzend schwingt sich Morello auf das Brückengeländer.
»Du willst es nicht anders.«
Der Dieb springt.
Mit einem großen Satz landet er auf der vorübergleitenden Gondel, direkt hinter dem Gondoliere, kämpft für einen Moment mit dem Gleichgewicht und lacht dann zu Morello hinauf.
Die Gondel verschwindet unter der Brücke.
Morello läuft zur anderen Seite. Mit einem Satz steht er auf der Brüstung und sieht, wie die Gondel unter ihm hervorgleitet. Er wartet einen Augenblick. Dann springt er.
Er landet hart auf dem Standplatz hinter dem Gondoliere und muss sich an dem Jungen festhalten, um nicht zu stürzen. Mit der anderen Hand stützt er sich am Rand der Gondel, richtet sich sofort auf und hebt die Handschellen hoch.
»Endstation«, sagt er zu dem Jungen. »Heb deine Arme vor den Körper.«
Er sieht nicht, wie der Gondoliere die Stange schwingt. Er spürt nur den Schlag gegen seine Hüfte, verliert das Gleichgewicht und fällt. Das Wasser schlägt über seinem Kopf zusammen. Unter Wasser hört er ein zweites platschendes Geräusch, als auch der Junge neben ihm in den Kanal stürzt. Als Morello wieder auftaucht, sieht er den wild mit den Armen paddelnden Taschendieb und dessen verzweifeltes Gesicht.
»Ich ertrinke. Ich kann nicht schwimmen …«
»Ein venezianischer Taschendieb, der nicht schwimmen kann? Erzähl doch keine …« Morello spuckt aus und tastet nach seinem Kopf. »Verdammt, wo ist meine …?«
Er blickt sich um. Wenige Meter entfernt entdeckt er die Coppola, langsam versinkt sie im Kanal. Mit einem Zug ist er bei ihr, zieht sie aus dem Wasser und stülpt sie sich auf den Kopf, dann schwimmt er zu dem schreienden Dieb und packt ihn am Hemdkragen. Er greift nach dem rechten Arm des Jungen und hält ihn über der Wasseroberfläche. Die Handschelle klickt. Die zweite legt er sich ums eigene linke Handgelenk und lässt sie einrasten.
»Komm, stell dich bloß nicht so an … hier kann man doch fast noch stehen.«
Dann schwimmt er in drei Zügen zur Brücke, den Taschendieb im Schlepptau. Hände recken sich ihnen entgegen. Morello fasst zu, beide werden hochgezogen und stehen kurz darauf völlig durchnässt auf der Brücke. Touristen umlagern sie. Manche stellen sich neben die beiden und machen ein Selfie.
»Nichts wie weg hier«, sagt Morello und zieht den Jungen hinter sich her die Gasse hinunter.
Bei jedem Schritt platschen die Schuhe auf den Boden und hinterlassen eine nasse Spur. Wasser läuft Morello aus den Haaren, aus dem neuen Anzug und dem Hemd. Er greift in die Tasche und zieht die E-Mail mit der Wegbeschreibung heraus. Der matschige Papierklumpen zerfleddert beim Versuch, ihn auseinanderzufalten.
»Wie heißt du?«
»Claudio.«
»Ich bin Commissario Morello. Kennst du das Commissariato di Polizia San Marco?«
»Ja … ich … ich war leider schon zweimal da.«
»Gut, Claudio«, sagt Morello und schaut auf die Uhr: 10.20 Uhr. »Gehen wir. Zeig mir den Weg. Ich bin neu hier.«
»Wir sehen beide ziemlich nass aus, Herr Kommissar.«
»O.k. Halt dich irgendwo fest!« Morello bückt sich halb und zieht die Schuhe aus und kippt das Wasser auf den Bürgersteig. Dann streift er erst den rechten Socken vom Fuß und wringt ihn aus, dann den linken.
Claudio schaut zu, dann ist er an der Reihe und zieht Schuhe und Socken aus.
»Maniero könnte uns helfen«, sagt er.
»Maniero?«, fragt Morello.
»Ein Vetter von mir. Er besitzt einen Friseursalon. Nur ein paar Schritte entfernt.«
Kurz danach stehen sie in dem Friseurladen Maniero e C. in der Gasse Ruga Giuffa. Maniero, der Besitzer, sieht aus wie eine Erscheinung aus dem vorletzten Jahrhundert. Er ist etwa fünfzig Jahre alt, hat eine Glatze, aber einen brustlangen, gepflegten Bart. Er bugsiert beide in den hinteren Teil des Friseursalons und zieht einen Plastikvorhang vor. Dort stehen Morello und Claudio nun, die Handschellen am Arm, die Hosen ausgezogen. In der jeweils freien Hand halten sie einen Föhn und trocknen mit dem heißen Luftstrom Morellos Hosen und, mit einiger Mühe, das Jackett, das über seinem linken und Claudios rechtem Handgelenk baumelt.
»Die Sachen sollten bald trocken sein«, sagt Morello und föhnt nun seine Coppola.
»Trocken schon. Aber weit entfernt von ›bella figura‹«, sagt der Taschendieb.
Kurz nach elf Uhr biegen sie in die Fondamenta San Lorenzo ein. Fünfzig Meter vor ihnen leuchtet unübersehbar das Logo der Polizeistation. Morello zieht an den Enden seines Jacketts, zieht am Hemd, zieht an der Hose. Doch die unzähligen Falten lassen sich nicht gerade ziehen. Allein die Coppola sieht aus wie immer.
»Sie sehen aus, als wären Sie in einen Kanal gefallen und hätten anschließend Ihre Kleidung mit einem Föhn getrocknet«, sagt der Taschendieb und grinst.
Vor dem Eingang des Kommissariats zupft und zerrt Morello noch einmal an seinen Klamotten. Es ist sinnlos.
»Dann eben nicht«, sagt er, atmet noch einmal durch und zieht den Taschendieb hinter sich ins Kommissariat.
Hinter dem Tresen am Eingang steht ein uniformierter Polizist und spricht langsam auf den Cowboy und seine Frau ein. »Devi compilare il modulo.«
Der Cowboy schreit: »Modulo! Modulo! Von welchem Modul redet der? Kann der Idiot kein Englisch? Sag ihm doch, er soll loslaufen und den Dieb fangen.«
Morello sagt zu ihm auf Englisch: »Mein Kollege möchte, dass Sie das Formular ausfüllen.«
Die Frau des Cowboys dreht sich um. Sie wird blass und schreit: »That’s the thief!« Und zeigt mit dem Finger auf ihn.
Morello zeigt zum zweiten Mal seinen Ausweis. »No, Signora. Ich bin Polizist. Der Dieb steht neben mir.«
Er wendet sich an Claudio: »Wo ist das Portemonnaie?«
Claudio greift in die Außentasche seiner Cargohose und zieht es heraus.
Morello sagt: »Leider etwas nass geworden.« An Claudio gewandt: »Los, gib es zurück.«
Die Frau reißt Claudio das Portemonnaie aus der Hand, öffnet es hektisch, zählt das Geld, prüft die Vollständigkeit der Kreditkarten.
»Wo ist das Büro des neuen Kommissars?«, fragt Morello den Polizisten.
Der Uniformierte zeigt auf eine Treppe. »Im ersten Stock. Sie werden erwartet. Drittes Zimmer rechts.« »Und was ist mit dem?«, fragt er dann und deutet auf Claudio.
»Ich würde ihn gerne bei Ihnen lassen, aber …« Morello hebt den Arm und klirrt mit der Kette der Handschellen.
»Füllen Sie das Formular aus«, sagt Morello zu der Frau des Cowboys und zieht den widerstrebenden Claudio die Treppe hinauf.
Im ersten Stock steht Morello in einem langen Flur. Die Tür des dritten Raumes steht halb offen. Gemurmel dringt aus dem Raum. Morello nähert sich leise und hält dann inne. Er hört verschiedene Stimmen.
»Ein Sizilianer«, sagt eine empörte, tiefe männliche Stimme. »Das muss man sich mal reinziehen. Ein Sizilianer! Natürlich ist er unpünktlich.«
»Warte doch erst mal ab«, sagt eine Frauenstimme.
»Einer aus dem tiefsten Süden in Venedig!«, antwortet ein anderer Mann. »Man weiß doch, dass die faul wie Bohnenstroh sind.«
»Ach, aber du bist doch genauso faul und kommst nicht aus dem Süden«, sagt die gleiche Frauenstimme. »Schauen wir uns ihn doch erst mal an.«
»Das brauche ich gar nicht«, sagt der Mann. »Warum wird uns ein fauler Sizilianer hier nach Venedig geschickt? Entweder hat er jemanden in der Familie, mit Beziehungen, verstehst du, oder er ist ein verdammter Mafi…«
Es reicht. Morello öffnet die Tür ganz und tritt ein. »Guten Morgen, Kollegen«, sagt er. »Ich bin Antonio Morello, der neue Commissario aus Cefalù, euer neuer Chef. Es tut mir leid, dass ihr auf mich warten musstet. Schuld daran ist dieser junge Mann. Er heißt Claudio und hat vor meinen Augen versucht, auf dem Markusplatz einer amerikanischen Touristin das Portemonnaie zu stehlen.«
»Sie wissen aber schon, wir sind hier das Kommissariat für Gewaltverbrechen«, sagt dieselbe Stimme, die Morello von der Tür aus gehört hat. Sie gehört einem erstaunlich jungen Mann. Morello schätzt ihn auf Mitte zwanzig. Trainierter Körper, vorgerecktes Kinn, Sonnenbrille kampfeslustig in die kurz geschnittenen schwarzen Haare gesteckt.
Morello schaut ihn an und schweigt. Er richtet den Blick genau auf den Punkt zwischen den Augen. Die nun eintretende Stille wird plötzlich ungemütlich, dann drückend, als wäre die Luft in dem Zimmer schwerer geworden. Alle sehen auf den Boden. Nur hin und wieder huscht ein Blick hoch zu Morello. Claudio verzieht das Gesicht, doch Morello starrt seinen neuen Untergebenen unbewegt an. Dieser rutscht auf seinem Stuhl ein Stück nach vorne, dann wieder zurück. Er fühlt sich unter Morellos Blick zunehmend unwohl. Dann grinst er, sieht nach rechts und links zu seinen Kollegen, aber keiner schaut ihn an.
Dann gibt er auf. Mühsam, als trage er eine schwere Last, stemmt er sich aus seinem Stuhl. Morello registriert die langen Arme, die ihm fast bis zu den Knien reichen. An ihnen hängen zwei schwere Hände, die Morello eher bei einem Kohlearbeiter vermutet hätte.
»Ich bin Mario Rogello. Assistente capo.«
»Danke«, sagt Morello. »Ich freue mich, dich kennenzulernen.« Er geht zwei Schritte auf ihn zu und reicht ihm die Hand. Rogello schlägt verblüfft ein.
Ein Mann, etwa 1,80 Meter groß, steht auf. Sportlich breite Schultern, aber mit einem Bauchansatz, der auf viel Spaghetti und noch mehr Zitronentorte hinweist. Seine Haare sind bereits vollständig grau. Seine Augen sind braun und blicken ohne Feuer oder Interesse in Morellos Richtung. Der Mann trägt einen braunen Anzug mit einer Wollkrawatte. Er strahlt sowohl etwas Gewissenhaftes als auch etwas entschieden Deprimierendes aus. Morello erinnert er eher an einen Buchhalter als an einen Polizisten.
»Ferruccio Zolan. Vice Commissario.« Er schweigt einen Augenblick und sagt dann, fast widerwillig: »Benvenuto Commissario. Ich bin Ihr Stellvertreter.«
»Anna Klotze. Ispettrice Sostituta Commissario.«
Eine erstaunlich hochgewachsene Frau tritt nach vorne, eine Frau, die mindestens einen Kopf größer ist als Morello. Sie ist jung, Morello schätzt sie auf Ende zwanzig. Sie erinnert ihn an eine Schauspielerin aus der Serie Game of Thrones. Er überlegt einen Augenblick, wie die Figur heißt. Brienne von Tarth, fällt ihm wieder ein. Anna Klotze hat ein interessantes Gesicht, schmal und lang, gerade Nase, schwarzbraune Augen, nicht rund, sondern länglich, fast mandelförmig, ohne auch nur eine Spur asiatisch zu wirken. Voller Mund. Skeptischer Blick. Sie trägt dunkelblaue Jeans und darüber eine dunkelgrüne lange Bluse. Darüber ein brauner, breiter Gürtel. Lange dunkle Haare, die in einen langen Zopf münden, umrahmen ein entschlossenes Gesicht. Ihr Blick richtet sich auf einen unsichtbaren Punkt etwa zwei Handbreit vor ihren Augen. Das gibt ihr etwas Kämpferisches.
Ich habe eine Amazone im Team. Diese Frau braucht sich vor niemandem zu fürchten.
»Buontschiorno, Signor Commissario. Benvenuto a Venezia.« Sie tritt wieder zurück und schaut Morello in die Augen.
»Irre ich mich, oder hast du tatsächlich einen deutschen Akzent?«
»Ich komme aus Triest. Manchmal hört man uns noch an, dass wir früher zu Österreich gehörten.«
»Prima, dann sind wir ja ein internationales Team.«
Niemand lacht. Anna Klotze tritt zurück und starrt zum Fenster hinaus.
Eine zweite Polizistin tritt nach vorne. Auch sie trägt keine Uniform, sondern ein hellblaues Kleid, ist etwa 30 Jahre alt, schmal, knapp 1,70 Meter groß. Eine große, schwarze Brille versteckt ein hübsches Gesicht.
»Viola Cilieni. Segretaria. Ich schreibe Ihre Post und kümmere mich um Ihre Termine. Felice di conoscerla, Signor Commissario.«
Sie ist die Einzige, die Morello mit einem Lächeln begrüßt, obwohl ihr Gesicht rot geworden ist.
Der letzte Polizist seines neuen Teams stellt sich vor. Er ist der jüngste von ihnen. So groß wie Viola, wirkt im Unterschied zu ihr jedoch schmal. Ein offenes, waches Gesicht mit Pausbäckchen. Doch auch er blickt Morello nicht in die Augen, sondern schaut intensiv auf den Boden, als hätte er dort ein größeres Geldstück verloren.
»Alvaro Camozzo, Spezialagent. Benvenuto a Venezia, Signor Commissario.«
Morello schaut in die Runde. Ein toller Empfang. Lange Gesichter und traurige Blicke, die den Boden nach Kakerlaken absuchen. Eine Stimmung, als sei das Team gerade auf einer Beerdigung auf der Insel San Michele und würde einen Erbonkel zu Grabe tragen, der nur Schulden hinterlassen hat. Nur Priester und Sarg fehlen.
»Guten Morgen! Wir sind jetzt wohl ein Team, nicht wahr?«, sagt Morello. »Also, passt auf. Ich bin bereits um sechs Uhr aufgestanden, durch ganz Venezia gelaufen, um hier zu euch zu kommen. Ich habe bereits diesen Taschendieb gefangen, und jetzt habe ich Hunger. Wie wäre es, wenn wir alle zusammen in eine Bar gehen und frühstücken? Vielleicht muntern euch ein guter Cappuccino und ein Cornetto etwas auf. Ich lade euch alle ein.«
Sie sehen ihn erstaunt an. Mario Rogello runzelt die Stirn.
»Eigentlich müssen einige dringende …«, sagt Ferruccio Zolan, sein Stellvertreter.
»Das ist ein Befehl. Ferruccio, kennst du ein gutes Café in der Nähe?«
»Kenne ich. Doch der Vice Questore erwartet Sie seit vierzig Minuten.«
»Dann lassen Sie uns sofort aufbrechen. Im Notfall wird der Vice Questore einige Minuten länger warten. Erst gehen wir zusammen frühstücken.«
»Darf ich auch mit?«, fragt Viola Cilieni, die Sekretärin.
»Alle gehen mit«, sagt Morello.
»Ich habe auch Hunger«, sagt der Taschendieb.
»Dich werde ich sowieso nicht los«, sagt Morello und blickt auf die Handschellen. »Mario, du bekommst den ersten Auftrag von mir.« Er hebt den Arm. »Diese Handschellen habe ich mir von Kollegen in Zivil geliehen, die offenbar eine Kundgebung gegen Kreuzfahrtschiffe überwacht haben. Da es schnell gehen musste, habe ich nicht nach den Schlüsseln gefragt. Telefoniere, finde die Kollegen und besorg die Schlüssel für diese Handschellen. Und komm dann zu uns ins Café.«
Mario verzieht träge das Gesicht. »Wenn es Carabinieri sind … sehe ich schwarz, die kooperieren nicht mit uns, Herr Kommissar.«
»Du schaffst das sicher.«
»Dürfte ich vielleicht eine Büroklammer bekommen?«, fragt Claudio leise.
Wie eine kleine Trauerprozession wandelt das Kommissariat zur nächsten Ecke in das Café La Mela Verde in der Fondamenta de l’Osmarin.
Cappuccini und Cornetti kommen auf den Tisch.
Claudio sieht verzweifelt in die Runde. »So viele Polizisten, wie ich heute kennenlerne, wollte ich in meinem ganzen Leben nicht sehen.«
»Und keiner von ihnen wird dich je vergessen. Claudio, der Taschendieb, gefesselt an den neuen Commissario. Du wirst eine Legende sein auf diesem Kommissariat. Jeder wird dich auf der Straße sofort wiedererkennen. Sogar der Vice Questore.«
»Sehr schlecht fürs Geschäft, Commissario.«
»Mit deinem Geschäft ist es zu Ende, Claudio. Du wirst die Branche oder den Ort wechseln müssen. Vielleicht versuchst du es sogar einmal mit ehrlicher Arbeit.«
Dann klopft Morello auf den Tisch. »Kollegen«, sagt er. »Ab jetzt beginnt unsere Zusammenarbeit. Wenn jemand von euch etwas zu sagen hat, was ihm nicht passt: Jetzt ist der Moment, danach gibt es keine Rücksicht mehr.«
Alle starren auf den Tisch. Niemand sagt ein Wort. Die Stimmung ist angespannt, aber niemand scheint etwas sagen zu wollen. Mario Rogello ist noch nicht da, Anna Klotze schweigt, wie auch Alvaro Camozzo. Nur Viola Cilieni zeigt immerhin mit einem schönen Lächeln ihre Zustimmung.
»Wenn ich eine Büroklammer haben könnte …«, sagt Claudio.
»Halt die Klappe«, sagt Ferruccio Zolan zu ihm.
»Iss lieber noch ein Cornetto«, sagt Morello. »In der Zelle wird das Frühstück vermutlich nicht so gut schmecken.«
Kurze Zeit später stößt Mario die Tür auf und lässt sich auf den Platz neben Viola Cilieni fallen. Sie rückt instinktiv zur Seite.
»Nicht so schüchtern, meine Kleine«, sagt Mario. »Hier im Café bist du sicher vor mir.«
Viola rollt die Augen.
»Hast du die Schlüssel für die Handschellen?«, fragt Morello.
»Ich konnte die Kollegen nicht ausfindig machen, bei denen Sie sie ausgeliehen haben.«
»Im Kommissariat gibt es einen Technikraum und dort auch eine Metallsäge«, sagt Anna Klotze.
»Dann lass uns die Handschellen aufsägen. Ich will den Vice Questore nicht länger warten lassen.«
»Er wartet ohnehin schon seit anderthalb Stunden auf Sie«, sagt Ferruccio Zolan vorwurfsvoll.
»Links, die Holztür, da geht es zum Technikraum«, sagt Mario, als sie das Kommissariat betreten.
Ein feuchter, muffiger Geruch schlägt ihnen entgegen, als Mario die Tür öffnet.
»Avanti«, sagt Morello und zerrt Claudio hinter sich her.
»Also, wenn ich eine Büroklammer hätte …«
»Halt endlich die Klappe«, sagt Ferruccio Zolan zu ihm.
»Du gehst uns langsam auf die Nerven mit deiner blöden Büroklammer. Wozu brauchst du eine Büroklammer? Du wirst noch Zeit genug haben, dir die Ohren zu putzen«, sagt Morello.
»Ich könnte damit die Handschellen aufschließen«, sagt Claudio. »Es handelt sich um ein älteres deutsches Fabrikat der Firma Clemen und Jung aus Solingen. Außen vernickelt. Der Schlüssel hat noch einen einseitigen Bart. Daher kann ich das Schloss mit …«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt? Los, gebt ihm seine verdammte Büroklammer«, sagt Morello laut und zerrt Claudio wieder zurück. »Und dann ab in die Zelle mit ihm.«
Vor der Tür ist ein Metallschild angebracht. Glänzend, spiegelnd – als würde es täglich poliert.
FELICE LOMBARDI
Vice Questore
Morello atmet tief ein, zieht an seinem Jackett und klopft an die große Holztür. Von innen ertönt ein kräftiges »Avanti«. Morello drückt entschlossen die Klinke und tritt ein.
Der Vice Questore sitzt hinter einem großen, geschwungenen Schreibtisch aus hellem Nussholz. Die Arbeitsfläche schimmert blank poliert und ist leer bis auf ein schwarzes Telefon und eine braune Akte. Dahinter sitzt Felice Lombardi, ein großer, stämmiger Mann mit einem sorgfältig gestutzten Bart, der früher einmal schwarz gewesen sein muss, jetzt aber von grauen Haaren durchzogen ist. Der Kopf ist ebenfalls groß, geschmückt mit kurz geschnittenem, dichtem grauem Haar. Aus einem wachen, interessiert blickenden Gesicht schauen Morello freundliche braune Augen an.
»Setz dich!« Lombardi deutet auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und betrachtet Morello nachdenklich.
Dann steht er langsam, geradezu mühsam auf und geht zum Fenster. Er greift in die Brusttasche seiner Uniform und zieht eine Packung Zigaretten heraus, zündet eine davon an, nimmt einen tiefen Zug, öffnet das Fenster und schaut hinaus.
»Du hast schon ein Bad in der Lagune genommen, habe ich gehört«, sagt er dann.
»Es ist eine stinkende Brühe, Signor Vice Questore.«
»Du hast verdammtes Glück«, sagt er, ohne sich umzudrehen.
»Ich kann schwimmen, Signor Vice Questore.«
»Du hast Glück, weil du jetzt in der schönsten Stadt der Welt Polizist sein darfst. Es ist ein Privileg.«
»Als das Wasser im Kanal über meinem Kopf zusammenschlug, habe ich mich gefragt, wohin in dieser Stadt all das geleitet wird, das … wir hinterlassen, wenn wir auf der Toilette sitzen.«
»Aus der ganzen Welt kommen Menschen zu uns, um diese einmalige Stadt zu sehen. Weltberühmte Filmschauspieler verleben den schönsten Tag ihres Lebens hier – bei uns.«
»Signor Vice Questore?«
»Sie heiraten in Venedig. Dieser … wie heißt er noch einmal, der Schauspieler, der Werbung macht für diesen komischen Kaffee?«
»George Clooney, Signor Vice Questore.«
»Er hat in Venedig diese wunderschöne Frau geheiratet, obwohl weder er noch sie hier wohnen. Meine Frau hat die Fotos aus den Magazinen bis heute aufgehoben. Und der Fußballer, der Deutsche. Spielt wie ein Panzer. Auch wenn das Blut schon fließt. Weißt du, wie der heißt? Auch er hat bei uns geheiratet.«
»Schweinsteiger, Signor Vice Questore.«
»Alles berühmte Leute. Kommen in unsere Stadt.«
»Ich bin kein Leibwächter, Signor Vice Questore.«
Lombardi schließt das Fenster, geht zurück zu seinem Schreibtisch und setzt sich. Er zieht eine Schublade auf, nimmt eine kleine Sanduhr heraus und stellt sie vor sich auf den Tisch. Der Sand rieselt von dem oberen Glasbehälter in den unteren. Als der Sand vollständig in dem unteren Behälter angekommen ist, dreht der Vice Questore die Sanduhr um.
Lombardi und Morello sehen aufmerksam zu, wie der Sand erneut nach unten rinnt.
»Was siehst du, Morello?«
»Eine Sanduhr, Signor Vice Questore.«