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In jedem Kind verbirgt sich der »Funke«.
Kristines Sohn Jacob hat einen höheren IQ als Einstein und verfügt über ein fotografisches Gedächtnis. Und er ist Autist. »Der Funke« erzählt die Geschichte einer Mutter, die gegen den Rat aller Experten darum kämpft, ihrem Sohn ein normales, glückliches Leben zu ermöglichen, indem sie ihn ermutigt, seinem »Funken« zu folgen, sich auf das zu konzentrieren, was er liebt, statt auf das, was ihn hindert. Großartige Möglichkeiten können sich eröffnen, wenn wir lernen, das wahre Potenzial zu erwecken, das in jedem Kind ruht – und in jedem von uns.
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Seitenzahl: 428
Kristine Barnett
Der Funke
Die Geschichte eines autistischen Jungen,der es allen gezeigt hat
Aus dem Amerikanischenvon Ines Klöhn
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel»The Spark« bei Random House, einem Imprintvon The Random House Publishing Group, Random House, Inc., New York.
1. AuflageDeutsche Erstausgabe© 2014 der deutschsprachigen AusgabeKailash Verlag, Münchenin der Verlagsgruppe Random House GmbH© 2013 Kristine BarnettThis translation published by arrangement with Random House,an imprint of the Random House Publishing Group,a division af Random House, Inc.Lektorat: Anne NordmannUmschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design nach einer Vorlage von Misa ErderCoverfoto: Kelly Wilkinson/The Indianapolis StarCoverillustration: Jacob Barnetts und Dr. Roland Roeders gemeinschaftliche Forschung in hyperbolischer GeometrieSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-09327-3www.kailash-verlag.de
Für Michael, der das Unmögliche möglich macht, Tag für Tag.Und für jeden, dem gesagt wurde, er könne es nicht.
Einleitung
Ich sitze in der Uni im hinteren Teil eines Seminarraums. Vor den Whiteboards an den Seiten des Raums brüten Studenten in kleinen Gruppen über der Gleichung des heutigen Physikkurses.
Die Arbeit geht nur stockend voran. Viel wird geschrieben und gleich darauf wieder weggewischt. Als die Studenten heftig zu diskutieren beginnen, schaue ich zu meinem neun Jahre alten Sohn, der vorne angeregt mit dem Professor plaudert. Die Frustration der Studenten wird immer größer. Schließlich rückt mein Sohn einen Stuhl an eine der Tafeln, steigt darauf und muss selbst auf Zehenspitzen noch den Arm ganz ausstrecken, um am oberen Rand zu schreiben.
Ebenso wie alle anderen Studenten sieht auch er diese Gleichung heute zum ersten Mal. Doch ohne lange nachzudenken, zückt er seinen Stift und lässt ihn schnell und flüssig über die Tafel tanzen. Die anderen Teams unterbrechen ihre Arbeit und starren den kleinen Jungen mit der umgedrehten Baseballkappe an. Bald sind alle Augen auf ihn gerichtet.
Doch mein Sohn bemerkt die neugierigen Blicke nicht, er ist zu vertieft in die Zahlen und Symbole, die er in rasender Schnelligkeit aufschreibt: erst fünf, dann zehn, dann fünfzehn Reihen, die sich bald bis auf das Whiteboard der Nachbargruppe ausdehnen.
Dann wendet er sich seinen Teamkollegen zu, zeigt auf etwas, erklärt, stellt Suggestivfragen – genau wie ein Lehrer. Eine ernste Studentin mit einem französischen Zopf löst sich aus ihrer Gruppe und tritt interessiert näher. Ein Student mit gebeugten Schultern tut es ihr nach und nickt energisch, als er zu verstehen beginnt.
Innerhalb weniger Minuten haben sich alle Studenten im vorderen Teil des Raums um meinen Jungen versammelt. Als er seine Zuhörer auf einen Trick hinweist, auf den er bei der Gleichung gekommen ist, wippt er vergnügt auf den Fußballen auf und ab. Ein bärtiger Student ruft ihm eine Frage zu. Ich schaue zum Professor hinüber, der schmunzelnd an der Wand lehnt.
Nun da sie das Problem langsam begreifen, finden sich die Studenten wieder in ihren Arbeitsgruppen zusammen und versuchen sich ihrerseits an einer Lösung, doch die Anspannung ist ihnen noch immer anzumerken. Der Einzige im Raum, der an dieser Aufgabe wirklich Spaß hat, ist mein Sohn.
Dann ist der Unterricht zu Ende, und der Hörsaal leert sich. Mein Sohn packt seine Stifte ein und unterhält sich währenddessen angeregt mit einem Kommilitonen über ein neues NBA-Videospiel, das sich beide anschaffen wollen. Der Professor kommt auf mich zu und reicht mir die Hand.
»Mrs Barnett, ich wollte Ihnen sagen, wie sehr ich mich freue, Jake in meinem Kurs zu haben. Dank ihm laufen die Studenten zur Höchstform auf. Sie sind es nicht gewohnt, so unterrichtet zu werden. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht ganz sicher, ob ich selbst noch lange mit ihm mithalten kann!«
Wir lachen beide.
»Ach wissen Sie«, erwidere ich, »mir geht es so, seit Jake auf der Welt ist.«
❦
Ich heiße Kristine Barnett, und mein Sohn Jake gilt als mathematisches und naturwissenschaftliches Wunderkind. Im Alter von acht Jahren besuchte er Kurse in Mathematik, Astronomie und Physik auf Hochschulniveau, mit neun wurde er an der Universität zugelassen. Wenig später begann er, an einer neuen Theorie auf dem Gebiet der Relativität zu arbeiten. Die Gleichungen waren so lang, dass sie von seinem großen Whiteboard bald auf unsere Wohnungsfenster herüberreichten. Unsicher, wie ich ihm helfen könnte, fragte ich Jake, ob er seine Arbeit jemandem zeigen wolle, der etwas davon versteht. Und tatsächlich war ein angesehener Physiker, den ich anschließend kontaktierte, bereit, sich Jakes Entwürfe anzusehen. Er bestätigte, dass Jake an einer bisher unbekannten Theorie arbeite, die, so fügte er hinzu, gute Chancen auf einen Nobelpreis habe, falls sie sich bestätigen sollte.
In jenem Sommer, Jake war gerade zwölf, bot man ihm – als ersten Ferienjob – eine bezahlte Forschungsstelle im Bereich Physik an der Universität an. Dort lieferte er binnen drei Wochen die Lösung für ein noch offenes Problem der Verbandstheorie, eine Arbeit, die später in einer renommierten Fachzeitschrift veröffentlicht wurde.
Einige Monate zuvor war in einer Lokalzeitung ein kurzer Artikel über eine kleine Selbsthilfegruppe erschienen, die mein Mann Michael und ich ins Leben gerufen haben. Dieser Artikel hatte unerwartet eine Geschichte über Jake in einer größeren Zeitung nach sich gezogen. Und ehe wir es uns versahen, schlugen in unserem Vorgarten Kamerateams ihr Lager auf, und das Telefon klingelte ununterbrochen: Film- und Talkshowproduzenten, Journalisten nationaler Nachrichtenmagazine, Talentagenturen, Verleger, Eliteuniversitäten – alle wollten mit Jake sprechen.
Ich war ziemlich durcheinander, und ehrlich gesagt konnten Michael und ich uns damals nicht erklären, warum sich all diese Leute so sehr für unseren Sohn interessierten. Natürlich wussten wir, dass Jake sehr intelligent war und außergewöhnliche mathematische und naturwissenschaftliche Fähigkeiten besaß. Auch war uns klar, dass es für einen Jungen in seinem Alter keineswegs »normal« ist, zur Universität zu gehen. Es war nur so, dass Michael und ich uns damals über ganz andere Errungenschaften freuten: über Jakes Erfolge als Schlagmann im Baseball etwa oder darüber, dass er Freunde in seinem Alter gefunden hatte, mit denen er Ego-Shooter spielte und sich in unserem Keller zum Filmegucken traf, oder – er wird mich verfluchen, weil ich es erwähne – über seine erste Freundin.
Diese scheinbar gewöhnlichen Dinge in Jakes Leben sind für uns die außergewöhnlichsten. Daher waren wir ziemlich überrascht, als die Medien plötzlich so auf uns einstürmten. Doch nachdem wir mit einigen Journalisten gesprochen und deren Artikel gelesen hatten, gingen uns die Augen auf. Es brauchte tatsächlich erst das grelle Scheinwerferlicht, damit Michael und mir richtig bewusst wurde, dass sich das Leben unseres Sohnes grundlegend verändert hatte.
Was die Journalisten nicht wissen konnten: Jakes außergewöhnlicher Verstand ist nämlich vor allem deshalb so bemerkenswert, weil er beinahe verloren gegangen wäre. Als die Presse in unserem Vorgarten aufgetaucht war, hatte unser Leben immer noch unter dem Eindruck der Autismus-Diagnose gestanden, die Jake mit zwei Jahren bekommen hatte. Hilflos hatten wir mitansehen müssen, wie unser lebhafter und für sein Alter erstaunlich weit entwickelter kleiner Sohn allmählich zu sprechen aufhörte und sich immer weiter in seine eigene Welt zurückzog. Seine Zukunftsprognose hatte sich schnell von düster in vollkommen hoffnungslos verwandelt. Als Jake drei Jahre alt war, hatten die Fachleute prognostiziert, dass er mit sechzehn Jahren in der Lage sein werde, sich immerhin die Schuhe selbst zu binden.
Dieses Buch beschreibt unseren Weg von der damaligen Situation zur heutigen. Es geht darin um die Reise einer Mutter mit ihrem außergewöhnlichen Sohn. Doch mehr als alles andere geht es für mich darin um die Kraft der Hoffnung und die unglaublichen Möglichkeiten, die sich auftun, wenn wir offen und aufgeschlossen sind und erkennen, wie wir die wahren Fähigkeiten eines jeden Kindes fördern und entwickeln können.
Der Funke
Ein Zoll oder zehntausend Meilen
November 2001JAKE IM ALTER VON DREI JAHREN
»Mrs Barnett, ich würde mit Ihnen gerne über die Buchstabenkarten sprechen, die Sie Jake in den Kindergarten mitgeben.«
Jake und ich saßen mit seiner Sonderpädagogin, die zu ihrem staatlich vorgeschriebenen monatlichen Besuch vorbeigekommen war, im Wohnzimmer. Er liebte die kunterbunten Buchstabenkarten über alles, so wie andere Kinder ihr abgewetztes Kuscheltier oder ihre alte Schmusedecke lieben. Die Karten werden in dem Supermarkt angeboten, wo ich gewöhnlich einkaufe. Während andere Kinder Cornflakespackungen oder Schokoriegel in den Einkaufswagen ihrer Mutter schmuggelten, kamen in meinem immer nur weitere Packungen von Jakes geliebten Alphabetkarten zum Vorschein.
»Ich gebe ihm diese Karten nicht mit. Jake steckt sie ein, bevor er zur Tür hinausgeht. Ich muss sie ihm aus den Händen reißen, um ihm sein T-Shirt anzuziehen. Er nimmt sie sogar mit ins Bett!«
Jakes Erzieherin rutschte verlegen auf dem Sofa hin und her. »Ich befürchte, ich muss Ihre Erwartungen, was Jacob betrifft, korrigieren, Mrs Barnett. Das hier ist ein Lebenshilfeprogramm, durch das er lernen soll, sich irgendwann einmal selbst anzuziehen.« Ihre Stimme war freundlich, aber bestimmt.
»Oh, natürlich. Das weiß ich. An diesen Dingen arbeiten wir zu Hause auch. Aber er liebt diese Karten einfach über alles …«
»Verzeihen Sie, Mrs Barnett. Was ich sagen will, ist: Wir glauben nicht, dass Sie sich bei Jacob wegen des Alphabets Sorgen machen müssen.«
Endlich verstand ich, was mir die Erzieherin meines Sohnes sagen wollte. Sie wollte sichergehen, dass mir die Ziele des Lebenshilfeprogramms klar waren, und mich vor Enttäuschungen bewahren. Sie wollte nicht sagen, dass Buchstabenkarten verfrüht seien. Sie wollte sagen, dass Jake sie überhaupt nie brauchen würde, weil sie glaubten, dass er niemals lesen lernen würde.
Das war einer jener erschütternden Augenblicke, von denen dieses Jahr voll gewesen war. Einige Zeit zuvor war bei Jake Autismus diagnostiziert worden, und seitdem ging es nur noch darum, wann (und ob überhaupt) Jake die üblichen Meilensteine der kindlichen Entwicklung erreichen würde. Fast ein Jahr war es nun her, dass sich vor uns der drohende, graue Schlund des Autismus aufgetan hatte, der Jake mehr und mehr zu verschlingen drohte. Ich hatte hilflos mit ansehen müssen, wie immer mehr von Jakes Fähigkeiten, wie etwa das Sprechen und Lesen, wieder verschwanden. Aber ich würde nicht zulassen, dass jemand das Potenzial meines gerade einmal dreijährigen Sohnes für verloren erklärte, ob er nun autistisch war oder nicht.
Paradoxerweise hatte ich selbst wenig Hoffnung, dass Jake jemals lesen würde, doch ich akzeptierte nicht, dass mir irgendjemand eine Obergrenze für das setzte, was ich von ihm erwarten konnte; schon gar nicht, wenn diese Grenze so niedrig war. An jenem Morgen kam es mir vor, als hätte Jakes Erzieherin die Tür zu seiner Zukunft zugeschlagen.
Es ist beängstigend für Eltern, den Ratschlag von Fachleuten zu ignorieren, doch ich fühlte, dass Jake uns entgleiten würde, wenn er im Sonderkindergarten bliebe. Also folgte ich meinem Instinkt und klammerte mich an die Hoffnung, anstatt aufzugeben. Ich versuchte nicht, seine Erzieher und Therapeuten davon zu überzeugen, ihre Erwartungen oder Methoden zu ändern. Dafür hatte ich weder die Zeit noch die Kraft. Ich wollte auch nicht gegen das System ankämpfen und anderen aufzwingen, was ich für Jake als richtig empfand. Anstatt mit Anwälten, Spezialisten und Rechtsberatern für Jake die Hilfe durchzusetzen, die er brauchte, wollte ich meine Energie lieber auf Jake selbst konzentrieren und alles Notwendige tun, damit er sein maximales Potenzial ausschöpfen konnte – was auch immer das sein mochte.
Also traf ich die gewagteste Entscheidung meines Lebens. Ich stellte mich gegen die Fachleute und sogar gegen meinen Mann Michael und beschloss, Jake in seiner Leidenschaft zu bestärken. Vielleicht versuchte er mit seinen geliebten Buchstabenkarten tatsächlich lesen zu lernen, vielleicht auch nicht. Ganz egal, anstatt sie ihm wegzunehmen, wollte ich dafür sorgen, dass er so viele davon bekam, wie er wollte.
❦
Drei Jahre zuvor war ich überglücklich gewesen, als ich merkte, dass ich schwanger war. Ich war damals vierundzwanzig und hatte für die Rolle als Mutter geübt, solange ich denken konnte.
Schon als kleines Mädchen hatte für mich (und für alle, die mich kannten) festgestanden, dass Kinder in meinem Leben einen besonderen Platz einnehmen würden. Meine Familie nannte mich den Rattenfänger, denn wo immer ich hinging, heftete sich eine Kinderschar an meine Fersen, die gespannt auf ein Abenteuer wartete. Mein Bruder Benjamin wurde geboren, als ich elf war, und wich mir von Anfang an nicht mehr von der Seite. Mit dreizehn war ich bereits der gefragteste Babysitter der Nachbarschaft, und mit vierzehn übernahm ich die Leitung der Kinderkirche. Es überraschte deshalb niemanden, dass ich mir während des Colleges als Kindermädchen Geld dazuverdiente. Nach meiner Heirat verwirklichte ich schließlich meinen Lebenstraum und fing an, als Tagesmutter zu arbeiten. Mein ganzes Leben lang war ich umringt von Kindern gewesen, und nun erwartete ich voll Vorfreude ein eigenes.
Leider war der Weg zu Jakes Geburt nicht leicht. Trotz meines jungen Alters hatte ich während der gesamten Schwangerschaft große Probleme. Mein Blutdruck ging gefährlich in die Höhe, eine sogenannte Präeklampsie, die bei Schwangeren häufig auftritt und sowohl der Mutter als auch dem Kind schaden kann. Während meine Mutter bei der Betreuung der Tageskinder aushalf, tat ich alles, um mein Kind zu behalten. Trotzdem wurde die Schwangerschaft mehr und mehr zu einem Alptraum. Immer wieder bekam ich vorzeitige Wehen, weshalb mir die Ärzte schließlich Medikamente und strikte Bettruhe verordneten. Dennoch wurde ich neunmal ins Krankenhaus eingeliefert.
So auch drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin, diesmal mit Wehen, die nicht mehr zu stoppen waren. Eine endlose Reihe von Komplikationen machte den Ausgang der Geburt immer ungewisser. Ständig piepsten irgendwelche Alarmsignale, es war ein hektisches Hin und Her von Ärzten und Schwestern, deren Gesichter immer angespannter wurden. Michael sagt heute, das sei der Tag gewesen, an dem er eindrücklich miterlebt habe, wie zäh und dickköpfig ich sein kann. Wie ich später erfuhr, hatte ihn ein Arzt beiseitegenommen und ihm mitgeteilt, wie ernst die Lage sei, und dass er darauf gefasst sein müsse, entweder mit einer Frau oder einem Baby nach Hause zu gehen, wohl aber nicht mit beiden.
Das Einzige, woran ich mich erinnern kann, ist, dass inmitten dieser benebelnden Mischung aus Lärm, Schmerzen, Medikamenten und Angst plötzlich Michael an meiner Seite war. Er hielt meine Hand und sah mir fest in die Augen. Ich spürte die Kraft, die von seinem Blick ausging, und sie machte mir Mut. Es war, als hätte eine Kamera uns beide herangezoomt und den ganzen Tumult drum herum ausgeblendet. Für mich gab es in diesem Moment nur Michael – unglaublich stark und felsenfest entschlossen, zu mir durchzudringen.
»Hier geht es nicht um zwei Leben, Kris, sondern um drei. Wir stehen das hier gemeinsam durch. Wir schaffen es.«
Ich weiß nicht, ob es seine Worte waren oder der Blick in seinen Augen, aber sein eindringlicher Appell durchdrang meinen Nebel aus Schmerzen und Angst. Er zeigte mir, wie sehr er mich liebte, und ließ mich daraus Kraft schöpfen. Er wirkte so überzeugt davon, dass ich den Kampf um unser Leben gewinnen konnte, dass er Recht behielt. Als Dank dafür versprach er feierlich, für den Rest seines Lebens für mich und unser Kind eine stetige Quelle der Kraft und des Glücks zu sein. Er war wie der Kapitän eines Schiffes in Seenot, der mir befahl am Leben zu bleiben. Und das tat ich.
Ob er es wirklich gesagt hat oder ich es mir nur eingebildet habe, weiß ich nicht, aber ich hörte ihn ebenfalls versprechen, dass wir immer frische Blumen im Haus haben würden, bis ans Ende meines Lebens. Michael wusste, wie sehr ich Blumen liebte, aber den Luxus eines Blumenstraußes konnten wir uns nur zu ganz besonderen Anlässen leisten. Als ich am nächsten Tag unseren wundervollen kleinen Jungen im Arm hielt, schenkte mir Michael die schönsten Rosen, die ich je gesehen habe. Und obwohl seit diesem Tag dreizehn Jahre vergangen sind, bekomme ich noch immer jede Woche frische Blumen.
Wir hatten ein Wunder erlebt – ein glückliches Wunder. Damals konnten wir es noch nicht wissen, doch dies würde nicht das letzte Mal sein, dass unsere Familie auf eine harte Probe gestellt würde. Und es würde auch nicht das letzte Mal sein, dass wir eine schwierige Situation entgegen aller Wahrscheinlichkeit meisterten. Außer in Liebesromanen sprechen Menschen selten ernsthaft über die Art von Liebe, die alles möglich macht. Aber zwischen Michael und mir existiert diese Art von Liebe. Selbst wenn wir nicht einer Meinung sind, ist unsere Liebe ein Anker in rauer See. Tief in mir drin weiß ich, dass es Michaels Liebe war, die Jake und mich den Tag seiner Geburt hat überstehen lassen und alles, was seitdem passiert ist, möglich gemacht hat.
Beim Verlassen des Krankenhauses hatten Michael und ich alles, was wir uns je gewünscht hatten, und waren sicher, die glücklichsten Menschen der Welt zu sein.
Auf dem Nachhauseweg unterschrieben wir – mit unserem kleinen Jungen im Arm – das Darlehen für unser erstes Zuhause. Mit etwas Hilfe von meinem fantastischen Großvater John Henry hatten wir ein bescheidenes Haus am Ende einer Sackgasse in einem Arbeitervorort in Indiana gekauft, wo ich auch Platz für meine Beschäftigung als Tagesmutter hatte.
Als ich über Jakes Köpfchen mit dem weichen Neugeborenenflaum hinweg zu meinem freudestahlenden Mann sah, musste ich plötzlich daran denken, was für ein glücklicher Zufall uns zusammengeführt hatte – und das, obwohl unser erstes Treffen wahrlich unter keinem guten Stern gestanden hatte.
❦
Michael und ich hatten uns während des Studiums kennengelernt. Unsere scheinbar zufällige Begegnung war in Wirklichkeit von meiner Schwester Stephanie arrangiert gewesen, die unbedingt Schicksal spielen wollte. Eine vollkommen abstruse Idee, denn ich war bereits in festen Händen. Genauer gesagt stand ich – so hoffte ich zumindest – kurz vor meiner offiziellen Verlobung mit einem wundervollen jungen Mann namens Rick, meinem Märchenprinzen. Wir waren ein glückliches Paar, und ich freute mich auf mein künftiges Leben mit ihm.
Stephanie jedoch hatte »so ein Gefühl« was mich und einen jungen Mann aus ihrem Rhetorikseminar betraf – ein Mann, der nicht nur geistreich, sondern geradezu elektrisierend war und von dem sie glaubte, er sei wie für mich geschaffen. Also schmiedete sie einen Plan.
An dem Nachmittag, an dem ihre Falle zuschnappte, war ich im Begriff, mich in ihrem Badezimmer für ein Treffen mit Rick zurechtzumachen, wobei ich mich zwischen gut zwanzig verschiedenen Lippenstifttönen und acht Paar Schuhen zu entscheiden hatte. Als ich dann endlich aus dem Badezimmer trat, stand nicht wie erwartet mein Freund vor mir, sondern ein junger Mann, den ich noch nie zuvor gesehen hatte und den mir Stephanie als Michael Barnett vorstellte.
Verwirrt durch diesen unerwarteten Besucher sah ich meine Schwester fragend an. Sie zog mich beiseite und flüsterte mir eilig lauter unverständliches Zeug zu. Sie meinte, sie habe diesen Jungen wegen mir eingeladen und das Treffen mit meinem Freund unter einem Vorwand abgesagt.
Ich war wie vor den Kopf gestoßen und wusste zunächst nicht, wie ich reagieren sollte. Als mir schließlich dämmerte, dass Stephanie Amor spielen wollte, glaubte ich ernsthaft, sie habe den Verstand verloren. Wer würde denn eine junge Frau verkuppeln wollen, die sehnsüchtig auf den Heiratsantrag ihres Freundes wartet?
Ich war stinksauer. Unsere Eltern hatten uns nicht dazu erzogen, unsere Partner leichtfertig zu wechseln. Mein erstes Date hatte ich erst, als ich bereits aufs College ging. Auch war uns sicher nicht beigebracht worden, unehrlich oder untreu zu sein. Was war nur in meine Schwester gefahren? Am liebsten hätte ich sie angebrüllt und die Wohnung auf der Stelle verlassen. Doch wir waren auch zu Höflichkeit erzogen worden, und genau darauf setzte Stephanie.
Ich streckte also dem jungen Mann, der wie ich nur eine Figur in Stephanies Spiel war, meine Hand entgegen, und wir nahmen im Wohnzimmer Platz. Es folgte eine gezwungene Unterhaltung, der ich nur mit halbem Ohr folgte. Als ich den Gast schließlich doch genauer betrachtete, fielen mir seine strahlenden Augen und sein lächerlicher Kinnbart auf und dass er seine Baseballkappe verkehrt herum trug. Mit seiner lässigen, leicht schlampigen Erscheinung machte er auf mich zunächst einen etwas oberflächlichen Eindruck. Der Kontrast zu meinem auf die Form bedachten, adretten Freund hätte nicht größer sein können.
Warum nur wollte Stephanie unbedingt, dass wir uns kennenlernten? Ich war ein Mädchen vom Lande, dessen Familie seit Generationen ein bescheidenes, einfaches Leben führte. Mit Rick hatte ich eine vollkommen neue Welt kennengelernt, eine Welt mit Penthouse-Wohnungen, Leihwagen, Skiurlauben, noblen Restaurants und Vernissagen. Nicht dass es mir darum gegangen wäre. Stephanie hätte mir auch Brad Pitt vorsetzen können, und ich wäre trotzdem sauer gewesen, dass sie so gar keinen Respekt vor meiner Beziehung hatte. Und doch veranlasste mich der extreme Kontrast zwischen diesem salopp gekleideten Studenten und meinem eleganten Freund umso mehr zu der Frage, was sich meine Schwester eigentlich dabei gedacht hatte.
Nach einer Weile nahm mich Stephanie zur Seite (soweit das in ihrer winzigen Einzimmerwohnung möglich war) und schimpfte mit mir wegen meiner Schweigsamkeit: »Wo sind deine Manieren geblieben?«, flüsterte sie. »Du kannst dich nachher abreagieren, so viel du willst, aber sei jetzt bitte so freundlich und unterhalte dich höflich mit diesem Jungen.«
Verlegen musste ich zugeben, dass sie Recht hatte. Zu einem Fremden, noch dazu einem Gast, unfreundlich zu sein, war unmöglich. Höflichkeit und Zuvorkommenheit waren Verhaltensweisen, die uns unsere Eltern und Großeltern und die enge Gemeinschaft, in der wir aufgewachsen waren, von klein auf eingeimpft hatten. Und ich war bis jetzt sehr unhöflich gewesen.
Beschämt setzte ich mich wieder aufs Sofa und entschuldigte mich bei Michael. Ich erzählte ihm, dass ich einen Freund habe und beim besten Willen nicht wisse, was sich Stephanie dabei gedacht habe, dieses Treffen zu arrangieren. Ich erklärte, dass ich natürlich nicht auf ihn, sondern nur auf meine Schwester wütend sei, die uns durch ihre Unverfrorenheit in diese peinliche Situation gebracht hatte. Kaum war das ausgesprochen, brachen wir alle in Gelächter aus und amüsierten uns köstlich über das Ganze. Nun war das Eis gebrochen, und kurze Zeit später unterhielten wir uns angeregt und ungezwungen. Als Michael mir von seinen Seminaren und seiner Idee für ein Drehbuch erzählte, wusste ich plötzlich, was Stephanie gemeint hatte. Er sprach mit einer solchen Begeisterung und Leidenschaft über seine Vorhaben, wie ich es bisher nur von mir selbst kannte. Ich spürte ein Kribbeln im Bauch, und mir war ein wenig schwindlig. Und da wusste ich plötzlich, dass meine Zukunft, die noch vor wenigen Augenblicken so gewiss geschienen hatte, anders aussehen würde als geplant. Ich würde meinen Freund – so fantastisch er auch war – nicht heiraten, denn für mich war etwas anderes vorbestimmt. Ich kannte Michael Barnett noch keine Stunde und wusste trotzdem mit untrüglicher Gewissheit, dass ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringen würde.
Später gingen Michael und ich in ein Café und redeten weiter bis in die Morgenstunden. So abgedroschen das auch klingt, aber wir hatten beide das Gefühl, jemanden wiedergefunden zu haben, den wir verloren hatten. Es fühlte sich an, wie nach Hause zu kommen.
Drei Wochen später waren wir verlobt und nach weiteren drei Monaten verheiratet. Und auch heute, sechzehn Ehejahre später, fühle ich noch dieselbe zwingende Notwendigkeit, mit ihm zusammen zu sein, wie in jener seltsamen Nacht, in der wir uns kennenlernten.
Der Rest meiner Familie war von Michael und unserer plötzlichen Verlobung zunächst wenig angetan. Was um alles in der Welt war nur in ihre sonst so vernünftige Tochter gefahren? Selbst Stephanie, die uns ja schließlich zusammengebracht hatte, reagierte genauso besorgt und perplex wie die anderen. Auch wenn sie das starke Bedürfnis gehabt hatte, uns einander vorzustellen, konnte sie trotzdem nicht begreifen, wie wir nach so kurzer Zeit überzeugt davon waren, den Rest unseres Lebens miteinander verbringen zu wollen. Die Unterschiede zwischen uns waren offensichtlich: Ich war ein behütetes Mädchen vom Lande mit tiefen spirituellen Wurzeln, das im Schoß einer liebevollen Familie groß geworden war. Michael dagegen war ein Junge aus der Stadt, aufgewachsen in einem schwierigen familiären Umfeld in einem unsicheren Viertel Chicagos.
Während ich das Haus erst verließ, wenn jede Haarsträhne saß – und sei es nur für einen Einkauf im Supermarkt –, machte sich Michael als Lederjacken tragender Individualist über solche Äußerlichkeiten keine Gedanken. Auch legte ich großen Wert auf ein schönes Zuhause. Als ich klein war, stieß man in unserer Küche eher auf ein lebendiges Huhn als auf eine Rolle Küchenpapier oder einen Stapel Papierservietten – und daran hat sich auch in meinem eigenen Haus nur wenig geändert. Mike war improvisierte Mahlzeiten gewohnt, die meist aus dem bestanden, was sich gerade im Kühlschrank fand, und die selten an einem Tisch zu sich genommen wurden. Meine Welt war ihm daher vollkommen fremd und eine ewige Quelle für seinen Spott.
Sein scharfer Witz und beißender Humor lösten bei meiner Familie zweifellos Unbehagen aus. Doch für mich war seine Fähigkeit, mich zum Lachen zu bringen – vor allem dann, wenn es wenig zu lachen gab (oder wir anfingen, uns selbst zu ernst zu nehmen) –, einer der Gründe, mich in ihn zu verlieben.
Meine Familie war sich in ihrer Skepsis einig und zeigte dies auch offen. Doch es gab eine Ausnahme: Mein Großvater John Henry mochte Michael sofort. Und weil ich auf seine Meinung besonderen Wert legte, war ich überglücklich, als er mir sagte, er vertraue auf meine innere Stimme, und ich solle dasselbe tun.
Michael und ich waren füreinander bestimmt, so viel stand fest, doch unsere Liebe forderte ein großes Opfer von mir: Ich musste die Kirche verlassen, in der ich aufgewachsen war, die Kirche meiner Eltern und Großeltern und vieler Generationen vor ihnen.
Ich stamme aus einer Amish-Familie – nicht den Pferdewagen-Amish, sondern einer liberaleren Gemeinschaft. Wie viele ihrer Generation wollten sich meine Großeltern der modernen Welt öffnen, ohne dabei ihre Traditionen und Überzeugungen aufzugeben. Also schlossen sie sich den sogenannten Neu-Amish an, die ihrem Glauben zwar treu geblieben waren, jedoch auch Zugeständnisse an die moderne Welt machten. Wir trugen normale Kleidung, nutzten die Annehmlichkeiten des modernen Lebens und besuchten staatliche Schulen. Dennoch beschränkte sich Glaube für uns nicht auf den sonntäglichen Gottesdienst, sondern war der Kern unseres täglichen Lebens.
Gemäß der Tradition der Amish wird man aus seiner Kirche ausgeschlossen, wenn man nicht innerhalb derselben Glaubensgemeinschaft heiratet. Auch mein geliebter Großpapa hatte seine Gemeinde verlassen müssen, als er aus Liebe heiraten wollte. Zwar war auch meine Großmutter eine Amish, doch sie stammte nicht aus derselben Gemeinschaft. Mein Vater war kein Amish, schloss sich aber der Gemeinde meiner Mutter an, als er um ihre Hand anhielt. So hatte sie in ihrer Gemeinde bleiben können.
Es fiel mir nicht leicht, mit einer Tradition zu brechen, die mir so wichtig war. Doch die arrangierten Ehen der Amish waren für mich nie infrage gekommen. Auch mein Vater hielt nichts von arrangierten Ehen, schon gar nicht für seine eigenen Töchter. Und so hatte er – zum Leidwesen meiner Mutter – alle Männer abgelehnt, die um meine Hand angehalten hatten. Sosehr ich meine Kirche und unsere Lebensweise liebte, wenn ich zwischen ihr und Michael wählen musste, war meine Entscheidung klar: Ich musste gehen.
Ein kleiner Junge
Jake war ein sehr anhängliches und neugieriges Baby. Er begann früh zu sprechen und begriff schnell die Wirkung des Wortes »Hallo!«. Meine Schwester Stephanie amüsierte sich immer köstlich darüber, wie er es schaffte, ein ganzes Restaurant zu unterhalten, indem er jeden Vorbeikommenden freudestrahlend mit einem Winken begrüßte. Er liebte Stofftiere. Manchmal versteckte er sich zwischen ihnen und kreischte vergnügt, wenn er entdeckt wurde.
Natürlich wusste ich bereits, wie liebevoll Michael sein konnte, doch zu sehen, wie sehr er in seiner Vaterrolle aufging, berührte mich trotzdem sehr. Er arbeitete damals bei Target und machte viele Überstunden, doch selbst nach einer Doppel- oder Nachtschicht fand er noch die Energie, mit Jake auf einem Berg von Sofakissen auf dem Wohnzimmerboden herumzutollen. Eines von Jakes Lieblingsspielen war, sich mit dem Papa ein Stück Kuchen zu »teilen«, was hauptsächlich darin bestand, die Glasur auf Michaels Gesicht zu verschmieren und lauthals zu jauchzen, wenn sein Vater nach seinen Händchen schnappte.
Schon eine knappe Woche nach Jakes Geburt arbeitete ich wieder als Tagesmutter. Ich liebte meinen Beruf und freute mich darauf, nach der langen Bettruhe endlich wieder etwas tun zu können. Außerdem wollte ich das Vertrauen der Eltern nicht verlieren, deren Kinder ich betreuen durfte. An manchen Tagen war ich von sechs Uhr morgens bis sieben Uhr abends in der Tagespflege beschäftigt, und Jake war mit dabei. Die Kinder behandelten ihn wie eine lebensgroße Puppe. Sie zogen ihn an, sangen ihm Lieder vor und brachten ihm »Backe, backe Kuchen« bei. Es war lustig zu sehen, wie besitzergreifend vor allem die Mädchen sein konnten. »Ich sollte sie auf die Gehaltsliste setzen«, sagte ich eines Abends zu einer Mutter, deren Tochter »ihr« Baby Jake nicht bei mir lassen wollte.
Bereits in dieser frühen Phase gab es erste Anzeichen für Jakes Intelligenz. Er konnte das Alphabet, bevor er laufen lernte, und sagte es mit Vergnügen vorwärts und rückwärts auf.
Mit einem Jahr buchstabierte er kurze Wörter wie »cat« und »dog«. Mit zehn Monaten zog er sich an der Sofalehne hoch, um seine Lieblings-CD-ROM in den Computer einzulegen. Sie beinhaltete ein Programm, das Dr. Seuss’ Der Kater mit Hut vorlas, und wir hatten wirklich den Eindruck, als folge er dem kleinen gelben Ball, der von Wort zu Wort hüpfte, um mitzulesen.
Eines Abends sah ich Michael vor Jakes Zimmer stehen, nachdem er ihn ins Bett gebracht hatte. Er legte den Zeigefinger auf die Lippen und winkte mich zu sich. Ich schlich heran, und wir lauschten unserem Sohn, der in seinem Bettchen lag und schläfrig vor sich hin brabbelte, als spreche er Japanisch. Wir wussten, dass er alle seine DVDs auswendig konnte, und auch ab und zu mit der Fernbedienung die Sprachauswahl änderte, doch es machte uns fassungslos, dass er nicht nur die englischen Texte auswendig gelernt hatte, sondern offenbar auch große Teile der spanischen und japanischen Versionen.
Auch Jakes motorische Fähigkeiten waren erstaunlich für ein Alter, in dem andere Kinder noch unbeholfen durch die Welt krabbeln. Er saß oft ganz ruhig da und reihte seine Spielzeugautos in einer perfekten Linie auf dem Sofatisch aneinander, wobei er sorgfältig mit einem Finger prüfte, ob auch die Abstände zwischen den Autos gleich groß waren. Er legte tausende von Wattestäbchen der Länge nach zu kunstvollen, labyrinthartigen Mustern aneinander, die oft ein ganzes Zimmer ausfüllten. Obwohl wir natürlich stolz waren, wenn Jake seinen Altersgenossen etwas voraus zu sein schien, war uns auch immer bewusst, dass alle jungen Eltern ihr Kind für das klügste der Welt halten.
Als Jake ungefähr vierzehn Monate alt war, fielen uns erste Veränderungen an ihm auf. Zunächst waren sie noch so gering, dass wir immer eine Erklärung dafür fanden. Er sprach und lächelte nicht mehr so häufig, aber vielleicht hatte er schlechte Laune, war müde oder zahnte. Außerdem hatte er in jenem Jahr eine Reihe sehr schmerzhafter Ohrenentzündungen, was ebenfalls erklären konnte, warum er nicht mehr so herzhaft lachte, wenn ich ihn kitzelte, oder sein Blick abschweifte, wenn ich »Kuckuck« mit ihm spielen wollte. Auch das Herumtollen mit seinem Vater, für das er sonst alles stehen und liegen gelassen hatte, begeisterte ihn nicht mehr wie früher, aber vielleicht hatte er gerade einfach keine Lust dazu. Und dennoch merkten wir, wie er mit jeder Woche weniger interessiert, weniger neugierig und weniger vergnügt war als zuvor. Er schien nicht mehr er selbst zu sein.
Jake verlor sich immer mehr in Dingen, die schon sehr früh sein Interesse geweckt hatten. Licht, Schatten und geometrische Formen etwa hatten ihn schon immer fasziniert. Doch nun reagierte er anders auf diese Eindrücke.
Zum Beispiel hatten wir, als er noch ganz klein war, seine Leidenschaft für Karomuster entdeckt. Unser Bettbezug war damals kariert, und er war das Einzige, womit sich Jake beruhigen ließ, wenn er Ohrenschmerzen hatte. So wie andere Mütter nicht ohne einen Schnuller für ihr Baby aus dem Haus gingen, hatte ich stets ein Stück karierten Stoffes bei mir. Nach jenem ersten Jahr dann drehte Jake sich auf die Seite und starrte unverwandt auf die Decke, das Gesicht ganz nah vor dem Muster, wo er dann so lange verharrte, wie wir es zuließen. Manchmal beobachteten wir ihn auch dabei, wie er starr vor Konzentration einen Sonnenstrahl an der Wand fixierte, oder auf dem Rücken liegend die Hand im Sonnenlicht mechanisch vor und zurück bewegte und wie gebannt auf deren Schatten an der Wand starrte. Ich war stolz gewesen auf die frühen Anzeichen von Selbstständigkeit, doch dieses Verhalten war mit Selbstständigkeit nicht mehr zu erklären. Es war, als würde er von etwas verschlungen, was ich nicht sehen konnte.
In der Tagesgruppe war Jake immer das umhegte »Geschwisterchen« gewesen, eine Rolle, in der er sich sichtlich wohlgefühlt hatte. Bis er ein Jahr alt war, hatte er zusammen mit den Tageskindern mit Fingerfarben gemalt und war begeistert mitgehopst, wenn sie tanzten.
Er hatte sein Schläfchen gemacht, wenn sie schliefen, und gegessen, wenn sie aßen. Nun jedoch starrte er lieber auf Schatten, anstatt den anderen Kindern hinterherzukrabbeln. Oft ignorierte er sogar deren hartnäckigste Bemühungen, seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Michael war überzeugt davon, dass ich mir unnötig Sorgen machte, und wies zu Recht darauf hin, dass Kinder eben verschiedene Entwicklungsphasen durchlaufen. »Es ist alles in Ordnung mit ihm, Kris. Was auch immer er hat, es wird sich mit der Zeit geben.« Dann nahm er uns fest in den Arm, entlockte Jake ein vergnügtes Quietschen, indem er ihn am Bauch kitzelte, und ich war wieder beruhigt.
Tatsächlich war es meine Mutter, die als Erste in der Familie ahnte, dass das, was Jake gerade durchlief, keine vorübergehende Phase war. Unsere heile Welt bekam allmählich Risse.
Etwas stimmt nicht
Ich bin in einer ländlichen Gegend in Indiana aufgewachsen. Wir hatten sogar einige Nutztiere, meist eine Ziege und einen Hahn. Jedes Jahr im Frühling lieh meine Mutter von einem Bauernhof ein frisch geschlüpftes Küken für einen Tag aus – eine Tradition, die ich als Kind sehr liebte und auf die ich mich jedes Jahr von Neuem freute. Ich konnte es deshalb kaum erwarten, diese Erfahrung mit Jake zu teilen.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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