Der Fuchs und der Mondhase - Leo Hirsch - E-Book

Der Fuchs und der Mondhase E-Book

Leo Hirsch

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Beschreibung

"Ich glaube, du könntest vielleicht doch die Richtige für unsere Mission sein, Mondhase." Als Irma Wolf zurück in das alte Familienhaus zieht, ahnt sie noch nicht, dass sich direkt vor ihrer Haustür eine magische Welt verbirgt. Doch dann begegnet sie dem griesgrämigen Einzelgänger Iven, einem Fuchsgestaltwandler und Wächter in geheimer Mission. Dank ihm strandet sie in der Anderswelt, wo Magie alltäglich ist und fürchterliche Kreaturen die Welt bedrohen. Um zu überleben, muss Irma selbst eine Wächterin werden. Als sie erkennt, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen, stehen nicht nur ihre Gefühle für Iven auf dem Spiel. Ihre eigene Bestimmung ist in Gefahr ... Magie. Spannung. Große Gefühle. Der Auftakt der Magikk-Saga.

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Das Buch

Als Irma Wolf zurück in das alte Familienhaus zieht, ahnt sie noch nicht, dass sich direkt vor ihrer Haustür eine magische Welt verbirgt. Doch dann begegnet sie dem griesgrämigen Einzelgänger Iven, einem Fuchsgestaltwandler und Wächter in geheimer Mission. Dank ihm strandet sie in der Anderswelt, wo Magie alltäglich ist und fürchterliche Kreaturen die Welt bedrohen. Um zu überleben, muss Irma selbst eine Wächterin werden. Als sie erkennt, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen, stehen nicht nur ihre Gefühle für Iven auf dem Spiel. Ihre eigene Bestimmung ist in Gefahr.

Über die Autorin

Leo Hirsch, geboren 1996, ist schon seit ihrer Kindheit ein Fan von Magie und Fantasy. Wenn sie nicht gerade in ihren Tagträumen versinkt, zeichnet sie gerne oder besucht Festivals und Konzerte. »Der Fuchs und der Mondhase« ist ihr Debütroman. Auf Instagram und TikTok ist sie unter @_leo.hirsch zu finden.

Für all diejenigen, die ein wenig Magie in ihrem Leben gebrauchen können.

Inhaltsverzeichnis

Eine Hütte ohne Eingang

Der Hase und der Fuchs

TEIL 1: Begegnung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

TEIL 2: Zauberwald

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

TEIL 3: Hexenjagd

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

EPILOG

DANKE

Eine Hütte ohne Eingang

Schon seit Stunden streiften sie durch den Wald. Es war ein Wunder, dass der Mann mit dem kleinen Bündel im Arm noch nicht gestürzt war. Es herrschte finstere Nacht, und lediglich das weiße Haar der Kleinen leuchtete in der Dunkelheit. Ihre großen blauen Augen waren wachsam. Ob sie verstand, wen oder was sie suchten? Als sie die Hütte ohne Eingang erreichten, spürte er seit Langem wieder Hoffnung. Nicht für sich, doch vielleicht durfte seine Tochter in Frieden heranwachsen.

Der Hase und der Fuchs

Die Sonnenstrahlen kitzelten ihr Stupsnäschen. Es war ein herrlicher Spätsommertag. Die Hummeln und Bläulinge tanzten auf der Lichtung, während die Gräser und Blumen sich sacht im Wind wiegten. Es war ruhig. Verdächtig ruhig. Sie ließ ihren Blick über das satte Grün wandern. Was war es, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte? Sie spitzte angestrengt die langen Ohren, doch außer dem sanften Rascheln der Gräser konnte sie nichts hören. Viel zu spät bemerkte sie den Fuchs, der seine scharfen Zähne in ihr Fleisch grub.

TEIL 1 Begegnung

1

Irma Wolfs dunkles Haar tropfte noch von der eisigen Dusche, die sie sich soeben zugemutet hatte. Diese hatte ihren Zweck jedoch völlig verfehlt. Anstatt sich wach und munter zu fühlen, war Irma nun einfach nur nass, und ihr war kalt. Mit der Zahnbürste im Mund betrachtete sie sich im Spiegel.

Augenringe bis nach Timbuktu.

Die Nervosität vor dem ersten Schultag in Birkenhain hatte sie die halbe Nacht wach gehalten, und die übrigen spärlichen Stunden Schlaf war sie von Albträumen geplagt worden. Unbewusst rieb sie sich die Stelle am Hals, in die der Fuchs seine Fänge gegraben hatte. Es war der einzige Traum, der Irma wieder und wieder heimsuchte. Jedes Mal fühlte es sich an wie ein Déjà-vu, dennoch sah sie den Fuchs niemals kommen. Als Irmas Blick ihre eisblauen Augen im Spiegel traf, seufzte sie. Selbstmitleid war auch keine Lösung, und es war allerhöchste Zeit, sich für die Schule fertig zu machen. Irma trug Lidschatten, Wimperntusche und ein wenig mehr Concealer als gewöhnlich auf und huschte zurück in ihr Zimmer. Die alten Holzdielen knarzten laut. In der Wolfswacht war es wirklich unmöglich, sich unbemerkt fortzubewegen. Aus der Küche im Erdgeschoss konnte Irma dumpf das Geplapper aus dem Radio vernehmen. Klara-Luise war wohl schon beim Frühstück.

Damit sie am neuen Gymnasium einen guten Eindruck machen würde, hatten Irma und ihre Cousine den vorherigen Tag damit verbracht, ihren Kleiderschrank nach dem perfekten Outfit zu durchforsten. Als der irgendwann komplett geplündert und das übrige Mobiliar unter unzähligen Klamotten verschwunden war, war die Auswahl dann doch auf Irmas Wohlfühloutfit gefallen. Sie schlüpfte in ihren Latzrock, den dunklen Strickcardigan, eine gepunktete Strumpfhose und schwarze Chucks. Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel packte Irma ihren Rucksack und machte sich auf den Weg hinunter in die Küche. Die Holzdielen der Treppe knarzten im Takt ihrer Schritte.

»Morgen«, brummte Klara-Luise, die mit ihrem roten Lockenkopf fast in der Müslischüssel hing.

Ihr bereitete der Beginn des neuen Schuljahres zwar schlechte Laune, aber keine Bauchschmerzen. Im Gegensatz zu Irma ging Klara-Luise nämlich schon seit Jahren in Birkenhain zur Schule. Irma hingegen war mit ihrer Mutter erst im Sommer zurück nach Berg gezogen. Der Grund war der Gesundheitszustand ihrer Tante Brietta gewesen, diese kämpfte schon lange mit einer Autoimmunerkrankung, die bereits in der Vergangenheit stationäre Krankenhausaufenthalte mit sich gebracht hatte. Zu Beginn des Sommers hatte sie trotzdem einen Spaziergang am Rande des Kaltengrims gewagt. Doch Brietta war so wackelig auf den Beinen gewesen, dass sie gestürzt war und sich zu allem Übel auch noch den Oberschenkelknochen gebrochen hatte. Damit Klara-Luise und ihr großer Bruder Anselm nicht allein auf sich gestellt waren, kehrten Irma und ihre Mutter Selma in das alte Familienhaus zurück. Für Selma, die die Wolfswacht in den letzten Jahren nur ungern besucht hatte, war das kein leichter Schritt gewesen. Doch die Familie Wolf hielt zusammen, komme, was wolle.

»Es ist noch ein bisschen Kaffee in der Kanne«, nuschelte Klara-Luise.

Nachdem sie sich ebenfalls eine Schüssel Müsli gemacht hatte, kippte Irma den mickrigen Rest in eine Tasse, füllte diese mit Milch auf und setzte sich zu ihrer Cousine an den Esstisch. Durch das Küchenfenster konnte sie direkt in den Hof sehen. Kein Auto stand darin.

»Mama und Anselm sind wohl beide schon weg?«, erkundigte sich Irma.

Klara-Luise nickte. Selma kümmerte sich seit dem Umzug um Briettas Blumenladen und fuhr meist sehr früh dorthin. Anselm arbeitete derzeit allerdings meist die Nachmittagsschicht im Café Haderlump, dem schönsten Café Birkenhains.

»Anselm muss irgendjemanden vertreten, die haben ihn vorhin wach geklingelt«, erklärte Klara-Luise muffelig.

Ein bisschen enttäuscht war Irma schon. Insgeheim hatte sie gehofft, ihr Cousin würde sich erbarmen und sie und seine Schwester am ersten Schultag nach Birkenhain fahren. Im Gegensatz zu ihnen war Anselm nämlich schon volljährig. Da die Wolfswacht weit außerhalb der kleinen Ortschaft Berg lag, war die nächste Bushaltestelle keine Option. So blieb den beiden bloß das Fahrrad. Zum zweiten Mal an diesem Morgen stieß Irma einen tiefen Seufzer aus.

»Dann mal auf in den Kampf«, murmelte sie, als sie das Geschirr in die Spülmaschine stellte.

Eher resigniert als entschlossen schlüpfte sie in ihre Lederjacke und marschierte zusammen mit ihrer Cousine in die kühle Morgenluft.

Die Landschaft um Irmas neues Zuhause herum hätte sich nicht stärker von ihrer bisherigen Umgebung in der Großstadt unterscheiden können. Die Wolfswacht lag praktisch mitten in der Pampa, lediglich umgeben von kleineren und größeren Bergen sowie dem Kaltengrim. Das dunkle Holzhaus mit seinen großen Sprossenfenstern wirkte auf Irma immer etwas deplatziert, fast so, als dürfte es an dieser Stelle gar nicht stehen. Als dürfte unmittelbar am Rand des Kaltengrims überhaupt keine Menschenseele wohnen. Wie man auf die Idee kommen konnte, sein Haus so weit abseits der nächsten Ortschaft zu bauen, war Irma schon immer ein Rätsel gewesen. Doch wahrscheinlich hatte sie gerade deshalb so schöne Erinnerungen an die wenigen Gelegenheiten, bei denen sie ihre Verwandten hier besucht hatten. Die Bäume am Rand des Kaltengrims raschelten leicht im Wind und schienen Irma auf ihre Weise viel Glück für den bevorstehenden Tag zu wünschen.

Die Temperaturen waren in diesem Spätsommer ungewöhnlich früh gefallen, und der kalte Fahrtwind ließ Irmas Nasenspitze taub werden. Auch in ihren Fingern verlor sie allmählich das Gefühl. Dennoch war die Fahrt nach Birkenhain nicht so übel, wie Irma befürchtet hatte. Die Straße führte leicht abwärts ins Tal, weshalb das Radfahren überhaupt nicht anstrengend war. Die Heimfahrt würde dagegen wohl weniger angenehm werden. Früher als erwartet ließen Irma und Klara-Luise Berg hinter sich. Da es keinen Radweg zwischen dem Dorf und Birkenhain gab, mussten die beiden über die Landstraße fahren. Sie teilten sich diese mit einigen wenigen Autos, deren Fahrer ungeduldige Überholmanöver wagten, um auf ihrem Arbeitsweg nicht aufgehalten zu werden. Da die Straße schmal und Klara-Luise zu schlecht gelaunt für morgendliche Gespräche war, fuhr Irma hinter ihrer Cousine her. Sie fühlte sich alleingelassen mit ihrer Nervosität, und zahllose Gedanken schwirrten ihr im Kopf herum.

Sie hoffte darauf, in dieselbe Klasse wie Klara-Luise zu kommen und schnell Freunde zu finden. Irma ging nicht gern zur Schule, denn sie konnte nicht lange still sitzen, und Aufpassen zählte auch nicht gerade zu ihren Stärken. Sie fürchtete sich schon jetzt vor den Lehrern, doch möglicherweise würde es hier etwas besser laufen und sie wäre nicht wieder so kurz davor, die Klasse wiederholen zu müssen, wie im letzten Schuljahr. Zumindest hatte Birkenhain kein Lacrosse-Team, und sie würde zwangsläufig mehr Zeit zum Lernen haben.

Irma war so tief in ihre Überlegungen versunken, dass sie den SUV nicht bemerkte, der sich von hinten näherte. Da das Auto viel zu groß für die schmale Straße zwischen Berg und Birkenhain war, ließ der Fahrer nicht annähernd genug Abstand zu den beiden Radfahrerinnen. Wäre Irma nicht so sehr mit ihren Sorgen beschäftigt gewesen, hätte sie den riesigen Wagen vielleicht rechtzeitig wahrgenommen und sich näher an den Straßenrand begeben. So allerdings wurde sie erst in dem Moment jäh aus ihren Gedanken gerissen, als der Außenspiegel ihren linken Arm streifte. Erschrocken verriss sie den Lenker nach rechts, instinktiv weg von dem Fahrzeug. Als ihr Vorderreifen auf das Bankett geriet, verlor sie das Gleichgewicht und erwischte mit vollem Schwung auch noch einen Leitpfosten. Unsanft, aber immerhin gebremst durch die Kollision mit dem Begrenzungspfahl, stürzte sie zu Boden. Irmas Herz hämmerte, ihr Atem stockte, es rauschte in ihren Ohren. Sie brauchte ein paar Augenblicke, um zu begreifen, was soeben passiert war.

Klara-Luise fluchte. Der Fahrer des SUVs war nicht einmal stehen geblieben! Immer noch benommen von dem Sturz ließ Irma sich von ihrer Cousine auf die zittrigen Beine helfen.

»Geht es dir gut? Hast du dich verletzt? Tut irgendetwas weh?«, erkundigte sich Klara-Luise besorgt und scannte Irma von oben bis unten nach sichtbaren Verletzungen ab.

Irma schüttelte den Kopf. »Es ist nichts passiert, ich bin nur total erschrocken.«

Sie folgte Klara-Luises Blick. Ihre Strumpfhose war auf der rechten Seite zerrissen, und eine Schürfwunde zog sich über ihr Knie. Ihre Klamotten waren mit Staub überzogen, ihr Rucksack lag im Dreck. Doch nichts davon konnte Irma dermaßen aus der Fassung bringen wie der Anblick ihres Fahrrads. Das Vorderrad war so stark verbogen, dass eine Weiterfahrt nach Birkenhain unmöglich war.

Wie sollte sie denn nun rechtzeitig zur Schule kommen?

Egal wie lange sie überlegt hatten, den beiden war keine bessere Lösung eingefallen, als sich an dieser Stelle zu trennen. Klara-Luise würde schon einmal vorausfahren und in der Schule Bescheid geben, dass Irma erst verspätet zum Unterricht erscheinen könne. Die beiden Cousinen hatten das demolierte Fahrrad an einen Baum gelehnt, und Irma trat ihren Fußmarsch in Richtung Birkenhain an. Während sie sich den Staub vom Rock klopfte, versuchte sie angestrengt, die Tränen zurückzuhalten, die ihr in den Augen brannten. Schon seit Tagen machte sie sich Sorgen über den ersten Schultag, aber niemals hätte sie geglaubt, dass sich schon auf dem Weg dorthin die erste Katastrophe ereignen würde.

Reiß dich zusammen, dir ist nichts passiert, und das Fahrrad kann man reparieren!

Irma schniefte, blinzelte die Tränen fort und fasste den Entschluss, zumindest so pünktlich wie möglich zum Unterricht zu kommen. Der nächste Pendler aus Berg musste sie mitnehmen, etwas anderes kam nicht infrage. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit ein Auto um die Kurve fahren hörte, nahm Irma ihre Chance wahr. Sie trat auf die Straße und begann mit den Armen zu wedeln. Der silberne Golf musste eine Vollbremsung hinlegen, um vor ihr zum Stehen zu kommen. Erleichtert ging sie auf den mit Schrammen übersäten Wagen zu. Noch bevor sie ihn erreichte, stieg der wütende Fahrer aus.

»Sag mal, bist du eigentlich bescheuert?«, brüllte er fassungslos und gestikulierte wild. »Ich hätte dich beinahe überfahren, hast du noch alle Latten am Zaun?«

»Ich muss dringend nach Birkenhain und hatte einen Fahrradunfall. Bitte nimm mich mit!«, sprudelte es aus ihr heraus.

Ihr kam gar nicht in den Sinn, sich zu entschuldigen.

Ungläubig fragte der Fahrer mit kratziger Stimme: »Ach, und da bist du nicht auf die Idee gekommen, dich einfach an den Straßenrand zu stellen und ein Handzeichen zu geben?«

»Ich konnte doch nicht riskieren, dass du mich stehen lässt! Heute ist sowieso nicht gerade mein Glückstag«, rechtfertigte sich Irma.

Der Kerl war groß und hager, und sein vor Zorn gerötetes Gesicht hatte fast dieselbe Farbe angenommen wie sein langes Haar. Er wirkte kaum älter als Irma. Entschlossen setzte sie sich wieder in Bewegung.

»Du fährst doch bestimmt auch nach Birkenhain. Das Gymnasium liegt direkt am Stadtrand, da kannst du mich einfach rauslassen.«

Sie öffnete die Beifahrertür, warf ihren Rucksack in den von Limodosen übersäten Fußraum und stieg ein.

»Ich bin übrigens Irma. Danke, dass du mich mitnimmst!«

2

Als sie noch in dem Mehrfamilienhaus in der Stadt gewohnt hatten, waren Irma und ihre Mutter Selma ohne Auto ausgekommen. Manchmal, wenn Irma krank gewesen war und zum Arzt gebracht werden musste, hatte sich Herr Henning von gegenüber angeboten. Er war alleinstehend und seit Beginn seiner Rente chronisch gelangweilt. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, Irma auf dem Weg immer unangenehme Details über seine diversen gescheiterten Rendezvous zu offenbaren und währenddessen lautstark Schlager zu hören.

Die Fahrt nach Birkenhain stellte die Touren mit Herrn Henning nun allerdings in den Schatten. Lediglich Irmas Erleichterung darüber, doch noch rechtzeitig zum Unterricht zu erscheinen, ließ sie die scheußliche Situation halbwegs gelassen hinnehmen. Der Rothaarige würdigte sie keines Blickes und starrte mit säuerlicher Miene stur auf die Fahrbahn. Seine knochigen Hände hatten sich so stark um das Lenkrad gekrampft, dass seine Knöchel weiß wurden. Irma fand, dass sein Verhalten maßlos übertrieben war. Es war ja wohl keine große Sache, ein gestrandetes Mädchen vom Straßenrand aufzugabeln. Er musste doch sowieso in dieselbe Richtung!

Sie war allerdings verunsichert von der unangenehmen Stille, und so entschied Irma sich dagegen, ihrem unfreiwilligen Chauffeur ihre Meinung darüber mitzuteilen. Verstohlen musterte sie ihn von der Seite. Er war schlaksig, und alles an ihm wirkte ein bisschen zu kantig, fast so, als ob er zu schnell gewachsen wäre. Er hatte eine markante Hakennase und ausgeprägte Wangenknochen, Sommersprossen überzogen sein Gesicht. Unter anderen Umständen hätte Irma diese sicher allerliebst gefunden, aber auf einer derart mies gelaunten Grimasse …

Er schien sich des prüfenden Blicks von Irma bewusst zu werden, und seine sturmgrauen Augen flackerten zu ihr herüber.

»Was?«, grummelte er zwischen zusammengepressten Zähnen.

Irma fühlte sich ertappt, die Hitze stieg ihr ins Gesicht. Sie wurde grundsätzlich sofort rot, sobald ihr etwas peinlich war.

Small Talk. Ich sollte es mit Small Talk versuchen.

»Bist du … auch auf dem Weg zur Schule?«, fragte sie etwas einfallslos.

Die Nasenflügel des Rothaarigen bebten.

Sie hatte gar nicht mehr damit gerechnet, eine Antwort zu erhalten, als er endlich mit Grabesstimme antwortete: »Ja. Ich habe sozusagen meinen … ersten Schultag.«

Die beiden letzten Worte gingen ihm auffallend schwer über die Lippen.

»Das ist ja ein Zufall, für mich ist das heute ebenfalls der erste Tag. Bist du wohl auch neu in der Gegend?«, erkundigte sich Irma neugierig.

Es dauerte wieder einige Sekunden, bis ihr Gesprächspartner sich zu einer Antwort herabließ.

»Sozusagen.«

Wie lästig es war, ihm jedes Wort aus der Nase ziehen zu müssen! Irma beschloss, seine Einsilbigkeit zu ignorieren.

»Ich bin ja eigentlich ursprünglich von hier, habe aber die ganzen letzten Jahre woanders gelebt«, plapperte sie los, da sie ein erneutes Schweigen tunlichst vermeiden wollte. »Wir sind erst im Sommer wieder zurückgezogen. Deshalb bin ich auch neu an der Schule. Meine Cousine, sie heißt übrigens Klara-Lui…«

»Wärst du so freundlich und machst mal das Handschuhfach auf?«, wurde sie jäh unterbrochen.

»Äh … ja klar, was brauchst du denn?«

»Gib mir mal die Kassette mit der grünen Schrift.«

Im Handschuhfach befanden sich einige Kassetten, die krakelig mit Edding beschriftet waren. Als Irma den Titel der grünen Kassette las, fragte sie sich, wieso ausgerechnet sie an diesen unmöglichen Typen geraten musste. Wortlos griff er nach der Kassette und legte sie in den Rekorder ein. Er drehte die Lautstärke auf, und begleitet von Ivens Soundtrack gegen nervige Konversationen (Teil 2) legten sie die restlichen Kilometer bis zur Schule zurück.

Der Schotterparkplatz hinter dem alten Schulgebäude war voller Schlaglöcher. Iven, dessen Namen Irma vom Titel seiner Kassette kannte, fluchte leise vor sich hin, während er den größten auswich. Er stellte seinen Golf III ans hinterste Ende des Parkplatzes, da die vorderen Reihen vollständig belegt waren. Der Großteil der Schülerschaft war sicherlich schon eingetroffen, es waren nur noch wenige Minuten bis Schulbeginn. Irma konnte es kaum erwarten, endlich auszusteigen. Obwohl sie Iven, der sie die restliche Fahrt über gekonnt ignoriert hatte, innerlich verfluchte, erinnerte sie sich an die Manieren, die ihre Mutter ihr eingebläut hatte.

Daher nuschelte sie: »Danke fürs Mitnehmen.«

Sie kämpfte sich aus den klappernden Limodosen im Fußraum frei und streckte ihr rechtes Bein in die kühle Morgenluft. Ihre Schürfwunde am Knie brannte, als sie es durchstreckte, und Irma wurde bewusst, wie ramponiert sie aussehen musste. Zerrissene Strumpfhosen, grasfleckiger Latzrock, zerzauste Frisur. So hatte sie sich ihren ersten Eindruck hier bestimmt nicht vorgestellt.

Unschlüssig, ob sie auf Iven warten sollte, drehte sie sich zu ihm um. Er lehnte an seinem Golf, zündete sich gerade in diesem Moment eine Zigarette an und nahm Irma damit die Entscheidung ab.

»Man sieht sich«, sagte sie erleichtert, ehe sie in Richtung Eingang stapfte.

Mit einem Misfits-Ohrwurm von Ivens Soundtrack gegen nervige Konversationen (Teil 2) im Kopf schlängelte sie sich an den parkenden Autos vorbei. Dabei wurde sie das Gefühl nicht los, dass sich Ivens Blick in ihren Rücken bohrte. Ein seltsam vertrautes Unbehagen machte sich in ihrer Magengegend breit. Zum zweiten Mal an diesem Morgen strich sie über die Stelle am Nacken, in die der Fuchs aus ihrem Traum seine Zähne gegraben hatte. Dann fand sie sich in der großen Aula des Schulgebäudes wieder.

Irma war von dem unglücklichen Sturz und der furchtbaren Autofahrt mit Iven so abgelenkt gewesen, dass sie ihre Aufregung ganz vergessen hatte. Nun aber wurde ihr augenblicklich bewusst, dass sie in lauter fremde Gesichter blickte und nicht die leiseste Ahnung hatte, wohin sie jetzt gehen sollte.

Ein Neustart könne auch gut sein, hatte Selma ihr versichert. Irma bemühte sich also, sich nicht von der Welle der Nervosität umreißen zu lassen, die über sie hinwegschwappte, und blickte sich suchend um. Sie durchquerte die Halle und steuerte auf ein schwarzes Brett zu, das mit den verschiedensten Aushängen tapeziert war. Zu ihrer Erleichterung befanden sich darunter seitenweise Klassenlisten mit Schülernamen, auf denen zudem die jeweiligen Klassenlehrer und -räume vermerkt waren. Es war ein Leichtes, ihren eigenen und Klara-Luises Namen zu finden. Mit dem gemeinsamen Nachnamen Wolf waren sie die beiden letzten Schülerinnen der 11c. Irma hätte jubeln können, so glücklich war sie darüber, mit ihrer Cousine in einer Klasse zu sein.

»Irma, du bist ja schon hier!«

Sie drehte sich zu Klara-Luise um, die durch die Aula auf sie zukam, einen Jungen mit hellem Haar, Cap und Baggy Jeans im Schlepptau.

»Gerade eben wollte ich zum Klassenzimmer. Ich habe noch nicht einmal der Lehrerin Bescheid gesagt. Wie hast du es denn so schnell hierhergeschafft?«, erkundigte sich ihre Cousine ungläubig.

Irmas Sorgen darüber, wie sie rechtzeitig den Unterrichtsraum finden sollte, lösten sich in Luft auf.

»Mein grenzenloser Charme hat mir eine großartige Mitfahrgelegenheit verschafft«, lachte sie.

Sie verschwieg, dass sie sich dafür beinahe vor ein fahrendes Auto geworfen hatte.

»Das ist übrigens Irma, meine Cousine, von der ich dir erzählt habe. Irma, das ist Dennis«, stellte Klara-Luise den Platinblonden vor.

Sein breites Grinsen entblößte eine Zahnspange, als er Irma die Hand reichte. Ihre Cousine hatte seit Wochen immer wieder von Dennis geredet, der in den letzten Jahren ihr bester Schulfreund geworden war. Irma fand ihn mit seinen frech funkelnden Augen und der Himmelfahrtsnase sofort sympathisch und schüttelte ihm die Hand.

»Du warst die Sommerferien über in Schottland, deine Familie besuchen, nicht wahr? Klara-Luise hat schon viel von dir erzählt«, sprudelte es aus ihr heraus.

Klara-Luise verdrehte die Augen, was Irma nicht überraschte. Ihre Cousine ließ es sich regelmäßig anmerken, wenn ihr Irmas Art zu direkt, neugierig oder schlichtweg peinlich war. Darüber hinaus gab ihre Cousine nur ungern zu, dass sie ihren besten Freund in den Ferien sehr vermisst hatte. Sie war ganz und gar nicht der Typ dafür, derartige Gefühle zu kommunizieren. Nichtsdestotrotz empfand Irma Klara-Luises Augenrollen als übertrieben und bekam allmählich das Gefühl, es an diesem Tag niemandem recht machen zu können.

»Ja, leider«, gluckste Dennis. »Meine Familie ist ziemlich langweilig, und für meinen Geschmack war es diesen Sommer über viel zu kalt und nass.«

»Jetzt sollten wir aber wirklich los!«, verkündete Klara-Luise, für die die Vorstellungsrunde beendet zu sein schien.

Irma folgte Dennis und ihrer Cousine durch den mausgrauen Altbau, der, ähnlich wie der Parkplatz, dringend eine Sanierung nötig gehabt hätte. Sie stiegen die Stufen einer kargen Steintreppe bis in den dritten Stock hinauf. Der Flur war ebenso trostlos und heruntergekommen wie das Treppenhaus. Lediglich die vergilbten Kunstarbeiten an den rissigen Wänden sorgten für ein wenig Farbe. Seit ihrem Umzug wurde Irma regelmäßig bewusst, wie sehr sich das Stadtleben von dem auf dem Kaff unterschied. Da sie zuvor in einem modernen Neubau zur Schule gegangen war, kam das baufällige Schulgebäude der Kleinstadt Birkenhain für sie einem Kulturschock gleich. Das Klassenzimmer, das die drei betraten, fügte sich nahtlos in die Tristesse des restlichen Gebäudes ein. Klara-Luise und Dennis begrüßten ihre Klassenkameraden, und Irma versuchte, so freundlich wie möglich in die Runde zu schauen. In dem Raum waren noch zwei Tische frei. Klara-Luise warf ihr einen fragenden Blick zu.

Da Irma nicht den Eindruck erwecken wollte, als hinge sie wie eine Klette an ihrer Cousine, sagte sie betont lässig: »Ich kann mich einfach hinter euch setzen.« Und da sie immer noch ein wenig gekränkt von Klara-Luises Augenrollen war, ergänzte sie selbstbewusst: »Gar kein Problem.«

Irma kramte gerade Stifte und Block aus ihrem Rucksack, als der Gong ertönte, der die erste Schulstunde einläutete. Zeitgleich betrat die Klassenlehrerin den Raum. Sie wirkte noch jung, ihr langes kastanienbraunes Haar fiel in Wellen über ihre dunkelgrüne Tunika, und ihre Stiefelabsätze klapperten auf dem dunklen Steinboden.

Mit einem warmen Lächeln drehte sie sich zur Klasse und rief vergnügt: »Na, das nenne ich mal Pünktlichkeit! Guten Morgen, meine liebe 11c!«

Viele der Schüler wünschten der jungen Lehrerin, deren karamellbraune Augen vor Freude zu glühen schienen, ebenfalls einen guten Morgen.

»Die meisten von euch kennen mich ja schon vom letzten Jahr. Meiner Liste zufolge haben wir dieses Jahr aber auch zwei Neuzugänge. Könnten Sie beide bitte einmal die Hand heben?«

Peinlich berührt, sofort die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hob Irma mit roten Wangen ihre Hand. Außer ihr schien sich jedoch niemand angesprochen zu fühlen.

Als die Lehrerin sie erwartungsvoll ansah, räusperte sich Irma und stellte sich vor: »Guten Morgen. Ich bin Irma … Irma Wolf. Meine Mutter und ich sind diesen Sommer nach Berg gezogen, deshalb bin ich neu hier an der Schule.«

»Hallo, Irma. Schön, Sie hier bei uns zu haben! Wie Sie vielleicht schon ahnen, bin ich dieses Jahr eure Klassenlehrerin. Mein Name ist Frau Sommer, und ich werde euch in Erdkunde und Geschichte unterrichten.«

Daraufhin wandte sich Frau Sommer zur Tafel und begann damit, organisatorische Punkte abzuhandeln. Bevor sie mit den üblichen Informationen über Notengebung, Tests und den kommenden Unterrichtsstoff herausrückte, teilte sie der Klasse freudig ihre guten Neuigkeiten mit: Sie würden den Wandertag im Planetarium verbringen dürfen. Die nette Lehrerin beteuerte mehrmals, wie viele Nerven es sie gekostet hatte, die Schulleitung davon zu überzeugen. Ob es nun an ihren grandiosen Argumenten oder ihrer unermüdlichen Penetranz lag, schlussendlich hatten sie für ihren Ausflug grünes Licht bekommen. Irma, die nach dem ernüchternden Morgen gute Neuigkeiten dringend gebrauchen konnte, ließ sich von Frau Sommers Begeisterung anstecken. Diese sprach gerade von Sternen, Monden, Planeten und Kometen, die sie würden bewundern können, als sich die Tür zum Klassenzimmer öffnete. Irmas Euphorie verflog schlagartig.

Ausgerechnet Iven betrat den Klassenraum und war allem Anschein nach kein bisschen besser gelaunt als vorhin in seinem Auto. Im Gegenteil. Ohne die Klasse auch nur eines Blickes zu würdigen, schlurfte er auf die Klassenleiterin zu. War diese bis eben noch herzlich und blendend gelaunt gewesen, hob sie nun eine ihrer schmalen Augenbrauen. Neben seiner schlaksigen Gestalt wirkte Frau Sommer unglaublich klein, und sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können. Bildete Irma sich das nur ein, oder schaute die Lehrerin den Neuzugang spöttisch an?

Iven presste die Kiefer aufeinander, und er schien sich zusammenreißen zu müssen, um nicht sofort wieder umzukehren.

Im Gegensatz zu vorher trug er sein langes Haar jetzt in einem lockeren Zopf, was sein hageres Gesicht noch stärker betonte. Seine ausgewaschene Jeans war ihm aufgrund seiner Statur einerseits zu weit, andererseits auch zu kurz. Die weißen Tennissocken verschwanden in den schäbigsten Chucks, die Irma je gesehen hatte. Im Vergleich dazu sahen ihre eigenen Turnschuhe sogar richtig gut aus, und Irma machte sich gedanklich eine Notiz, das ihrer Mutter unter die Nase zu reiben. Letztere unternahm nämlich regelmäßig Versuche, Irmas Schuhe heimlich in den Müll wandern zu lassen.

Und nicht nur Ivens Schuhwerk war heruntergekommen. Sowohl das Iron-Maiden-T-Shirt als auch seine Jacke waren ihm viel zu weit und wirkten, als hätten sie ihre besten Tage schon lange hinter sich. Mit seiner zerschlissenen braunen Umhängetasche, die aussah, als könne sie jeden Moment auseinanderfallen, bot Iven keinen sonderlich beeindruckenden Anblick.

Auf Frau Sommers Gesicht schlich sich ein beinahe höhnischer Ausdruck. Sie griff nach einem Blatt Papier auf dem Lehrerpult, räusperte sich und las: »Und Sie sind sicherlich Iven Faber …?«

Er nickte langsam. Die Lehrerin überprüfte die Liste und bemühte sich um eine neutrale Miene.

»Demnach sind Sie also unser zweiter Neuzugang dieses Jahr?« Ihrer Stimme fehlte die Herzlichkeit, mit der sie Irma begrüßt hatte.

»Ich bin neu in Berg. Deshalb bin ich auch an dieser Schule«, stellte Iven knapp fest.

Frau Sommer deutete auf den Platz neben Irma. »Wenn das so ist, dann willkommen bei uns in der 11c. Seien Sie doch bitte so freundlich und nehmen neben Irma Platz. Sie hat heute ebenfalls ihren ersten Tag bei uns.«

Iven ignorierte Irma komplett, als er sich durch die Bänke zu ihrem Tisch hindurchschlängelte. Wortlos setzte er sich neben sie und verschränkte die Arme. Niemand hätte auch nur im Ansatz ahnen können, dass die beiden sich vorher bereits getroffen hatten, und Irma beschlich erneut jenes vertraute Unbehagen. Während ihr neuer Banknachbar sich gelangweilt auf den für ihn viel zu niedrigen Holzstuhl lümmelte, blickte Irma leicht verzweifelt gen Himmel.

Entschuldigung, was habe ich euch eigentlich getan?

Ihre stumme Frage an die Götter blieb unbeantwortet.

3

Mit klopfendem Herzen nahm Emmi die Tüte Croissants entgegen. Sie liebte die Botengänge, auf die ihre Oma sie oft nach der Schule ins Café Haderlump schickte. Und das nicht nur wegen des feinen Duftes von Gebäck und Kaffee, der dort verströmt wurde. Insbesondere der dunkelhaarige Mitarbeiter mit den freundlichen Augen hatte es ihr angetan. Seine an den Seiten kurz rasierten Haare und die Tunnel Piercings in seinen Ohrläppchen hätten vielleicht an jemand anderem furchteinflößend ausgesehen, doch mit dem fröhlichen Grinsen, das er Emmi schenkte, wirkte er auf sie wie ein Märchenprinz. Sie kramte in ihrem Geldbeutel nach dem Kleingeld, um die Backwaren zu bezahlen. Emmi war sich absolut sicher, dass sie die Münzen von ihrer Oma eingesteckt hatte, doch sie waren nicht da. Sie wurde immer nervöser. In letzter Zeit kam Emmi auffallend häufig etwas abhanden. Zugleich wurde sie wiederholt von Bauchkrämpfen geplagt und hatte sich in den letzten Tagen nicht wirklich wie sie selbst gefühlt. Entschuldigend sah sie den jungen Mann hinter der Theke an.

»Es tut mir echt leid. Ich dachte, ich hätte genug Geld eingesteckt. Jetzt fehlt mir leider ein Euro. Ich komme gleich wieder und hole die Croissants.« Emmi ärgerte sich über sich selbst, als ihr die Hitze ins Gesicht schoss und sich die Röte bis zu ihren Ohren ausbreitete.

Anselm, wie sie von seinem Namensschild wusste, legte den Kopf schief und lächelte sie an.

»Nicht so schlimm, Emmi. Den Euro leg ich dieses Mal drauf.«

Schelmisch zwinkerte er ihr mit den hübschen grünen Augen zu, und Emmi befürchtete, mittlerweile puterrot zu sein. Sie bedankte sich überschwänglich, versprach, das nächste Mal ganz sicher Trinkgeld für ihn dabeizuhaben, und trat mit federndem Schritt aus dem Café Haderlump. Ihr Herz klopfte immer noch wild, als sie sich auf den Heimweg machte, ihre Gedanken kreisten um Anselms schönes Lächeln. Sie bemerkte die Krähe nicht, die ihr folgte.

Irma machte einen Satz nach links, als ein junges Mädchen mit hochrotem Kopf den Laden verließ. Die Kleine war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie sie um ein Haar über den Haufen gerannt hätte. Kopfschüttelnd betrat Irma das Café Haderlump, und es ertönte das vertraute Klingeln, welches neue Kundschaft ankündigte. Irma sog den himmlischen Duft von Kaffee und Zimtgebäck ein und blickte sich um. Wie üblich war der Großteil der gemütlichen grünen Sessel und Sofas mit Kundschaft belegt, vertieft in Gespräche, Zeitungen oder Bücher. Die Regale an den Backsteinwänden gaben mehr Lesestoff her, als sich ein Mensch in seinem Leben einverleiben konnte. Anselm winkte ihr überrascht zu, während sie die Holzdielen überquerte. Irma nahm ihren Rucksack ab und lehnte sich an den Tresen.

»Ich wusste gar nicht, dass du heute vorbeischauen wolltest! Das Übliche?« Anselm wartete ihre Antwort nicht ab und begann sofort, Irma einen Schoko-Cappuccino zuzubereiten.

»Da ich heute sowieso mit dem Bus nach Berg fahren muss, dachte ich mir, ich könnte vorher bei dir vorbeischauen«, erklärte sie. »Wobei … ich könnte natürlich auch warten, bis du fertig bist, und wir gehen gemeinsam?«

Anselm hob überrascht die Augenbrauen. Irma sah ihren Cousin mit Unschuldsmiene an. Sie war auch deshalb nicht scharf auf die Busfahrt mit dem langen Fußweg, weil sich draußen gerade dunkle Regenwolken zusammenbrauten.

»Bist du nicht heute früh mit Klara-Luise Rad gefahren?«

Irma wartete ab, bis Anselm das ohrenbetäubende Milchaufschäumen beendet hatte, und berichtete ihm von ihrem Fahrradsturz.

»Ich kann sowieso bald für heute Schluss machen, ich habe ja die Frühschicht übernommen. Dein Fahrrad können wir später gerne ins Auto packen«, bot ihr Cousin an, als er ihr die Tasse über den Tresen schob. »Ich bin wirklich froh, dass dir nichts passiert ist! Wie bist du denn dann noch zur Schule gekommen?«

Um einer Antwort zu entgehen, nahm Irma einen kräftigen Schluck von ihrem Cappuccino und verbrannte sich dabei die Zunge. Mit Tränen in den Augen versuchte sie den Schmerz wegzuhecheln.

Anselm konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Du lernst auch nicht aus deinen Fehlern, oder?«

»Vorsicht, heiß«, rief ihr jetzt auch noch Anselms Kollegin Gesa aus der Küche zu, die dabei war, Geschirr in die Spülmaschine zu verfrachten.

»Danke für den Hinweis«, nuschelte Irma mit tauber Zungenspitze. »Ich … wurde von jemandem mitgenommen«, erklärte sie Anselm.

Sie war nicht sonderlich erpicht darauf, noch einmal über ihre Begegnung mit Iven nachzudenken, und gab ihrem Cousin daher einen recht lückenhaften Bericht von ihrem ersten Schultag. Besonderes Gewicht legte sie dabei auf ihr Glück, mit seiner Schwester in eine Klasse gekommen zu sein.

»Aber schreib bloß keine besseren Noten als sie, hörst du? Sonst macht sie dir die Hölle heiß! Du weißt ja, wie kompetitiv sie ist«, lachte Anselm.

Irma musste ebenfalls schmunzeln. »Da brauchst du dir bei mir keine Sorgen zu machen!«

Klara-Luise war zwar selbst alles andere als eine Streberin, doch sie war mit Abstand die schlechteste Verliererin, die Irma kannte. Es brauchte nicht mal eine Runde Mensch ärgere dich nicht, um Klara-Luise zum Explodieren zu bringen. Schon als Kinder konnten Irma und Anselm bloß die Köpfe einziehen, wenn ihr Gesicht dieselbe Farbe wie ihr flammendes Haar annahm und sie das schwere Holzspielbrett inklusive der Figuren an die Wand warf. Irma und Anselm waren sich, was das Gemüt betraf, schon immer ähnlicher gewesen. Beide konnten ganz gut mit Niederlagen umgehen. Impulsiv waren sie allerdings alle drei, und Selma versuchte vergebens, ihr Mantra vom »Durchatmen« an ihre drei Schützlinge weiterzugeben.

Auch optisch hätte man mit ihren dunkelbraunen Haaren eher Irma und ihren Cousin für Geschwister halten können als Anselm und Klara-Luise. Die beiden hatten lediglich die tannengrünen Augen gemeinsam, die typisch für die Familie Wolf waren und die auch Selma und Brietta teilten. Manchmal wunderte sich Irma darüber, dass sie als Einzige in der Familie eisblaue Augen hatte. Die musste sie wohl von ihrem Vater geerbt haben, über den ihre Mutter niemals sprach. Als Irmas Gedanken zu ihm abschweiften, ertönte erneut das Klingeln der Ladentür. Es war jedoch keine Kundin, die in das Café stürmte.

»Jemand muss den Notarzt rufen!«, schrie die Frau aufgelöst. »Ich brauche Ersthelfer! Sofort!«

Gesa ließ sich nicht zweimal bitten und stürmte aus der Küche. Ihr Pferdeschwanz peitschte noch hin und her, als sie nach dem Hörer des Ladentelefons griff. Auch Anselm reagierte sofort und eilte zu der aufgeregten Dame. Irma stellte ihre Tasse ab und folgte ihm auf die Straße. Ihre Erste-Hilfe-Kenntnisse waren zwar wahrscheinlich schlechter als die ihres Cousins, trotzdem konnte er bestimmt jede Hilfe gebrauchen. Sie jagte Anselm hinterher und verfluchte den Regen, der nun immer stärker vom Himmel fiel. Irma hatte ganz automatisch angenommen, die Frau wäre Zeugin eines Verkehrsunfalls oder dergleichen gewesen. Niemals hätte sie mit dem Anblick gerechnet, der sich ihr bot, als sie neben Anselm in der nächsten Seitenstraße zum Stehen kam. Das junge Mädchen, das Irma vorhin beim Betreten des Café Haderlump fast umgerannt hatte, lag zusammengekauert auf dem Boden. Der Inhalt ihrer Tüte mit Croissants lag vor ihr verteilt. Krämpfe schüttelten ihren zierlichen Körper, und ihre zuvor noch feuerroten Wangen waren aschfahl. Anselm stürzte auf das Mädchen zu.

»Emmi? Emmi, kannst du mich hören?«, brüllte er, sobald er neben ihr kniete.

Es gelang ihm jedoch nicht, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Eine Gänsehaut überzog Irmas ganzen Körper, als sie bemerkte, dass die Finger des Mädchens blauschwarz angelaufen waren. Auch die Adern an ihrem Hals sowie ihre Lippen hatten sich unnatürlich verfärbt. Entsetzt beobachtete Irma, wie Emmi zu würgen begann. Sie erbrach schwarzen Schlamm, dessen Gestank nach Fäulnis Irmas Augen zum Tränen brachten. Ein Grauen packte sie, wie sie es noch nie zuvor gespürt hatte. Irma fühlte sich machtlos, als sie sich aus ihrer Schockstarre riss und gemeinsam mit Anselm versuchte, Emmi zu stabilisieren. Die Minuten bis zum Eintreffen des Krankenwagens zogen sich eine gefühlte Ewigkeit hin. Emmi würgte nun ununterbrochen bestialisch stinkenden schwarzen Morast hervor, der sich mit dem Regenwasser vermischte. Ihr Körper schien von Minute zu Minute schwächer zu werden.

Irma war fassungslos. Niemals hatte sie so etwas gesehen, geschweige denn davon gehört. Gesa war mit ein paar hilfsbereiten oder schaulustigen Café-Besuchern im Schlepptau ebenfalls an den Unfallort geeilt.

»Was ist passiert?«, rief sie erschrocken, doch niemand hatte eine Antwort.

Zum ersten Mal seit seiner Ankunft richtete das Mädchen die Augen auf Anselm. Ihre schwache Stimme verwandelte sich in ein Gurgeln, als sie, begleitet von einem Schwall des schwarzen Schlamms, undeutlich zwei Worte hervorstieß: »Die Krähe.«

Anselm und Irma tauschten verwirrte Blicke aus. Bis zum Eintreffen des Notarztes bekamen sie jedoch keine weiteren Informationen aus Emmi heraus.

4

Auf der Fahrt zurück zur Wolfswacht war Irma wie in Trance. Kurz nachdem der Krankenwagen Emmi mitgenommen hatte, hatten sie und Anselm sich auf den Heimweg gemacht. Ihr Cousin, der nicht gerade den stabilsten Magen hatte, hatte sich zuvor noch übergeben müssen. Er hatte sich dennoch schneller als Irma wieder gefasst, und ohne Anselm hätte sie womöglich nicht einmal mehr an ihr demoliertes Fahrrad gedacht. Sie richteten eine riesige Sauerei an, als sie es, nass und schlammig, wie es war, in den Kofferraum verfrachteten.

Irma erschien es seltsam, dass sich ihr Sturz erst an diesem Morgen ereignet haben sollte. Sie rieb sich die pochenden Schläfen, und ihre Gedanken wanderten wieder und wieder zu dem armen Mädchen. Irma verstand nicht, wie es möglich war, dass ein junger Mensch von einem Moment auf den nächsten solche Qualen erlitt. Egal wie sehr sie sich das Hirn zermarterte, Irma konnte sich nicht erinnern, jemals von so etwas Schrecklichem gehört zu haben, wie sie es heute mit eigenen Augen gesehen hatte. Emmis schwarz verfärbte Finger, ihr zierlicher Körper, der von Krämpfen geschüttelt wurde, und dieser bestialische Gestank. Fäulnis und Verwesung, als hätte Emmis Körper schon zu verrotten begonnen, bevor das Mädchen die Chance bekommen hatte zu sterben. Vor Irmas innerem Auge liefen die furchtbaren Bilder in Dauerschleife.

Je näher Anselm und Irma der Wolfswacht kamen, desto holpriger wurde die Straße. Sofern man diesen Weg überhaupt so nennen konnte. Denn die Landstraße führte nicht komplett bis zum abseits gelegenen Zuhause der Familie Wolf, und man gelangte nur über eine Abzweigung in Richtung Kaltengrim zur Wolfswacht. Die Strecke war eine Katastrophe, doch niemanden kümmerte es. Wieso sollte die Gemeinde Berg den Feldweg auch für eine einzige Familie ausbauen? Irma und Anselm wurden kräftig durchgeschüttelt, als sie den letzten kleinen Hügel hochfuhren. Fernab jeglicher Straßenbeleuchtung waren die Lampen, die in der Wolfswacht brannten, die einzigen Lichter zwischen dem trüben Himmel und dem dunklen Wald, der das Haus zu verschlingen schien. Nachdem sie ihr Fahrrad im Schuppen verstaut hatte, folgte Irma ihrem Cousin nach drinnen. Aus dem Wohnzimmer war dumpf Elvis Presleys Stimme zu vernehmen.

»You’re the devil in disguise«, hörte sie ihre Mutter mitsingen.

Sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, eilte Selma gut gelaunt in den Flur. Der weite Rock, den sie trug, schwang ihr dabei um die langen Beine. Mit ihrem Poncho und dem üppigen braunen Haar sah Selma wie der Hippie aus, der sie manchmal war. Noch bevor sie Anselm und Irma mit ihrem warmen Lächeln begrüßen konnte, bemerkte sie deren bedrückte Stimmung.

»Was ist denn mit euch passiert? Ihr seht ja aus, als ob ihr einen Geist gesehen hättet!«

Irma und Anselm tauschten niedergeschlagene Blicke. Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte Selma zu ihrer Tochter. Überschwänglich drückte sie Irma an sich, die schon befürchtete, von ihrer Mutter zerquetscht zu werden.

»Mein armer Mondhase, Klara-Luise hat mir schon von deinem Sturz berichtet!«, brachte sie zwischen all den Küssen hervor, die sie Irma auf die Stirn drückte.

»Mama … Hilfe!«, versuchte Irma, sich zu wehren und aus dem Griff ihrer Mutter zu befreien. »Mir geht es gut!«

Selma nahm Irmas Kopf zwischen ihre schlanken Hände und zwang sie, ihr direkt ins Gesicht zu sehen. Irma war ein gutes Stück kleiner als ihre Mutter und musste daher den Kopf in den Nacken legen. Sie versuchte, dem prüfenden Blick standzuhalten.

»Du siehst wirklich furchtbar aus. Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, bohrte Selma nach.

»Das hat nichts mit meinem Fahrradunfall zu tun, wirklich!«, beteuerte Irma.

Anselm kam ihr glücklicherweise endlich zu Hilfe und sagte: »Irma kam nach der Schule zu mir ins Café. Wir mussten den Notarzt rufen, weil ein Mädchen … na ja, ich weiß nicht genau, was mit ihr passiert ist. Es war wirklich fürchterlich, Tante Selma.«

Irmas Mutter lockerte ihren starken Griff. Bestürzt sah sie zwischen Irma und ihrem Cousin hin und her.

»Sie hatte einen Unfall, oder vielleicht hat sie sich irgendwie vergiftet. Ich kann es mir nicht erklären.« Bei der Erinnerung an Emmi verzog Anselm sein Gesicht zu einer schmerzvollen Grimasse. »Sie war höchstens eine Viertelstunde vorher noch bei uns im Laden.«

Klara-Luise, die offenbar den wichtigsten Teil der Geschichte mitbekommen hatte, kam die Treppe heruntergepoltert.

Besorgt erkundigte sie sich: »Kanntet ihr das Mädchen denn?«

Anselm nickte. »Die Jüngste von den Jansens. Emmi heißt sie.«

»Emmi? Die habe ich heute noch in der Schule gesehen. Sie ist doch erst dreizehn, was kann ihr denn passiert sein?«, antwortete Klara-Luise bestürzt.

Anselm signalisierte Klara-Luise und Selma, ihm und Irma ins Esszimmer zu folgen. Erst als die Familie am Holztisch Platz genommen hatte, erbarmte sich Irma, von Emmis Zustand zu berichten. Bei der Erinnerung an den Verwesungsgeruch lief ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper.

Als sie ihren grauenvollen Bericht beendet hatte, fragte Klara-Luise: »Du meinst, sie könnte vergiftet worden sein? Dann wäre Emmi das zweite Mädchen dieses Jahr. Wie unheimlich.«

Irma zog die Augenbrauen hoch. »Das zweite?«

»Ich kenne die Details nicht, aber ein anderes Mädchen aus unserer Schule ist im Frühling ebenfalls angeblich vergiftet worden. Sie haben sie gefunden, als es schon zu spät war. Sie war auch erst vierzehn. Es muss am helllichten Tag passiert sein, auf dem Heimweg von der Schule.«

»Wie schrecklich, die armen Mädchen!«, flüsterte Selma entsetzt.

»Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht«, seufzte Anselm und rieb sich die Schläfen. »Das wäre wirklich ein seltsamer Zufall.«

Betretenes Schweigen breitete sich am Tisch aus. Leise trällerte Elvis im Wohnzimmer »You were always on my mind«.

»Ach, meine Mäuse … Irma, Anselm, ihr zwei kommt jetzt erst mal richtig an. Wie wäre es, wenn wir nachher gemeinsam ein Abendessen machen, zur Ablenkung? Ich war vorhin einkaufen, was haltet ihr von Ratatouille?«

Als Irma den Rucksack über die Schulter warf und die knarzende Holztreppe zu ihrem Zimmer hochstieg, hörte sie ihre Mutter noch rufen: »Und dann musst du mir unbedingt von deinem ersten Schultag erzählen, Hase! Ich bin schon gespannt, was für nette Leute du heute kennengelernt hast.«

Das hatte Irma gerade noch gefehlt.

Die Sonnenstrahlen kitzelten ihr Stupsnäschen. Es war ein herrlicher Spätsommertag. Die Hummeln und Bläulinge tanzten auf der Lichtung, während die Gräser und Blumen sich sacht im Wind wiegten. Es war ruhig. Verdächtig ruhig. Sie ließ ihren Blick über das satte Grün wandern. Was war es, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte? Sie spitzte angestrengt die langen Ohren, doch außer dem sanften Rascheln der Gräser konnte sie nichts hören. Sie schnupperte mit ihrem Hasennäschen. Der blumige Duft war verschwunden. Ein bestialischer Gestank nach Fäulnis ließ sie zurückweichen. Irgendetwas zwang sie dazu, an sich herabzublicken. Ihre sonst weißen Hasenpfoten waren blauschwarz.

»Hallo, könntest du mir wenigstens zuhören?«

Ivens kratzige Stimme riss Irma aus ihren Gedanken. Als sie ihm das Gesicht zuwandte, sah sie gerade noch, wie er seine Augen rollte. Er ließ die Knöchel seiner Finger knacken, und Irma verzog angewidert das Gesicht.

Sie hasste Gruppenarbeiten. Arbeitete man mit Freunden zusammen, kam man aufgrund des anderweitigen Gesprächsbedarfs nicht voran. Arbeitete man mit Idioten wie Iven zusammen, hatte man schon von vornherein verloren. Für ihre erste Englischstunde in der Oberstufe hatte sich ihr Lehrer Herr Schmidt – oder auch Mr Smith, wie er sich im Unterricht nannte – etwas ganz Fürchterliches ausgedacht. Die Schüler sollten sich über Shakespeare austauschen und das Ergebnis ihres Brainstormings am Ende vorstellen.

Shakespeare.

Wieso sind Englischlehrer eigentlich so besessen davon?

Irma verstand weder, was der Typ schrieb, noch hatte sie an diesem Morgen die Muße, sich damit auseinanderzusetzen. Zugegebenermaßen hätte Irma niemals Muße für Englischunterricht gehabt. Doch nach dem schrecklichen Vorfall mit Emmi und einer von Albträumen geplagten Nacht war sie in einer miserablen Verfassung. Ihre Mutter hatte ihr zwar angeboten, sie von der Schule zu befreien, doch Irma hatte sich dagegen entschieden. Die Hoffnung, durch den Unterricht auf andere Gedanken zu kommen, hatte sie jedoch schnell aufgegeben. Denn nachdem Irma und Klara-Luise von Selma an der Schule abgesetzt worden waren, hatte es nur wenige Sekunden gedauert, bis die schrecklichen Neuigkeiten sie erreicht hatten.

Emmi war im Krankenhaus verstorben.

Niemand konnte sich erklären, was mit ihr passiert war. Es handelte sich laut ärztlicher Einschätzung um eine Vergiftung, doch es konnte nicht festgestellt werden, durch welche Substanz die heftige Reaktion ausgelöst worden war. Irma fühlte sich nach dieser Nachricht, als wäre ihr der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Es fiel ihr schwer, sich von den Bildern des innerlich verfaulenden Körpers zu lösen.

»Es wäre wirklich bezaubernd, wenn du auch mal dein Gehirn anstrengen könntest«, giftete Iven. »Hast du nicht vorhin noch gemeint, dass ich mir gefälligst was überlegen soll?«

Nun rollte Irma mit den Augen. Er hatte leider recht, und sie musste am besten jetzt schon einen guten Eindruck bei ihrem Lehrer machen. Wer konnte schließlich wissen, wie ihre künftigen Noten aussehen würden.

»Romeo und Julia, Hamlet, Macbeth und das mit dem Esel … Ein Sommernachtstraum. Mehr fällt mir nicht ein«, wiederholte er genervt und rieb sich die Schläfen.

Irma machte sich daran, die Titel aufzuschreiben.

»Viel Lärm um nichts«, ergänzte sie.

Iven zog seine rötlichen Augenbrauen hoch.

»Na gut, wenn es dir egal ist, dann können wir es auch gerne sein lassen«, sagte er ruppig. »Mir ist der Mist gleichgültig.«

»Viel Lärm um nichts. Das ist auch ein Werk von Shakespeare, du Vollpfosten«, entgegnete Irma bissig.

Die Gruppenarbeit sein zu lassen wäre beiden wahrscheinlich nur recht gewesen. Falls das überhaupt möglich war, strahlte ihr Banknachbar an diesem Tag noch weniger Motivation als am Vortag aus. Sein rotes Haar hatte er unordentlich im Nacken zusammengeknotet, und sein viel zu schlabberiger Iron-Maiden-Hoodie war so ausgewaschen, dass Irma sich fragte, seit wie vielen Jahrzehnten Iven seine Klamotten schon trug. In ihrem eigenen Kleiderschrank befand sich kein einziges Kleidungsstück, das derart hinüber aussah wie bei Iven. Auch die schwarze Jeans, die er an diesem Tag trug, war ihm viel zu kurz, und so konnte Irma ein Paar Ringelstrümpfe aus seinen Chucks herausschauen sehen. Beim zweiten Blick bemerkte sie, dass diese nicht einmal zueinanderpassten. Er lümmelte, seine Storchenbeine übereinandergeschlagen, auf dem viel zu kleinen Holzstuhl und spielte gelangweilt mit seinem Kugelschreiber. Das Klacken der Kapsel machte Irma beinahe wahnsinnig. Ihr Schlafmangel sowie die Ereignisse des Vortages hatten dunkle Schatten unter ihren Augen hinterlassen, die auch kein Concealer mehr verdecken konnte. Ihr dunkles Haar hatte sie, ähnlich unordentlich wie Iven, auf ihrem Kopf zusammengeknotet. Nach der grässlichen Nacht hatte ihr am Morgen schlichtweg die Energie gefehlt, sich zu frisieren. Zumindest fühlte sie sich in ihrem grauen Pullover und dem karierten Rock wohl.

Irma seufzte und rieb sich die Augen. Als sie die Wimperntusche an ihren Händen sah, fluchte sie leise.

»Entschuldigung, ich kann mich wirklich kaum konzentrieren. Der Vorfall gestern …«, versuchte Irma sich zu rechtfertigen, »… na ja, das war wirklich nicht ohne.«

»Die Hölle ist leer«, murmelte Iven leise, »und alle Teufel sind hier.«

Dieses Mal war es an Irma, die Augenbrauen hochzuziehen.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du so poetisch sein kannst.«

»Das ist ein Zitat von Shakespeare«, erklärte Iven betont langsam.

»Du weißt schon. Der Typ, über den wir gerade sprechen.«

Er überkreuzte die Arme, und Irma spürte das Verlangen in sich aufkeimen, dem Mistkerl die Nase zu brechen. Dennoch schrieb sie das Zitat nieder, und ihre Gedanken verweilten bei dieser Zeile. Auch wenn sie nicht wusste, aus welchem Werk die Worte stammten, hatte sie das Gefühl, einen Funken Wahrheit darin zu erkennen. Denn das, was Irma am Vortag mit hatte ansehen müssen, konnte sie sich nicht einmal als Höllenstrafe vorstellen.

Was sie allerdings wütend machte, war die Tatsache, dass sich Iven offenkundig kein Stück für die schreckliche Neuigkeit interessierte. Er hatte keine Miene verzogen, als vor Schulbeginn in der Klasse darüber diskutiert wurde. Im Gegenteil, er wirkte tatsächlich gelangweilt. Und jetzt hielt er es auch noch für angebracht, Irma auf die Palme zu bringen.

»Du bist echt ein Scheißkerl«, platzte es aus ihr heraus.

Iven, der mittlerweile statt mit dem Kugelschreiber mit dem Verschlussring seiner Limonadendose herumspielte, drehte sich überrascht zu Irma.

»Wie bitte?«

»Du hast schon richtig gehört! Wie kann man nur so wenig Mitgefühl haben?«

»Entspann dich mal, Hase«, war alles, was Iven dazu sagte, ehe er sich wieder desinteressiert seiner Dose mit Zitronenlimonade zuwandte.

»Nenn mich nicht so!«

Lediglich die Beendigung der Gruppenarbeit durch Herrn Schmidt — »Say-it-in-English-please-Mr-Smith« – hielt Irma davon ab, Iven eine reinzuhauen.

Beim Stundenwechsel drehte sich Dennis zu Irma um.

»Klara-Luise meinte, du wärst gestern dabei gewesen. Also bei Emmi«, begann er mit gesenkter Stimme.

Irma hatte schon damit gerechnet, die Geschichte mehrmals erzählen zu müssen, und machte sich auf weitere Fragen gefasst.

»Ja, ich war im Café Haderlump, bei Anselm«, erklärte sie leise.

Sie wollte vermeiden, dass die ganze Klasse sich an dem Gespräch beteiligte. Insbesondere Iven wollte sie nicht daran teilhaben lassen, denn dem schien es ja sowieso egal zu sein.

»Als ich in den Laden bin, kam Emmi mir noch putzmunter entgegen. Keine Viertelstunde später ist dann aber schon die Frau, die Emmi entdeckt hat, ins Café gestürmt«, flüsterte Irma. »Sie war wirklich nicht weit gekommen.«

»Und glaubst du auch, dass sie vergiftet wurde? So wie Dorothea?«, wollte Dennis wissen.

Irma zerbrach sich seit dem gestrigen Abend den Kopf darüber. Sie hatte keine Ahnung von Vergiftungen, doch bei lebendigem Leib zu verfaulen kam ihr seltsam vor.

Irma zuckte mit den Schultern und sah Dennis entschuldigend an. »Ich kann es dir nicht sagen, tut mir leid. Ich weiß nicht, wodurch so etwas ausgelöst werden kann. Ich hatte … ich hatte das Gefühl, Emmi würde anfangen zu verrotten. Es hat so bestialisch gestunken, wie Fäulnis. Und sie hat nicht aufgehört, schwarzes, modriges Zeug herauszuwürgen.«

Iven, der Irma bisher gelangweilt ignoriert hatte, hob seinen Kopf. Er warf ihr einen kurzen, aber eindringlichen Blick zu, als ob er sie das erste Mal tatsächlich wahrnahm. Irma versuchte, sich davon nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, und führte ihren Bericht fort. Auch wenn Iven rein äußerlich wieder dazu übergegangen war, sie zu ignorieren, wurde sie das Gefühl nicht los, dass er aufmerksam lauschte.

Irma folgte Klara-Luise auf den Schotterparkplatz hinter der Schule. Dabei betrachtete sie anerkennend die langen roten Locken, die wild ihren Rücken hinabfielen und ihr bis zum Po reichten. Genauso beeindruckt betrachtete sie nun auch Klara-Luises Po, der in den engen Lederleggings umwerfend gut aussah. Die langen Beine und femininen Kurven hatte ihre Cousine, genauso wie die rote Lockenpracht, von Tante Brietta geerbt. Irma hingegen hatte den drahtigen Körper von ihrer Mutter Selma, allerdings ohne die langen Beine. Irma war mit Abstand die Kleinste in der Familie, weshalb sie doppelt so viele Schritte machen musste, um mit Klara-Luises strammem Gang mithalten zu können. Wieder einmal fragte sie sich, ob ihr Vater vielleicht ein Zwerg gewesen war. Doch Irma wusste auch, dass sie auf diese Frage keine Antwort bekommen würde. Jedenfalls nicht von Selma.

Als Irma noch kein Jahr alt gewesen war, war ihre Mutter mit ihr fortgezogen. Ob ihre Eltern sich zuvor getrennt hatten – und wenn ja, warum, wusste Irma nicht, denn Selma sprach nicht darüber. Niemals.

Manchmal kam es Irma so vor, als könnte ihre Mutter sich selbst kaum noch an diese Zeit erinnern. Denn auch wenn Irma mittlerweile keinen Sinn mehr darin sah, sich nach ihm zu erkundigen, hatte sie ihre Mutter als Kind regelmäßig damit genervt. Die Gespräche waren allerdings immer nach einem ähnlichen Muster verlaufen.

Zuerst wurden Selmas Augen glasig, dann blinzelte sie in der Regel kurz und bat ihre Tochter: »Lassen wir das Thema sein, Hase. Dein Vater ist nicht mehr bei uns. Das ist alles, was zählt.«

Anselm und Klara-Luise hatten ebenfalls keine Ahnung, weshalb Irma und ihre Mutter damals aus der Wolfswacht ausgezogen waren. Und zu allem Überfluss wussten die beiden genauso wenig über ihren eigenen Vater, der angeblich bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Tante Brietta reagierte auf Fragen nämlich ganz ähnlich wie ihre Schwester Selma.

»Huhu, ihr Mäuse!«

Selmas Begrüßung riss Irma aus ihren Gedanken.

Ihre Mutter und Anselm warteten an den Kofferraum ihres Autos gelehnt. Die Familie plante, Brietta im Krankenhaus zu besuchen und bei dieser Gelegenheit auch gleich Irmas Fahrrad in die Werkstatt zu bringen. Selma schnappte sich zuerst Klara-Luise, dann Irma, und drückte beiden einen Kuss auf die Wange.

»Mama!«, zischte Irma leise, in der Hoffnung, ihre Mutter würde von ihnen ablassen.

In diesem Moment stieg nämlich Iven, der ausgerechnet nebenan geparkt hatte, in seinen Golf. Da er ihr schon den ganzen Tag das Gefühl vermittelt hatte, ein kleines Dummchen zu sein, wollte sie sich seinen Spott ersparen. Ein kurzer Blick nach rechts verriet ihr jedoch, dass sie sich umsonst Sorgen gemacht hatte. Er hatte sie überhaupt nicht beachtet.

Als Irma gerade dabei war, sich über sich selbst zu ärgern, blies Anselm lachend Tabakrauch in die Luft und warf hinter Selmas Rücken einen Zigarettenstummel zu Boden.

»Bäääh, wie peinlich … Familie!«, zog er Irma auf, während er die Kippe austrat und unters Auto kickte.

Irma ärgerte sich noch mehr über sich selbst. Warum sollte sie sich jemals für ihre Familie schämen? Klara-Luises Charakter hatte so viel Feuer wie ihr Haar. Anselm war der beste große Cousin, den man sich wünschen konnte. Er spendierte ihr nicht nur regelmäßig Schoko-Cappuccino, sondern war auch in allen anderen Lebenslagen hilfsbereit. Und auch ihre Mutter war Irma eigentlich nicht peinlich. Im Gegenteil, sie war ihr unendlich dankbar für ihre Geduld und das Verständnis, das sie schon immer für sie aufbrachte. Selma war Irma noch kein einziges Mal böse gewesen, wenn sie mit miserablen Noten nach Hause kam, sondern hatte sie jedes Mal aufgemuntert und ihr geholfen. Es kam nicht oft vor, dass bei ihrer Mutter schlechte Stimmung herrschte. Mit ihrem gelben Poncho und den braunen Lederstiefeln ließ Selma auch an diesem grauen Herbsttag die Sonne scheinen.

Klara-Luise klinkte sich in das Gespräch ein, bevor Irma sich vor Anselm rechtfertigen konnte. »Der Typ neben uns ist übrigens Irmas Banknachbar. Der, der sie gestern zur Schule mitgenommen hat. Ich glaube, deshalb solltet ihr wenigstens so tun, als ob ihr cool wärt. Insbesondere du, Anselm.«

»Ach, das ist also dieser … Gentleman? Dann muss ich mich doch gleich bei dem jungen Mann bedanken!«, rief Selma und marschierte zu Irmas blankem Entsetzen auf die Fahrertür des Golfs zu.

Irma gestikulierte wild, doch schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als ihrer Mutter dabei zuzusehen, wie diese sich zur Scheibe herunterbeugte und daran klopfte.

Gentleman.

Lächerlicher ging es ja kaum, immerhin hätte er sie aus freien Stücken niemals mitgenommen! Irma war sich sicher, Iven hätte sie eiskalt stehen lassen, hätte er die Wahl gehabt. Blöderweise hatte sie den Teil der Geschichte beim Abendessen am Vortag ausgelassen. Die Situation mit Emmi sowie der Fahrradsturz waren nach Irmas Empfinden schon genug schlechte Neuigkeiten für einen Tag gewesen, daher hatte sie ihre Hals-über-Kopf-Aktion lieber verschwiegen. Selma ging deshalb leider davon aus, ihrer Tochter wäre ein richtiger Kavalier zu Hilfe geeilt.

Mit zusammengekniffenen Augenbrauen kurbelte eben dieser Kavalier nun die Scheibe herunter. Auf halber Höhe hielt Iven inne und sah Selma fragend an. Die beugte sich noch tiefer hinunter, als würde sie am liebsten ihren Kopf durch die Scheibe zwängen, um Iven ebenfalls einen Kuss auf die Wange zu drücken. Irmas Gesicht drohte vor Hitze zu explodieren.

»Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie meine Tochter gestern mitgenommen haben. Das war wirklich sehr freundlich!«, flötete Selma.

Irma hatte ihren Banknachbarn bisher nur gelangweilt, genervt oder wütend erlebt. In dem Moment, als ihre Mutter sich zu ihm herabbeugte, entgleisten ihm jedoch die Gesichtszüge. Fassungslos starrte er Selma an. Für einen kurzen Moment blickte er zu Irma, Anselm und Klara-Luise, dann wandte er sich wieder Irmas Mutter zu. Die Sekunden verstrichen, ohne dass Iven ein Wort herausbrachte. Während Irma die Situation immer peinlicher wurde, schien ihre Mutter völlig immun dagegen zu sein.

»Sie haben auf alle Fälle etwas gut bei uns!«, bekundete sie freudestrahlend.

Seinen Blick auf Selmas Stirn geheftet, schloss Iven endlich den Mund.

Er räusperte sich, ehe er stotterte: »Ähm … gern geschehen … Frau …?«

»Wolf«, antwortete Irmas Mutter gut gelaunt.

»Gern geschehen, Frau Wolf«, wiederholte Iven langsam.

Er blinzelte ungläubig mit seinen langen hellroten Wimpern und sah Irma daraufhin noch einmal eindringlich an. Puterrot wich sie seinem Blick aus. Selma klopfte in freundschaftlicher Geste zum Abschied auf Ivens Auto und tänzelte daraufhin zum Rest ihrer Familie zurück. Nachdem Irma den ersten Schock überwunden hatte, fragte sie sich, was Iven so überrumpelt hatte.

Ist es lediglich Selmas überschwänglicher Dank gewesen, oder ist mir etwas entgangen?

Seit Irma mit ihrer Mutter wieder in der Wolfswacht wohnte, besuchte Selma ihre Schwester beinahe täglich. Auch Anselm fuhr häufig in die Klinik. Er hatte immer etwas zu erzählen und war gut darin, seine Mutter aufzumuntern. Die optimistischen Gemüter von Irmas Mutter und ihrem Cousin waren Balsam für die Seele, und Irma begleitete die beiden gerne ins Krankenhaus.

Klara-Luise machte Briettas Krankheit jedoch sehr zu schaffen. Sie war nicht der optimistische Typ und verbreitete in der Regel auch keine gute Laune. Und da sich Briettas Zustand seit Jahren stetig verschlechterte, brodelte eine Menge Frust und angestaute Wut in Klara-Luise. Wenngleich sie versuchte, diese Gefühle tief in sich zu vergraben und eine ausdruckslose Miene aufzusetzen, kannte Irma ihre Cousine gut genug, um hinter ihre Maske blicken zu können. Klara-Luise blieb die Fahrt über still und starrte stur aus dem Fenster. Sie war auch keine große Hilfe, als Irma ihr demoliertes Fahrrad aus dem Kofferraum lud, um es bei der Werkstatt abzuliefern. Je mehr sie sich dem Krankenhaus näherten, desto angespannter wurde Klara-Luise. Während Anselm mit Selma vorne angeregt über seine bevorstehende Geburtstagsfeier sprach, beobachtete Irma ihre Cousine dabei, wie sie ihre Hände so stark knetete, dass die Knöchel weiß wurden.

Die Luft um sie herum schien zu flackern.

Irma streckte ihre Finger nach Klara-Luise aus. Wie erwartet wich diese jedoch der Berührung aus und drehte sich noch weiter zur Autoscheibe auf ihrer Seite. Verständnisvoll zog Irma ihre Hand wieder zurück.

Sie hatte beinahe das Gefühl, ihre Fingerspitzen an Klara-Luise verbrannt zu haben.

»So, ihr Mäuse, aussteigen bitte!«, trällerte Selma, sobald sie die Klinik von Birkenhain erreicht hatten.

Anselm war mit einem Blumenstrauß, Irma mit Schokolade und Selma mit einem Obstkorb bewaffnet. Schon beim Betreten des sterilen weißen Gebäudes stach Irma der unverkennbare Krankenhausgeruch von Reinigungs- und Desinfektionsmittel in die Nase. Das war definitiv kein Ort, an dem man gerne länger blieb. Und Brietta war bereits seit über zwei Monaten hier! Durch ihre Autoimmunerkrankung war ihre Tante schon lange auf die Dialyse angewiesen. Diese konnte die Funktion der Nieren allerdings nicht völlig ersetzen und reinigten das Blut nicht von allen Giftstoffen, sodass die verbliebenen immer weitere Probleme nach sich zogen. Dadurch litt Brietta zusätzlich an einer Herzschwäche, die sie sehr schnell ermüden ließ. Unterm Strich lief ihre Reha also leider alles andere als gut. Es schien für ihre Tante unmöglich zu sein, nach dem Oberschenkelhalsbruch wieder fit zu werden, wenn allein schon die Bewegung vom Bett zum Rollstuhl zu anstrengend war.

Wahrscheinlich würde es Tante Brietta in der Wolfswacht besser ergehen.

Es wäre sicherlich leichter, zu Hause bei der Familie gesund zu werden als alleine in diesem trostlosen weißen Klotz. Doch die alte Wolfswacht war nicht gerade barrierefrei, und sowohl für die Reha als auch für die Dialyse hätte Brietta sowieso täglich nach Birkenhain kommen müssen. Nach einem kurzen Klopfen öffnete Anselm die Tür zum Krankenhauszimmer. Brietta, die in ihrem Bett lag, richtete sich sofort auf. Ihre Augen funkelten erfreut, und obwohl sie so feurige Locken wie Klara-Luise hatte, war ihre Ähnlichkeit zu Selma unverkennbar. Die beiden teilten das herzliche Lächeln und die tannengrünen Augen, die von wunderbar dichten Wimpern bekränzt waren.

»Oh, wow, wie sollen wir euch denn alle hier unterbringen!«, lachte Brietta, als sie nacheinander durch die Tür traten.

Anselm drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Stirn und tauschte anschließend den vertrockneten Blumenstrauß durch den neuen aus, den Selma in Briettas Laden frisch gebunden hatte. Die Chrysanthemen, Dahlien und Herbstastern brachten wenigstens etwas Farbe in den tristen Raum.

»Schwesterherz, du brauchst dringend ein paar Vitamine!«, verkündete Selma, während sie ihrer Schwester den Obstkorb unter die Nase hielt.

»Aber nicht nur«, ergänzte Irma und schwenkte die Schokolade. »Mit Nuss, weiß und mit Keks drinnen.«

Dabei verschwieg sie, dass sie die vierte Tafel mit Joghurt-Erdbeer-Füllung selbst behalten hatte.

»Ihr seid die Besten, wisst ihr das? Im Gegensatz zu den Ärzten bringt ihr mir wenigstens etwas, das hilft!«, rief Brietta und zwinkerte Irma zu.

Danach suchten die Augen ihrer Tante Klara-Luises Blick. Diese war mit versteinerter Miene am Fußende des Bettes stehen geblieben.

»Wie geht es dir, Mama?«, brachte sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor.