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Ein atmosphärischer Roman, in dem der zeitgeschichtliche Hintergrund immer wieder indirekt behandelt wird: Der an einer Amnesie leidende ehemalige französische Soldat Jean-Marie Aladin ist gerade aus seinem militärischen Dienst entlassen worden und wandert nun durch das Hessische Ried. Er überwintert auf dem dunklen Erlenhof, dessen Besitzer scheinbar in rechtsradikale Verschwörungen involviert ist...-
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Seitenzahl: 458
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Elisabeth Langgässer
Saga
Der Gang durch das RiedCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1936, 2020 Elisabeth Langgässer und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726482409
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
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– a part of Egmont www.egmont.com
im spätherbst des Jahres 1930 ging ein Mann über das verlassene französische Lager, das früher ein deutsches gewesen war und sich zwischen der hessischen Hauptstadt, umschließenden Tannen- und Birkenwäldern und dem großen Sande dahinzieht. Es nieselte langsam vom Himmel herunter, der Mann schlug den Kragen der Jacke hoch und rückte das Kappenschild noch tiefer in die Stirne. Auf den breiten Kasernenstraßen, die durch leere Barackenreihen, an Stallungen, Vorratshäusern und Kantinen vorüberführten, wuchs dichtes, grünbraunes Gras, das jeden Schritt verschluckte und den Wandernden wesenlos wie eine Traumgestalt machte, die, wenn sie auch rufen würde, von niemand gehört werden könnte. Noch vor kurzem hatten hier Feuerwerker aus Koblenz und Ludwigshafen den Übungsplatz abgesucht und die Blindgänger, Handgranaten und letzten Depots gesprengt – die Erde war damals zerstampft und der Himmel von dem Echo jener dumpfen Schläge erfüllt gewesen, die bis in das Ried hinein und noch weiterhin spürbar waren.
Jetzt aber herrschte Stille, eine blöde Taubheit gleichsam, die sich wohl noch der Töne erinnert, doch so sehr mit ihnen gesättigt ist, daß sie nichts mehr vernehmen kann. Manche Fensterscheibe war da und dort durch die Erschütterung eingefallen und starrte gezackt wie ein schwarzer Stern aus der bröckelnden Mauerfüllung; der rostigen Angel enthoben, hing eine morsche Tür schief zu der eigenen Achse; eine andere schlug unaufhörlich, von dem Zugwind angetrieben, bis zur Hälfte der Schwelle vor, wo ein üppiges Mooskissen wucherte, das sie geräuschlos abfing. Auch ein paar fetzige Wellblechbaracken standen neben den Backsteinbauten; sie waren rötlichgelb angelaufen und von der großen Versteigerung vor Wochen übriggeblieben.
Was diese Versteigerung anging, so konnte man damals glauben, in einer Stadt zu sein, die von Erdkatastrophen verschüttet gewesen und dann wieder ausgegraben und aufgebaut worden war: unter freiem Himmel stand, abgenutzt, das Inventar der Kasernen – alte Schränke, die jammervoll quietschten, verwanzte Betten und Öfen, welche glatt auseinanderfielen, ein paar Schemel mit starrenden Beinen, befleckte Bänke und Tische, deren Holz, wo es irgend anging, unzüchtig tätowiert war, nutzlose Eisenteile, die von Lumpensammlern hinausgefahren und auf halbem Weg wieder verloren wurden. Nur einige Feldbettstellen waren ungefragt hiergeblieben und jene Wellblechbaracken, die, zerrissen, als ob eine Schere sie geschlitzt und geschnitten hätte, ja, teilweise schon zusammengebrochen, in dem weiten Gelände ruhten und den Eindruck riesiger Raupen oder Fabeltiere machten, welche rasselnd niedergesunken, doch immer noch gefährlich und voll tückischer Drohung sind. Der Krieg hatte, wie ihm gemäß ist, wenn er irgendwo Abschied nimmt, seine leere Schale zurückgelassen, diese armselig rohen Kasernen, in denen er noch immer so gegenwärtig war, daß selbst die Allerärmsten sich nicht entschließen konnten, in den verlassenen Höhlen einen Unterschlupf zu suchen.
Der Mann trat dicht an die Häuser heran, welche Kreideinschrift und Zeichen ihrer früheren Bestimmung: »cuisine« und »l’infirmerie« oder Nummer und Abteilung der Truppenkörper trugen, und sah mit dem Gefühl eines vierzehnjährigen Knaben durch die verschmutzten Fenster in tote Räume hinein. Die Wände standen schweigsam um lauter Vergangenheit, trugen hier und dort einen schlecht vergipsten Haken und atmeten die Bläue der bröckelnden Leimfarbe aus. Sie waren eher klein als hoch und geräumig zu nennen und kamen doch dem Beschauer sehr groß und ferne vor – vielleicht, weil die Möbel fehlten, oder weil das Nacheinander so vieler Menschenleben, die hier eingedrungen waren, sich in ihnen gesammelt hatte. Indem er weiterging, erinnerte sich der Mann an ein seltsames Kindheitserlebnis. Seine frühverstorbene Mutter war die Frau eines Schlächters gewesen und hatte die Gewohnheit, ihn beim Austragen mitzunehmen. So waren beide zusammen in ein uraltes Haus gekommen, dessen Läden heruntergelassen und ohne Vorhänge waren. Es ging durch verschattete Korridore, ein Nußbaum nickte am Fenster, zwei blinde Messingleuchter hoben jeder fünf Finger hoch. Ein Schreibkabinett tat sich auf, danach ein dunkles Zimmer mit schweren Eichenschränken, ein kleines mit Spiegeln, ein großes mit Ölgemälden und dahinter noch mehrere, die immer seltsamer rochen, bis in dem allerletzten – –der Mann schloß beide Augen und suchte sich vorzustellen, was das letzte Zimmer enthalten hatte; doch sah er nichts als eine rötliche Woge, eine Welle von Blut, die das Gehirn überdrang. Seine Lider zitterten heftig und flatterten endlich empor: die Sonne brach schräg durch den Wolkenschiefer und erhellte mit blassem Lächeln ein graugelbes Zimmerloch, in dem zwei gespenstige Kinder wie Ratten schnell umeinanderliefen. Der Mann, mit furchtbar verändertem Ausdruck, stieß das angelehnte Fenster zurück, und während das größere Kind, ein schwarzgezopftes Mädchen, erschrokken »Vater« kreischte, schwang er sich über die Brüstung und fand sich im Raum allein. Eine Haarschleife lag am Boden. Der Mann hob sie gierig auf und zerkaute sie zwischen den Händen; dann ruckte er den Riemen des alten Tornisters hoch und ging erinnerungslos und über den Ort verwundert, an dem er sich befand, nach der offenen Türe zu, durch welche die Kinder verschwunden waren. In der Ferne stand ein Fuhrwerk mit kräftigem Gespann; ein Arbeiter lud Gerümpel auf und rief zu drei andern herüber, die etwas einzuschaufeln und zuzuschütten schienen. Als der Wanderer näher kam, sah er auch wieder das Mädchen und einen braunblonden Knaben, der sich nach schüchterner Kinder Art bei seinem Anblick verkroch, indessen die Gefährtin den Vater am Ärmel zupfte und nach dem Fremden wies.
Derselbe ging auf die Arbeiter zu, berührte den Rand des Kappenschildes und sagte still guten Tag. Die Männer grüßten zurück. Sie hielten in ihrer Beschäftigung ein und fragten woher und wohin. Nur die letzte Frage beachtend, gab der Mann die hessische Hauptstadt als nächsten Aufenthalt an. Dort müsse er noch sein Visum nach Frankreich stempeln lassen, wo er zu Hause sei und in den Pyrenäen eine kleine Weinwirtschaft habe. Erstaunten Blicken begegnend, erläuterte er spaßhaft, die guten Jahre hätten ihn bis heute zurückbehalten; er sei, seiner Sprachkenntnis wegen, bei der Reichsvermögensstelle in Dolmetscherdiensten gewesen, dann erkrankt, bei dem Auszug zurückgeblieben und jetzt erst wieder fähig, die weite Reise zu wagen. Die Leute sagten: so, so, halb ungläubig gegen den Fremden, der in dem alten Soldatenrock sehr ärmlich vor ihnen stand und mit der spitzen Nase im hageren Gesicht weit eher dem Gottseibeiuns als einem Gastwirt zu gleichen schien; halb nach alter Gewohnheit bemüht, eine höfliche Vorsicht walten zu lassen, wenn einer von Frankreich sprach.
Der Mann, ihr Mißtrauen fühlend, nahm seinen Paß hervor, entfaltete brüchiges und stark beflecktes Papier und wies auf den Namen »Aladin«, geriet in hastiges Reden, das plötzlich untermischt mit fremden Brocken war, lachte höhnisch auf und schwieg still. Die Arbeiter sahen einander an, und während einer von ihnen, der hinter dem Fremden stand, mit dem Daumenknöchel die Stirn berührte, hierauf nach rückwärts zeigte, wo der Ort lag, aus dem sie gekommen waren, beendeten die andern, ihre Handwerkszeuge zusammenwerfend, die Arbeit des Nachmittags und zogen wetterfeste, sandgraue Mäntel an. Es regnete jetzt wieder stärker, die rauhen Pferdemähnen waren dicht mit Tropfen besetzt, das Wasser klatschte und kluckerte in den braunen Blattmulden auf, erfüllte die herbstliche Luft mit verschleiertem Schwatzen und Rauschen und schoß die zerbrochenen Kandeln der Barackenmauern herunter.
»Warum grabt ihr denn diese Tröge ein, anstatt sie wegzufahren?« fragte der fremde Mann gespannt und wies auf halbverschüttete, verwaiste Tränken hin, als hinge von der Antwort die Enthüllung des Rätsels ab, das um den Ort hier webte.
»Es lohnt nicht«, versetzte einer, der mit vorgebeugten Schultern den Gußstein betrachtet hatte, und stieß mit dem Fuß darnach. »Überhaupt – was hier schon verscharrt worden ist . . .« seine Hand schlug schräg durch die nasse Gegend; er preßte den Mund zusammen.
»Ihr meint: von den Franzosen?« erkundigte sich der Mann.
»Das hat doch keiner behauptet!« fuhr ein anderer rasch dazwischen, schwang sich pfeifend auf den Wagen, in welchem die Kinder schon saßen, und trieb die Pferde an; die übrigen sprangen im Fahren auf, traten fluchend in Eisenspiralen, die von Sprungfedermatratzen herrühren mochten, und stolperten allmählich ein jeder auf seinen Platz, um mit angerückten Knien, ihre Oberfläche verkleinernd, sich mühsam zu vertragen. Die Räder knirschten noch lange durch die tiefe Einsamkeit, als schon Wälder, Ruinen und Nebelfetzen den Wagen eingeschluckt hatten, und die große Regenglocke gab den Schall getreulich weiter, bis er endlich nur noch ein Seufzen war und sich tränenmüde verlor . . .
Jean-Marie Aladin saß auf der Pferdetränke, schob den merkwürdig schmalen Kopf mit den gehöhlten Schläfen, die stark durchädert waren, zwischen hilflosstumpfe Hände und starrte auf die Erde, die soviel gefressen hatte und immer weiter fraß.
Da liegen, zwei Schuhe tief, zerbeulte Konservendosen mit stinkendem Fleisch und Fischen, die schon vergoren sind, Patronentaschen, durchnäßt von der verwesten Gallerte vergangener Embryonen, Zigarettenschachteln und leere Hülsen, die noch einmal hochgeschleudert und wieder verschluckt sein mögen. Fünf Schuhe tief stecken Silbermünzen aus den napoleonischen Kriegen. Sieben Schuhe tief blättern leise die fetten gelblichen Würmer zermürbte Schädeldecken erschossener Spanier, Schweden und deutscher Söldner um. Zwölf Schuhe tief ruhen Waffen und Schilde aus der eisernen Römerzeit und donnern dumpf in die Träume dieser ältesten Landschaft hinein... die Erde fraß immer weiter, fraß Fleisch, Erz, Gras, unterschiedslos in ihren dicken Bauch und trank Bäche von Blut dazu, die sogleich durch den lockeren Sand der Wanderdünen hinunterflossen, welche das Meer hier zurückgelassen und mit Muschelwerk angefüllt hatte, mit gewundenen kleinen Ohren, die den Einsturz des Rheingrabens angehört haben und von ihm so erschreckt gewesen sein mußten, daß sie durch Jahrmillionen nach oben wanderten, um wieder das Getöse der umgelagerten Zeit zu vernehmen: Geschützfeuer und Clairons-Signale und den feierlich grellenTrauermarsch der feindlichen Besatzung, wenn ein schwarzbrauner Kolonialsoldat, von Brechruhr und Regen durchnäßt, zu Grabe getragen wurde – –.
Eine lärmende Wolke fiel über den Mann, der mit einemmal um sich schlug, als ob er einem Heer von Harpyen zu wehren suche, eine Halluzination von kriegerischen Tönen, deren eherne Süße ihm Herz und Hirn wie faules Werg verzehrte, ihn bis auf die Knochen ausfraß und mit den dürren Beinen einen Trommelwirbel begann: Aladin, Aladin, Aladin und wieder Aladin, bis der Leichenzug vorüber und ein aufgescheuchter Krähenschwarm, den der Fremde jetzt zwischen Wasserschleiern an dem grauweißen Himmel wahrnahm, wie ein Schattentheater verschwunden war.
Nun fand er sich wieder zusammen und rückte an seiner Krawatte, als ob ihm diese Bewegung einen Halt zu geben vermöge; doch während er seine Jacke mit den blinden Metallknöpfen öffnete und dann in verquollenen Löchern umständlich wieder schloß, kam ihm traurig zu Bewußtsein, daß er an seinem Kragen wie ein Mann an dem Fallschirm baumelte: Wolken oben, Wolken unten und ringsum Einsamkeit. Was über ihm war, wer wußte es! doch kam er langsam der Erde näher und fühlte sie schon in den Zehen, bevor er landete, kippte plötzlich nach vorne über und hatte Sand in den Händen, der, weil er naß war, sich ballte, als ob er ein fruchtbarer Mutterschoß voller Samen und Sagen wäre.
Er klatschte ihn wie ein Kind, das Kuchenbacken spielt, drückte Dellen und Muster hinein und plattete ihn wieder, wobei er sich einer Geschichte entsann, welche Philipp, ein Irrenwärter in der Heilanstalt Goddelau, ihm gestern abend berichtet hatte.
Sie beide, Aladin und der starke alte Mann, den man rief, wenn einer von Tobsucht oder Brunst befallen wurde, saßen still auf einer Bank, die dem hungrigen Blick erlaubte, in das kalkhelle rheinische Hügelland und auf die Mauerflächen der Katharinenkirche in Oppenheim zu gehen.
»Du bist also jetzt geheilt, und deine Frau hat geschrieben, daß alles richtig ist. Nur, daß es kein Nußbaum wäre, der unter dem Schlafzimmerfenster steht, vielmehr eine junge Pinie, die heute schon Zapfen trägt. Nun, nun, daran wirst du dich auch schon erinnern, wenn du nach Hause kommst –« begütigte Philipp den Mann, dessen Knie sich unruhig spannten. »Hauptsache ist für den Augenblick, du weißt nun wieder den Namen, auf den du getauft worden bist, und mehr«, er lächelte listig, »weiß ja keiner im Grunde von sich. Man heißt eben, wie man muß – und muß vielleicht, weil man so heißt«, sinnierte er dann weiter, schob seine Stummelpfeife zwischen abgebrochenen Zähnen herum, bis sie fester eingeklemmt war, und brummelte vor sich hin, zuletzt komme Staub zu Staub, und es gäbe wohl Totensteine, die einen Namen zeigten, deren Träger schon weitergerutscht und unter den nächsten gerieselt sei, denn der Erde wäre nicht wichtig, wer unter ihr verfaule, und ob sie Wegerich, Weizen oder Wolfsmilch daraus mache. Wer das bei lebendigem Leibe einmal begriffen habe, dem könne nichts mehr geschehen, und habe ihn einst sein Name von der Nabelschnur abgeschnitten und Hans oder Peter geheißen, so fiele es solchem Menschen nicht schwer, im Nu auch wieder zusammenzuklappen, was jeder als offenes Messer in seinem Hosensack trüge, um den anderen damit hinzumachen. Das täten ja wohl auch die Mönche, wenn sie eins mit dem Himmel würden – sie tauschten freilich dafür einen neuen Namen ein – und noch besser hätte dasselbe ein tapferer Mann vollbracht, der drüben an dem Altrhein in einem Weiler wohnte, der im Schwedenkrieg unterging. Dies ist nun die Geschichte, welche Philipp, der Irrenwärter, dem Aladin erzählte, bevor er Abschied nahm:
Das Hauptheer Gustav Adolfs war schon vorübergezogen und hatte den Rhein überschritten, als noch ein Nachtrupp ankam, Gesellen ohne Führer, die wie streunende Hunde fraßen, was der Löwe etwa verschont oder übriggelassen hatte. Denen war es zu Ohren gekommen, daß an dem Ausgang des Dorfes ein Hostienbäcker wohne, ein kluger, älterer Meister, der jedoch keineswegs ein stiller Betbruder war. Von ihm und seinem Gewerbe versprach sich nun die Horde besonderes Vergnügen und drang mit Geschrei in die Hofstatt ein, um ärgerlich festzustellen, daß kein Stäubchen Mehl mehr im Haus und der Backofen niedergebrochen war. Doch fand sich unter den Trümmern ein altes Hostieneisen mit den heiligen Initialen, und sie zwangen den Meister, Erde, mit Kot und Wasser vermischt, dem Eisen einzufüllen, die Hostien auszupressen, sie in offenem Feuer zu härten und einzeln herauszunehmen. Er tat auch, was sie wollten, es wurde Messe gespielt, der Bäcker machte den Priester, und als es zur Wandlung kam, rief er pfiffig: »dies ist mein Leib – dies ist mein Blut« über jedes Stück, das die Schweden besudelten, ward also selber zu Dreck und Urin und rettete, was ihm wert war, indem er sich aufgab und seinen Namen der Spottgeburt einverleibte. Nun, am Ende wurde er niedergestochen und rann in die Erde aus; wahrscheinlich, wie Philipp meinte, weil das Pläsier nicht so groß war, wie die Schweden sich vorgestellt hatten.
Dies war die Geschichte, die Aladin beikam, und indem sie der arme Mensch noch einmal überdachte, befiel ihn, obwohl er nicht recht verstand, was der Wächter mit dieser Erzählung ihm hatte sagen wollen, die wunderliche Magie der Namengebung so mächtig, daß er fast mit Sicherheit wußte: die Inschrift auf seinem Paß möchte zwar die letzte sein, auf die er gelautet habe, doch stünden wohl noch frühere, ihm unbekannte, dahinter, und »Jean-Marie Aladin« wäre nichts als eine Verkleidung, eine Schutzfarbe oder Schreckform, die er angenommen habe, um irgendeiner Verfolgung, die aus dem Boden stieg, auszuweichen.
Wie aber – er atmete tief und wollüstig vor sich hin – wenn er nicht eher ginge, als bis er hinter den Tag und die Stunde geraten wäre, die das Leben für ihn verriegelten; wenn er wirklich, wie Vogel Strauß, den Kopf in den Sand hier steckte – nicht um sich zu verbergen, sondern endlich herauszubekommen, was ihn da anrufen wollte? Denn Paß und Bild waren falsch; er wußte jetzt auch die Stelle, den rosagetünchten Durchgang des Militärbordells, wo er von einem Araber das Papier entgegengenommen, einem muffigen Mohammedaner, der einmal saufen wollte und für ein Fläschchen Schnaps den toten Aladin, verstorben an einer Magengrippe, um seinen Ausweis erleichtert hatte. Er war in die fremde Haut geschlüpft, als sei sie ihm angemessen, und hatte er anfangs gefürchtet, sie möchte ihm zu weit und daher Anlaß sein, daß er mit ausgelappten und schlotterigen Händen die gefährlich neuen Dinge vom Brett herunterstieße, so fühlte er bald mit Befriedigung, daß sie wie angegossen um seinen Körper saß. Er kannte nicht die Sage von dem Hemde des Zentauren, doch nicht anders als Herkules erging es Aladin: was ihn umschlossen hatte, fraß tückisch in seinen Adern und zerstörte, vergiftete, verbrannte das Gewebe, bis er plötzlich in Flammen stand und später im Irrenhaus wie eine gelöschte Kohle unter eisigen Duschen lag. Der Name war mitverbrannt, so schien es wenigstens – aber während er noch im Winkel saß, tauchte jener schon wieder auf und baute seinen Träger in einen anderen um, so wie man Silbe um Silbe zum Wortleib zusammenfügt. Eines Tages ertappte er sich bei einer fremden Bewegung. Er krauste mit Daumen und Zeigefinger die Oberlippe empor, als ob da ein Bärtchen säße, und wußte im nämlichen Augenblick, daß dies Jean-Marie Aladin war; verbarg wie ein Dieb die Hände und nahm sie erst, als er allein war, vorsichtig wieder heraus. Die Nägel waren abgebissen und bläulich unterlaufen, was ihnen ein merkwürdig stumpfes und totes Aussehen gab; auf dem Handrücken traten die Adern hervor, obwohl das ganze Gebilde eher fleischig als mager war, und der Daumenballen hob sich sehr feist aus dem mageren Handteller auf, der eine Kräutersuppe von Wurzelwerk, wilden Lianen und dürren Linien enthielt, die sämtlich abgebrochen und unvermittelt am Ende schienen. Diese Hände gehörten ihm nicht, er wußte es untrüglich, obwohl er sie niemals vorher mit Bewußtsein betrachtet hatte, doch wiederum waren sie ihm auch nicht fremd und schlugen ihm jede das Bilderbuch ihrer Herkunft und Geschichte auf: Die Narbe da – plötzlich sah er sich auf einer Steintreppe sitzen, die in ein Gasthaus führte, aus welchem Geruch von Most und frischen Walnüssen kam, Geklapper von Würfelbechern. Ein Busch aus Espenzweigen, von bunten Bändern geschnürt, hing über seinem Scheitel, oh wie hoch, wie weit, oder war er damals besonders klein gewesen, ein winziger Bursche noch; ja richtig, so mußte es sein. Aus der Tür trat nachher ein Mann und spielte schaurig mit ihm, hielt ihm ein Messer vor und tat es rasch wieder weg, bis endlich das Kind die Schneide faßte und sich quer durch das Händchen zog. Blut, Silberblitz nasser Blätter, die spiegelhell flatterten, Geschmack von zuckrigem Wein und salzigen Knabentränen rann augenblicklich zusammen und schwemmte das Bild wieder fort . . . Hier jene Fingerkuppe, die halb verstümmelt war: von neuem erschien der Mann, je, je, natürlich der Vater war es, dem er zitternd ein Hühnchen festhielt, das umgebracht werden sollte. Das Hackmesser fiel zu kurz und hieb ihm in den Daumen, dessen Nagel niemals mehr die rechte Form gewann. . . Aber dies, er lächelte schön, dies nelkenrote Grübchen inmitten der Tellermulde, welches tiefer als alle anderen Zeichen und unterdünnerer Haut lag, war die Stelle, wo seine Mutter, ein Kinderverschen brummend, ihr Bübchen manchmal gekrault und dumpf getröstet hatte . . .
Der Mann hob seinen Tornister an, dessen Riemen im langen Sitzen sich eingeschnitten hatten, und starrte über die Ebene mit den Dämmerstreifen der Nadelhölzer nach der schwimmenden Bergstraße hin. Dort mußte der Regen nachgelassen haben; zerfetzte Nebelschwaden wallten in unaufhörlicher Verwandlung herunter, und feucht verhangenes Licht legte sich abschiednehmend über die Gipfel. Hier unten aber rauschte, prasselte und schäumte das unersättliche Wasser noch immer, drang dem Mann zwischen Jacke und Waffenrock bis auf die Rückenhaut und preßte sich bei jedem Schritt glucksend und schwappend in seine geschnürten Schuhe. Nach einem Unterschlupf suchend, fing er zu laufen an. Er kam an Vorratshäusern vorüber, deren eisenbeschlagene Tore mit Hängeschlössern versehen und eingequollen waren; die zerbrochenen Fenster dagegen standen gleichgültig allem offen, und Spinnwebnetze hingen vor dem Dunkel, das von Balken durchzogen wurde, zwischen denen ein Heubüschel wehte, ein Kornhalm oder ein Strohwisch, der dem frierenden Wanderer vorkam wie der verlassene Rest an dem Spinnrocken jenes Schicksals, das plötzlich abgerissen, doch noch lange nicht verwunden und eingewoben war. Die andere Straßenseite liefeine rohe Reihe von Mannschaftsaborten her, dann kamen einige Häuser, die gut erhalten waren: Schreibstuben, Unterrichts- und Schalterräume bergend, hierauf zerstreute Villen und etwas weiter zurück das hölzerne Oflizierskasino, das unter großen Kiefern auf erhöhtem Gelände lag.
Eine Treppe führte hinan, und als der Fremdling den Fuß auf sie setzte, fiel eine faulende Stufe krachend in sich zusammen. Er rutschte, kollerte abwärts und kletterte aufs neue den glatten Nadelboden unter leisem Schimpfen empor, stieß mit Gewalt eine Tür zurück, die allzu rasch nachgab, anschlug und ihn wiederum fluchen machte, und befand sich in dem Gesellschaftszimmer des Offizierskasinos. Sofort war das Lustgefühl des leeren Raumes da. Einen Krampf auf den Nägeln verbeißend, blieb der Mann an dem Eingang stehen und schaute im Saal umher. Die Vorhänge waren abgenommen, doch hing eine Samtportiere, von Fliegenschmutz, Staub und Alter ergraut, vor der Tür zum hinteren Zimmer, das ihm, als er sie lüftete, einen Schanktisch und Hirschgeweihe, die gespenstig von fleckigen Wänden drohten, im schwefligen Spätlichte wies. In der Mitte des vorderen Raumes stand der Billardtisch, dessen grüner Bezug an den Rändern zerrissen war. Darauf befand sich noch eine Kugel, die neben dem langen Stock wie ein Totenköpfchen lag, das vom Halswirbel abgefallen und blankgescheuert ist. Der Mann griff begierig zu, faßte an und zielte und stieß; die Kugel rollte unhörbar und schlug an dem Tischbord an, klung, klung, wie wenn ein Stein hinab in den Brunnen fällt. Doch war dies schon mehr an Antwort, als der Fremdling ertragen konnte. Er warf den Billardstock fort, preßte die Hände fest an seine erschrockenen Ohren und sang mit schallender Stimme, die von den leeren Wänden zurückgeworfen wurde, ein Kinderlied vor sich hin:
»Au claire de la lune,
mon ami Pierrot . . .«
einen Augenblick hielt er an sich und schrie dann schluchzend hinaus: »Pierrot! Pierrot! Pierrot!« hierauf, sich langsam beruhigend:
»prêtez-moi ta plume,
pour écrire un mot . . .«
die Strophe endete hier, und der Mann wiederholte langsam: »pour écrire un mot«, er hob den Kopf, nahm die Hände und wölbte sie hinter den Ohren, wie ein Schwerhöriger tut, der angestrengt lauschen muß. »Hé? s’il vous plait? « fragte er dann in ekelhaftem Diskant. Es war fürchterlich lange still. Regen und Sturm hatten nachgelassen; die Natur verhielt ihre Kräfte, redete nicht, murmelte nicht, flüsterte nicht, tröstete nicht. Eine weiße, gräßliche Leere schwoll blasengleich um ihn an ... er wich mit gespreizten Fingern bis an den Vorhang zurück – da dröhnte Schlag um Schlag. Das Gelände war von Donner erfüllt, der irgendwoher kam und ohne Ursache schien. . . Wie von Ochsenhörnern gestoßen, fuhr Aladin schreiend empor, lief aus der Tür, den Grashang herunter, überstürzte sich, stolperte, fiel, raffte sich wieder auf und floh vor der Tuba der Erde, die ihn gerettet hatte. Schlag. Schlag. Schlag. Der Boden erinnerte sich, die Lüfte zitterten und wiederholten gehorsam den oft vernommenen Schall. Hatten Krähen oder Dohlen übersehene Blindgänger aufgehämmert? War ein Wagen darüber gefahren? Oder hing das Gedächtnis der Vorzeit noch immer wie eine Glocke in dieser Satanskirche und brauchte nur leise berührt zu werden, um schrecklich anzuschlagen? Vielleicht verhielt es sich wirklich so, denn Aladin allein schien die Töne wahrzunehmen. Im raschen Vorüberstürzen sah er den kleinen Karren zweier Holzleser wartend am Wege stehen; einen Steinwurf weiter sammelten die Leute schweigend und versunken die Reiser auf, welche der Sturm vorhergegangener Nächte in Scharen herabgepeitscht hatte. Die Waldschneisen dampften von Feuchtigkeit und waren dunkle Schlünde, voller Lemurenspuk, voll widerlicher Gestalten, die sich vereinigten, lösten und in die Baumwipfel wogten, die leise brandeten . . .
Der Mann bog eilends nach Westen ab und lief jetzt auf den Pfaden, die noch vor wenigen Jahren von Patrouillen gewimmelt hatten, von übenden Kompanien, deren flinke Maschinengewehre hier ausgerichtet waren, um das blutige Handwerk des Krieges als Kinderschreck weiterzutreiben. Wenn scharf geschossen wurde und auf dem großen Sande der Fesselballon sich blähte, fingen Schieber und Heimwehsüchtige an, sich auf die Socken zu machen, und brachten Herz oder Ware: Kartoffeln, Feldgemüse, französische Seife und Weißbrot unter Lebensgefahr über die Grenze. Eine Frau war damals erschossen worden und tappte hernach noch lange, das Zwiebelnetz über dem Rücken, des Nachts im Walde umher. Wer ihr begegnete, wurde hart bedrängt und gezwungen, das Grenzschild umzuwerfen, wo, schwarz auf weißem Grunde, die fremden Worte standen: »limite, zone occupée«. Jean-Marie Aladin war damals schon auf dem Lager gewesen und entsann sich jetzt auch der Geschichte: daß ihr ein junger Franzose diesen Liebesdienst sollte verweigert haben. Den zog sie auf ihre Knie und drückte ihn, daß ihm die Luft verging, biß ihm die Lippen entzwei und versengte mit feurigen Fingern sein schwarzgekraustes Haar. Als es dämmerte, ließ sie ihn los. Er kroch auf seinen Posten zurück und beschoß, als er abgelöst wurde, die eigenen Kameraden. Mit Mühe banden sie ihn und schleppten ihn zum Lager, wo sein Genick sich nach hinten zog und er in Fieberkrämpfe und Zuckungen verfiel, dabei wieder und wieder erzählend, wie die Frau ihn auf ihren Schoß gehoben und zärtlich gemartert habe. Am Ende verklärte er sich und verschied mit jenem Ausdruck, den ganz kleine Säuglinge haben, wenn sie beim Trinken sind. Der Feldscher hatte freilich behauptet, er sei an einer Schenkelwunde, die er sich bei den Übungen zugezogen hatte, gestorben. Es war Erde hereingekommen und hatte Starrkrampf verursacht – nun, so oder so: ihre Rache hatte ihn heimgesucht und mit ihm die ganze Besatzung erschreckt, die bald darauf abgerufen und durch Farbige ersetzt worden war . . . Jean-Marie Aladin lachte leise vor sich hin; dann, über sein Lachen verwundert, das ihn selber mit Schande schlug, erwischte er sich darüber, die Frau herbeizuwünschen und das Mütterchen zu umarmen, das so gefährlich war. Tapp, tapp, ging es durch das Unterholz; er blieb stehen, wie vor den Bauch geschlagen, und auch die Schritte schwiegen, um wieder weiterzutappen, sobald er sich fortbewegte. Nun kam ihn wirklich Furcht an. Er rannte, sah schwarzes Mauerwerk durch fahle Stämme prallen, von Feuchtigkeit berieselt, die es heller überschlug, lief weiter, nahm Kugelfänge wahr, die wie Galgen zum Himmel ragten, stieß eine ächzende Tür zurück und war in einem der Munitionsgebäude, die an den Schießständen stehen. Puh – völlige Finsternis. Er knipste die Taschenlaterne an und ließ den scharfen Lichtstrahl in alle Ecken wandern. Am Boden lag eine Feldmatratze; als er sich fallen ließ, rauschte Staub und stechende Spreu empor. Er griff nach dem Knopf des Lämpchens und drückte ihn gedankenlos, schon von Schlaf bezwungen, herunter. Eine riesige Frau kam herein und deckte sich über ihn, begrub ihn in ihren Armen und lehrte ihn, sie zu erkennen – eine ganze Oktobernacht. In der Frühe zog sie wie schmutziger Rauch zum Fensterloch hinaus und blieb noch eine Weile in den nassen Baumkronen hängen. . . Der Mann erwachte stöhnend und setzte sich blinzelnd auf. So blieb er stumpfsinnig hocken, bis es vollkommen Tag geworden war, grub dann ein kleines Stück Kreide aus seiner Hosentasche und torkelte vor die Tür. Die eine Mauerseite, durch einen Dachüberhang verhältnismäßig geschützt, war völlig abgetrocknet. Mit großen lateinischen Zeichen schrieb Aladin auf die Behausung: »Ventre de la mort« und darunter: »Mutterleib«.
zwei holzfäller, welche an diesem Tag in der Nähe der Schießstände rodeten, hörten jedesmal ein Echo, wenn ihre Axt einschlug. Sie machten einander aufmerksam und glaubten jetzt auch die Schläge, es war aber mehr ein Hämmern, für sich allein zu hören. »Ein Schwarzspecht!« lachte der Ältere und meinte damit einen Holzdieb, einen der Arbeitslosen, deren Väter schon im Ruhrkampf das kurze Beil ergriffen und sich in Rudeln aufgemacht hatten, in die schwarze »Tanne« zu gehen – nicht um die Liktorenbündel der Fremden aufzulesen, sondern weil die Grenze gesperrt, die Ruhrhilfe ausgeblieben und das Blut jener Männer aufgepeitscht von ruhelosem Warten, Gewehrfeuer und Erinnerung an den Schützengraben war. Er starrte nach einem Föhrenschlag hin, der, mit Birken untermischt, von kleinen Espenbüschen, die noch ein wenig Laub an den rötlichen Stengeln trugen, am Fuße aufgehellt wurde: der Himmel darüber klärte sich und wehte in Wolkenschleiern wie ein Fahnenwald auseinander.
»Ja«, redete er weiter und schlug nun seinen Gedankenfaden in das vermorschte Gewebe entwanderter Standarten, »das Räubern ist jedem im Rock und unter der Haut geblieben, der den Ruhrkrieg miterlebt hat.« Er lachte, nahm Dörrfleisch und Brot aus dem Rucksack und hielt eine braunumfilzte, französische Feldflasche hoch, die mit heißem Kaffee gefüllt war. Sie setzten sich auf die brüchigen Stümpfe zweier gefällter Bäume, verzehrten ihr Vesperbrot. Der Jüngere kratzte gedankenlos die eisgraue Flechte ab, blies einen Borkenkäfer von der gekrümmten Hand und fragte gelangweilt hin: »was hattet ihr bloß davon? Reich geworden ist doch keiner durch diese Narretei.«
»Darnach hat auch niemand gefragt«, versetzte der andere Mann; »es juckte uns eben an Händen und Füßen, als ob wir Krätze hätten, so haben wir uns gescharrt. Wer über das Lager kam, grub Spitzkugeln aus, bis der Hosensack schwoll, oder band sich, wenn er ein Weibsbild war, Patronentaschen unter, daß der Bauch wie im sechsten Monat vor seinem Schürzenband stand; wir waren auch neugierig, weißt du, hinter andere Türen zu sehen, und mancher hat damals den Dietrich in fremde Schlösser gesteckt.«
Sein Kamerad sagte gierig: »ihr hattet das schönste Leben, und wenn man über dem Dorf ein Dach errichtet hätte, so war es ein Hurenhaus.« Er nahm eine Speckseite, schnitt hinein und ließ langsam das schartige Messer durch das durchwachsene Fett und den glänzenden Knorpel knirschen.
Der Ältere wollte lachen; besann sich und rückte die Mütze von dem einen aufs andere Ohr. »Wie soll ich dir das erklären –?« sagte er dann gequält. Sie aßen stillschweigend weiter und bliesen die Krümel ab, als sie gesättigt waren; zogen Pfeifchen hervor und rauchten, belauerten sich tief.
»Du wirst es mir nicht glauben«, murrte endlich der Ältere, »daß kein Vergnügen dabei war.«
»Es juckte euch nur eben«, höhnte feindlich der junge Bursche und griff nach seiner Axt. Sie nahmen von neuem die Arbeit auf und hörten erst an dem eigenen Schlag, daß der Fremde dort drüben verstummt war. Darüber betroffen, hielten sie ein und sahen einander an.
»Es ist nicht geheuer im Walde«, bemerkte der junge Fäller. »Das ist es noch niemals gewesen«, versetzte der andere Mann.
Er legte den Kopf zurück, schnupperte: »riecht es schon wieder nach Morcheln?«
»Nach Morcheln . . .?« fragte zitternd der Bursche.
»Dann schaukelt ein Selbstmörder hier in der Tanne und fällt jetzt stinkend vom Fleisch.«
»Und der Kopf klappert gegen den Baumstamm?« »Nein – das nicht. Es geht ja kein Wind.« Der Ältere schaute starr in die düstere Fichtenschonung. »Es ist gar nichts . . .« er wandte sich um und sah den Burschen an. »Du hast ja noch Sommersprossen . . .« aus dem käsigen Antlitz des Jungen traten braunrote Pünktchen hervor, seine Nase war spitz geworden und stand für sich allein. »Man sollte es nicht glauben«, sagte der andere, »daß alles wiederkommt, was die Gegend einmal gesehen hat und die Erdlöcher eingeschluckt haben. Dort, wo wir die Schläge hörten, ist ein zugeschütteter Fuchsbau – ich habe selber geholfen, den Sand darüber zu schütten –, in dem ein ermordetes Kind von dem Lagerverwalter gefunden wurde. Es war ein kleines Mädchen, entsetzlich zugerichtet, du kannst dir denken, wieso. Am ärgsten sahen die Sohlen aus; es hatte keine Schuhe und mußte gejagt worden sein. Ein Glück, daß es nicht in das Dorf gehörte, sondern in eine Wagenfamilie, die damals schon weitergezogen und über der Grenze war. So wurde nicht erst Untersuchung gehalten. Die Belegschaft wechselte bald darauf, und wir alle hatten Schlimmes genug, jetzt und im Weltkrieg, gesehen, um das Schlimmere rasch zu vergessen.«
»Und machtet neue Kinder, von denen niemand gewußt hat, wer denn ihr Vater war«, ergänzte der andere. Der Kamerad sah betroffen auf das Werkzeug in seiner Hand. »Was nützt es, den Vater zu kennen«, erwiderte er dann. »Du weißt doch, daß wir uns hier im Ort nur nach der Mutter nennen, wie das schon immer so war, und mancher erst bei der Hochzeit den richtigen Namen erfährt, der in der Rolle steht. Nun, dazumal, in dem Ruhrkrieg, ging alles durcheinander, wie Tiere in dem Wald. Wir räumten fremde Äcker ab und schliefen bei fremden Weibern; wir haben kreuzweis geschlafen: die Mutter versuchte den Schwiegersohn, bevor ihn die Tochter hatte, und wieder kurz danach. So wurden sie beide schwanger, und ihre Kinder, das weißt du ja selbst –«
». . . heißen Zwillinge«, sagte der Jüngere kurz. »Manchmal denke ich, alles war nur geträumt«, fuhr der erste undeutlich fort. »Und sehe ich drüben die Lagerhäuser, so kneife ich mir in den Ellenbogen und weiß nicht, was es bedeuten soll, daß sie noch immer dastehen.«
»Ach, Träume sind Schäume«, sagte der Bursche.
»Ja, Schäume . . .«, erwiderte jener, »doch wer den Feldwebel fortbläst« – er meinte damit nach der Mundart: den Schaum auf seinem Biere –, »der sieht dem Glas auf den Grund.«
»Nun«, sagte der andere lustig, »der Feldwebel ist ja fortgeblasen und wird nicht wiederkommen, das Lagerbier freilich ist dünner geworden, und die Gemeinde vergibt wohl bald die Häuser an Wohnungslose.«
»Das geht nicht«, sagte der Alte, »es ist alles verwanzt und verlaust.«
»Dann räuchert man eben.«
»Du bringst nicht heraus, was in den Wänden steckt.« Sie rodeten jetzt weiter und brachten die Wurzelstöcke, an welchen Engerlinge und dürre Käfer hingen, aus der sandigen, feuchten Erde, die nach fauligen Blättern roch. Mit einemmal bückte der Junge sich und hielt ein zerfetztes Portefeuille aus feinem Juchtenleder ungläubig in der Hand. »Zeig her«, befahl der Ältere ruhig und reinigte seine Finger, nahm die Brieftasche, öffnete sie und hielt ein französisches Notenstück, eine alte Kantinenrechnung, ein Kartenblatt: Herzdame, prüfend gegen das Licht.
»Das Geld ist noch gut . . .«, er tat das Papier auf den Boden und legte ein Steinchen darüber, »wir beide verbrauchen es.«
»Du mußt es aber erst wechseln«, entgegnete der Junge und sah das Kartenblatt an.
»Keine Sorge«, versetzte der andere heiser, »ich weiß wen, die nimmt es auch so . . . was hast du?« Er beugte sich über den Burschen: »das meine ich eben, du Narr.« »Eine solche!« keuchte der andere und starrte auf das Blatt. Die Königin war mit Blaustift schamlos nach unten verlängert, ihr Gegenkopf ausradiert. Der Ältere flüsterte, Tau an der Wange, da es schon dämmerte: »Ein Bordellmädchen ist zurückgeblieben . . .«
»Und wohnt noch auf dem Lager?«
»Ja – wo die Soldatenkirche mit dem offenen Glockenstuhl steht.«
»Eine schöne Nachbarschaft«, sagte der Junge und versuchte, gemein zu lachen.
»Der Teufel sitzt immer daneben und blättert in seinem Gebetbuch, von dem du ’ne Seite gefunden hast.«
Nun trugen sie Reisig zusammen und warfen es über die Stümpfe, entzündeten ein Feuer und schoben das leere Portefeuille, die Spielkarte und das Vesperpapier mit ihren Schuhen hinein. Weil die Luft sehr feucht war, qualmte die Glut und biß wie ein wütendes Tier, das sich klein macht gegen den Rauch. Die Herzdame rollte zusammen, das zerrissene Futter der Tasche brannte langsam und lange aus. »Gehen wir?« fragte der Junge. Sie nahmen ihren Rucksack und banden die Werkzeuge ein, verschnürten ihn, setzten ihn auf und marschierten, den Daumen am Riemen, auf die dunkeln Schießstände zu.
»Wo hast du das Geld?« fragte plötzlich der Alte. »Vergessen«, gab der Bursche zurück und wollte sich wieder wenden. »Ich hole es«, sprach der andere rasch, »du wartest am Kugelfang.«
Der Junge ging weiter, pfiff vor sich hin und stellte die Schultern hoch. Es nieselte jetzt aufs neue, da und dort brachen dürre Ästchen herunter, und Waldmäuse raschelten. Der Bursche entsann sich, daß dieser Sommer, welcher naß und madig gewesen war, die Tiere angereizt hatte, sich fürchterlich zu vermehren – weiter drinnen im Ried gab es Felder, die bei Tage von ihnen wie überschwemmt und unter den wandernden Rücken fast völlig verschwunden waren; die Leute pilgerten scharenweise zu der ägyptischen Plage und starrten das Wunder an. Ein Brechreiz stieg in dem Arbeiter hoch, seine Füße glitschten und suchten nach Halt, dabei hatte er das Empfinden, auf Mäuseleiber zu treten, die, fett und erfüllt von junger Brut, auseinanderzuplatzen schienen. Nun tauchten zwischen den Bäumen die Kugelfänge auf und hoben ihre Galgengerüste sehr still in den herbstlichen Himmel, der krähengrau dunkelte. Der Bursche, noch immer pfeifend, ging, wunderlich durchlöchert und schwach in den Fußgelenken, auf den ersten von ihnen zu und wartete in der Schußbahn, die schon von Nesseln, Wollkraut und Gras überwuchert war. Ihn fror jetzt, er wurde sich selbst zum Gespenst und versuchte, die Begierde von vorhin zu erwecken, indem er sich an das Kartenblatt mühsam erinnerte; doch rollte es immer wieder, kaum gegenwärtig, zusammen und brannte wie unter Rauch. Er wölbte die Hände vor seinem Mund, blies, hauchte und fachte das Feuer an und sah nun deutlicher, was er zu sehen wünschte. »In das Herz getroffen?« flüsterte er, und dann: »in das Schwarze getroffen!« Als habe er einen Witz gemacht, fing er lange zu lachen an, lachte leiser, lallte vor Schrecken und fühlte, er war nicht allein. Vorsichtig wandte er seinen Kopf, als ob ihn ein Hexenschuß angerührt hätte, und blinzelte empor. Auf dem verfallenen Dach des Munitionsgebäudes saß ein Affe – nein: ein Zuave – nein: ein Gerippe in einem Soldatenmantel und blickte fürchterlich her. Der Bursche schrie wie von Sinnen und lief gegen Norden hin, verfing sich in glatten Wurzeln, in Ginster- und Brombeersträuchern, die ihn umarmen wollten, stürzte nieder und fühlte die Woge der Wollust ihn, mit Grauen vermischt, überströmen. Als er aufstand, blutete seine Hand; die Kappe war abgefallen. Er leckte die Wunde, umwickelte sie mit seinem Taschentuch und suchte nach der Mütze; erkannte sie endlich, bedeckte sich wieder und schlich wie ein geprügelter Hund auf die nahe Landstraße zu . . .
Jean-Marie Aladin sah ihm, vom Dach seiner Hütte aus, ohne Laut und Bewegung nach. Er hielt noch immer den Hammer, mit welchem er die geteerte Pappe, die ausgefetzt war, vernagelt hatte, still in der starren Faust. »He – Peter!« rief jetzt eine Stimme. Der ältere Holzhauer näherte sich und kam zu den Kugelfängen, schaute um und rief aufs neue; dann zuckte er mit den Schultern und wanderte davon. Er ging nach der Richtung des Lagers auf die Braunshardter Hausschneise zu; der Weg war angestiegen und führte ihn in das Dünengelände, wo noch ein alter Entfernungsmesser schräg in dem Sande stak. Hier war auch die Lagergrenze und das doppelsprachige Schild, welches abgehärmt mit den Zähnen fletschte und das Betreten des Platzes bei schwerer Strafe verbot. Der Arbeiter, als er vorüberkam, klopfte leis mit dem Knöchel des Zeigefingers an die vergitterte Fläche – ein klappernder Fensterflügel in einem Verwaltungsgebäude rief unaufhörlich: »herein«.
Nun war es völlig Nacht geworden auf dem einsamen Totenfelde. Der Mann ging zwischen den Häusern hin und nahm, wie ihm dünkte, die Geisterparade der eigenen Träume ab. Sie waren sehr offen und hatten Riegel, die lose herunterhingen, doch mochte sie keiner betreten; ihre Türen quollen im Rahmen und waren breiter geworden, von Grasschwellen angehemmt, so daß es dem Wind nicht möglich war, sie von innen her aufzudrücken; jeder Raum verbarg einen andern und dieser wieder einen; doch sich aufzuhalten, war sinnlos, denn alle waren leer. So stellte sich nun einmal das Leben heute dar: »nichts dahinter!« sagte der Mann sehr laut, griff nach der Taschenlaterne und schnitt sich einen Weg durch Ängste und Dunkelheit. Doch nun vereinzelte jeder Baum, jede Fensterhöhle, und jeder Stein wurde scharf und schäbig am Rande. Auf elende Weise ernüchtert, ging der Arbeiter mißmutig weiter, als ihm plötzlich vorkam, ein Lichtschein dringe rötlichgelb und flackernd aus einer Seitenstraße. Erschrocken deckte der Mann mit beiden Händen das Lämpchen zu und hielt den Atem an – wie er wußte, trieb sich sehr häufig landfremdes Räubergesindel hinter dem Schießplatz umher. Auch dachte er an das Lagermädchen und ob sie ihr Haus gewechselt habe, schlich, zauberisch angezogen, auf das Helle von hintenher zu und kroch auf allen vieren bis an das niedere Fenster einer steinernen Hütte hin. Es war unbedeckt, aber geschlossen, und als der Mann sich emporhob, sah er deutlich den ganzen Raum.
Von der Decke hing eine Petroleumlampe und warf einen runden Lichtschein auf den rostigen Eisentisch, der in der Mitte stand und ein offenes Köfferchen mit seidenen Halstüchern, Socken und bunten Krawatten trug. Den Rücken zum Tisch, saß ein Knabe auf einem winzigen Hocker, hatte neben sich noch einen andern stehen, auf welchem sich Bürsten und Flaschen, zwei Salbentöpfchen, ein Necessaire und ein Nadelkissen befanden, und zog, den Blick nach der Wand gerichtet, wo ein Spiegel hängen mußte, andächtig den Scheitel nach; griff nach dem Töpfchen und salbte, betupfte sich auch die Ohren, entkorkte eine Flasche und goß ein paar Tropfen aufs Taschentuch, das er, den Winkel nach oben, in seine Jacke tat und aufmerksam beroch. Dann erhob er sich, stellte den einen, hierauf den andern Fuß auf das wacklige Hockerchen, griff nach der Haarbürste, spuckte darauf und wichste die hellgelben Schuhe, bis sie ihm endlich genügten und er sich langsam im Kreise, hernach im Tanzschritt bewegte und seinen eigenen Anblick erblühend in sich trank. Nun sah man: es war kein Knabe, obwohl sein Gesicht noch schattenlos und die Hüfte mädchenhaft schien. Es war ein bräunlicher junger Mann, ein Marokkanerchen. Er wandte sich nach dem Eisentisch, entleerte den kleinen Koffer und glättete die Krawatten, legte Socken und Halstücher sorgsam zusammen und machte sich Notizen in einem Büchelchen, warf Geld auf die Platte und zählte, verschloß einen Teil des Geldes in einem Tannenschrank, neben welchem ein ganz zerschlissenes, antikes Damastsofa stand, hob sich langsam und fast genußvoll auf seine Zehenspitzen und wollte eben die Lampe löschen, als er das fremde Gesicht an den niederen Scheiben gewahrte und vor Schrecken versteinerte.
Der Arbeiter legte beide Arme auf die verwitterte Fensterbrüstung, nahm sich Zeit und klopfte dann an.
»Echte Seide! Seide mit Wolle, mein Härr! Alles preiswärt, alles billis, direkt aus Paris gekommen«, sagte der Jüngling zitternd, indem er öffnete.
An dem Akzent und dem Sprüchlein erkannte der Arbeiter ihn. »Ach, Mohammed!« rief er leise, »hier wohnt der Krawattenprophet?«
»Selbstbinder? Schal unters Mäntelchen? Feine Sokken?« drängte der Junge und hielt auf gebogenen Armen die schlechte Hausiererware inbrünstig zum Fenster hinaus.
Der Arbeiter warf seinen Rucksack zur Erde und knöpfte die Jacke auf. »Gib her . . .« er schlang einen Selbstbinder um und knotete ihn gefällig, legte mehrere Tücher darüber und schlug die Jacke zu. »Allons!« rief er dann lustig und wandte sich zum Gehen.
»Drei Mark und zwansig«, sagte der Knabe und bebte an allen Gliedern. »Swei Mark und neunsig«, er schluchzte und hielt den andern am Ärmel fest, »Swei Mark und fünfzig, mein lieber Härr – für armes Marokkaner!« »Weiß die Gemeinde, daß du hier wohnst, und hast du einen Hausiererschein?« fragte der Holzfäller grob. »Komm heraus!«
Der Junge löschte die Lampe und erschien in der offenen Tür. Er hatte jetzt einen Rohrstock mit dicker Elfenbeinrose forsch unter das Kinn gedrückt, ein heller Filzhut saß schief auf seinem duftenden Köpfchen. Der Arbeiter hakte ihn unter und fragte spöttisch, wohin. Weil er die Taschenlampe nicht wieder angezündet und der Mond seine Bahn an dem Himmel noch nicht begonnen hatte, war es stockfinster um beide. »Gehst du tanzen oder . . .« er strauchelte und riß den andern zu sich; der Körper des Braunen war leicht und zart, fast tierhaft in den Hüften und bebte wie Birkenlaub. »Ja«, seufzte Mohammed leise. »In die Waldklause?« »Nein, in den Felsenkeller.« Der Marokkaner atmete rasch und fing stärker zu zittern an. »Nicht verraten den kleinen Mohammed«, bat er mit schmeichelnder Stimme. Der Holzfäller keuchte, den Mund an Mohammeds Rosenohren: »ist die Laura noch auf dem Lager? das schwarze Hurenmädchen?« Der Braune blieb stehen, besann sich und sagte schlau: »vielleicht.« »Und wohnt noch neben der Kirche?« Der Marokkaner lief schneller und strebte der Landstraße zu. Dort habe er sie zuletzt gesehen, doch von ihr selber gehört, sie wolle zum Varieté, und wenn ihr das nicht glücke, in einem Rheinrestaurant Toilettenfrau oder Spülmädchen werden, vielleicht auch den Winter über mit Seife hausieren gehen. Sie waren nun unter den großen Platanen in der Nähe der Querstraße angelangt und hörten schon von ferne Geräusche der Chaussee. Nein, wenn er es recht bedenke, sei sie wohl nicht mehr hier, das heißt, es wäre wohl möglich, daß das Frühjahr sie wiederbringe, wie sich denn keiner zu trennen vermöge, der einmal hier gewesen und über das Lager gegangen sei . . . Indem er noch redete, war der Braune schon unsichtbar geworden; seine Stimme schlug um die Ecke . . . verhallte in dem Wind . . . Genarrt, empfand sich der Arbeiter ohne richtige Auskunft zurückgeblieben, stieß mit dem Fuß an die Bretterplanke, die das Lager westlich begrenzte, und knurrte böse: »warte!« Hierauf besann er sich, mochte nicht wieder auf die Chaussee zurück und von diesem und jenem angesprochen oder begleitet werden, bog also nach links zu dem früheren Wirtschaftsteil ab, um einen Weg zu verfolgen, der über die Felder hinweg parallel mit der Landstraße lief, und kam an den blassen Häusern dieses seltsamen Viertels vorüber, das einst die Bedürfnisse deutscher, hierauf französischer Truppen befriedigt und das Bordell, eine Fotobude, einen Kramladen, Wirtshäuser, Wirtshäuser und noch einmal Wirtshäuser eingehegt hatte. Auch eine Schauspielertruppe war hier ständig zu Gaste gewesen. Noch stand, von einer Laterne erbarmungslos erleuchtet, das Wort »Vergnügungs-Etablissement« in seiner ganzen Verrücktheit auf einem windschiefen Schilde, das über dem schmutzigen Eingang zu einer Schenke hing. In diese Häuser ergoß sich der Strom der Sonntagsgäste aus dem benachbarten Dorf: in die »Patronentasche«, den »braven Kanonier« und die anspruchsvolleren Baulichkeiten, die sich Hotels zu nennen wagten und an Wochentagen als Absteigebuffs, als Mineralwasser- und Bonbonsfabriken und Abdeckereien für Hunde, Katzen und heimliches Schlingenwild dienten.
Hier und dort brannte Licht in den Kellern und warf die bewegten Schatten von allerlei Geräten, von Kolben, die unten stießen, und Obstweinkeltern hinaus. Verschiedene Gerüche wehten schlaff mit dem Wind vorüber und schienen aus Totenstuben zu kommen, wo die geputzte Leiche sich mit den Düften der Blumenkränze und des schmelzenden Wachses vermischt; ein Grammophon wimmerte leise und erstarb mit ängstlichem Quietschen. Die Straße endigte hier, und das flache Feld nahm den Arbeiter auf. Sturm heulte über die Fläche und kam von Süden her, wo sich der große Schießplatz, dürr, unfruchtbar, erstreckt. Ein paar kleinere Häuser und Hütten gingen mit auf die Äcker hinaus. Sie standen wie Eigenbrötler verlassen an dem Rande und gehörten weder dem Lagergebiet, noch auch dem Dorfe an; hatten steinerne Zwerge, Rehe und abgeschlagene Vasen in ihren Gärten stehen und Beete, welche, wie Gräber mit Muschelstein eingefaßt, an den vier Ecken mit Blumenstöcken töricht bezeichnet waren.
Hierauf kamen Dickwurzäcker, sehr lange hölzerne Wände, hinter welchen der Arbeitersportplatz lag, und wieder Äcker, Gärten mit glasbedeckten Beeten; es rückten die ersten Häuser, helläugig, sauber verputzt heran: die Eigenheime der Schlosser, Dreher und Werkmeister in den Fabriken der Stadt; mit dem Geld von Bausparkassen errichtet; mit Darlehen, Hypotheken belastet, erfüllt mit Kindergeschrei . . . Die elektrische Bahn lief vorüber und hielt an der Wartehalle. Erschöpfte Frauen und Mädchen mit schäbigen Baskenmützen, Kattunschürzen, Körben am Arm, stiegen, lärmend vor Müdigkeit, aus. Daß nicht das Hausdach zusammenstürzte und die Schulden den Stein, das Sparrenholz, die Eisenschlösser fraßen, war dieser Weiber Verdienst. Den Weltkrieg, den Ruhrkampf nützend, hatten alle auf Ameisenwegen geschmuggelt, gehamstert, gehandelt, den Akker umgewühlt; sie waren zeit ihres Lebens mit Lasten bepackt gewesen, die dreimal so schwer wie sie selbst, sorgfältig überdeckt, duftend und dunkel waren; den Marktkorb auf ihrem Scheitel, ein paar andere in der Beuge der hart gewöhnten Arme, das Geld auf gedunsene Leiber geschnallt und unter ihnen ein Kind verwahrend, hatten Arbeit und Fruchtbarkeit abgewechselt wie Regen und Sommerhitze. Wo ihre Hände gruben, sproßte Sellerie, Dill und Lauch. Sie brachten die ersten Radieschen, Salat aus den Mistbeeten, Stiefmütterchen auf die Großstadtmärkte der Gegend und kamen mit Steckzwiebeln, Blumensamen, den Rhein herunter, herauf. So waren sie tüchtig, erfahren in allen weltlichen Dingen. Den Alten wuchs auf der Oberlippe und unter dem Kinn ein Bärtchen wie Schnittlauch in der Scherbe; den Jungen trieben die Füße aus, sobald sie tanzen gingen, und die weißen, kräftigen Brüste, wenn sie erst mannbar wurden. Ihre Burschen holten sie sich aus der Umgebung der Markthallen, Stände und kleinen Bahnhofsgebäude, aus den Vororten Frankfurts, aus Mainz und Worms und meldeten meist nach dem ersten Kind, oft nach dem zweiten und dritten, ihr Verhältnis beim Standesamt. Umherschweifend, blieben sie gleichwohl der sandigen Erde verhaftet, die immer wieder durchwurzelt wird, so viele Körner der Wind auch entführt: sie liebten in ihren Söhnen die männliche Kraft ihres Schoßes und nahmen von ihnen Rat und körperliche Hilfe mehr als von dem Gatten an . . . »Val’tin!« Der Arbeiter wandte sich um und sah seine Schwiegermutter, eine mächtige alte Frau, auf ihn zugewatschelt kommen. Ihr Gesicht war mit fleischigen Warzen besteckt; eine davon stieß oben am Scheitel, wo das Haar sich lichtete, porig und grau gebüschelt heraus. Obwohl er seit Jahren verwitwet war, sank der Arbeiter leicht in den Knien ein und nahm ihr die Körbe ab. Sie waren leer, ineinandergeschoben, indessen die Geldkatze prall an dem schwappenden Gürtel hing. Auch andere Männer kamen herzu, die Arbeitslosen des Dorfes, welche fleißig zu Hause hockten, den Kindern die Suppe brachten, sie wuschen, striegelten, fütterten, Spinat gesäubert, Rüben gebündelt, Kaninchenställe gezimmert und den Auslauf der Hühner erweitert hatten . . . Nun verstauten sie, was die Frauen im Schwung herüberreichten, auf ihren Handkarren, banden es fest und trotteten hinter den Weibern her, den abgerackerten Ehefrauen, den Mädchen, denen die Röcke um hel’bestrumpfte Waden mit schwachen Krampfadern schlugen. So ging die Karawane der Menschen zum Ort hinein, wo die Hunde zu heulen begannen.
in dieser Nacht noch wurde es kalt; der Wind fing an, sich zu drehen und kam von Nordosten her. Die Feuchtigkeit in den höheren Schichten der Luft verwandelte sich und schnürte in grauen Flocken, unwillig, unentschlossen, in welcher Form sie verharren sollte, von dem erweiterten Himmel nieder, der sich allmählich zu wölben und den Orion heraufzuführen, seine Tiefe zu klären begann.
Aladin war in das Haus gekrochen, von dem er bis jetzt noch nichts als das Dach und die zackigen Steinmauern kannte; er hatte seinen Tornister geöffnet, und weil er nicht wagte, Licht zu machen, eine finstere Mahlzeit gehalten. Sein Reiseproviant ging zu Ende; er bedachte es aber so wenig, wie ein Pferd vor der nächtlichen Krippe, das mit schnaubenden Lippen die letzten Körner aus der hölzernen Wanne nimmt. Zwei Tüten, eine mit Salz, die andere mit Zucker, hatten still ihren Inhalt entleert; ein hartgesottenes Ei war zerquetscht, die kalkige Schale zerbröckelt und überall hängengeblie; ben. Wenn er kaute, knirschte die Speise im Mundseine Hände griffen, nach Nahrung suchend, in die vermischten Dinge und schoben sie ungeschieden in die schwärzlichen Zähne hinein. Es mundete Aladin wie Kindern, wenn sie auf Puppenherden den ersten Kuchen gebacken und heiß verschlungen haben; auch war noch ein Rest von Pfefferminzschnaps in der kleinen Flasche gewesen, den er hinunterschmatzte . . . Nun trat er aus Schuhen und Strümpfen, zog an brüchiger Kette ein Silberstück, eine dünne Medaille, zwischen dem Hemd und seiner Brust hervor und nahm sie, wie ein Säugling die Nuckel, in den Mund; schob, rückte, rutschte die Knie an und bedeckte sich mit dem schlissigen Zeug einer alten Kamelhaardecke, die den Krieg und die Besatzung trüb überdauert hatte.
Dann fiel er in den Brunnen einer tiefen Bewußtlosigkeit. Sehr kühl und zugig war es dort unten, und die Ratten, die den trockenen Grund mit den grauweißen Flechten besiedelten, nagten unermüdlich das Mauerwerk an. Bald mußte ein Stein durchbrochen, die Mitte der Nacht zersägt sein. Schon war eine Spalte entstanden, durch welche ein feldgraues Tier den dürren Körper zwängte, als wieder neuer Mörtel, Grieß, Staub darüberstürzte und die Ratten verschüttete. Von heftigem Niesen gepeinigt, erwachte Aladin. Er mußte geschnarcht und mit offenem Mund die Spreu der Matratze geatmet haben, welche leise unter ihm stank. Auch merkte er nun, daß ihn fror, und setzte sich klagend hoch; er rückte fest in die Mauerecke, zog von neuem die Beine dicht an den Leib und wartete auf den Schlaf. Es war vollkommen still um den hockenden Mann in seinem Höhlengrab, den Embryo im Stein. Er bewegte den Mund und kaute die Eierschale, die ihm am Gaumen hing. Eine Weile darauf kam ihm vor, als hätte er Brot in den Händen und bräche es entzwei. Die Kruste, narbig und hart, war ringsum mit Schimmel bezogen; der Brosamen gleich darunter schien löcherig und rauh. Er hob es an die Augen und wußte: man hatte ihm würmiges Brot, einen großen Rist, zu essen gegeben, der gräulich wimmelte. Bald sah er vor Maden den Mehlback nicht mehr und bröckelte deshalb die oberste Schicht, hierauf die folgende ab, welche reinlicher, aber noch immer von Würmern durchzogen war. Die nächste schien etwas heller, als sei sie aus anderem Teig gemacht und auch freier von Ungeziefer, die übernächste desgleichen; es folgten einander die Schichten und klärten sich immer mehr, bis endlich die letzte hervorkam: weiß, strahlend und so fein, daß Aladin nicht wagte, sie mit den schmutzigen Fingern, dem Stoppelmund zu berühren, und indem er sie ansah, geblendet wurde, daß die Augen ihm übergingen . . .
Es war heller Tag, in dem Mauerloch stand eisigblauer Himmel. Der Mann erhob sich ächzend, schlug mit geballten Fäusten seine steif gefrorenen Glieder an und öffnete die Tür. Die Bäume waren entblättert, fast kahl, mit einem leichten Glast auf den Stämmen, die räumlicher schienen, tiefer führten und in den Winter gingen. Das Laub auf der Erde glänzte metallisch und schien seine pflanzenhafte Natur verwandelt oder vergessen zu haben: scharf abgegrenzt, legte sich Blatt auf Blatt und brach unter Aladins Schritten spröde und leblos entzwei. Auch die Geräusche, die fernher kamen, hatten plötzlich an Härte gewonnen, an schreckhafter Deutlichkeit. Eine Bauernkarre auf der Chaussee ging rasselnd in allen Eisenteilen, umpfiffen von Peitschenschlägen, vorüber; zwei Radglocken, hoch und tief, schlugen kräftig in ihrem Gehäuse an; das schleifende Heulen und Rauschen der elektrischen Vorortwagen zog seine Straße hin.
Als bürstete dieser Lärm ihm krätschend über den Rükken, fuhr Aladin zusammen und sah ängstlich im Kreis umher: es war alles sehr offen geworden und hatte Löcher bekommen, ja, wie ihn dünkte, schien jetzt die Gegend aus lauter Fenstern gemacht zu sein, nicht Fenster, um hindurch in fremde Räume zu sehen, sondern solche, aus denen Verrat auf seinen Nacken schaute. Nun hätte er gerne wieder geschrien, doch schlug ihm die Stimme der Wirklichkeit den Schrei in den Hals zurück; so streckte er nur zaghaft den kleinen Finger aus und stieß in die Luft hinein, schien seine Befürchtung bestätigt zu finden und drehte sich vorsichtig um. Sein Haus sah ihm gleichgültig, fremd, entzaubert und kalt entgegen; noch nicht eine Wasserleitung, fuhr es ihm durch den Sinn. Doch, hier lag eine Röhre; sie kam ungefähr aus der Richtung des Offizierskasinos und war oberirdisch geführt, schien aber kein Trinkwasser zu enthalten und würde bei Frost bald geplatzt oder eingefroren sein. An der Außenwand war ein Kranen. Aladin drehte ihn auf, und gelbliches Schmutzwasser, das sich erhellte und langsam sauber wurde, schoß wie der Geist aus der Flasche: so nämlich, als ob es gewartet hätte, endlich befreit zu werden, mit protzendem Zischen heraus . . . Der Mann nahm sich vor, die Leitungsröhre zum Ursprung zu verfolgen und sie mit Tannenzweigen notdürftig einzudecken, drehte heftig den Hahn wieder ab, der nur widerwillig gehorchte, und trat in das Steingeviert.