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Das Hauptwerk Elisabeth Langgässers, an dem sie heimlich während der NS-Zeit arbeitete: Sie beschreibt in diesem Roman das fiktionalisierte Schicksal ihres jüdischen Vaters, der sich katholisch taufen ließ. Der "Kampf zwischen Gott und Satan" steht im Mittelpunkt der Erzählung. -
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Seitenzahl: 870
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Elisabeth Langgässer
Saga
Das unauslöschliche SiegelCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1946, 2020 Elisabeth Langgässer und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726487718
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Wir befinden uns vor dem Eingang eines großen Auktionsgebäudes mit außerordentlich unechten Säulen aus einer Stuckmasse, die den Eindruck carrarischen Marmors macht.
Der ideale Leser und der vollkommene Kritiker treten auf. Der ideale Leser ist ein rüstiger Mann von unbestimmbarem Alter, der eine Brille, aber als Ausgleich zu seinem allzu geistigen Wesen einen Spazierstock mit eiserner Zwinge und genagelte Schuhe trägt. Der vollkommene Kritiker zeichnet sich nicht, wie man etwa erwarten möchte, durch besondere Kennzeichen aus, sondern gleicht mit hochgebürstetem Bärtchen und strengem, aber jovialem Ausdruck einem Generalstäbler in Zivil. Er ist mit einem Fernrohr bewaffnet, das er gleichzeitig in die Zukunft richten und mit dessen anderem Ende er den Mikrokosmos zu seinen Füßen restlos durchdringen kann.
Das Wasser aus der großen, stehenden Gartenspritze ging wie ein mächtiger Schleier über den jungen Rasen und glänzte, von den Strahlen der Morgensonne durchfunkelt, in den sieben Farben des Regenbogens. Wo es hintraf, leuchteten Gras und Erde in übersinnlichen Farben und waren wie neugeboren; jeder Tropfen traf einen jungen Halm, den er beugte, wenn er den Stengel hinablief, und wiederum aufhob, erquickte und stärkte, indem er das Würzelchen speiste, mit welchem die Pflanze dem Boden und ihrem eigenen Dasein in dem Garten verhaftet war. Schon hatte der Rasen genug und ermüdete unter der Fülle. Er legte sich um; in den kleinen Pfützen, die sich, wo zwischen Gräschen und Gräschen nur die geringste Gelegenheit blieb, eilig gebildet hatten, schwamm winziges Getier: Ameisen, welche noch ruderten oder bereits ertrunken waren; ein Käfer, den die Nähe des Regens in eine Art Wirbel gezogen hatte, aus dem er nicht mehr herauskam, so sehr er sich auch von dem Mittelpunkt jener Kraft zu entfernen suchte; eine Mücke, die schon vergangen war, und ihre ätherischen Flügel, dem Stoff zurückgegeben, in Gallerte verwandelt sah. Nur in dem Schatten, wo der Jasmin, von spitzen, grünlichen Knospen durchsetzt, sich über die Erde beugte, schien der Rasen noch fähig zu sein, das Wasser aufzunehmen; er trank und verdunstete große Mengen, während die Sonne mit glühenden Speeren durch das verwucherte Blattwerk drängte und runde, zitternde Flecke auf das weiche Frühlingsgras warf; ein feiner Dunst schien den Büschen von unten entgegenzuwölken, sich zu verdichten und ganz allmählich zu jener schweren, schrecklichen Süße der Mittagsstunde zu sammeln, die aus Langerweile und Sättigung, aus fleischlicher Neugier und geistiger Trauer zu gleichen Teilen gemischt ist . . . .
Mit einem kurzen, zischenden Seufzer zog sich das ausgebreitete Wasser wieder zurück in den einfachen Strahl, erlosch und war so plötzlich verschwunden, als wäre es nie gewesen. Eine Weile lag noch die nasse Schlange des Gartenschlauchs zwischen den Gräsern und wurde dann von dem Gehilfen des Herrn Belfontaine eingezogen und für heute zusammengerollt. Seine Schritte entfernten sich langsam hinter dem Rücken des Mannes, dem dieser Garten und das Haus, an welches er anstieß, gehörte und das Ladengeschäft, das sich mit Gläsern voll gelber Erbsen, weißer und bunter Bohnen, mit schmalen Messingbehältern, die brasilianischen Kaffee, und aufgestapelten silbernen Päckchen, die indischen Tee enthielten, mit beschrifteten weißen Porzellandosen voll Weizenmehl, Salz und geschältem Reis, Orangeade, Zimt, Zitronade und mit blauen, ehrbaren Zuckerhüten nach jener Seite des Kreisstädtchens auftat, deren Verlängerung anstieg und in die Wingerte führte; in bescheidene, nicht sehr berühmte Lagen, die das Eigentum eingesessener Bürger und weniger Bauern waren.
In den Rebensorten nicht unterschieden, trugen die der Bürgerschaft Weinberghäuschen, welche der eine und andere Besitzer wie rohe Liebestempelchen ringsum mit Amoretten hatte bemalen und mit Bänken, einfachen Eisenstühlen und in die Erde gestampften Tischen für gesellige Zwecke hatte versehen lassen. Sitzt man dort oben, so ist es ein leichtes, das Städtchen und seine Umgebung mit einem Blick zu umfassen. Auf den lang hingleitenden Bodenwellen des rheinischen Hügellandes liegt es an diesem Spätfrühlingstage wie erschöpft in den stumpfen, rostigen Farben der Ackererde da, von vielen Apfelbäumen umbuscht, die durch den reichlichen Ansatz der Früchte fast olivengrün schimmerten; trocken und staubig bei aller Fülle, als sei die Natur ihres Auftrags, immer das gleiche zu bilden, überdrüssig geworden. Man sieht auch die breite Straße Napoleons, welche schnurgerade und unbekümmert von Mainz bis Paris hinläuft; sie kam von dem Horizont wie ein Delphin, der hinter dem Wogenbug aufblitzt, herübergleitet, verschwindet und wieder sichtbar wird, bis sie endlich die letzte Erhöhung geschmeidig hinunterstürzte und wie ein scharfes, glänzendes Messer den südwestlichen Zipfel des Städtchens abschnitt,welcher inzwischen man schrieb einen Maitag des Jahres 1914 - weitergewachsen ist; dann eilte sie auf den nächsten Hügel, das nächste Tal und den übernächsten der niedrigen Hügel zu und hatte die Stadt bereits völlig vergessen, welche gekränkt und beleidigt in ihrer Ordnung zurückblieb und das Schloß, in dem sich die Steuerbehörde, das Amtsgericht und das Museum befanden, wie eine Schulter emporzog. Hier war das Viertel der kleinen Beamten und grenzte sich selbstbewußt und bescheiden durch ein Stück der alten Stadtmauer ab; der Marktplatz, früher nur Pferdemarkt, weswegen dort vor allem die Schmiede, Kürschner und Seiler wohnten, lag schon bedeutend tiefer, von seiner blanken, gepflasterten Mitte strahlten nach allen Seiten die neuen Geschäftsstraßen aus.
Am Ende der größten erblickte man damals das Haus der Familie Belfontaine als eines der stattlichsten; aber gleichzeitig wurde auch deutlich, in welcher Art es sich von den andern um ein weniges abzusondern und zu behaupten wußte: es stand schräg, weil die Straße hier umbog und sich aufzulösen begann; als Gegenüber hatte es nichts als eine Doppelreihe beschnittener Akazien und das Tor der staatlichen Obstbaumschule, durch deren Gitter man weiter hinten das rote Dach des Verwaltungsgebäudes wie Gartenmohn schimmern sah. Auf der Straßenseite folgte ihm selbst eine große Wagenremise, wo ein Kutschergeschäft betrieben wurde; hierauf eine Eisenhandlung, die außer Scheren, Rebmessern, Pflügen und was sonst noch zu ihrem Bereich gehörte, auch Düngemittel und Kohlen verkaufte; danach kam gar nichts und auf das Garnichts ein Pumpwerk, welches schon höher lag; es begannen die Weinbergsmauern gemächlich anzusteigen und wieder an jene Stelle zu führen, wo der Blick das Städtchen umfangen hatte, als habe er es soeben aus dem Nichtsein herausgehoben und einem Schicksal Bedeutung gegeben, welches im Augenblick damit begann, daß Herr Belfontaine noch eine ganze Weile in die silberne Kugel starrte, die da auf dünnem, glänzendem Bein fast unwirklich vor ihm schwebte, den Garten spiegelte, einfing und ihn auf zaubrische Weise nach hinten verlängerte: endlos, in deutlichen Linien, die nichts an Umriß verloren, so weit sie sich auch entfernten; ja, noch die Art und Farbe des Kieses, mit welchem der Hauptweg bestreut war, wurde treulich wiedergegeben. Nur dieser Hauptweg selbst war verändert und schien sich in seinem Spiegelbild so unermeßlich zu dehnen, daß man denken konnte, wer ihn beschritte, gelangte an die Enden der Erde oder, was ein und dasselbe ist, an den Beginn aller Wege; obwohl ihn Rabatten und Stauden an beiden Seiten freundlich umschlossen, schnitt er gleichwohl so unbarmherzig und überhell durch den Garten, als käme er nur von draußen herein, um ihn vollkommen zu entzweien, ihn zurückzulassen und weiterzulaufen, mitten durch Haus und Laden - nicht unähnlich der Pariser Straße, die das Gleiche im Ganzen des Städtchens tat.
Die Kugel flimmerte in der Sonne, wurde dunkler, aber fast schärfer im Spiegel, weil eine Wolke über ihn hinzog, und blitzte, als diese vorbei war, mit einer Schnelligkeit wieder auf, als wäre hur eine Echse über ihr Bild gehuscht . . .
Geblendet schloß Belfontaine beide Augen und holte sich unter zuckenden Lidern aus der Gartenkugel zurück; dann trat er, von leichtem Schwindel erfaßt, einige Schritte seitwärts und schaute nun wirklich nach vorn; er erblickte das Haus und die Treppe, die in den Garten führte, und sah seine kleine Tochter Elfriede auf der obersten Stufe sitzen - aber weniger saß das Kind auf der Stufe, als zwischen den dürren Waden des ältlichen Dienstmädchens Berta, dessen Oberkörper sich über Elfriede und das Strickzeug in deren Händen beugte, sichtlich bemüht, dieser armen Kleinen die Anfangsgründe der Handarbeit, wie eine Zange der Walnuß das Knacken, gewaltsam beizubringen. »Richtig«, dachte Herr Belfontaine träge und noch immer ein wenig gelähmt, »sie ist jetzt fünf Jahre geworden. Zeit also, ihre Finger zu üben, bevor das Auf-Ab-Auf-Pünktchen-drauf anfängt.« Er betrachtete, was sich ihm darbot, und ging vorsichtig auf Elfriede zu, als ob sie eine Schwarzdrossel wäre, die unversehens fortfliegen könnte; doch merkte er bald, daß keine Gefahr war, so lange die festen Finger der Magd ihre Handgelenke umklammerten.
Einige Meter von beiden entfernt, spreizte sich, schräg überm Weg, ein Photographierapparat auf lächerlich hohem Gestell; er war über Nacht dort stehengeblieben, weil Belfontaine gestern vergeblich den Vollmond zu überlisten versucht hatte und außer sich vor Ärger, daß gerade zur Stunde des Aufgangs der Osten sich eingewölkt hatte, zu Bett gegangen war, ohne das Unglücksding mitzunehmen – nicht anders, als wolle er seinen Kasten in kindischer Weise dafür bestrafen, daß der Himmel nicht mithelfen mochte. Nun bot sich der Apparat seinem Herrn wieder aufs neue an; mit der schweren, dunklen Decke behangen, machte er einen beschämten und zugleich traurigen Eindruck und schien nur darauf zu warten, das Vertrauen zurückzuerwerben, das er sich gestern verscherzte.
»Man könnte es ja versuchen« - sagte Herr Belfontaine gnädig, rückte den Apparat in die Richtung des Genrebildchens auf der Treppe und bückte sich unter das Tuch. Er schob daran, drehte und schraubte, holte das Auge des Apparates aus der Entfernung Unendlich und hatte schließlich im Blickfeld, was er wiederzugeben wünschte. Indem er noch einmal drehte, trat das Bild auf der Mattscheibe deutlich hervor und stand, als hätte soeben ein zugespitzter Griffel seine Linien verbessert und nachgezogen, umgekehrt auf dem Glas. Herr Belfontaine schlüpfte eilig unter der Decke heraus und legte rasch die Kassette ein, griff nach dem Gummiball, wollte drücken, als sich das Dienstmädchen tiefer beugte und die Kleine fast völlig verbarg. Es war eine Masche gefallen, nun kämpfte Bertha zugleich mit dem Strickzeug und den widerspenstigen Fingern des Kindes, die sich nicht biegen wollten. In dem blassen, dicken Gesichtchen Elfriedens war der Mund, wie immer, bevor sie weinte, krampfhaft nach unten gezogen; eine Falte saß wie ein winziger Pfeil zwischen den hübschen Brauen; das nußbraune Haar mit dem rötlichen Schimmer fiel ihr geringelt und feucht in die breite, verschwitzte Stirn.
»Wie ungeschickt sie sich anstellt«, dachte ihr Vater verzweifelt. »Diese dummen Finger hat sie von mir. Natürlich. Und sie sieht mir auch ähnlich. Immer sehen die Töchter dem Vater und die Söhne der Mutter ähnlich.« Er hob von neuem den Gummiball an. »Sie wird häßlich werden«, setzte er grausam seine Betrachtungen fort. »Ihre Nase ist viel zu groß.« Die Masche war glücklich aufgefangen, das Dienstmädchen schob sich wieder zurecht und streckte die unschönen Grillenbeine der ganzen Länge nach aus, legte den Kopf auf die linke Schulter und sah mit dem rechten Auge – indem sie das andere zukniff, glich dieses runde, offene Auge einem ausgezogenen Fernrohr – auf die holpernden Kinderhände.
»Jetzt!« - dachte Herr Belfontaine wie ein Mensch, dessen Wille sich fürchterlich anstrengt, um einen Traum zu verlassen, von welchem er das Gefühl hat, daß nicht er selber ihn träumt. Doch er dachte und handelte nicht zu Ende. Das Kind ließ Nadeln und Wolle aus seinen Händen gleiten und rief mit klagender, hoher Stimme: »Ich habe keine Lust mehr . . . ich habe keine Lust mehr . . .«
»Keine Lust mehr . . .«, tönte der Ruf des Kindes in Herrn Belfontaines Herzen wider - laut, langgezogen, zurückgeworfen von einem unendlichen Echo, das, wie der Nachhall in leeren Räumen, gewaltiger schien als die Stimme, die es hervorgebracht hatte.
Er ließ den Gummiball fallen und sah ihn noch eine Weile pendeln; auch seine Hände sanken herunter, vollkommen schlaff und entseelt. Wie sie da hingen: einfach und arglos, mit etwas fleischigem Rücken, war nichts Auffälliges oder Verkehrtes an ihnen; sie waren weder zu groß, noch zu klein, eher breit als schmal, aber auch nicht plump, und hatten gleichmäßig dicke Finger mit spatelförmigen Kuppen. Nur die Nägel standen, kaum fühlbar, in eigentümlichem Gegensatz zu ihren Fingerenden. Sie hatten, vielleicht, weil Herr Belfontaine ein leidenschaftlicher Raucher war, eine vergilbte Farbe, als wären sie abgestorben, oder als hätte das Blut nicht mehr die Kraft, sie bis an den Rand zu füllen; auch waren sie spitzer geschnitten, als man erwarten sollte, und diese graugelbe Farbe in Verbindung mit ihrer gepflegten Form gab ihnen etwas von Stolz und Schwermut und geheimer Absonderung . . . Eine Hummel umschwirrte den reglosen Menschen und schien in gleichmäßig weitem Abstand einen verborgenen Kreis zu achten, der rings um seinen Kopf ging; dann schnurrte sie, unfähig, diese Grenze noch länger zu ertragen, enttäuscht und zornig davon. Sie kehrte zurück und beschrieb aufs neue ihre eigentümlich brausende Bahn, in der sich die Stille verstärkte. Doch auch diesmal wagte sie sich nicht näher, obwohl der Mann, den sie eifrig umsauste, keine Bewegung machte, vielmehr, wie der Rasen zu seinen Füßen, von dem Übermaß einer Gabe so beschwert und ermüdet zu sein schien, daß er Fülle und Leere austauschen konnte, als sei es das gleiche Gefühl . . .
»Fritz!« rief Herr Belfontaine plötzlich und drehte sich mit der Heftigkeit jener Art Menschen um, die alles wie von der Kordel reißen, weil sie sonst weder zu einem Entschluß, noch von Handlung zu Handlung kämen. Kein Fritz war zu sehen; er hatte den Garten schon längst durch den hinteren Ausgang verlassen und war mit Geschäftsbriefen in dem Rock auf das kleine Postamt gegangen. Wie auf Verabredung leerte sich auch, als Belfontaine ihr den Rücken kehrte, die niedergetretene Treppe, und der Hausherr war mit dem Apparat und der Gartenkugel allein.
Sofort fing er leise zu reden an, unbekümmert und rasch wie jemand, der den größten Teil seiner Gespräche nur mit sich selber führt. »Wo bleibt der Blinde? Er müßte doch da sein. Noch niemals hat er den Tag vergessen . . . und heute jährt es sich wieder. Es -«, er hielt inne und sagte so laut, daß er selber darüber erschrak: »Unser Geheimnis. Vor sieben Jahren. Sieben Jahre sind nun herum.« Er sah nach dem Gartenzaun, welcher den Weg zwischen Herrn Belfontaines Grundstück und der Wagenremise begrenzte. »Wenn er wüßte, daß er siebenmal mehr, als im vorigen Jahr, erhielte! Aber ich fühle, er wird nicht kommen. Niemals mehr. Nie . . . nie . . . nie . . !«
Dieses letzte Wort stieß Herr Belfontaine aus, als ob er damit sein Leben verströmte; es wollte nicht enden und glich im Tonfall der Klage seines Kindes; ja, es schien gleichsam die Antwort auf diesen ersten Ruf zu enthalten, ihn zu bestätigen und der Trauer, welche Vater und Kind überfallen hatte, gemeinsamen Inhalt zu geben.
Doch fast im nämlichen Atemzuge erlebte Belfontaine dieses ,Nie‘ mit fassungslosem Erstaunen. »Wer sagt das?« murmelte er bestürzt und blickte rechts und links in die Büsche, als sei der eben vernommene Ruf nicht aus ihm selber gekommen. »Bin ich verrückt oder werde ich krank? Denn es ist doch alles wie immer?« Er stampfte leicht mit dem Fuß auf und wiederholte: »Wie immer!« - dabei fühlte er aber deutlich, wie lächerlich dieses Aufstampfen wirkte, weil es nicht unwillkürlich erfolgt, sondern nur als gespielte Beschwörung vor dem Spiegel seiner Vernunft eingeübt worden war.
Mit solcher Erkenntnis wuchs unwillkürlich seine innere Unsicherheit. »Natürlich ist alles wie immer«, sagte er vor sich hin und bemühte sich, seinen Worten nicht mehr an Gewicht beizulegen, als hätte er zu Elfriede geäußert: »Natürlich scheint morgen die Sonne wieder«, oder »Natürlich ist alles richtig, was deine Mutter dich lehrt.« Er wartete, wie um sich selber zu fragen: »Nun also, genügt es dir? Bist du getröstet? Hast du dich wieder beruhigt?«
Nein. Nein, es hatte ihn nicht getröstet, und er war nicht beruhigt. »Ich werde noch warten«, beschloß der Mann und schmeckte schon unter dem Gaumen eine schale brütende Langeweile, die ohne Erbarmen war; schrecklicher als der Schmerz und das Unglück, denn diese sagen dem Menschen, warum sie ihn leiden machen, während jene ihn grundlos peinigt. »Ich werde hier auf den Blinden warten und den Weg im Auge behalten. Vielleicht ist er krank und schickt einen andern. Ach nein, er soll keinen andern schicken. Ein anderer könnte das nicht verstehen, wie es der Blinde versteht. Auch Elisabeth nicht, obwohl wir doch morgen sieben Jahre verheiratet sind.« Da waren sie wieder, die sieben Jahre; doch barg der Hochzeitstag nicht das Geheimnis, um das Herr Belfontaine kreiste, sondern jener, welcher voraufgegangen und den Augen der meisten Menschen verborgen geblieben war.
»Er soll kommen. Der Blinde soll kommen«, - flüsterte Belfontaine wieder und wanderte ruhelos zwischen der Kugel und dem Apparat hin und her. »Er soll kommen und seinen Lohn dafür nehmen, daß er heute vor sieben Jahren -« Belfontaine blieb vor der Kugel stehen und starrte auf ihre Oberfläche, die den Weg nach rückwärts verlängerte, schlang die Finger gedankenlos ineinander, bis das Knacken der Knöchel ihm deutlich machte, wie erregt sein Inneres war, und ging zu dem Apparat hinüber, kroch aufs neue unter das schwarze Tuch und prallte gegen die Dunkelheit an, denn er hatte vorhin vergessen, die Kassette herauszunehmen.
»Wenn ich mich umdrehe, ist er da«, sagte er wie ein Zauberkünstler vor einem Parkett voller Bauern; hielt den Atem an, schlug die Decke zurück und sah, geblendet vom Einfall des Lichtes, einen Schatten über die Mauer der Wagenremise huschen . . .
Es war ein Radfahrer, weiter nichts, der mit geschulterter Hacke den Weg auf das Feld hinausfuhr. Sein Rücken und diese Hacke, welche ihn überragte, waren das Erste und Letzte zugleich, was Herr Belfontaine von ihm erblickte.
»Also doch nicht«, sagte er matt und verloren, als sei nun die letzte Hoffnung mit Stumpf und Stiel ausgerodet. Er legte die Hände zusammen, spreizte die kleinen Finger weg und ließ sie gegeneinanderfallen; wiederholte diese Bewegung grundlos in einem fort und sagte dabei: »Tja . . tja, tja, tja!« Nicht anders, als ob er sich selber zum Gegenüber hätte. Gleichzeitig überfiel ihn eine furchtbare Müdigkeit. Er gähnte krampfhaft; versuchte das Gähnen gewaltsam zu unterdrücken und mußte von neuem gähnen, immer wieder und wieder, tiefer und stärker, sodaß es fast schon ein Schluchzen war, was da, wie nach genossener Mahlzeit, unaufhörlich aus ihm emporquoll.
Dieses Gähnen, in enger Verbindung mit seiner grundlosen Trauer, erregte in Belfontaines Hirn die gleiche Verwunderung, wie sie das »Nie« hervorgebracht hatte, das seinen Lippen entschlüpft war, ohne daß er es wollte. Er wußte noch nicht, daß der Überdruß sich mit jeder Art von Empfindung zu paaren imstande ist, ja schließlich übrig bleibt als der schwarze, niedergebrannte Docht, an dem sich das Wachs verzehrte, und hätte deshalb jeden, der ihm von »gähnender Trauer« zu sprechen gewagt haben würde, als einen Schwätzer bezeichnet.
»Ei, was denn«, sagte er ruhiger und bemühte sich, seiner Stimme einen munteren Ton zu geben. »Ich habe nicht gut geschlafen, weil gestern Vollmond gewesen ist. Und was den Blinden betrifft, nun ja - er wird sich verspätet haben; er wird, noch ehe es Mittag schlägt, wie immer mit seinem Stock an der Mauer vorübertasten, den Zaun berühren, die Hand hinstrecken und ein kleines Geldstück erhalten; ich werde ihm eilig den Arm um seine Schultern legen und ihm zuflüstern: dort und dort wollen wir beide uns treffen, dann sollst du mehr bekommen und mich anhören, wie du mich Jahr für Jahr getreulich angehört hast.«
Indessen sich Belfontaine solcher Art zusprach, fiel ihm ein, daß er selber den Treffpunkt noch nicht erwogen hatte - doch erschreckte ihn diese Erkenntnis nicht, sondern erleichterte ihn auf eine fast mystische Art. »Natürlich, wie sollte der Blinde schon da sein, wenn der Ort noch nicht ausgemacht ist«, sagte er sich, als ob dieses Kommen von der Sorgfalt abhängig wäre, mit der er es vorbereitet, durchdacht und seinen Verlauf so und so festgelegt hatte.
»Keine Eile. Nur keine Eile. Der Tag ist noch lang, und das Wetter bleibt schön, man merkt es an den Schwalben. Wir könnten uns also wie voriges Jahr draußen im Freien treffen. Hübsch war der Weg durch das niedrige Korn, in dem die Fasanhenne brütete, und angenehm auf den heißen Steinen, die Hände am Boden, zu sitzen; den Sand durch die Finger laufen zu lassen und manchmal ein Muschelchen drin zu haben - - ja, denn der Boden war Meeresgrund, wie die Kinder schon in der Schule lernen. Meeresgrund . . . Meeresgrund . . .« Ein Zittern durchlief Herrn Belfontaines Körper wie die Brandung den Wasserspiegel; dann breitete er die Arme aus und sagte mit singender, fremder Stimme: »All deine Wellenberge, deine Fluten, sie gingen über mich hinweg . . .«
Dies war es, und es war ausgesprochen; das Geheimnis des Lazarus Belfontaine, der heute vor sieben Jahren die Taufe empfangen hatte.
. . . Er sank auf den Grund dieser sieben Jahre, ganz langsam, ein schwerer Körper, und kam mit weitgeöffneten Augen an dem Markstein eines jeden vorbei: noch sah er den Feldweg des vorigen Jahres wie ein glänzendes, taghelles Band an der Oberfläche des Wassers liegen; hierauf wuchs der dunkle, rissige Stamm und das zitternde Laubdach der großen Espe, die vereinzelt am Ende der Stadtmauer stand, allmählich vor ihm empor; dieses Laubdach fühlte er nur wie ein ständiges Zucken und Blinzeln, das in ihm selber wohnte. Auch an einer Schenke sank er vorüber, auf deren neubeworfene Wände der ausgestreckte Finger des Blinden irgend ein Zeichen malte - diesen Deutefinger sah Belfontaine hernach bei jeder Begegnung mit einer Erinnerungsstätte. Er machte nichts Besonderes sichtbar: manchmal nur einen Büschel Grases, auf welchem ein taubenähnlicher Vogel ohne Bewegung saß; eine Bank und ein Fensterkreuz zwischen verwölkten, von Weindunst beschlagenen Scheiben, und zuletzt die Treppe des Kirchenportals, aus welchem Herr Belfontaine schwankend herauskam, nachdem er getauft worden war - - nicht anders, als stünde die ganze Kirche selbst unter lauter Wasser; in der Heimat des Wassers gewissermaßen, und die Sinne des Lazarus Belfontaine seien alle von ihm erfüllt gewesen: Mund, Nase, Augen und Ohren hätten mitgeschluckt, als er untertauchte, und nun entströmte das Wasser ihm stark und springflutartig wie dem Lamm der Apokalypse.
Auf der untersten Stufe saß damals ein Bettler und streckte ihm die Hand hin; das Antlitz hatte er abgewendet, und noch heute hätte es Belfontaine nicht recht zu beschreiben gewußt. An dieser Hand hielt sich Lazarus fest, holte Atem, suchte in seiner Tasche nach irgendeinem Geldstück und fragte dabei wie ein Trunkener, der sich der Möglichkeit, noch vernünftig und richtig sprechen zu können, zu vergewissern sucht: »Da . . . und wie nennst du dich, guter Mann?«
»Der blinde Jean«, gab der Bettler zur Antwort, ohne den Kopf zu drehen.
»Johannes - der Evangelist?« fragte Belfontaine mit der Hartnäckigkeit aller Berauschten weiter.
»Der Täufer«, - sagte der Bettler und wandte sich endlich um. An dem Gesicht mit den toten Augen, die eine schwarze Brille bedeckte, wurde Belfontaine wieder klar.
»So, so, Johannes der Täufer. Oder hast du womöglich gar nicht gewußt, daß - hier . . . eine Taufe war?«
Der Blinde schüttelte seinen Kopf, es konnte ja oder nein oder auch überhaupt nichts bedeuten.
»Am Ende«, fuhr Belfontaine zögernd fort und warf einen Blick auf das Kirchenportal, als könne der Küster oder der Pfarrer, von denen der eine noch mit dem Brevier, der andere mit dem Ordnen der Paramente beschäftigt war, ihn plötzlich überraschen, »am Ende bist du nicht einmal von hier?«
»Nein«, gab ihm der Blinde leise zur Antwort. »Ich bin nicht am Ende von hier.«
Diese sinnlose Auskunft empfing der Getaufte wie einen starken Stoß vor die Brust, der ihn rückwärts in das Geheimnis stieß, das er eben verlassen hatte. Er zitterte, griff in das Pfeilerbündel der schlechten Backsteingotik und fing zu schluchzen an - rauh, unterdrückt, mit den Zähnen knirschend, um sich nicht zu verraten; dann, hinter dem gebogenen Arm an den Ausbruch der Tränenflut hingegeben, faßte er sich allmählich wieder, wischte sich über die nassen Augen und blickte verstohlen nach rechts und links, ob ihn jemand beobachtet hätte.
Es war ein Werktag; der kleine, vergraste Platz, in dessen äußersten Winkel sich Kirche und Pfarrhaus drückten, lag still und menschenleer da. Gleich darauf ächzte die Flügeltür des Windfangs am Eingang der Kirche und schlug mit dem Lederpolster dumpf gegen den Holzrahmen an; eine Hand schien an dem Portalgriff ein paarmal daneben zu tasten, bevor er sich niedersenkte - und der Pfarrer, die Nase auf dem Brevier und die suchende Rechte noch immer gedankenlos ausgestreckt, trat aus der Kirchentür. Seine Lippen bewegten sich unaufhörlich, den Kopf hielt er schief, was den Eindruck erweckte, als höre er jemandem zu, mit dem er gleichzeitig sprach. Ohne aufzublicken, ging er, umflügelt von dem weitgeschnittenen Kutschermantel über der langen Soutane, an Belfontaine und dem Blinden vorbei; er überquerte den kleinen Platz mit unregelmäßigen Schritten, die etwas Gefesseltes hatten und die einsame, schwarze Erscheinung auf dem verwilderten Fleckchen einem gestutzten Raben, der sich fügen muß, ähnlich machten. Im Dahingehen sank sein Kopf immer schiefer, auch die Schulter verzog sich mehr und mehr, der ganze Mann wurde gleichsam älter, von Asche überrieselt, die ihm die Ohren verstopfte und es unmöglich machte, ihn etwa zurückzurufen.
Belfontaine blickte ihm sehnsüchtig nach, bis er verschwunden war; ein tiefer Seufzer entrang sich gleichsam als Nachhall noch einmal seinem Herzen; dann berührte er die Schultern des Blinden, und sofort erhob sich der andere und folgte ihm ohne zu fragen kreuz und quer durch die Straßen, an den Ausgang des Städtchens und weiterhin in die ummauerten Weinbergswege, wo Belfontaine langsamer ging, weil der Boden gefurcht und steinig war. Auf halber Höhe hielt plötzlich der Zeuge an und stieß mit dem Stock auf die Erde; die Zwinge klirrte, ein Mittagsläuten kam dünn und verloren von ferne . . .
»Wohin gehen wir?« fragte der Blinde.
»In meinen Weinberg. Dort liegen ein paar Flaschen im Häuschen. Auch was zu essen. Kekse und Schinken. Und wenn du rauchen willst - na!« Er machte eine Bewegung: etwas prahlerisch, etwas zu weit, und stieg dem Anderen wieder voran, ohne sich umzusehen. »Weißt du«, sprach er dabei nach vorne, »eigentlich ist er ab morgen erst mein, dieser Wingert. Morgen - wenn ich die Tochter des alten Ignaz Schweickert geheiratet haben werde.« Ohne eine Erwiderung des Blinden abzuwarten, erging sich Belfontaine in der Beschreibung des Schweikertschen Ladengeschäftes, das auch Engrosvertrieb hatte; er schilderte den Keller, das Warenmagazin und zählte die Weinstücke auf - unermüdlich, ohne inne zu halten, baute er mit gewöhnlichen Worten den Uferwall gegen das Glück dieses Tages und seinen eigentlichen Besitz, an den er nicht denken durfte, ohne wieder aufs neue von ihm begraben zu werden. Wie der kleine Bruder im Märchen, der sein Schwesterchen an der Hand hat und vor der verfolgenden Woge flieht, warf er hastig die goldene Bürste und den goldenen Kamm zurück, damit sie als Kammberg und Bürstenberg zu einem Hindernis würden; aber wandte er sich in den Atempausen zu der Wasserflut, die hinter ihm herkam, um: so schien ihm das Nixenhaupt über den Wellen dem Mädchen an seiner Hand zu gleichen, ja, ein und dasselbe zu sein, weshalb er von seiner Braut so wenig wie von dem Wasser zu sprechen wagte, denn das Wasser brachte die Braut, und die Braut das Wasser hervor - eines die Mutter des andern und keines für sich allein . . .
Oben angekommen, drückte er sanft den Blinden auf einen Eisenstuhl nieder, griff in die Traufe des Weinberghäuschens und holte den Schlüssel hervor. Einige Zeit danach saßen sie beide vor Brot und Wein, denn einen anderen Vorrat hatte Belfontaine nicht entdecken können. Das Brot war fein, aber ausgetrocknet; sie tunkten es deshalb in ihr Getränk und wurden rascher berauscht, als naturgemäß notwendig war.
»Morgen um diese Zeit«, sagte Belfontaine mit verzauberter Stimme, »wird meine Brautmesse sein.« Gleich darauf rief er heftig aus: »Du mußt mich duzen, verstehst du, und ,Lazarus‘ zu mir sagen.«
Der Blinde griff ungeschickt nach dem Glas, sie überkreuzten die Arme und tranken einander zu.
»Prost Lazarus!«
»Prost, Johannes, mein Täufer!« erwiderte Belfontaine. »Im Grunde«, sagte er danach rasch und deutete auf das Städtchen, als ob der Blinde mitsehen könnte, »bin ich zur Hälfte von hier. Meiner Großmutter Mutter: die alte Johanna Levi wurde da unten geboren; ich glaube, damals bestand noch das Ghetto - - also war es wohl dort, wo das rote Hannchen mit der großen Nase herumlief; noch heute kann man erzählen hören, es habe sich nicht wie andere Kinder am Kopf, sondern stets an der Nase gestoßen. Schön war sie nicht, aber fromm und tapfer und soll bei dem Rückzug Napoleons mit zehn Kosaken auf einmal fertig geworden sein. Das war an einem Sabbath, die Kerle wollten Branntwein, da sagte sie: ja, doch sie müßten sich selber in den Keller hinunterbemühen. Eins, zwei, drei, schlug sie die Falltür zu, als alle unten waren, und setzte sich darauf; sie war so entsetzlich dick und schwer, daß keiner sie hochstemmen konnte. Ihr Mann und die Kinder wechselten ab; sie hatten dreizehn Söhne, das Schwesterchen war noch nicht da. Beim Sitzen sang die ganze Familie in einem fort Psalmverse her, mein Urgroßvater war Kantor, und die Russen sollen von unten herauf nicht schlecht geantwortet haben. Das ging so einen Tag, eine Nacht und wieder einen Tag. Dann wurde es stiller, und als das Hannchen die Falltür hochhob, lagen die Russen allesamt schnarchend um das Branntweinfäßchen herum. Inzwischen war das andere Heer schon wieder abgezogen; man lud die zurückgebliebenen Kerle auf einen Leiterwagen und fuhr sie zum Städtchen hinaus, legte sie dort in aller Stille auf einen Rübenacker und überließ es dem Beelzebub, ihnen den Weg zu weisen . . .
Ja, solch eine war die Johanna Levi, die nachher noch das Estherchen kriegte: meine Großmutter mutterseits. Die war nun ganz anders: sanft, schmal und klein und ist auch jung gestorben. Eigentlich weiß man nicht viel von ihr; nur, daß sie als Kind schon so schön war, daß immer zwei Brüder, rechts und links, an ihrer Seite gingen, sobald sie das Haus verließ. Ein Offizier, der im Reisewagen durch unsere Stadt kam, verliebte sich in sie. Man brachte sie daraufhin zu einer Tante nach Worms und gab ihr einen Mann, der zwanzig Jahre älter und der beste Gesetzeskenner der ganzen Gemeinde war. Ich glaube nicht, daß die beiden schlecht miteinander lebten; meine Großmutter war ihm in allem gehorsam und ehrte seinen Verstand und seine Rechtschaffenheit. Er wieder ließ es der jungen Frau an keiner Bequemlichkeit fehlen: sie durfte Kaffee brennen und sich bei dem Fräulein Desclavissac ihre Handschuhe nähen lassen. Doch, doch, sie hatte es gut, wurde aber nicht alt. Als ihr Kind, meine Mutter, fünf Jahre war, hat man sie schon begraben. Es gibt ein Medaillonbild von ihr, auf Porzellan gemalt. Da sitzt eine Taube auf ihrer Schulter, und auf der Rückseite stehen die Worte: ,Für Sulamith, Salomons Braut‘. Dieses Bildchen war ein Geschenk des fremden Offiziers - meine Mutter hat es nachher bekommen, und morgen schenke ich es meiner Elisabeth.«
Herr Belfontaine lachte ein wenig und sagte: »Die hat nämlich auch so ein Täubchen, und dieses Täubchen hat zwischen uns beiden den Kuppler gespielt . . . ja, ja. Es war bei einer Karnevalssitzung, sie war als Colombine verkleidet und trug ein Elfenbeintäubchen am Hals, das mich, ich weiß nicht warum, an ,Sulamith, Salomons Braut‘ erinnert haben muß. Ich spielte beim Tanzen ein wenig damit, es hing an einem hellblauen Samtband, sie wehrte mich ab, ich war schon verliebt und dachte: ein anderer, du mein Gott, hätte es ihr verehrt. ,Was ist denn das eigentlich?‘ fragte ich dumm. Sie sagte schnippisch: ,der heilige Geist‘, knickste und ließ mich stehen. So fing es an. Und den Abend über schmeichelte ich dem Täubchen, als sei das Täubchen sie selbst. Ich sagte: ,der heilige Geist muß was trinken‘, und brachte ihr ein Glas Wein. ,Komm, heiliger Geist und fliege nicht fort, ich tu dir ja nichts zuleide! Ruh dich aus bei mir, heiliger Geist!‘ Als es dann ernst mit uns wurde, verlangte sie meine Taufe; wir hätten ja auch, wie du weißt, sonst gar nicht getraut werden können. Nun, meine Eltern waren schon tot, ich hatte auch keine Geschwister, ein paar entfernte Verwandte nur . . . und brauchte nach nichts zu fragen. Das bißchen Wasser, dachte ich damals, kann dir ja wohl nicht schaden - -«
Herr Belfontaine schob sein Glas von sich weg, fiel mit dem Oberkörper nach vorne und legte den Kopf auf die Arme: »Ich habe es nicht gewußt . . . nicht gewußt«, sagte er mit erstickter Stimme, »daß ich nicht nur das Wasser wollte.«
Der Blinde drehte sich ganz zu ihm um, packte Lazarus an der Schulter und fragte mit harter Betonung: »Was wolltest du denn? Das Mädchen? Das Geld?«
»Den Glauben«, erwiderte Belfontaine einfach und richtete sich auf. »Den blinden Glauben - -«
»Prost, Lazarus!«
»Prost, Johannes, mein Täufer! Prost, blinder Glaube!« Und ablenkend, fragte er von sich fort: »Woher kommst du eigentlieh? Hast du Verwandte? Und wovon ernährst du dich?«
Der Blinde blieb stumm und hielt sein Gesicht regungslos in die Sonne; in dem scharfen, brennenden Frühlingslicht traten mit überwirklicher Schärfe alle Linien um Schläfe und Mund hervor, der Bau seiner Nase, die Backenknochen, jede Mulde, Stoppel und Pore, das Beständige und das Verwandelnde - von dem Skelett, das sich jetzt noch verbarg, bis zu den ätherischen Ölen der Haut, den Tränenfurchen, der Feuchte des Lächelns und dem Atem, den sowohl Reden wie Schweigen wie einen mystischen Schleier über die Züge warfen . . . verbergend, alles wieder entrückend, was eben noch deutlich war.
Herr Belfontaine blickte ihn aufmerksam an. »Wahrhaftig, du bist nicht von hier«, sagte er überrascht. »Aber wo kommst du denn her, mein Lieber?« fragte er ihn zum zweitenmal, während sich eine steigende Spannung seines Wesens bemächtigte. »Von weit her?«
»Von weiter her, als du denkst«, sagte der Unbekannte.
»Also kenne ich deine Heimat nicht?« fuhr der andere hartnäckig fort.
Der Blinde lächelte. Dieses Lächeln schien gleichsam die Blüten und Gräser jener Gefilde zu sammeln, an die er sich nun erinnerte, und löste sie in Duft.
»Schon gut. Ich werde es heute nicht wissen. Vielleicht einmal später - wie?«
»Heute . . .!« rief plötzlich der Blinde aus. »Was hat dir heute der Herr gesagt, Lazarus Belfontaine?« ,Heute habe ich dich gezeugt‘, gab er sich selbst zur Antwort. »Dies hier« - er wies in die Richtung des Städtchens und schien es wie einen Haufen Spielzeug mit seiner Hand zu bedecken - »bedeutet nichts gegen die Herkunft des Glaubens, aus dem du geboren bist. Alles andere: Vater, Mutter und Brüder . . .« Er verwölkte sich, legte den Arm um Belfontaines Nacken und sagte: »So sind wir nun Vettern von Abraham her, der der ,Vater des Glaubens‘ heißt. Aber du mußt noch zurück hinter ihn . . . dorthin, wo wieder die Blutkette abreißt und keiner sich auf sie berufen kann - - hinter Noë, Henoch und Seth.«
Der andere starrte über die Hänge, über die Rebstöcke, Mauern und Hügel, die ein wasserhaltiges Licht genähert und wieder entstofflicht hatte, bis sie nur noch Erinnerung waren. »Noë, Henoch und Seth . . .«, sagte er vor sich hin. Ein Schauder berührte plötzlich sein Hirn, als flösse das Leben mit furchtbarem Brausen von seinen Windungen ab wie Wasser von bleichen Grottengebirgen und sammelte sich bewußtlos in Becken und Eingeweide. Tief unten lag der dampfende Blutsee des auserwählten Volkes und tränkte den Wurzelballen der Herkunft mit Segen, Verheißung und Fluch. Bei jedem neuen Einschuß des Blutes bebte der ganze Baum und erinnerte sich an Jahwes Hand, die auf des Erzvaters Hüfte lag und auf der Schulter Mosis, als Gott vorübereilte.
»Jetzt!« - sagte der Herr und nahm seine Hand hinweg; da durfte Moses ihn schauen: doch nur seinen Rücken - das, was vergangen und nicht, was zukünftig war . . .
»Jetzt« - wiederholte Herr Belfontaine zum letztenmal seine Beschwörung und sah auf den Rücken der sieben Jahre, die er zu kennen glaubte wie der Fischer die Nixenbehausung am Grunde, in der er sieben Jahre verbracht hat, oder der Schäfer den Elfenhügel. Aber nichts als vollkommen finstere Schwärze schlug von dem Wasserspiegel zurück - und von dem Leben unter dem Wasser eine Hitze wie von der Bergwand an heißen Sommertagen. Das Licht war jenseits; gewiß: es hatte darauf gelegen und dieses Wasser durchfunkelt, diese seltsame Hitze erzeugt; nun aber war es verschwunden - er wußte nicht, wohin.
Aufs neue versuchten seine Gedanken, zu dem Anfang zurückzukehren: zu dem Kirchenportal, zu dem Haus in dem Weinberg und vor allem zu jenem Zeichen, das der Finger des Blinden, weit umgebogen, an das Wingerthäuschen geschrieben hatte, als sie beide, angehaucht von dem Duft einer jetzt erst geahnten Rebenblüte, daran vorübergetaumelt waren - auch dieses fand er nicht mehr. »Und ich habe es doch genau gewußt«, sagte Herr Belfontaine hilflos. »Es muß ein schreckliches Zeichen und ein merkwürdig fremdes gewesen sein, sonst wäre mir nicht von da ab der Bettler immer ein wenig zum Fürchten gewesen; gewiß: es war ein Ganovenzeichen, etwas, womit die Diebe das Fenster oder die Tür vermerken, durch welche sie einbrechen wollen.«
»Vielleicht ist es gut, daß der Blinde nicht kommt«, schloß Herr Belfontaine seine Erinnerung ab. »Denn was weiß ich im Grunde von ihm? Man hat sich einmal im Jahr gesehen, ich habe ihm Geld gegeben und vielleicht manches erzählt, was ich besser verschwiegen hätte. Nun ja, nichts Schlimmes und kein Geheimnis.« Bei den letzten Worten breitete sich allmählich eine Ruhe über Hern Belfontaine aus, wie er sie vorher noch niemals gekannt oder besessen hatte - vorher, als er von Jahr zu Jahr wie über verschränkte Hände von Engeln gegangen war; über Winde, die trugen, und Feuerflammen, die ihn brannten und doch nicht verbrannten. Mag sein, daß dieses neue Gefühl mehr Enttäuschung als Ruhe war. Einerlei. Wenn nun der Blinde doch noch gekommen wäre, hätte Belfontaine ihm auf die Schulter geklopft und mit frischer Stimme gesagt: »Schnickschnack, mein Lieber, was denkst du dir denn? Ich habe jetzt keine Zeit. Ein Geschäftsmann -! Das Mehl muß durchgesiebt und das Öl auf Flaschen gezogen werden, dem Importeur ist nach Hamburg zu melden, daß der Tee zu staubig, der Kaffee verbrannt und der Zucker nicht gut verpackt war. Briefe zu schreiben, Bilanz zu machen, Bestellungen aufzugeben . . . nein, nein, so leid es mir tut. Die Pflicht geht vor, das verstehst du zwar nicht, aber es bleibt dabei.«
Ohne es selber gewahr zu werden, fing Belfontaine mit dem Unsichtbaren in lauten Worten zu sprechen an, ihm zuzureden, ihm Antwort auf allerlei Fragen zu geben, die überhaupt nicht gestellt worden waren, und näherte sich mit heftig bewegtem Körper wieder dem Gartenzaun. Wie ein Schauspieler, der seine Rolle, ein Schüler, der seine Lektion wiederholt, sagte er immer dasselbe mit behaglicher Hartnäckigkeit; er untermalte es mit Gebärden, welche ausdrücken sollten: nein und nein! Strich drunter! Dixi! Ich habe gesprochen! Ein Mann, ein Wort -! Und endlos so weiter in verfetteten, sinnlosen Redensarten, die niemand ihm abverlangte.
»Aber! Aber! Herr Belfontaine!« sagte der Lotterieeinnehmer: Adalbert Adam Gully, und hob die Hände in Augenhöhe. »Ich habe doch noch gar nichts gewollt -?«
Um ein Haar wäre Belfontaine an dem Zaun mit ihm zusammengeprallt. Verdammter Schleicher! durchzuckte es ihn; und: nur nichts merken lassen! war sein übernächster Gedanke. »Haha, nichts gewollt! Nichts gewollt, ist gut. Um was geht es denn eigentlich wieder? Die Preußische? Oder um Wohltätigkeit? Erdbeben, Überschwemmung? Die Orangenhaine am Fuß des Vesuvs, die Reisfelder an dem Jangtsekiang - alles hin und verwüstet, Herr Gully weiß es, Herr Gully wird es bessern.« Er lachte wieder gekünstelt auf und sah in das verhaßte Gesicht des Lotterieeinnehmers, von welchem er zu Elisabeths Schrecken neulich im Laden behauptet hatte, er habe Regenwurmhaut.
»Nein, nichts von Wohltätigkeit«, versicherte Gully geschmeidig. »Eine Landwirtschaftslotterie mit verschiedenen Pferdeprämien: Schimmel, Schecken und Rappen; auch Wägelchen sind zu gewinnen, Chaischen und Dogcarts, warum denn nicht, man muß es nur einmal wagen.«
»Schade«, sagte Herr Belfontaine boshaft. »Wenn es nämlich ein Wohlfahrtslos oder sowas gewesen wäre - eine Kirchenbaulotterie, na, ich weiß nicht - -«
Herr Gully zog die Augen zusammen, die winzigen federförmigen Büschel auf der häßlich gekniffenen Rundung seiner verschmalzten Ohren fingen zu zittern an. »Ja, leider kann ich damit nicht dienen. Keine Hungersnot augenblicklich in China, keine Feuersbrunst in der Pariser Oper, nur ein paar lumpige Heringskähne sind an der Küste untergegangen - aber«, nun salbte Gully die Zunge, »da hat schon der Kaiser persönlich die Hinterbliebenen für den Verlust ihres Ernährers getröstet. Es gibt im Verhältnis zum Wohlfahrtsdrang zu wenig Unglück auf dieser Welt. Die Leute sterben nicht mehr an Seuchen, sondern an Altersschwäche: die Kanalisation ist zu gut. Der Schnuller wird kreisärztlich abgeschafft werden, das Volk vermehrt sich, Schiffahrt ist not, die Wacht, die Wacht steht am Rhein. Ich frage also: was bleibt noch? Armut ist eine Schande, Almosen gibt man nicht schlank aus der Faust, sondern macht dafür einen Bazar.«
»Falsch!« widersprach Herr Belfontaine heftig. »Bazare sind nur ein Vorwand für Sekt und Küsserei. Wer geben will, soll ohne das geben. Alles andere«, sagte er, angeekelt von dem speichelnden Munde Gullys, »entspricht nicht meinem Begriff einer höheren Sittlichkeit.«