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Denglers zehnter Fall führt ins Herz des gegenwärtigen Kampfs um das Recht auf Wohnen. Georg Dengler fühlt sich in Stuttgart so wohl wie schon lange nicht mehr, und auch mit Olga läuft es besser denn je. Trotz der aufziehenden Corona-Pandemie lässt er sich von ihr überreden, in Berlin zu ermitteln. Dort scheint ein Immobilienhai seine Mieter mit kriminellen Methoden rauszuekeln. Doch Dengler muss erkennen, dass die Sache größer ist, viel größer. Das gibt es nirgendwo sonst auf der Welt: In einem Radius von wenigen hundert Metern vereinen sich in Kreuzberg Plattenbauten, schicke Townhouses, die türkische Community und der Schwarze Block. Ausgerechnet hier will der Bauunternehmer zwei Häuser »entmieten«, den danebenstehenden Kindergarten abreißen und ein neues Townhouse bauen. Dazu ist ihm jedes Mittel recht. Die Mieter*innen wehren sich. Eine von ihnen bittet ihre Freundin Olga um Hilfe. Plötzlich stehen sie und Georg Dengler mitten im modernen Berliner Häuserkampf um das Recht auf Wohnen. Dann fällt ein Spekulant vom Dach eines der umkämpften Häuser – und die Lage eskaliert. In seinem zehnten Dengler-Krimi erweist sich Wolfgang Schorlau erneut als ein Meister des politischen Romans. Hochaktuell und spannend. Alle Fälle von Georg Dengler: - Die blaue Liste - Das dunkle Schweigen - Fremde Wasser - Brennende Kälte - Das München-Komplott - Die letzte Flucht - Am zwölften Tag - Die schützende Hand - Der große Plan - Kreuzberg Blues - Black ForestDie Bücher erzählen eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 547
Wolfgang Schorlau
Denglers zehnter Fall
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Titelseite
Über Wolfgang Schorlau
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. Neben den zehn Dengler-Krimis »Die blaue Liste«, »Das dunkle Schweigen«, »Fremde Wasser«, »Brennende Kälte«, »Das München-Komplott«, »Die letzte Flucht«, »Am zwölften Tag«, »Die schützende Hand«, »Der große Plan« und »Kreuzberg Blues« hat er die Romane »Sommer am Bosporus« und »Rebellen« veröffentlicht – und zusammen mit Claudio Caiolo die Venedig-Krimis um Commissario Morello.
2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis, 2012 und 2014 mit dem Stuttgarter Krimipreis sowie 2019 mit dem Stuttgarter Ebner-Stolz-Wirtschaftskrimipreis ausgezeichnet. Das Hörbuch ist bei Argon erschienen.
zur Kurzübersicht
Georg Dengler fühlt sich in Stuttgart so wohl wie schon lange nicht mehr, und auch mit Olga läuft es besser denn je. Dennoch lässt er sich von ihr überreden, in Berlin zu ermitteln.
Das gibt es nirgendwo sonst auf der Welt: In einem Radius von wenigen Hundert Metern vereinen sich in Kreuzberg Plattenbauten, schicke Townhouses, die türkische Community und der Schwarze Block. Ausgerechnet hier will ein Bauunternehmer zwei Häuser »entmieten«. Dazu scheint ihm jedes Mittel recht. Die Mieter*innen wehren sich. Eine von ihnen bittet Denglers Freundin Olga um Hilfe. Plötzlich stehen sie und Georg Dengler mitten im modernen Berliner Häuserkampf um das Recht auf Wohnen. Dann wird ein Mann vom Dach eines der umkämpften Häuser gestoßen, die Lage eskaliert. Doch Dengler muss erkennen, dass die Sache noch größer ist, viel größer.
»… alles, was einen Schorlau-Krimi auszeichnet: ein aktuelles politisches Thema, einen sehr guten Krimi-Plot, eine mitreißende Erzählweise und eben einen sympathischen Ermittler.« Ernst Corinth, Hannoversche Allgemeine Zeitung
Motto
Charaktere
1. Kapitel: Das auslösende Ereignis
Berlin-Kreuzberg, nachts, 03:30 Uhr
Berlin-Kreuzberg, Plattenbausiedlung
Berlin, Waldemarstraße
Berlin-Kreuzberg, Plattenbausiedlung
Berlin-Kreuzberg, Plattenbausiedlung
Berlin-Kreuzberg, Plattenbausiedlung
Berlin-Kreuzberg, Silkes Wohnung
Berlin-Kreuzberg, Plattenbausiedlung
Berlin-Kreuzberg, Silkes Wohnung
Berlin-Kreuzberg, vor der Kita
Berlin-Kreuzberg, Sankt-Michael-Kirche
Berlin-Kreuzberg, Silkes Wohnung
Berlin-Kreuzberg, Sankt-Michael-Kirche
Berlin-Kreuzberg, Silkes Wohnung
Berlin-Kreuzberg, vor dem Ferrari
Berlin-Kreuzberg, Silkes Wohnung
2. Kapitel: Auftrag
Stuttgart, Wagnerstraße, nachts
Berlin, Charité, Kinderklinik, 08:30 Uhr
Berlin-Kreuzberg, Kottbusser Tor
Berlin-Kreuzberg, Silkes Wohnung
Berlin-Kreuzberg, vor dem Nachbarblock
Berlin-Kreuzberg, Silkes Wohnung
Berlin, Ernst-Reuter-Platz, Hans Hilden Immobilien AG
Berlin, Ernst-Reuter-Platz
Berlin-Kreuzberg, vor dem Plattenbau
Berlin-Kreuzberg, Silkes Wohnung
Berlin, Oranienstraße
3. Kapitel: Rückblende Deutsche Eigentum AG, vier Monate vorher
Deutsche Eigentum AG, Konferenzzimmer
Volta, Kalifornien
Sausalito, Kalifornien
4. Kapitel: Ermittlungen
Berlin, Fasanenstraße, Hotel Savoy
Berlin, Olympiastadion
Berlin, U-Bahn
Berlin, Kottbusser Tor
5. Kapitel: Rückblende Organisation Fuhrmann
Kloster Maria Laach
6. Kapitel: Ermittlungen (2)
Berlin-Kreuzberg, SO36
Berlin-Kreuzberg, Silkes Wohnung
7. Kapitel: Rückblende Michael Bertram
Stuttgart, Halbhöhenlage
Stuttgart, Halbhöhenlage
8. Kapitel: Ermittlungen (3)
Berlin, U-Bahn
Berlin-Kreuzberg, Wohnung Arthur Meißner
Berlin, Fasanenstraße, Literaturhaus
Berlin-Kreuzberg, Silkes Wohnung
Berlin-Kreuzberg, Wohnung Arthur Meißner
Berlin-Kreuzberg, Wohnung Patrick Böhmer
Berlin-Kreuzberg, Arthur Meißners Balkon
9. Kapitel: Organisation Fuhrmann
Berlin-Wannsee, Villa Kunterbunt
Rückblende: Die Geschichte der Organisation Fuhrmann
10. Kapitel: Ermittlungen (4)
Berlin, Ernst-Reuter-Platz, Hans Hilden Immobilien AG
Flughafen Lahr, Startbahn
Berlin, Ernst-Reuter-Platz, Hans Hilden Immobilien AG
Berlin, Württembergische Straße, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen
Berlin-Kleinmachnow, Tierklinik
11. Kapitel: Rückblende Michael Bertram
Stuttgart, Halbhöhenlage
Das Vier-Säulen-Geschäftsmodell
12. Kapitel: Ermittlungen (5)
Berlin, Württembergische Straße, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen
Berlin, im Mercedes
Berlin, Hans Hilden Immobilien AG, Denglers Büro
Berlin, Hans Hilden Immobilien AG, Charlotte Hildens Büro
Berlin-Kreuzberg, vor den Plattenbauten
13. Kapitel: Organisation Fuhrmann (2)
Berlin-Wannsee, Villa Kunterbunt
Berlin-Wannsee, Organisation Fuhrmann, Kollege Meesen
Berlin-Wannsee, Organisation Fuhrmann,Harry Nopper
14. Kapitel: Der Absturz
Berlin-Kreuzberg, vor den Plattenbauten
Hamburg-Eppendorf, Wohnung von Fuhrmanns Tochter
Berlin-Wannsee, Villa Kunterbunt
Berlin, Hans Hilden Immobilien AG, Myriam Jungs Büro
Berlin-Wannsee, Villa Kunterbunt
15. Kapitel: Die schöne Russin
Berlin-Lichtenberg, Siegfriedstraße
Berlin-Wannsee, Villa Kunterbunt
16. Kapitel: Ermittlungen (6)
Berlin-Charlottenburg, Café Espresso
Berlin-Lichtenberg, Siegfriedstraße
Berlin-Charlottenburg, Savignyplatz, Restaurant Ashoka
17. Kapitel: Am Boden
Berlin-Kreuzberg, Wohnung Arthur Meißner
Berlin-Kreuzberg, Silkes Wohnung
Berlin, Hans Hilden Immobilien AG, Hildens Büro
Berlin-Wannsee, Villa Kunterbunt
Berlin, Hans Hilden Immobilien AG, Konferenzzimmer
Berlin, Friedrichstraße
Berlin-Charlottenburg, Savignyplatz, Schuhgeschäft
Berlin, Friedrichstraße
Berlin-Charlottenburg, Café Espresso
18. Kapitel: Kämpfe
Leipzig, Institut der Uniklinik
Leipzig, Institut der Uniklinik
Berlin-Kreuzberg, Romans Wohngemeinschaft
Leipzig, vor dem Institut
Berlin-Charlottenburg, Café Espresso
Leipzig, vor dem Institut
Berlin, Hans Hilden Immobilien AG, Myriam Jungs Büro
Leipzig, vor dem Institut
Berlin-Charlottenburg, Café Espresso
Leipzig
Berlin-Charlottenburg, Café Espresso
Körlitz
Berlin-Charlottenburg, Café Espresso
Körlitz
Berlin-Charlottenburg, Café Espresso
Körlitz
Berlin-Charlottenburg, Kurfürstendamm
Körlitz
Berlin-Charlottenburg
Körlitz
Berlin-Neukölln
Körlitz
Berlin-Neukölln
Wurzen
Berlin-Neukölln
Leipzig
Berlin-Neukölln
Leipzig
Berlin-Neukölln
Leipzig
Berlin-Neukölln
Leipzig
Berlin-Neukölln
Leipzig
Berlin-Neukölln
Leipzig
Berlin, Polizeipräsidium
Berlin-Charlottenburg, Hotel Savoy
19. Kapitel: Der Angriff
Berlin-Mitte, illegale Wohnung
Berlin, Hans Hilden Immobilien AG, Besprechungszimmer
Berlin-Mitte, illegale Wohnung
Berlin-Wannsee, Villa Kunterbunt
Berlin, Württembergische Straße, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen
Berlin-Mitte, illegale Wohnung
Berlin-Kreuzberg, Silkes Wohnung
Berlin, Zoologischer Garten
Berlin-Kreuzberg, Silkes Wohnung
Berlin, Zoologischer Garten, Fußgängerpassage
Berlin-Mitte, illegale Wohnung
Berlin-Charlottenburg, Hotel Savoy
Berlin-Mitte, illegale Wohnung
Berlin-Lichtenberg, Siegfriedstraße
Berlin, Hans Hilden Immobilien AG, Besprechungszimmer
Berlin-Charlottenburg, Hotel Savoy
20. Kapitel: Lockdown
Altglashütten
Berlin-Kreuzberg, Plattenbau, auf dem Dach
Berlin-Wannsee, Villa Kunterbunt
Stuttgart
Berlin, Deutsche Eigentum AG
Stuttgart, Cannstatter Wasen
Stuttgart, Wagnerstraße, Olgas Wohnung
Stuttgart, Charlottenplatz, Weltcafé
21. Kapitel: Die Entscheidung
Stuttgart, Reinsburgstraße, bei Mario
ICE nach Berlin
Berlin-Grunewald
22. Kapitel: Schluss
Finden und Erfinden
Leseprobe »Black Forest«
»Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.«
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 15
Denglers Welt
Georg Dengler, Privatermittler, wohnhaft Stuttgart, Wagnerstraße, früherer Zielfahnder des Bundeskriminalamtes
Olga, wohnhaft Stuttgart, Wagnerstraße; seine Freundin, beste dem Autor bekannte Computerhackerin und begnadete Taschendiebin
Jakob, wohnhaft Berlin-Schöneberg, Denglers Sohn aus erster Ehe, versucht die Welt zu verstehen
Martin Klein, wohnhaft Stuttgart, Wagnerstraße, Denglers schwieriger Freund und Nachbar
Mario, wohnhaft Stuttgart, Reinsburgstraße, Denglers Freund seit Kindheitstagen
Leopold »Leo« Harder, Denglers Freund, kluger Journalist beim Stuttgarter Blatt, sorgt sich um die Qualitätspresse
Petra Wolff, bringt trotz schwieriger Kindheit Struktur in Denglers Leben
Figurengruppe Mieter
Silke Herzog, möchte ihre Wohnung behalten
Lena, Silkes kleine Tochter
Matthias, Silkes Freund
Arthur Meißner, Rentner im Plattenbau, raucht zu viel
Hatice Ates, Aktivistin, weiß sich zu wehren
Patrick Böhmer, lernt, wie man einen Feuerlöscher bedient
Figurengruppe Deutsche Eigentum AG
Dr. Michael Bertram, CEO der Deutschen Eigentum AG, hyperintelligenter Psychopath
Susan Miller, Chefin des Aufsichtsrats, Abgesandte des Großinvestors Blackhill, New York, genervt
Dr. Peter Deister, früherer Vorstandschef, entmachtet
Michaela Nassos, Pressesprecherin
Figurengruppe Hans Hilden Immobilien AG
Hans Hilden, Chef der Hans Hilden Immobilien AG, groß gewordener Bauunternehmer, überfordert
Charlotte Hilden, seine Tochter
Myriam Jung, seine Assistentin
Dr. Jan Wenzel, Justiziar
Dr. Herbert Glowalla, Hildens Psychotherapeut
Max Liebig, Leiter der Presseabteilung
Figurengruppe Organisation Fuhrmann
Dr. Karl Fuhrmann, Chef der Organisation Fuhrmann, am Zenit seiner Karriere
Harry Nopper, der aufstrebende Star
Helga Ernst, Fuhrmanns Sekretärin
Hans-Peter Meesen, entmachteter Konkurrent von Fuhrmann, früherer Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz
Holger Carsten Ebersheim, Mitglied des Direktoriums der Gruppe Fuhrmann, stellvertretender Chef des Landesamts für Verfassungsschutz Berlin
Nikolaus Abt, Abteilungsleiter Innenministerium, Mitglied des Direktoriums
Lutz Koch, Verbindungsmann zum BND, Mitglied des Direktoriums
Tragende Nebenfiguren
Matze, der Mann fürs Grobe
Roy, ebenfalls nur fürs Grobe geeignet
Roman, Hardcore-Aktivist
Eddy, Aktivist, aber nicht so Hardcore
Jana Kusnezow, genannt: die schöne Russin, Eigentümerin einer Entmietungsagentur
Ellen Roller, Bausenatorin, entschieden und getrieben
Sandro Winkler, nicht nur eine Reinigungskraft
Hauptkommissar Weber, überlastet, versucht seinen Job zu machen, so gut es geht
Nebenfiguren
Dr. Nea Schweizer, Tierärztin in Berlin
Dr. Helga Garde, Projektleiterin, Zoologin aus Leipzig
Klara Dengler, Georg Denglers Mutter, wohnhaft in Altglashütten am Feldberg
Nachts, wenn er nicht gerade die Oranienstraße raufläuft oder am Kotti abhängt, ist Kreuzberg für ihn auch nur ein Kaff. Und in Kreuzberg kennt Matze sich aus.
Auch nachts.
Vor allem nachts.
Immer, wenn er den Kopf leicht senkt, um dem satten Brummen des Acht-Zylinders zu lauschen, stellt er sich vor, er säße in einem Flugzeugcockpit. Lässig dreht er mit einer Hand das Lenkrad nach rechts und fantasiert, der vor ihm liegende Engeldamm sei die Landebahn. In seiner Vorstellung senkt sich die Maschine majestätisch langsam hinab. Er biegt in die Melchiorstraße ab, und als der Michaelkirchplatz auftaucht, schaltet er in den zweiten Gang. Das leichte Ruckeln des Getriebes verwandelt sich in das Aufsetzen der Räder auf dem asphaltierten Rollfeld. Er beugt sich leicht nach vorne, späht durch die Windschutzscheibe und sucht einen geeigneten Parkplatz. Es ist schon Januar, aber noch immer tragen einige Bäume gelbe und ockerfarbene Blätter. Sie verdecken die Straßenlaternen nicht. Es ist alles zu hell hier. Noch immer sind ein paar Leute unterwegs: ein Paar, das sich umschlingt, als habe es eben erst entschieden, die Nacht gemeinsam zu verbringen; zwei betrunkene Freunde, sich gegenseitig stützend; eine mittelalte Frau, allein, in schnellen Schritten auf dem gegenüberliegenden Gehsteig. Er biegt in die nächste Seitenstraße ein und beschließt, den schwarzen Ferrari auf dem kleinen Parkplatz einer Kita abzustellen. Vorsichtig parkt er den Wagen rückwärts ein, stellt den Motor ab. Niemand zu sehen. Die großen Plattenbauten werfen dunkle Schatten in die Nacht, die Fenster sind schwarz. Perfekt.
»Dunkel ruht der Wald.«
Matze schaltet die Scheinwerfer aus und öffnet die Wagentür. Er steigt aus. Sein Atem verwandelt sich in der Nachtkälte in kleine Nebelschwaden. Matze schüttelt sich, geht um den Wagen herum und zieht die Beifahrertür auf. Vor dem zurückgezogenen Sitz ist ein kastenförmiger Behälter in den Bodenraum des Wagens gezwängt, bedeckt mit einem karierten Tuch; durch einen Schlitz im Tuch ragt ein Drahtbügel mit Holzgriff. Matze greift nach dem Holz und zieht. Der Behälter hat sich verkantet und gibt seinem Zug nicht nach. Matze flucht und stemmt ein Bein gegen den Türschweller und zieht erneut. Mit einem Ruck kommt ihm der Kasten entgegen, sodass Matze das Gleichgewicht verliert und rückwärts auf den Gehsteig taumelt. Mit der linken Hand kann er gerade noch am Türholm Halt finden und einen Sturz mitsamt dem Behälter vermeiden.
Das hätte noch gefehlt!
Schwer atmend stellt er den Kasten ab: Unter der Decke ist heftige Bewegung zu spüren; kurze, pfeifende Laute ertönen, dann beruhigt sich der Inhalt des Kastens wieder. Matze kramt in der Hosentasche nach dem Fahrzeugschlüssel. Mit einem zischenden Geräusch verriegeln sich die Türen. Behutsam nimmt er den Behälter wieder auf und geht zur Straße.
Besser, er bleibt auf dieser Seite. Hier ist es dunkler. Den Kasten greift er nun mit der linken Hand, um ihn auf der der Fahrbahn abgewandten Seite zu tragen. Er geht los.
Und beobachtet dabei jeden Winkel der Umgebung. Am Ende der Stichstraße biegt Matze in einen Fußweg ein. Vor ihm ragt ein Plattenbau in die Nacht. Aus den Fenstern hängen unzählige Transparente: Schluss mit der Spekulation, Wir bleiben hier, Volksentscheid – Enteignet Deutsche Eigentum, Hans Hilden Immobilien & Co., Wir bleiben solidarisch gegen Verdrängung oder einfach Nö.
Er hält inne und blickt hoch. Auf einem der oberen Balkone glimmt eine Zigarette auf. Mit schnellen Schritten geht Matze den schmalen Pfad zwischen zwei Plattenbauten weiter und duckt sich. Er sieht noch einmal nach oben. Nichts. Kein Licht, keine glimmende Zigarette. Nichts.
Er zieht einen Schlüsselbund aus der Tasche.
Auf dem Balkon zieht Arthur Meißner so gierig an seiner Zigarette, als wäre dies die letzte in seinem Leben. Mit einer zittrigen Bewegung drückt er den Stummel in einem überquellenden Aschenbecher aus. Er kann nicht schlafen. Jede Nacht muss er zwischen drei und halb vier Uhr pinkeln. Dann ist er wach und kann nicht mehr weiterschlafen. Jede Nacht. Er hat alles probiert. Tabletten, Wichsen, autogenes Training. Nichts hat geholfen. Deshalb geht er nun jede Nacht auf den Balkon und raucht erst mal eine Karo. Die gibt’s ja jetzt wieder.
Mit der rechten Hand stützt er sich auf die Lehne des Campingstuhls, steht auf, und obwohl er weiß, dass er nicht zum Durchgang zwischen den Blocks hinuntersehen kann, beugt er sich weit über die Brüstung. Dann geht er zurück in die Wohnung und sucht sein Handy. Auf dem Wohnzimmertisch liegt es nicht. Er schlurft in die Küche. Es liegt nicht auf der Tischplatte, nicht neben der Spüle, nicht im Regal und auch nicht auf dem Unterschrank, wo er es schon öfter vergessen hat. Vielleicht im Schlafzimmer, auf dem Nachttisch. Als er es auch dort nicht findet, ergreift ihn leise Panik.
Wo ist das Scheißding?
Seine Tochter hat ihm das Telefon geschenkt, damit sie ihm Fotos von den beiden Enkelkindern schicken kann. Sie besucht ihn nur noch selten. Deine Wohnung stinkt brutal nach Rauch, hat sie gesagt, da ekeln sich die Kleinen. Seither raucht er hauptsächlich auf dem kleinen Balkon. Leider hat er immer noch nicht genau begriffen, wie er sich auf diesem kleinen Gerät Bilder ansehen kann. Aber telefonieren kann er damit.
Und, verflucht, jetzt müsste er dringend telefonieren.
Das Handy liegt neben der Toilettenschüssel. Wie kam es dorthin? Hat er beim Scheißen telefoniert? Mit wem? Er erinnert sich nicht. Es wird immer schlimmer mit seinem Gedächtnis. Meißner schüttelt den Kopf und trippelt zurück auf den Balkon. Er lässt sich in den Stuhl fallen. Wo sind eigentlich seine Kippen? Seine Hand zittert, als er sich eine ansteckt. Dann wählt er die Nummer, die er auswendig kennt.
Roman und Eddy patrouillieren die Waldemarstraße entlang, als Romans Handy summt. Eddy, der jüngere von ihnen, steckt gerade einem schwarzen Porsche Cayenne einen Flyer hinter den Scheibenwischer. Stoppt die Klimakatastrophe! Zum Beispiel durch die Stilllegung dieser Dreckschleuder.
Für Roman ist das alles großer Kindermist – wie der ganze Fridays-for-Future-Kram. Er ist Autonomer der alten Schule und weiß genau, dass es ein paar härtere Maßnahmen braucht, um den Kapitalismus abzuschaffen. Einerseits. Andererseits: Eddy ist sein Cousin, noch nicht lange in Berlin, doch nun führt er ihn geduldig in die Welt des Schwarzen Blocks ein. Sie stehen vor dem Cayenne und betrachten ihr Werk; Eddy zufrieden, Roman gelangweilt. Beiden ist kalt.
Romans Handy summt erneut. Er nimmt das Gespräch an und lauscht.
»Nein, ich schlafe noch nicht«, sagt er und hört wieder zu. »Kannst du sehen, was er macht?«
Erneute Pause.
»In was für einem Wagen ist er gekommen?«
Pause.
»Okay. Ich komme mit einem Kumpel. Wir beeilen uns.«
Er steckt das Handy ein und sagt zu Eddy: »Schluss mit der Spielerei. Jetzt wird es ernst. Da ist so ein Schlägertyp unterwegs zu dem Haus, wo den Leuten gekündigt worden ist. Hat seinen Wagen in einer Seitenstraße geparkt und ist dann mit einem großen Karton oder so etwas zum Haus gelaufen. Er fährt einen Sportwagen. Ganz flach, dunkel, extremes Westauto, hat mein Informant gesagt.«
Matze sieht sich noch einmal um, steckt dann den Schlüssel in die Eingangstür und tritt ein. Fünf Stufen sind es bis zum Hausflur. Es ist dunkel, nur aus dem Fahrstuhl scheint ein schwaches bläuliches Licht. Er geht zum Treppenaufgang und stellt den Behälter ab. In diesem Augenblick wird im ersten Stock eine Tür geöffnet. Schwache Lichtstrahlen fallen die Treppe herab. Matze hört das Murmeln einer männlichen Stimme, kann aber kein Wort verstehen. Dann flackern die Flurlichter auf. Mit einer raschen Bewegung greift er den Behälter und geht in schnellen Schritten zum Fahrstuhl, öffnet die Tür, stellt den Kasten in die Kabine und duckt sich auf dem Boden, sodass er von außen durch die Glasscheibe des Fahrstuhls nicht gesehen werden kann.
Er lauscht.
In diesem Augenblick knackt und rumpelt es: Müde schließt sich die Tür, und der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung. Matze flucht, richtet sich auf. Wieso muss dieser faule Depp wegen eines Stockwerks den Aufzug rufen? Er zieht seinen Teleskop-Totschläger aus der Tasche. Mit einer schnellen Schleuderbewegung fährt er ihn aus. Er hebt den Arm.
Der Fahrstuhl hält nicht im ersten Stock. Instinktiv drückt Matze auf den Halteknopf des zweiten Stocks. Rumpelnd hält der Aufzug. Die Tür geht auf. Matze steigt aus und lauscht. Die Aufzugtüren schließen sich wieder, und der Aufzug wird zu einem der höheren Stockwerke gezogen.
Er mag diesen Job. Eigentlich. Schnell verdientes Geld. Aber warum schlafen die Opfer nicht um diese Zeit? Es ist halb vier. Das Licht flackert und verlischt. Er rührt sich nicht. Wartet ab.
Das Licht geht wieder an. Er hört, wie einige Stockwerke über ihm jemand in den Aufzug tritt. Dann brummt es, und kurz danach sinkt die Kabine an ihm vorbei ins Erdgeschoss. Die Haustüre wird geöffnet und fällt wieder ins Schloss. Wieder wartet er, bis das Licht verlöscht. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, nimmt er den Kasten und trägt ihn die Treppen hinab in den Eingangsbereich. Vor dem Treppenaufgang stellt er ihn ab und drückt auf den Lichtschalter. Mit einer schnellen Bewegung zieht er das Tuch weg.
»Das muss er sein«, sagt Roman, als sie vor dem Ferrari stehen.
Eddy zieht einen Flyer aus der Innentasche seiner Jacke und klemmt ihn an die Frontscheibe. Stoppt die Klimakatastrophe! Zum Beispiel durch die Stilllegung dieser Dreckschleuder.
Roman runzelt die Stirn.
»Diese Karre kostet 150000 Euro«, sagt er. »Mindestens. Da müssen wir anders vorgehen. Verstehst du?«
Als er Eddys fragendes Gesicht sieht, zieht er eine Dose aus der Tasche und spritzt eine Flüssigkeit auf den Vorderreifen. Eddy verzieht das Gesicht: Benzin.
»Mach keinen Scheiß, Roman«, sagt er.
Er stellt sich ihm in den Weg.
Roman verzieht keine Miene, sondern greift in die Hosentasche und zieht ein Feuerzeug hervor.
»Geh zur Seite«, sagt er.
Eddy schüttelt den Kopf. »Keine Gewalt«, sagt er.
»Eddy, du hast keine Ahnung, was Gewalt ist. Geh zur Seite.«
Der Behälter ist ein großer, stabiler Tragekäfig. In ihm wuseln zwanzig Ratten herum. Es sind keine possierlichen Tiere. Sie sind nicht von der Art, die sich der Punk gern auf die Schulter setzt.
Sie sind doppelt so groß wie die Ratten, die er vom Bauernhof seines Großvaters kennt.
Und sie stinken.
Sie stinken so sehr, dass Matze für einen Augenblick den Kopf abwendet, um Luft einzuatmen. Als er sich wieder umdreht, sieht er, dass eine der Ratten tot auf dem Käfigboden liegt. Die anderen huschen über sie hinweg.
Matze öffnet die Tür.
Die Viecher rennen weiter hin und her, und es dauert fast eine halbe Minute, bis die erste Ratte ihre Nase durch die offen stehende Käfigtür steckt.
»Mach schon«, knurrt Matze.
Die Ratte schnuppert.
Matze schüttelt den Käfig. In einem großen Satz springt die Ratte auf den Boden. Eine zweite schiebt prüfend ihren Kopf aus dem Käfig. Matze schüttelt erneut, die zweite Ratte springt und die anderen folgen ihr. Jetzt ist nur noch die tote Ratte übrig.
»Bravo, ihr lieben Tierchen. Jetzt sucht euch etwas Schönes zum Fressen.«
Die Ratten trippeln, dicht an die Wand des Treppenhauses gedrängt, die Stufen hinauf. Doch drei von ihnen rasen orientierungslos im Kreis. Eine andere schnüffelt an der Fahrstuhltür. Matze stellt den Käfig ab und versucht sie mit Fußtritten die Treppen hinaufzutreiben. Die Ratte am Fahrstuhl stellt sich auf die Hinterbeine und fletscht die Zähne. Matze lacht. Da springt die Ratte plötzlich, fliegt durch die Luft und hängt an seinem linken Schienbein. Matze zuckt zurück, taumelt und stößt einen Schrei aus. Entsetzt sieht er, wie das Vieh an seinem Bein hinaufklettert. Er schreit noch einmal, dann ballt er die Faust und schlägt nach dem Tier. Es beißt ihm in den Oberschenkel. Matze schlägt noch einmal, und die Ratte fliegt quiekend auf den Boden. So schnell er kann, packt er den Käfig und ist in drei Schritten an der Eingangstür, reißt sie auf und steht dann schwer atmend in der frischen Luft.
Was für ein Scheißjob!
In der Wohnung im ersten Stock wirft sich Silke unruhig von der einen auf die andere Seite. Für ihren schlechten Schlaf gibt es einen guten Grund: Wieder einmal hat sie es geschafft, Matthias aus der Wohnung zu vertreiben. Sie liebt ihn, das schon. Sie muss nur einen kurzen Augenblick nachdenken, dann ist sie sich ganz sicher, dass sie die Beziehung mit ihm will. Trotzdem, manchmal reitet sie der Teufel. Dann bohrt sie, dann nörgelt sie und kritisiert an ihm herum, bis dieser liebe, geduldige Mann sich nicht mehr zu helfen weiß und geht.
Dabei hatte der Abend gut angefangen. Matthias hatte eingekauft und gekocht, während sie ihren Zweitjob erledigte und die alte Dame im dritten Stock versorgte, sie wusch und frisch anzog. Tagsüber in der Klinik war es echt stressig gewesen. Eine Kollegin war auf die Intensiv abgezogen worden, weil dort zwei Kolleginnen krank geworden waren. Klar, die Intensiv ging vor, aber Silke hatte sich keine Minute ausruhen können. Dann im Eiltempo zur Tagesmutter, das Baby abholen. Nach Hause, kurz umziehen, dann hinauf in den dritten Stock zur alten Dame. Es war wirklich lieb, dass Matthias die Einkäufe schon erledigt hatte.
Pasta hatte er gekocht. Pasta mit Auberginen, Tomaten, Mozzarella und noch irgendetwas anderem. Auf dem Tisch eine Flasche Rotwein. Alles wirklich wahnsinnig lieb, aber sie war so schrecklich müde gewesen. Lena, das Baby, hielt sie die ganze Zeit auf Trab. Sie schrie ununterbrochen, und Silke musste mit ihr auf dem Arm den Flur auf und ab gehen, bis sie endlich ruhig wurde. Nach dem Essen war die Kleine wieder wach geworden, und sie streichelte Lenas Kopf, bis sie mit dem so süßen offen stehenden Babymund wieder eingeschlafen war. Währenddessen hatte Matthias den Abwasch gemacht.
Beim Sex war sie immer wieder für einen Moment eingeschlafen und überhaupt nicht bei der Sache gewesen. Für ihn war es bestimmt komplett langweilig. Danach hatte sie ihn gefragt, was er eigentlich von ihr wolle. Sie sei doch komplett endfertig. Schlafe beim Sex ein. Komme nicht. Er hatte sie sprachlos angeschaut, um Worte gerungen. Und keine gefunden. Weiß der Teufel, was sie geritten hatte. Sag mal echt, warum willst du mit mir zusammen sein? Sie hatte nicht aufgehört, hatte weitergebohrt, und je weniger er antwortete und je trauriger er wurde, desto schärfer wurde ihr Ton. Erst standen Tränen in seinen Augen, dann war er aufgestanden und hatte sich schweigend angezogen und war gegangen. Er war so leise gewesen, dass sie das Rascheln seiner Hose und seines Hemdes kaum hörte. Deshalb bekam sie seine Tränen nicht mit, die ihm übers Gesicht liefen, und sie bekam nicht mit, dass er in seiner Erschütterung die Wohnungstür nicht richtig hinter sich geschlossen hatte. Nun stand sie einen schmalen Spalt offen.
Matze steht vor dem Eingang dieses Scheißplattenbaus, reibt sich den schmerzenden Oberschenkel und überlegt, ob er jemals gegen Tetanus geimpft worden ist. Das Scheißvieh hat ihn durch die schwarze Jeans hindurch ins Fleisch gebissen. Er sieht immer noch das Bild vor sich, den Kopf der Ratte, die winzigen, blitzenden Zähne – ekelhaft. Immer noch spürt er die Krallen des Drecksviehs, das sich auf seinem Schenkel nach oben arbeitet.
Als er um die Ecke zur Kita einbiegt, glaubt er zunächst, eine Fata Morgana zu sehen. Da steht sein Ferrari, den er für viel Geld für vier Tage gemietet hat. Flammen züngeln zwischen Vorderrad und Kotflügel in den Nachthimmel. Davor zwei dunkle Gestalten. Dann sieht er einen dritten Mann, der im Schlafanzug über die Straße läuft und einen roten Feuerlöscher in der rechten Hand trägt. Erstaunlicherweise ist der erste Gedanke, der ihm durchs Hirn fährt: 1.500 Euro Selbstbeteiligung.
Im ersten Stock stellt sich eine Ratte vor der angelehnten Tür auf die Hinterbeine und zieht die Luft, die aus der Wohnung strömt, durch ihre Nase. Sie verharrt einen Augenblick regungslos, dann schlüpft sie hinein.
»Hey, ihr Arschlöcher, was macht ihr da?«
In hohem Bogen feuert Matze den Käfig ins Gebüsch und rennt los. Die beiden schwarzen Gestalten zucken zusammen, blicken auf, sehen ihn und laufen ebenfalls los. Der Typ im Schlafanzug hat den Ferrari erreicht. Mit einer schnellen Bewegung nimmt er den Feuerlöscher hoch und zielt mit dem kleinen Schlauch – nach einigen Sekunden faucht eine weiße Wolke aus der Düse am Schlauchende. Zischend werden die Flammen kleiner. Matze spürt, wie die Wut ihm das Blut im Kopf und in den Halsschlagadern pochen lässt. Nur für einen kurzen Augenblick überlegt er, ob er dem Typ im Schlafanzug den Feuerlöscher wegnehmen und selbst löschen soll. Doch dann entscheidet er sich, den beiden fliehenden Gestalten nachzurennen.
»Bleibt stehen!«, brüllt er. Der größere der beiden läuft vorneweg, der kleinere sieht sich nach ihm um. Sie sind schnell, viel schneller als er. Der Abstand zwischen ihnen wird größer. Matze keucht, die Lunge sticht nach wenigen Metern, als würde sie mit Messern gefoltert. Krafttraining allein bringt es doch nicht.
Die beiden Typen rennen die Straße entlang zur Sankt-Michael-Kirche. Matze japst nach Luft. Er wird sie nicht einholen. Wenn er einen Schritt macht, sind die anderen schon zwei gesprungen. Seine Lunge brennt. Die Puste geht ihm aus. Schwer atmend bleibt er stehen und stemmt die Fäuste in die Hüfte. Mist.
Da sieht er, wie der kleinere Typ über eine am Boden liegende Flasche stolpert. Eine Sekunde kämpft er mit dem Gleichgewicht und fällt dann mit ausgestreckten Armen der Länge nach auf den Bürgersteig. Matze rennt sofort los, und als der Bursche sich wieder aufrichten will, ist er bei ihm, packt ihn mit der linken Hand am Kragen und haut ihm die Rechte voll in die Fresse.
Silke träumt, dass Matthias neben ihr liegt. Ihre Hand tastet nach ihm, greift ins Leere. Sie erschrickt, richtet sich auf und horcht in Richtung Kinderzimmer. Von Lena ist nichts zu hören. Sie dreht sich auf die Seite und schläft ein.
Im Flur, vor der geöffneten Tür des Kinderzimmers, sitzt eine fette Ratte. Sie lauscht und schnüffelt.
Dann schlüpft sie ins Kinderzimmer.
Matze zieht Eddy am Kragen seiner Sportjacke hoch. Da der Junge beide Hände vor das blutende Gesicht hält, verpasst Matze ihm eine in den Magen. Eddy krümmt sich nach vorn und stößt Laute aus, für die es keine Buchstaben gibt. Matze tastet Eddys Jacke ab, dann seine Jeans. Aus der Gesäßtasche zieht er einen Geldbeutel und öffnet ihn. Kaum Geld hat der Typ, 35 lausige Euro. Er steckt sie in die Hosentasche. Keine Kreditkarten. Kein Handy. Aber ein Personalausweis. Matze hält ihn sich dicht vor die Nase und liest.
»Du Hurensohn, ich weiß, wo du wohnst. In zwei Tagen stehst du mit 5.000 Euro Cash im Café Espresso. Hörst du?«
Eddy starrt ihn mit blutverschmiertem Gesicht an.
»Hörst du mich, du Penner? 5.000 Euro. In zwei Tagen. Café Espresso. Sonst komme ich zu dir nach Hause und hole das Geld.«
Eddy nickt und befühlt die gebrochene Nase. Sie tut höllisch weh und blutet.
Matze greift in Eddys Haare und schüttelt ihn. »Dann wiederhole es.«
Eddy schreit auf vor Schmerz. »Café Espresso. 5.000 Euro. In zwei Tagen.«
Tränen stehen in seinen Augen. Doch er will diesem Schwein nicht noch die Freude gönnen, dass er anfängt zu flennen. Er hasst diesen Typen. Inbrünstig und heiß.
»Lauter!« Matze hebt die Faust.
»Café Espresso. 5.000 Euro. In zwei Tagen«, brüllt Eddy. Er kann es nicht verhindern. Er spürt, wie warme Tränen über seine Wangen rollen. Wenn Roman doch nur jetzt auftauchen und diesen Typ zusammenschlagen würde.
»Gut«, grunzt Matze und steckt Eddys Personalausweis ein. »Wenn ich dich holen muss, bist du reif fürs Krankenhaus.«
Er schlägt dem Jungen noch einmal auf die Nase. Dann dreht er sich um und geht.
Lena schreit kurz auf, doch in Silkes Traum ist Matthias schon da und nimmt sie auf den Arm. Er lächelt. Silke dreht sich um und schläft weiter.
Als Matze zu dem Ferrari zurückkommt, ist der Brand gelöscht. Der Mann im Schlafanzug steht vor dem Wagen und betrachtet zufrieden sein Werk. Den Feuerlöscher hat er neben sich auf den Gehsteig gestellt.
Der Reifen ist hin, noch immer steigen kleine Rauchschwaden auf. Auch das Blech über dem Radkasten qualmt. Der schwarze Lack hat Blasen geworfen. 1.500 Euro Selbstbeteiligung, denkt Matze wieder. Er greift nach seinem Handy, um den Schaden zu fotografieren.
»Sie brauchen die Polizei nicht anzurufen«, sagt der Mann mit dem Feuerlöscher leutselig. »Das habe ich schon erledigt. Sie müssen gleich hier sein.«
»Was?«, brüllt Matze. »Du hast die Bullen gerufen?«
Er zieht den Autoschlüssel heraus, und mit einem satten Blopp öffnet sich die Verriegelung. Matze lässt sich hinters Steuer fallen. Rumpelnd, mit plattem Vorderreifen, fährt er in den neuen Tag.
Lenas Schrei ist so durchdringend, dass Silke sich jäh im Bett aufrichtet. Mit einer schnellen Bewegung wirft sie die Decke zurück. So hat ihr Kind noch nie geschrien. Sie weiß sofort, dass etwas Schreckliches passiert ist.
Sie springt aus dem Bett und hastet den Flur entlang. Am Eingang zum Kinderzimmer stützt sie sich am Türrahmen ab, greift blind zum Lichtschalter, knipst das Licht an – und sieht das Grauen.
Im Bett ihrer Tochter sitzt eine riesige Ratte. Lenas Gesicht ist rot und verzerrt. Sie steckt ihr süßes Ärmchen in die Luft. Ihr kleiner Zeigefinger ist rot. Die Ratte dreht ihren Kopf zu ihr und starrt sie mit blutverschmiertem Maul an.
Jedes Mal, wenn sie sich geliebt haben, ist Olgas Gesicht weicher, es scheint entspannter zu sein, runder und schöner. Stundenlang kann er in dieses Gesicht schauen: die Wimpern der geschlossenen Augen bewundern, ihre Wangenknochen bestaunen und die immer noch leicht bebenden Nasenflügel mit den Augen liebkosen. Dieses Gesicht ist wunderschön. Es ist das Schönste, was er je gesehen hat.
»Was ist?«, fragt sie leise, als sie träge die Augen öffnet und Denglers Gesicht direkt über sich sieht.
»Du bist wunderschön«, sagt er wahrheitsgemäß.
Olga lächelt und schließt die Augen.
»Schlaf jetzt«, murmelt sie. »Es ist mitten in der Nacht.«
Doch Dengler kann nicht anders, er schaut weiter auf diese Lippen, die Wangen, die Nase, die geschlossenen Augen und will bis zum Morgen nichts anderes tun, als diese Frau anzuschauen und sie zu beschützen, so gut er kann.
Grumm, grumm, grumm.
Auf dem Nachttisch dreht sich Olgas Handy im Kreis und schickt störendes bläuliches Licht ins Schlafzimmer.
Sie seufzt schlaftrunken und tastet mit der rechten Hand nach dem Gerät, um den Ton abzustellen. Doch es gelingt ihr nicht, sie greift daneben. Das Handy entwischt ihr. Sie grapscht noch einmal danach und kann es nicht greifen. Dengler beugt sich über sie und nimmt das Telefon.
»Eine Silke ruft dich an«, sagt er. »Soll ich ihr den Garaus machen?«
Olga schüttelt den Kopf, nimmt das Handy und drückt es mit immer noch geschlossenen Augen ans Ohr.
»Hallo Silke«, sagt sie.
Dengler kann den Tonschwall fast sehen, der aus dem Telefon quillt, doch er versteht kein Wort.
Olga richtet sich jäh auf.
»Unglaublich«, sagt sie mit weit aufgerissenen Augen.
Sie ist jetzt vollkommen wach.
Dengler schmiegt sich in ihre Achsel und hört, wie Olga sagt: »Wo bist du jetzt?« – »Gut.« – »Muss sie operiert werden?« – »Bist du sicher?« Und dann: »Ich komme so schnell wie möglich.«
Als sie das Gespräch beendet hat, dreht sie sich zu Dengler um. »Das war Silke, Silke Herzog, eine alte Freundin. Eine Ratte hat ihrem Baby die Fingerkuppe abgebissen.«
»Oh Gott«, sagt Dengler. »Und jetzt willst du nach Rumänien fliegen?«
Sie blinzelt ihn irritiert an.
»Wieso Rumänien? Silke wohnt in Berlin. In Kreuzberg.«
Sie wirft die Decke zurück. Das Besondere an ihrem Gesicht, das Weiche und Entspannte, ist verflogen, und jetzt sieht Dengler bedauernd die Entschlossenheit in ihrem Gesicht.
Olga: »Ich versuche, einen Platz in der frühsten Maschine zu ergattern.«
Dengler: »Kannst du denn irgendetwas für sie tun?«
Olga schüttelt den Kopf. »Sie braucht Hilfe. Sie ist völlig fertig.«
»Als Erstes sollte sie irgendwo hinziehen, wo es bessere hygienische Bedingungen und keine Ratten gibt.«
»Sie behauptet, der Vermieter hätte die Ratten in ihrem Haus ausgesetzt.«
Dengler stutzt. »Das glaubst du doch hoffentlich nicht?«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Im Augenblick ist sie im Kinderkrankenhaus. Sie wird da von den Ärzten schräg angeschaut. Eine Mutter, die ihr Kind von Ratten beißen lässt. Klingt doch asozial, oder?«
Dengler sagt nichts, denkt aber, dass es genau so klingt.
Olga sieht ihn an. »Silke ist eine gute Freundin. Und eine tolle Frau. Allerdings hatte sie schon immer einen fatalen Hang zu den falschen Männern. Typen, die eigentlich nichts oder nichts Gutes von ihr wollen, findet sie unwiderstehlich. Männer, die sie auf Händen tragen, langweilen sie.«
»Und das Baby?«
»Was ist mit dem Baby?«
»Stammt es von einem Unwiderstehlichen oder von einem Langweiler?«
»Leider von einem der Unwiderstehlichen. Er ist direkt nach dem Schwangerschaftstest verschwunden.«
Olga hat bereits ihren Laptop auf dem Nachttisch aufgeklappt und die Seite von Eurowings aufgerufen.
»Ich fliege nach Berlin – so früh es geht.«
»Buch zwei Plätze, ich fliege mit«, sagt Dengler.
Olga sieht ihn mit gerunzelter Stirn an.
»Ich werde meinen Sohn besuchen. Jakob kommt morgen oder übermorgen von einer Studienreise zurück.«
Olga klappt den Laptop zu und schwingt sich aus dem Bett. Dengler sieht fasziniert zu, wie sie demonstrativ mit dem Po wackelt, ihm zublinzelt und dann im Bad verschwindet.
Es ist kurz nach halb neun, als Dengler und Olga am Eingang der Kinderklinik der Charité eintreffen, wo Silke wartet. Sie ist blass, nahezu weiß im Gesicht. Über einer grünen Bluse und blauen Jeans trägt sie eine dicke braune Wolljacke, die ihr fast bis zu den Knien reicht. Sie hat ein interessantes Gesicht, findet Dengler, mit einem großen Mund; die leicht vorstehenden Wangenknochen geben ihr etwas Osteuropäisches. Doch ihre Haare hängen in ungepflegten Strähnen herab. Schlafmangel und Sorgen haben tiefe Linien in Silkes Gesicht gegraben. Ihr Händedruck ist eiskalt, und sofort danach schlingt sie die Hände wieder um die Schultern und massiert ihre Oberarme, um sich zu wärmen.
»Lena schläft noch«, sagt sie. »Sie wurde in der Nacht operiert.«
Olga umarmt ihre Freundin nur kurz. Sie legt den Arm um Silke und schiebt sie sanft in die Eingangshalle des Krankenhauses.
»Magst du erzählen, was passiert ist?«
»Diese Schweine. Diese elenden Schweine.« Silkes Augen sind geweitet. Sie flüstert, aber selbst das scheint für sie eine enorme Kraftanstrengung zu sein.
»Was ist passiert?«, fragt Olga.
»Sie haben Ratten ausgesetzt. In unserem Haus. Eine ist in die Wohnung gelangt und hat Lena die Fingerkuppe abgebissen.«
»Wer sind ›sie‹?«
»Hilden, das Schwein. Und seine Handlanger.«
»Wer ist Hilden?«
»Das Immobilienschwein. Hilden. Er hat mehrere Blocks gekauft. Auch das Haus, in dem ich wohne. Er will uns raushaben.«
Dengler findet, dass das Wort »Schwein« zu oft in Silkes hervorgestoßenem Bericht vorkommt. Doch er sieht ein, sie steht offensichtlich unter Schock.
»Ich bring das Schwein um«, sagt Silke. »Ich bring ihn wirklich um.«
»Haben Sie gesehen, wie die Ratten ausgesetzt wurden? Gibt es Zeugen?«, fragt Dengler.
Silke hebt langsam ihren Kopf und starrt Dengler an, als würde sie ihn erst jetzt wahrnehmen. Dann dreht sie sich zu Olga um.
»Wer is’n das?«
»Das ist mein Liebster. Er heißt Georg. Früher war er einmal Polizist. Er kann uns helfen.«
Ganz langsam nimmt Silke ihn in den Blick und mustert ihn müde.
Er streckt ihr die Hand entgegen.
»Dengler«, sagt er. »Georg Dengler.«
Kurz danach sitzen sie an Lenas Bett. Zwei Krankenbetten und zwei Liegen stehen in dem Zimmer. Lena liegt mit leicht geöffnetem Mund im Bett am Fenster und schläft. Ihre linke Hand ist verbunden. Zärtlich streicht Silke ihr über den Kopf. Das Kind im Nachbarbett schwenkt einen Teddybär. Seine Eltern, ein türkisch aussehendes Paar, packen Essen aus und füttern das Kind; im Krankenzimmer verbreitet sich der verführerische Duft von Baklava.
Der Teddy fliegt in hohem Bogen auf den Boden. Dengler bückt sich und streckt den Eltern das Kuscheltier entgegen.
»Er hat ein Auge verloren.«
»Und Ohr ist auch bald ab«, sagt die Mutter heiter und bedankt sich.
Die Tür zum Krankenzimmer geht auf, und eilig kommt ein Arzt herein. Er geht auf Silke zu.
»Frau Herzog, das Allerwichtigste zuerst: Ihre Tochter wird wieder gesund. Allerdings dürfen Sie Rattenbisse nicht unterschätzen, und Ihre Tochter wurde mehrmals stark gebissen. Ein Teil des Fingerknochens ist weggefressen. Ich verordne ihrem Kind Penicillin gegen Streptobacillus moniliformis. Dieser Erreger reagiert auf Antibiotika. Die Behandlung wird der Hausarzt oder Ihr Kinderarzt weiterführen – sie sollte 14 Tage andauern. Sie bekommen bei der Entlassung mit den Unterlagen auch den Arztbrief an Ihren Kinderarzt.«
Er schweigt eine Weile und reibt sich nervös die Hände. »Ich sage Ihnen aber auch, dass wir eine Meldung an das Gesundheitsamt machen werden. Noch nie haben wir einen so heftigen Rattenbiss gehabt. Es …«
»Sie müssen die Polizei verständigen«, sagt Silke. »Die Ratten wurden uns ins Haus gesetzt.«
»Die Polizei wird von allein kommen.« Er hebt den Kopf. »Und das Jugendamt auch.«
Sie steigen am Kotti aus. Olga hat Silke die immer noch schlafende Lena abgenommen. Dengler bemüht sich, neben den beiden Frauen zu gehen, doch die Fußgänger auf der Oranienstraße drängen ihn immer wieder ab, sodass er aufgibt und missmutig hinter ihnen hertrottet. Erst als sie bei der Parkanlage des Leuschnerdamms sind, gelingt es ihm, zu den beiden aufzuschließen.
»Aus zwei Blocks wollen sie uns raushaben«, hört er Silke sagen. »In unserem Block wehren wir uns. Wir haben eine Mieterinitiative gegründet. Die Bewohner im Nachbarblock verhalten sich still. Die ziehen die Köppe ein und hoffen, dass das Gewitter an ihnen vorüberzieht. Alles fing mit dem neuen Eigentümer an. Hans Hilden Immobilien. Mieterhöhungen. Einspruch. Anwälte. Gerichte. Dann fiel kurz vor Weihnachten die Heizung aus. Rein zufällig, als es so richtig arschkalt wurde. Ich versorge eine alte Dame ein paar Stockwerke über mir. Die lag ganz blau gefroren in ihrem Bett. Lena wurde krank. Hab ein elektrisches Heizgerät gekauft, das die Energiekosten hochgetrieben hat. Ein paar Mieter sind gegangen, und die Neuen, die eingezogen sind, zahlen jetzt zwölf Euro pro Quadratmeter. Das kann ich mir nicht leisten. Und die meisten, die mit den alten Verträgen im Haus wohnen, auch nicht. Da haben wir uns getroffen und mal geredet. Dann sind wir alle zur Kreuzberger Mieterdemo. ›Enteignet Hans Hilden‹ – ein total schönes Transparent. Habe ich gemalt. Und jetzt haben sie uns die Ratten reingesetzt.«
Silke nimmt ihr Baby aus Olgas Armen, küsst es und gibt es Olga zurück.
»Warum sollte ein Vermieter so etwas machen – Ratten aussetzen?«, fragt Dengler.
Silke bleibt stehen und blickt zu Olga. »Was haste dir denn da für einen angelacht? Habe ich doch eben lang und breit erklärt. Der will uns raushaben. Und dann für zwölf Euro vermieten.«
»Und das andere Haus – werden die Mieter da auch drangsaliert?«
»Nö, die Braven lässt er in Ruhe.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Vermieter Ratten aussetzt«, sagt Dengler. »Und die Ratten damals in Altglashütten auf unserem Hof – die haben wir zuweilen gehört, aber nur ganz selten mal zu Gesicht bekommen, die waren da, aber völlig scheu, die hätten niemals einen Menschen auch nur …«
»Und was ist das?« Silke zeigt auf die verbundene Hand ihres Kindes.
»Habt ihr mal versucht, mit diesem Hilden zu reden?«
Silke lacht ein Lachen, das in ein raues Husten übergeht. »Mit den Anwälten von Herrn Hilden haben wir geredet. Als der Aufzug wochenlang ausfiel. Es sind solche Schweine.«
»Wie sind die Ratten ins Haus gekommen?«
»Gute Frage. Da muss jemand einen Schlüssel gehabt haben.«
Sie laufen an der Sankt-Michael-Kirche vorbei. Die Sonne schickt einige Strahlen auf das Kupferblech der großen Kuppel. Trotzdem ist es kalt. Dengler stellt den Kragen seiner Jacke hoch.
Silke hat ein Tuch über das eine Ende des Sofas gelegt. Zwei Kopfkissen bilden eine Barriere, die die immer noch schlafende Lena daran hindert, herunterzufallen. Dengler bemerkt zufrieden, dass Silke einen Bialetti-Espressokocher aus dem Schrank holt. Er hilft ihr, füllt Wasser ein und mahlt die Kaffeebohnen. Währenddessen trägt Silke Tassen und Löffel ins Wohnzimmer.
»Wir brauchen einen Plan. Wir müssen wissen, was hier vor sich geht«, sagt Olga leise, als sie am Tisch sitzen und den heißen und starken Espresso trinken.
»Ich war einfach völlig verzweifelt, als ich diese fette Ratte sah, die mein Kind anfraß. Ich wusste mir nicht zu helfen. Und da fielst du mir ein. Ich wusste nicht, wen ich sonst …«
»Das war genau richtig.«
Dengler sagt: »Ich würde mir das Kinderzimmer gern mal angucken.«
»Silke: »Okay, komm mit. Ich war nicht wieder drin, seit …«
Olga legt einen Arm um sie. Von der Tür aus weist Silke auf das Bettchen. Dengler betritt das Zimmer. Silke rührt sich nicht vom Fleck. Auf der Decke sind Blutspuren zu sehen. Dengler zieht sein Handy aus der Gesäßtasche und fotografiert das Kinderbettchen von allen Seiten. Auch auf dem Gestell des Bettchens findet er Blutspuren. Nachdenklich fährt er mit den Fingern an den Gitterstäben auf und ab. Anschließend untersucht er jeden Winkel des Zimmers. Gibt es irgendwo einen Riss in der Wand, einen offenen Lüftungsschacht, durch den die Ratte eindringen konnte? Er findet nichts dergleichen. Sicherheitshalber fotografiert er jede Ecke.
»Du kannst das Zimmer sauber machen. Ich habe den Tatort vollständig dokumentiert.«
»Den Tatort«, sagt Silke leise. »Wie sich das anhört! Es ist doch Lenas Kinderzimmer.«
Sie hat Tränen in den Augen und hebt den Kopf. »Ich habe so eine Wut. Die Hilden-Schweine terrorisieren uns seit Monaten.«
»Vielleicht ist es besser, du ziehst um«, sagt Dengler. »Geh der Sache aus dem Weg.«
Silke lacht bitter. »Das würde ich sofort machen. Aber es gibt in Berlin keine bezahlbaren Wohnungen mehr.«
Olga sagt: »Du kannst auf jeden Fall Schadensersatz verlangen.«
Dengler nickt. »Aber das bedeutet vermutlich einen langen Prozess. Und mehr als drei- oder viertausend Euro wird das Gericht dir nicht zusprechen.«
»Für einen Finger? Und ein traumatisiertes Baby? Eine traumatisierte Mutter?«, sagt Silke. »Das muss man sich mal reinziehen.«
Sie wendet sich an Olga. »Du kennst dich doch mit Computern aus. Kannst du nicht rausfinden, wie der Hilden an die Ratten gekommen ist? Damit wir ihm das alles nachweisen können. Ich will ihm eine reinwürgen. So richtig, mit voller Wucht. Und dann soll er richtig zahlen.«
»Er wird nicht gerade eine Bestellung aufgegeben haben.«
»Guck mal hier.« Silke zieht ihr Handy aus der Tasche. »Als ich mit dem Notarztwagen mit Lena ins Krankenhaus gefahren bin, haben die Nachbarn das gemacht.«
Sie zeigt einige Fotos, auf denen Silkes Nachbarn mit Besen und Schrubbern fünf oder sechs Ratten das Treppenhaus hinunterjagen. Ein Bild zeigt eine Ratte, die sich in die Borsten eines Besens verbissen hat. Eine andere Aufnahme zeigt die offen stehende Haustür und drei Ratten, die ins Freie fliehen.
»Das ist auch ein Beweis, oder?«, fragt Silke. »Die muss doch jemand ausgesetzt haben.«
»Oder sie kamen über die Kanalisation«, sagt Dengler.
»Und dann ins Treppenhaus?«, fragt Silke skeptisch.
»Wir sind jetzt da«, sagt Olga. »Georg ist Privatermittler. Wir werden rausfinden, was hier los war. Und wir werden uns diesen Hilden schnappen. Der soll zahlen, aber richtig.«
»Echt? Das würdet ihr machen?«
Dengler sagt: »Wegen des Honorars kannst du …«
In diesem Augenblick klingelt Silkes Handy. Sie nimmt ab und hört konzentriert zu.
»Im Nachbarblock ist was los. Wir sollen sofort runterkommen.«
Sie nimmt vorsichtig das schlafende Baby auf den Arm.
Vor einem der Eingänge stehen etwa zwanzig aufgebrachte Nachbarn. Sie reden auf eine Gruppe von Handwerkern ein, die etwas ratlos vor der Eingangstür stehen. Drei Lkws mit der Aufschrift »Schwaben Handwerk« parken auf der Straße, einer davon mit einer Hebebühne – dieser Lkw ist mit vier ausgeklappten Stützen gesichert: Die Arbeitsbühne ist aktiviert, der Bühnenkorb aber noch nicht besetzt.
Silke geht mit dem Baby auf dem Arm auf einen der Umstehenden zu. Lena ist aufgewacht und reibt sich die Äuglein mit der gesunden Hand. Der Arm mit der verbundenen Hand hängt an ihr herunter, als wäre er nur lose an dem kleinen Körper befestigt.
»Sie wollen die Fenster austauschen. Silke, stell dir das mal vor! Jetzt, mitten im Januar«, sagt der Mann.
»Das habt ihr davon, wenn ihr euch nicht wehrt«, sagt Silke.
»Bei mir bleiben die Fenster drin, das kannst du mir glauben.«
Dengler bahnt sich einen Weg durch die aufgewühlte Menge und tritt auf einen der Handwerker zu. Er ist der Größte von ihnen und strahlt eine gewisse Autorität aus.
»Sind Sie der Chef der Firma Schwaben Handwerk?«, fragt Dengler.
»Ich bin der Vorarbeiter«, bestätigt der Mann mit polnischem Akzent.
»Sie wollen die Fenster auswechseln. Wo haben Sie denn die neuen Fenster? Ich sehe keine.«
»Erst mal machen wir alte Fenster raus. Neue Fenster kommen später.«
»Später? Wann ist bei Ihnen später?«
Der Mann zuckt mit den Schultern und zeigt Dengler ein Blatt Papier.
»Auftrag ist erst mal: Fenster raus.«
»Sie können doch nicht bei dieser Kälte den Leuten die Fenster aus den Wohnungen ausbauen – und keine neuen einbauen!«
»Doch, können wir«, sagt der Mann und hebt die Hand.
Surrend hebt der hydraulische Mechanismus die Arbeitsbühne mit zwei Männern nach oben.
»Aufhören!«, schreit Silke.
Lena beginnt zu weinen.
»Aufhören, aufhören!« Nun rufen alle im Rhythmus.
Der Korb hält im fünften Stock vor einem Fenster. Einer der beiden Männer klebt eine Folie auf die Scheibe. Der andere schlägt mit einem Gegenstand dagegen. Kurz danach steht das Fenster auf. Wenige Handgriffe genügen, und die beiden stellen das ausgehebelte Fenster mit der zerbrochenen Glasscheibe in den Korb.
»Aufhören, aufhören!«
Dengler bahnt sich einen Weg zu dem Lkw.
Der Vorarbeiter stellt sich ihm in den Weg.
»Du bleibst besser stehen.«
Die Arbeitsbühne schwenkt zu einem anderen Fenster. Einer der beiden Männer hebt die Folie hoch. Da wird mit einem Ruck das Fenster aufgerissen. Eine Frau steht mit hochrotem Kopf im Rahmen und brüllt die beiden Handwerker an. Einer von ihnen lacht und greift unter das geöffnete Fenster, um es auszuhebeln. Plötzlich hat die Frau einen Eimer in den Händen. Ein Schwall Wasser trifft die beiden. Sie fluchen. Beide sind tropfnass. Einer will nach der Frau greifen. Doch sie hat einen weiteren Eimer in der Hand und hebt ihn drohend hoch.
Der Vorarbeiter, der eben noch Dengler angestarrt hat, dreht sich um und gibt dem Fahrer des Lkws ein Handzeichen. Mit einem schnurrenden Geräusch senkt sich die Arbeitsbühne zurück auf den Boden.
Die Nachbarn klatschen, als die beiden Männer aus dem Bühnenkorb steigen. Die Hydraulik zieht die Arbeitsbühne zurück auf die Ladefläche. Die Stimmung unter den Nachbarn hat sich gewandelt. Eine Frau umarmt Silke. Ein lachender Mann schlägt Dengler auf die Schulter. Olga blinzelt ihm zu.
»Mein Fenster! Ich will mein Fenster zurück«, brüllt plötzlich jemand. Ein Mann läuft auf den Lkw zu. Der Vorarbeiter schwingt sich auf den Wagen, als wolle er vor ihm flüchten. Dann zieht er das kaputte Fenster aus dem Bühnenkorb und übergibt es ihm.
Die Männer von Schwaben Handwerk bauen ihr Gerät ab. Die Arbeitsbühne wird in den Transporthalterungen arretiert. Schließlich heben sich die Stützen und rasten unterhalb des Fahrzeugrahmens ein. Kurze Zeit danach sind die drei Lkws verschwunden.
»Glaubt ihr mir jetzt?«, fragt Silke, als sie zehn Minuten später in ihrer Küche sitzen. »Wer im Januar bei den Mietern die Fenster ausbauen lässt, der setzt auch Ratten aus.«
Dengler kratzt sich am Kopf.
»Wir sollten mit diesem Hilden reden«, sagt er.
»Ein bisschen merkwürdig ist diese Website schon«, sagt Olga.
Zu dritt sitzen sie auf Silkes Couch und haben die Homepage der Hans Hilden Immobilien AG aufgerufen. Das erste Bild, das sich aufbaut, zeigt Hilden selbst. Das Kinn hochgereckt, volle dunkle Haare, nach hinten gegelt und im Kragen einen Zentimeter zu lang für einen seriösen Geschäftsmann. Dieses Selbstbewusstsein wird überlagert von etwas anderem, und es dauert einen Augenblick, bis Dengler es erkennt: Hildens Blick ist – trotzig.
Olga scheint zu einem ähnlichen Schluss gekommen zu sein.
»Auf dem Bild sagt er ohne Worte: Niemand hat es mir zugetraut, aber jetzt bin ich eine große Nummer. Und ihr könnt mich alle mal«, sagt sie.
»Diese Sau ist schuld, dass meinem Baby die Fingerkuppe fehlt. Dieser Scheißkerl hat uns die Ratten geschickt«, sagt Silke.
»Unsympathisch wirkt er nicht«, sagt Dengler.
Silke winkt ab. »Photoshop, alles Photoshop.«
»Die reinste Marmorhölle …«, sagt Olga.
Die Zentrale der Hans Hilden Immobilien AG liegt in der Nähe des Ernst-Reuter-Platzes. Über dem Eingang spannt sich ein großes Transparent, auf dem in roten Buchstaben steht: Wir sind alle Hilden. Georg Dengler und Olga sitzen auf schwarzen Ledercouches in einer weitläufigen Lobby, in deren Boden sich das Licht spiegelt. Er wirkt so glatt, als könnte man darauf Schlittschuh laufen. In einer Vitrine dreht sich ein beleuchteter goldener Fußballschuh. Dengler steht auf und sieht ihn sich an. Mit schwarzem Filzstift hat Vedad Ibišević sein Autogramm darauf hinterlassen, ein Spieler von Hertha BSC.
»Jetzt schießt er ein Tor nach dem anderen. Beim VfB Stuttgart war er auch nicht schlecht, aber hier in Berlin legt er so richtig los«, sagt Dengler.
Olga zuckt mit der Schulter. »Ging das nicht vielen Spielern so? Blühen auf, wenn sie nicht mehr in Stuttgart sind?«
Dengler nickt. »Ich sage nur: Timo Werner.«
In die Wände der Lobby sind Bildschirme eingelassen, auf denen Ansichten verschiedener Bauprojekte aufpoppen, dazwischen Baupläne, Modelle, und immer wieder lächelt ihnen trotzig und selbstbewusst Hans Hilden mit hochgerecktem Kinn entgegen, gefolgt von dem Spruch Wir sind alle Hilden. Dann weitere Fotos: Hilden mit dem Regierenden Bürgermeister, Hilden mit Helm auf einer Baustelle, Hilden Arm in Arm mit Ibišević auf dem Rasen des Berliner Olympiastadions.
»Da ist jemand sehr von sich überzeugt«, sagt Dengler.
»Wenn jemand etwas so dringend beweisen muss, versucht er meist das Gegenteil davon zu verbergen«, sagt Olga.
Dengler kommt nicht mehr dazu, über diesen Satz nachzudenken, weil eine junge Frau sie begrüßt.
»Mein Name ist Myriam Jung. Herr Hilden ist heute nicht im Haus. Ich bin seine Assistentin. Vielleicht können Sie mir Ihr Anliegen mitteilen?«
Sie hält Denglers Visitenkarte in der Hand und schaut stirnrunzelnd drauf.
»Sie sind … Privatermittler?«
»Herr Hilden sollte mit uns sprechen, bevor wir die Presse einschalten. Jemand hat Ratten in einem Wohnblock ausgesetzt, der von Hans Hilden Immobilien gekauft wurde. Wir nehmen an, dass dies eine neue Methode ist, die Mieter zu vertreiben. Nun hat eine Ratte allerdings ein Baby angegriffen und ihm die Fingerkuppe angefressen … Schauen Sie sich bitte einmal diese Fotos an.«
Dengler steht auf und zeigt ihr einige Fotos auf seinem Mobiltelefon.
Myriam Jung hebt schützend die Hand vor den Mund. »Das ist ja schrecklich!«
»Allerdings, noch schrecklicher wäre es, wenn dies auf Anweisung Ihres Chefs geschehen wäre.«
»Bestimmt nicht. Ich bin seine Assistentin. Ich kenne alle seine …«
»Am schrecklichsten für Herrn Hilden wäre es bestimmt, wenn die Presse von dieser Sache Wind bekäme und Ihr Unternehmen für diesen Anschlag verantwortlich machen würde.«
»Die Presse?« Myriam Jung zögert einen Augenblick. Dann sagt sie: »Wie gesagt, Herr Hilden ist heute nicht im Haus. Doch warten Sie bitte einen Augenblick.«
Sie verschwindet und kommt nach einigen Minuten zurück.
»Dr. Wenzel, unser Justiziar, empfängt Sie. Wenn Sie mir bitte folgen würden …«
Der Justiziar ist überraschend jung. Dengler schätzt Dr. Wenzel auf Anfang dreißig, vielleicht Mitte dreißig. Der graue Maßanzug und das weiße Hemd können seine kräftige Statur nicht verbergen. Eine mutig gestreifte Krawatte in Rot und Blau. Ein breites, waches Gesicht zeigt eine tiefe Narbe auf der linken Seite, die sich vom Wangenknochen fast bis zum Mundwinkel zieht. Dünne hellbraune Haare, sorgfältig nach hinten gekämmt, um die kahlen Stellen auf dem Hinterkopf zu verdecken. Große schwarze, viereckige Brille.
Wenzel schiebt Denglers Visitenkarte von einer Hand in die andere, als könne er nichts damit anfangen.
»Servus! Ein Privatermittler! Das sind Sie?«, sagt Wenzel. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen weiterhelfen kann.«
»Das können Sie ganz sicher«, sagt Dengler. »Wir möchten Herrn Hilden sprechen.«
»In welcher Angelegenheit?«
Olga sagt: »Das hat Ihnen Frau Jung sicher verraten, aber wir wiederholen es gern: Jemand hat in der Nacht Ratten in einem Plattenbau in Kreuzberg ausgesetzt. Das Haus gehört Herrn Hilden.«
Wenzel überlegt und kontert: »Herr Hilden befasst sich sicherlich nicht mit der Befolgung der hygienischen Vorschriften durch die Mieter seiner Immobilien. Aber ich kann Ihnen gerne die Telefonnummer der zuständigen Hausverwaltung raussuchen lassen.«
»Eine Ratte hat ein Kind verletzt. Das Kind einer guten Freundin.«
Wenzel sieht kurz auf. »Das ist sicherlich schlimm. Aber Herr Hilden …«, er zuckt mit den Schultern, »er … er kann sich nicht mit jeder Kleinigkeit befassen, die in seinen Immobilien geschieht …«
»Und sei sie noch so unangenehm«, schiebt er schnell hinterher.
»Vielleicht wird sich Herr Hilden die Mühe machen und sich mit dieser Kleinigkeit befassen, wenn sie in der Zeitung steht«, sagt Dengler. »Wenn wir nämlich hier und jetzt keinen Termin bekommen, werden wir die Öffentlichkeit über diese Kleinigkeit informieren. Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: Immobilienkonzern setzt Ratten aus, um Mieter zu vertreiben. Kleinkind verstümmelt.«
Auf Wenzels Gesicht erscheint ein seltsames Lächeln, das wie eingefroren wirkt. Denglers Visitenkarte wandert noch schneller von einer Hand in die andere.
Dengler steht auf. »Gut, Sie wollen es nicht anders.«
»Warten Sie! Okay, okay. Ich helfe natürlich, wo ich kann.«
Wenzel legt die Visitenkarte vor sich auf den Schreibtisch und tippt auf der Tastatur eines Laptops.
»Ich sehe gerade: Da wäre noch ein Zeitfenster. In zwei Tagen. Um 14:00 Uhr? Passt das bei Ihnen? Hier bei uns.«
»Geht doch«, murmelt Olga.
»Perfekt!«, sagt Dengler und steht auf.
Als Dengler die Bürotür des Justiziars hinter sich geschlossen hat, gibt er Olga ein Zeichen, sie solle stehen bleiben. Dann zählt er bis zehn und drückt die Tür zu Wenzels Büro mit einem schnellen Ruck auf.
Der Justiziar steht hinter seinem Schreibtisch und sieht zum Fenster hinaus, ein Telefon am Ohr.
»Ja, Dengler heißt er. Privatermittler. Aus Stuttgart«, hört er Wenzel sagen.
Der Justiziar dreht sich um und erstarrt mitten in der Bewegung.
»Ja, was gibt es noch?«, sagt er.
»Ich wollte nur sicher sein, dass unser Gespräch Ihnen wichtig genug war, es sofort Herrn Hilden zu melden«, sagt Dengler, schließt die Tür und geht.
»Hundertprozent«, sagt Olga, als sie auf die Straße treten, »die haben Dreck am Stecken.«
»Ein Schuldeingeständnis werden wir wohl nicht bekommen.«
»Mmh, aber dann sollen sie Schadensersatz zahlen. Und Lenas Ausbildung, das wäre das Mindeste.«
»Das werden sie als großartige Geste verkaufen. Ich seh diesen Wetzel schon vor mir …«
»Wenzel.«
»Was?«
»Er heißt Wenzel.«
»Auch recht. Ich seh diesen Wenzel schon vor mir: Es ist unsere Verantwortung … blah, blah, blah, für das Wohl unserer Mieter blah, blah, blah.«
»Scheißegal«, sagt Olga. »Hauptsache, es hilft Lena.«
»Ich weiß nicht.«
»Laufen wir ein Stück?«
»Gern.«
Vor dem Plattenbau, in dem Silke wohnt, erwartet sie eine Überraschung. Zwei Übertragungswagen haben auf der Straße geparkt. Eine Gruppe von Journalisten steht vor der Haustür. Eine Bewohnerin wird gerade interviewt.
»… hat sich eines dieser Monsterviecher in meinem Besen verbissen. Und überall im Flur wuselten sie in Panik hin und her. Ich rief meinen Mann, und der kam mit einem Hammer.«
»Mit einem Hammer?«, fragt der Journalist skeptisch.
»Damit konnte er natürlich nichts ausrichten. Die waren viel zu schnell. Also holte er einen Schrubber. Damit haben wir die ekligen Viecher aus der Haustüre rausgefegt. Wie die quiekten!«
»Und was denken Sie? Wo kamen die Ratten her?«
»Na, das ist doch klar. Die hat uns der Hilden hier reingesetzt. Der will doch, dass wir alle von hier verschwinden.«
»Übertreiben Sie nicht ein bisschen? Das klingt doch sehr nach Verschwörungstheorie …«
Eine mittelalte Frau in beigem Mantel drängt sich vor.
»Verschwörungstheorie?«, schreit sie den Journalisten an. »Ich wohne dort drüben. Hilden wollte uns die Fenster ausbauen. Im Januar. Sie haben keine Ahnung davon, wozu der alles fähig ist!«
Olga und Dengler schieben sich an der Gruppe vorbei und nehmen den Aufzug zu Silkes Wohnung.
Silke öffnet ihnen mit verdrießlichem Gesicht.
»Kommt rein«, sagt sie.
Noch im Flur sagt Olga: »Wir haben eine Verabredung mit diesem Hilden. In zwei Tagen. Wir werden herausfinden, ob er hinter der Aktion mit den Ratten steckt. Wenn ja, wird er nicht ungeschoren davonkommen. Das verspreche ich dir.«
Sie betreten das Wohnzimmer. Auf der Couch sitzt ein junger Mann und sieht genauso schlecht gelaunt aus wie Silke.
»Ich bin der Matthias«, stellt er sich vor. »Ich bin Silkes Freund.«
Silke setzt sich auf den von ihm am weitesten entfernten Stuhl.
Schweigen.
»Geht es Lena gut?«, fragt Dengler.
Silke nickt.
Schweigen.
»Dicke Luft?«, fragt Olga. »Stören wir?«
Silke schüttelt den Kopf.
Matthias wendet sich an Olga. »Ich kann das nicht verstehen. Die ganze Geschichte … Lena verletzt. Silke fährt mit ihr ins Krankenhaus. Horror überall. Und sie ruft mich nicht an. Nicht ein einziges Mal! Ich versteh’s nicht. Ich versteh es einfach nicht. Kannst du mir erklären, warum sie so ist?«
Weil sie dich für einen Langweiler hält, denkt Dengler. Der junge Mann tut ihm leid. Er hat keine Chance und weiß es nicht. Er betrachtet Silkes verschlossenes Gesicht.
»Warum? Silke, warum?«, fragt Matthias. »Ich will doch helfen. Ich hätte doch …«
»Was hättest du gemacht?«, fährt Silke ihn an. »Was? Hättest du was besser gemacht als ich?«
Matthias Schultern fallen resigniert nach vorn. Er bewegt seine Lippen, als wolle er etwas sagen. Aber einen Ton bekommt er nicht heraus. Dengler sieht ihm an, dass er abwägt: Wenn ich etwas sage, dann reize ich Silke noch mehr. Sage ich nichts, dann steigt ihre Verachtung.
Er greift in seine Tasche, zieht eine blaue Metalldose hervor und stellt sie auf den Tisch, öffnet sie, entnimmt einen Beutel Schwarzer Krauser, kramt dann Zigarettenblättchen und ein Silberpapier-Päckchen heraus. Drei der Blättchen legt er auf den Tisch, befeuchtet sie mit der Zunge und klebt sie zu einer großen Fläche zusammen, um dann Tabak daraufzubröseln. Dann zieht er das Silberpapier auseinander. Ein daumengroßer Brocken, dunkel und matt, kommt zum Vorschein.
»Schwarzer Afghane«, sagt er. »Beste Qualität.«
Silke sieht ihm ausdruckslos zu, wie er mit dem Feuerzeug den Stoff anwärmt und dann in den Tabak krümelt. Er rollt den Joint, verzwirbelt die Spitze und steckt ihn dann an, nimmt einen Zug und reicht den Joint Silke über den Tisch. Olgas Freundin nimmt drei tiefe Züge und will die Tüte an Dengler weitergeben, der den Kopf schüttelt. Auch Olga hebt abwehrend die Hände. Silke schließt die Augen und nimmt noch zwei tiefe Züge, bevor sie den Joint an Matthias zurückreicht.
»Gleich kommen zwei Journalisten«, sagt Silke mit geschlossenen Augen. »Von der Berliner Tagespost. Und vom Radio. Die wollen alles über Lena und die Ratten vom Hilden wissen.«
Matthias kichert: »Jetzt sind wir ja gut vorbereitet« und drückt den Joint aus.
»Woher wissen die Journalisten so schnell Bescheid?«, fragt Olga.
Silke zuckt mit der Schulter. »Keine Ahnung.«
»Das ist schlecht«, sagt Dengler. »Die Presse war unser Druckmittel, um den Hilden zum Sprechen zu bringen.«
»Der kriegt jetzt Druck, glaub mir«, sagt Silke.
»Hast du die Presse informiert?«, fragt Dengler.
Silke schüttelt den Kopf, immer noch mit geschlossenen Augen.
»Von uns im Haus hier war’s keiner«, sagt sie. »Wir sind selbst überrascht.«
Es klingelt.
»Das sind bestimmt die Journalisten«, sagt Silke. »Matthias, lässt du sie herein? Ich hole Lena.«
Sie steht auf und dreht sich noch einmal um. »Und räum den Joint weg, verdammt.«
Dengler steht auf. »Dann gibt es für uns nicht mehr viel zu tun.«
Auch Olga steht auf. Sie quetschen sich an den zwei Besuchern vorbei, als diese die Wohnung betreten.
Olga und Dengler schlendern an der Sankt-Michael-Kirche vorbei zurück zur Oranienstraße. Sie finden ein kleines türkisches Restaurant namens Hasir und bestellen einen Teller mit Humus, Falafel und Salat. Olga lässt sich türkischen Tee bringen. Dengler probiert einen frisch gepressten Rote-Bete-Saft.
Danach steigen sie am Kottbusser Tor in die U1 und fahren bis Uhlandstraße. Als sie den Kurfürstendamm überqueren, klingelt Denglers Handy.
Eine unbekannte Nummer. Dengler nimmt an.
»Wenzel hier. Herr Dengler, das war’s dann wohl mit Ihrem Termin bei Herrn Hilden.«
»Wovon reden Sie? In zwei Tagen sind wir bei Ihnen.«
»Vergessen Sie’s, Dengler. Die Sache mit den Ratten läuft gerade auf allen Sendern. Die Berliner Tagespost