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Der Wandel vollzieht sich schleichend.
Zuerst sind es nur ein paar Risse und Löcher, die Graham im Keller seines Reihenhauses bemerkt. Aber schon bald sprengen Baumwurzeln den Belag von Gehwegen und Straßen, legen Strom- und Wasserversorgung lahm und bereiten die Rückkehr der Natur vor. Als das Leben in dieser Umgebung zur Qual wird, ziehen immer mehr seiner Nachbarn fort. Nur Graham bleibt. Und er stellt sich den Herausforderungen, die ein Leben fernab der Zivilisation mit sich bringt.
Eines Tages findet er sich zufällig in dieser fast schon vergessenen Zivilisation wieder. Graham steht vor der schwersten Entscheidung seines Lebens...
Ralph Sander (* 1963 in Köln) ist ein deutscher Übersetzer, Sachbuchautor und Schriftsteller. Besonders bekannt ist er für seine sekundärliterarischen Bücher über das Star-Trek-Universum.
Sein Science-Fiction-Roman Der Garten erschien erstmals im Jahr 1995: Ein kluges und im besten Wortsinne literarisches Werk, welches seiner Zeit weit voraus war und heute - im Jahr 2021 - aktueller ist denn je; ein Buch, das den Blick schärft für die sogenannten Wohltaten der Zivilisation, die uns längst vereinnahmt hat und uns zwingt, ein immer unmenschlicheres Leben zu führen.
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RALPH SANDER
Der Garten
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER GARTEN
Prolog
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Epilog
Der Wandel vollzieht sich schleichend.
Zuerst sind es nur ein paar Risse und Löcher, die Graham im Keller seines Reihenhauses bemerkt. Aber schon bald sprengen Baumwurzeln den Belag von Gehwegen und Straßen, legen Strom- und Wasserversorgung lahm und bereiten die Rückkehr der Natur vor. Als das Leben in dieser Umgebung zur Qual wird, ziehen immer mehr seiner Nachbarn fort. Nur Graham bleibt. Und er stellt sich den Herausforderungen, die ein Leben fernab der Zivilisation mit sich bringt.
Eines Tages findet er sich zufällig in dieser fast schon vergessenen Zivilisation wieder. Graham steht vor der schwersten Entscheidung seines Lebens...
Ralph Sander (* 1963 in Köln) ist ein deutscher Übersetzer, Sachbuchautor und Schriftsteller. Besonders bekannt ist er für seine sekundärliterarischen Bücher über das Star-Trek-Universum.
Sein Science-Fiction-Roman Der Garten erschien erstmals im Jahr 1995: Ein kluges und im besten Wortsinne literarisches Werk, welches seiner Zeit weit voraus war und heute - im Jahr 2021 - aktueller ist denn je; ein Buch, das den Blick schärft für die sogenannten Wohltaten der Zivilisation, die uns längst vereinnahmt hat und uns zwingt, ein immer unmenschlicheres Leben zu führen.
Für Tina. Und Tana
In diesen Tagen erinnerte nichts mehr an früher - die Monotonie, die sich für Graham stets als ein Synonym für die Zivilisation manifestiert hatte, war auf eine Weise verschwunden, die man getrost als ein Wunder bezeichnen konnte. Das Leben war für Graham zu einem faszinierenden Abenteuer geworden, das man ihm nicht einmal für eine Reise in einen südamerikanischen Dschungel ohne Rückfahrkarte hätte garantieren können. Er saß lange Zeit bewegungslos auf der Veranda seines Hauses und beobachtete aufmerksam den Lauf der Sonne, die in diesem Moment die ersten Baumwipfel erreicht hatte. Ein kurzer Blick zur Uhr erinnerte ihn von neuem daran, dass sie schon vor langer Zeit stehengeblieben war. Er schätzte die Zeit auf etwa fünf Uhr. Wenn er sich nicht täuschte, war die Sonne in der letzten Woche geringfügig früher untergegangen, in diesem Fall ein sicheres Zeichen für den bald wieder beginnenden Sommer.
William schwirrte irgendwo in den Ästen der Bäume umher, die Doggen hatten sich auf dem Rasen niedergelassen und waren eingeschlafen. Jedes Geräusch, das der Wind ihnen zutrug, wurde jedoch mit einer kurzen Bewegung der Ohren registriert; nachdem sie jedoch festgestellt hatten, dass das, was sie hörten, für sie keine Gefahr darstellte, genossen sie weiterhin die Ruhe, die ihnen ihre Entscheidung gebracht hatte, den Schrottplatz zu verlassen und sich Graham anzuschließen.
Mit der einsetzenden Dämmerung kamen die Mücken, die sich am Tag in der Umgebung der kleinen Seen und Tümpel aufhielten, und anderes Getier zum Haus. Graham wunderte sich darüber, zumal es schon seit scheinbar ewiger Zeit keinen Strom mehr gab, und sie daher von keiner künstlichen Beleuchtung angezogen wurden. Möglicherweise hatten sie von den vorherigen Generationen diese Informationen übernommen und verließen seitdem regelmäßig den Wald, obwohl der ihnen eigentlich Schutz bot. Sobald das Surren der filigranen Flügel zu hören war, steuerten Mauersegler und Schwalben im Sturzflug auf die Schneise zwischen Wald und Bebauung zu. Die wenigsten Mücken überlebten das Gemetzel, was die anderen aber nicht davon abhielt, immer wiederzukommen.
Die Anwesenheit der verschiedenen Insekten störte Graham nicht, genaugenommen schätzte er sie sogar. Die kleinen Lebewesen waren für ihn ein Beweis dafür, dass niemand außer ihm in der Stadt war, denn längst hätte sich jemand mit Gift darangemacht, sie auszurotten.
Genauso schätzte und liebte er die Bäume und Büsche, die Blumen und Gräser, wenngleich er die Namen, die er vor sehr langer Zeit in der Schule gelernt hatte, längst nicht mehr kannte. Auch die Namen der meisten Tiere waren ihm mittlerweile entfallen. Nicht anders verhielt es sich mit den Namen der Menschen, die früher hier gewohnt hatten. Sie waren zu fremdartigen Buchstabenkombinationen mutiert, die in Grahams Welt keinen Sinn mehr ergaben. Er hatte diese Entwicklung zu keiner Zeit mit Sorge betrachtet. Für ihn war einfach alles gleichgültig geworden, die Menschen waren nicht mehr hier, und die Tiere und Pflanzen konnten auch existieren, ohne dass sie einen willkürlich ihnen zugeordneten Namen trugen, und sie würden es auch tun, wenn die Menschheit längst vergangen war. Gegangen von der Erde, verschollen und vergessen, nur noch existent in Milliarden Filmkilometern, die niemand betrachten würde. Graham überlegte, ob das Zelluloid tatsächlich über einen solch langen Zeitraum haltbar sein würde. In jedem Fall wären die Projektoren bis dahin zu rostig-rotem Staub zerfallen, aus dem wohl kaum ein Phönix auferstehen könnte. Die Tiere würden nicht nach den Menschen fragen, sie würden, wenn deren Verschwinden sie überhaupt noch interessierte, höchstens froh sein über die Ruhe, die zurückgekehrt war, und über das Ende des Jahrtausende währenden sinnlosen Mordens.
Graham lehnte sich zufrieden in seinen noch immer erstaunlich stabilen Korbsessel zurück, der zusammen mit einem flachen Stein, der als Ersatz für einen Tisch diente, das einzige Mobiliar der Veranda darstellte. Er dachte darüber nach, wie lange es her sein mochte, seit er zum letzten Mal einen Menschen gesehen hatte. Beruhigt stellte er fest, dass die Erinnerung daran völlig fehlte, es musste daher beträchtlich viel Zeit vergangen sein. Seine Gedanken wanderten weiter und kreisten um William, den er an diesem Tag noch nicht gesehen hatte. Er hoffte, dass ihm nichts zugestoßen war, obwohl er wusste, dass William kräftig und schnell genug war, um einer Gefahr aus dem Weg zu gehen. Die größte Gefahr - nämlich die, von einem Auto überfahren oder von einem fanatischen Kleingärtner vergiftet oder erschossen zu werden - bestand glücklicherweise nicht mehr.
Er stand auf und ging ins dunkle Wohnzimmer, dessen einstiger teurer Parkettfußboden sich in einen ungepflegten Rasen verwandelt hatte. Das sorgfältig behandelte Holz hatte nur wenige Wochen standhalten können, dann war sein Untergang besiegelt. Von dem darunterliegenden Steinboden war nur Staub übriggeblieben, der sich so wie das Holz mit der Erde vereinte. Efeu wucherte an den Wänden des Zimmers entlang, hatte Bilder in Besitz genommen, die von den im feuchten Verputz steckenden Haken längst nicht mehr gehalten wurden. Es hatte die Deckenlampe umringt, bis von ihr nichts mehr zu sehen war. Kurz nachdem das Efeu die Lampe völlig für sich beansprucht hatte, ereignete sich eine Reihe kleiner Explosionen, die Graham aus dem Schlaf geschreckt hatten. In jener Nacht war er nicht auf die Ursache gekommen, erst später war ihm dann klargeworden, dass es keine Explosionen waren, sondern Implosionen, ausgelöst von den Glühbirnen, die unter dem Druck des Efeus kollabiert waren. Graham hatte die Birnen ganz vergessen, da die Lampe wegen des Stromausfalls unnütz geworden war.
Einen Moment lang überlegte er, warum er ins Haus gegangen war, dann erinnerte er sich. Er wollte sich einmal mehr davon überzeugen, dass seine Erinnerungen an die Stadt der Realität entsprachen und nicht einem Traum entsprangen, den man nur auf den ersten Blick für einen Alptraum halten mochte, der sich aber schon sehr bald als wunderbares Erlebnis offenbaren würde. Die Erde unter seinen Füßen gab ein wenig nach und kam dann wieder zum Stillstand. Er vermutete, dass die Regenwürmer in den letzten Tagen besonders aktiv gewesen sein mussten; vielleicht hatte er aber auch diese Stelle des Wohnzimmers lange nicht mehr betreten. Er schüttelte den Kopf, um die unnötigen Gedanken zu vertreiben und sich auf sein Ziel zu konzentrieren, ging durch den langen düsteren Flur und öffnete die Haustür. Zwanzig Meter weiter in Richtung Straße befand sich der Durchgang, an dem früher ein hölzernes Gartentor Grahams Grundstück von der Außenwelt abgetrennt und so für jedermann erkennbar sein Eigentum markiert hatte. Jetzt wäre das Tor eine unnatürliche Grenze gewesen, denn es gab keinen Unterschied mehr zwischen Grahams Garten und der Straße. Das Tor war verrottet, so wie die meisten Dinge, die zu nichts mehr nütze waren, sich auf die eine oder andere Weise verabschiedet hatten oder zumindest im Begriff waren, das zu tun. Graham gefiel diese Entwicklung, die harmlos angefangen hatte, so sehr, dass er Mühe hatte, die Ereignisse in die richtige Reihenfolge zu bringen. Die Erinnerung an die Vergangenheit fiel ihm von Tag zu Tag schwerer, irgendwann würde er sich sogar von seiner eigenen Person restlos getrennt haben und einfach nur noch leben, befreit von Gedanken an Dinge, die nicht mehr existierten, und an Menschen, die vielleicht nicht mehr lebten.
Angefangen hatte alles an einem ganz normalen Tag, an dem in den Nachrichten die zur Gewohnheit gewordenen Katastrophenberichte und Reportagen von irgendwelchen Kriegsschauplätzen gesendet wurden, die niemanden wirklich mehr interessierten. Es war kurz vor sieben und somit Zeit für ihn, das Haus zu verlassen, um zur Arbeit zu gehen. Er blieb vor dem mannshohen Spiegel in der Diele stehen und begutachtete sein Abbild. Nicht, dass er darauf besonderen Wert gelegt hätte, es war ein äußerer Zwang, den seine Arbeit in einem Büro mit gelegentlichem Publikumsverkehr mit sich brachte.
Er prüfte den Sitz seiner Krawatte, korrigierte sie ein paar Millimeter nach links, reckte den Hals, um zu sehen, ob er bei der Rasur keine Stelle übersehen hatte, strich über die korrekt gescheitelten Haare, dann war er zufrieden mit dem, was er sah. Er gab seiner Frau Marie, die soeben aus dem Bad kam, einen Abschiedskuss und ging aus dem Haus. Dabei wurde ihm wieder einmal bewusst, wie sehr er sich an die Gegenwart seiner Frau gewöhnt hatte. Er konnte sich kaum noch an etwas aus der Zeit erinnern, als sie sich noch nicht gekannt hatten. Bei allem, was er je getan hatte in seinem Leben, schien seine Frau stets präsent gewesen zu sein. Er wusste, dass es nicht so war, schließlich hatte er vor ihr andere Frauen gekannt. Und es hatte auch eine Zeit gegeben, in der er sich für Frauen noch gar nicht interessiert hatte. Aber seine Erinnerung schien wie manipuliert. Es fiel ihm nicht nur schwer, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, von ihr getrennt zu sein, er mochte diesen Gedanken auch nicht sonderlich.
Auf der Straße hob er die Zeitung auf, die vor dem Gartentor lag, obwohl er bereits vor mehreren Jahren einen separaten Kasten für die Tageszeitung am Tor montiert hatte, was von den verschiedenen Zeitungsausträgern jeden Morgen aus nicht nachvollziehbaren Gründen ignoriert wurde. Auch seine regelmäßigen Beschwerden beim Verlag hatten an diesem Missstand nichts geändert.
Dann ging er weiter, während er die Schlagzeilen auf der Titelseite überflog. Ein exakt festgelegter Zeitplan war einzuhalten, er musste rechtzeitig am Bahnhof sein, um den Zug in die Innenstadt nicht zu verpassen. Hin und wieder grüßte ihn einer seiner Nachbarn, er erwiderte den Gruß mit einem schnellen, gerade noch wahrnehmbaren Kopfnicken. Graham gab sich keine Mühe, freundlicher zu wirken, als er in Wirklichkeit war. Er mochte seine Nachbarschaft nicht sonderlich, hielt es aber andererseits nicht für nötig, diese Tatsache jedem mitzuteilen. Auch wenn er nicht daran glaubte, mochte eines Tages eine Situation eintreten, in der er auf ihre Hilfe angewiesen sein würde. Von Zeit zu Zeit fiel ihm auf, dass die Vorgärten immer gleich aussahen. Sie erinnerten ihn an Fotografien, aber nicht an echte Gärten. Das Gras war stets gleich lang, die Büsche wurden scheinbar stündlich geschnitten. Nie war ein noch so kleiner Zweig zu sehen, der sich über die linealgerade Fläche erhob. Im Herbst wurde der Rasen scheinbar im Zehnminutentakt von den vertrockneten Blättern befreit, im Winter wurde der Schnee auf einen großen Haufen zusammengetragen. Die Gärten wirkten wie jene Bilder von den vier Jahreszeiten, die nur im Paket verkauft wurden.
Graham konzentrierte sich wieder auf den Weg, der vor ihm lag, nachdem er bemerkt hatte, dass die abschweifenden Gedanken ihn hatten langsamer werden lassen. Er erreichte den Bahnhof noch rechtzeitig und fand wie gewohnt im Zug einen Sitzplatz. Hätte er zwei oder drei Stationen später einsteigen müssen, wäre dieser angenehme Zustand nicht mehr so sicher gewesen.
Im Büro angekommen warf er einen flüchtigen Blick auf die Post, die man ihm zugeteilt hatte, entnahm einen wichtigen Vorgang und legte den Rest zurück auf einen der Stapel von Vorgängen, die nicht vorrangig zu bearbeiten waren. Er nahm wie an jedem Tag zur Kenntnis, dass die meisten in dieser Abteilung die Frühstückspause erheblich überzogen, aber es gab für ihn keinen Grund, diesen Zustand anzuprangern. Solange er mit seiner Arbeit zurechtkam und keine zusätzlichen Aufgaben von anderen übernehmen musste, die nicht halb so gewissenhaft arbeiteten, kümmerte es ihn nicht. Die Mittagspause verbrachte er wie an den meisten Tagen an seinem Schreibtisch, da es sinnlos war, in einem der umliegenden Schnellrestaurants für einen Hamburger anzustehen, den er erst erhalten würde, wenn seine Pause schon vorüber war. Stattdessen vertiefte er sich in die Zeitung, die jedoch seit einigen Wochen nur noch Belanglosigkeiten meldete. Vielleicht war er aber im Lauf der Zeit von den Schreckensmeldungen aller Art so abgestumpft, dass er fast wie ein Drogensüchtiger eine höhere, stärkere Dosis benötigte, um sich noch ereifern zu können. Schiffsunglücke, Erdbeben und Kriege reduzierten sich im Lauf der Zeit auf statistische Angaben von Toten, Schwerverletzten und Leichtverletzten. Insbesondere bei den Berichten von den zahlreichen Kriegsschauplätzen kam es Graham so vor, als würde sich die anfängliche Aufregung darüber, dass ein Krieg ausgebrochen war, recht schnell legen und einer Statistiker-Mentalität weichen, die sich auf die möglichst exakte Feststellung der Zahl der Opfer konzentrierte.
Der Rest des Tages verlief so einheitlich wie alle anderen Tage in diesem Büro. Von Zeit zu Zeit klingelte das Telefon und machte eine Unterbrechung notwendig, die aber meist nicht länger als drei oder vier Minuten dauerte, dann widmete sich Graham wieder den Bescheinigungen, die er zu bearbeiten hatte. An manchen Tagen kam es ihm so vor, als würde ihm jemand für jeden Vorgang, den er erledigte, zwei neue Bescheinigungen auf den Tisch legen.
Als er pünktlich um fünf Uhr Feierabend machte, war das Büro bereits so gut wie leer. Lediglich in ein paar Abteilungen saßen Kollegen vor ihren Computern und befassten sich mit Problemen, die Graham nicht nachvollziehen konnte. Er verstand nicht viel von Computern, und er hoffte, dass das so bleiben konnte.
Der Weg zurück in die Vorstadt bis zu seinem Haus erschien ihm wie die hundertste Wiederholung der Produktion eines experimentierfreudigen Jungfilmers, der sein Publikum mit langatmigen Nichtigkeiten zu quälen versuchte. Jeder Schritt war unzählige Male gemacht worden, jeder Meter vom Bahnhof durch die Straßen bis hin zu seinem Heim war ihm vertraut. Als Graham sein Haus betrat, sah er, dass seine Frau im Wohnzimmer saß und telefonierte. Er ging ins Schlafzimmer und zog sich um, da er in seiner Freizeit bequeme Kleidung bevorzugte. Ins Wohnzimmer zurückgekehrt bemerkte er, dass seine Frau das Telefonat beendet hatte. Er küsste sie auf die Wange und setzte sich neben sie auf das Sofa. »Neuigkeiten?«, fragte sie. Er schüttelte den Kopf. »Und bei dir?«
»Stell dir vor, ich habe eben mit Frau Hansen telefoniert«, begann sie. »Du weißt schon, die Hansens hinten neben der Kirche. Erst vor zwei Wochen hatten sie einen Handwerker im Haus, der den Keller komplett verputzt und neu gestrichen hat. Und heute Morgen ist da schon wieder ein Riss in der Wand.«
»Ein Riss?« Er fragte sich, ob irgendetwas diese Belanglosigkeit aus dem Hause Hansen noch unterbieten konnte.
»Herr Hansen wollte ein Regal aufhängen für die vielen Konservendosen, damit die nicht alle im Weg stehen. Und da hat er ihn entdeckt.«
»Hansen kann Regale aufhängen?«, fragte Graham mit ironischem Unterton.
»Ich weiß, dass er nicht der geborene Handwerker ist. Aber für ein Regal reicht das bestimmt.«
Graham sagte weiter nichts. Nach einiger Zeit fragte er: »Und wer hat den Keller gestrichen?«
»Ich glaube, das war Michels«, erwiderte sie.
Zwei Tage später kam Michels nur widerstrebend zurück zum Haus der Hansens, weil er wusste, dass er für die anfallende Arbeit kein Geld verlangen konnte. Umso schneller verputzte er den Riss, der sich in Augenhöhe horizontal über eine Länge von gut drei Metern erstreckte, und zog wieder ab. Hansen berichtete voller Stolz allen, die ihm an diesem und den beiden folgenden Tagen begegneten, von seinem Triumph über einen offensichtlich doch nicht so gründlich arbeitenden Handwerker. Er liebte es, Fehlleistungen anderer zu monieren, möglichst in deren Beisein.
Dann war der Riss erneut da, diesmal länger und breiter. Michels kam noch am gleichen Tag und verputzte erneut, abermals ohne Bezahlung, was Hansen dazu veranlasste, noch mehr über den Maler herzuziehen.
Hansen traf Graham zwei Tage später abends auf dem Weg von der Arbeit nach Hause und erzählte ihm von dem Vorfall.
»Ich dachte immer, Michels sei so gründlich«, bemerkte Graham beiläufig. Hansen nickte zustimmend. »Das habe ich auch immer gedacht.«
Sie diskutierten eine Zeitlang über ihre früheren Erfahrungen mit Handwerkern, über deren Stundenlöhne, die in Grahams Augen noch weit mehr überzogen waren, als Hansen zuzugeben bereit war. Sie passierten eben das vor wenigen Wochen fertiggestellte und noch leerstehende Zweifamilienhaus am Beginn der Straße, in der sie beide durch einige Grundstücke voneinander entfernt wohnten, als ihnen Michels mit seinem Moped aus der Einfahrt kommend in den Weg fuhr. Graham grüßte, schließlich hatte Michels ihm nichts getan, wenngleich er dessen Art nicht sonderlich schätzte, die meiste Zeit des Tages damit zu verbringen, Bier zu trinken und lediglich in den Pausen zu arbeiten, die sich zwischen zwei Flaschen ergaben. Dennoch waren alle, die trotz ihrer Zweifel seine Dienste in Anspruch genommen hatten, von der Arbeit restlos begeistert, keiner hatte je etwas reklamieren müssen. Offensichtlich war Hansen der erste gewesen.
Michels hielt an und starrte sein Gegenüber mit leicht glasigen Augen wohl eine halbe Minute lang an, dann war er offenbar sicher, dass er Hansen vor sich hatte. »Ich werde Ihnen noch zwei Rechnungen schicken müssen«, sagte er mit einem Tonfall, in dem sich Verärgerung über Hansens Verhalten und Genugtuung darüber mischten, dass Hansen nicht im Recht gewesen war.
Hansen sah ihn fragend an.
»Mit den Rissen in Ihrem Keller hab ich nichts zu tun, die sind auch woanders aufgetaucht.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Hansen. Graham hielt sich angesichts dieser Frage, die aus einer schlechten Seifenoper hätte stammen können, die Hand vor die Augen. Hansen nahm ihn nicht wahr, da er sich auf Michels konzentrierte, während Graham überlegte, ob Michels mit seiner Aussage etwas anderes hätte meinen können, als das, was er ausgesprochen hatte. Er fand keine Alternativen und amüsierte sich insgeheim über Hansen, der sprachlos den Ausführungen des Malers lauschte. Der erzählte von mindestens sechs weiteren Vorfällen gleicher Art, in drei Fällen hatte ein anderer Maler die Arbeiten ausgeführt. »Vermutlich hat sich die Erde irgendwo unter uns ein wenig verschoben, keiner hat davon was gemerkt. Also, wie gesagt, zwei Rechnungen kommen noch.«
Dann startete er sein Moped und fuhr davon. Neben Graham stand ein sichtlich verlegener Hansen, dessen Gesicht eine schwache Rötung zeigte, die er nicht unter Kontrolle bekam. Sie gingen schweigend weiter.
»Wenigstens hat es nicht nur Sie getroffen«, sagte Graham nach einiger Zeit, um die abrupt unterbrochene Unterhaltung fortzuführen. Hansen nickte nur, es war ihm nicht nur peinlich, sondern er ärgerte sich auch über Michels, der ihn in Gegenwart eines anderen so sehr in Verlegenheit gebracht hatte.
Sie trafen auf Meurer, der gemeinsam mit seiner Frau die Hecke schnitt, obwohl Graham keinen Unterschied zwischen dem bereits gestutzten und dem noch zu bearbeitenden Teil erkennen konnte. Er vermutete, dass sich ein paar Zweige erdreistet hatten, zwei oder drei Millimeter länger als die Norm zu sein. Graham grüßte mit einem Kopfnicken, Hansen ließ es sich nicht nehmen, seinem Ärger über Michels Luft zu machen. Die Version, die er erzählte, entsprach allerdings keineswegs mehr dem, was Graham mitbekommen hatte, andererseits sah der keinen Grund, Hansens Lüge publik zu machen. Er war sich seit langem sicher, dass die meisten seiner Nachbarn den größten Teil ihres Lebens aus Langeweile mit Lügen ausfüllten. Gleich, ob sie ein neues Auto bewunderten oder das umgebaute Bad, sie logen bei jeder Gelegenheit, sie überboten sich, wenn sie erzählten, wieviel Steuern sie zahlen mussten, sie übertrumpften sich mit ihren angeblichen Spenden, sie berichteten von ihrer Großzügigkeit, während der Friseur vom Gärtner erfuhr, wer wieder versucht hatte, den Preis einer Rechnung zu drücken, weil das eine oder andere angeblich nicht zur Zufriedenheit erledigt worden war. Sie waren alle gleich, und Graham hasste sie. Dennoch wollte er die Vorstadt nicht verlassen, denn er liebte umso mehr die Umgebung, in der sein Haus stand. Er hatte vom Garten aus einen freien Blick auf ein weitläufiges Tal, irgendwo weit dahinter verlief die Autobahn, von der er weder etwas sehen noch hören konnte. Wenn er sich vorstellte, dass sie nicht existierte, dann war sie für ihn auch unwiderruflich verschwunden, so lange, bis er ihr erlaubte, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Die Besorgnis seiner Nachbarn war gespielt, wenn sie erzählten, dass sie von Bebauungsplänen für das Tal gehört hätten. In Wirklichkeit war es reine Schadenfreude, die aus dem Wissen entstand, dass der andere sich daraufhin Sorgen zu machen begann. Graham machte sich, im Gegensatz zu seiner Frau, die zu naiv war, um die Wahrheit zu erkennen, keine Sorgen. Zwar dachte er manchmal darüber nach, was geschehen würde, sollte man das Tal tatsächlich einmal bebauen. Er verdrängte diese Gedanken jedoch schnell, weil sie zu diesem Zeitpunkt sinnlos waren. Noch hatte niemand einen Grundstein für was auch immer gelegt. Wenn es soweit war, konnte Graham sich immer noch Gedanken machen; es war zwecklos, auf der Grundlage von Gerüchten Pläne zu schmieden.
»Und wie sieht es bei Ihnen aus?« Graham zuckte zusammen, Frau Meurer war zu ihnen gestoßen und hatte ihn aus nächster Nähe angesprochen.
»Bitte?«, fragte er und bemühte sich, nicht verlegen zu wirken.
»Sie sind immer in Gedanken, Sie hätten Denker werden sollen«, sagte sie mit einem Lächeln, das er nicht deuten konnte, und blickte ihn abwartend an.
»Meine Frau wollte wissen, wie es in Ihrem Keller aussieht«, sagte ihr Mann schließlich, nachdem sie scheinbar ihre Frage schon wieder vergessen hatte. Ein Beweis für die Sinnlosigkeit der Unterhaltung, dachte Graham, dann antwortete er: »Mir ist noch nichts aufgefallen.«
Das Ehepaar redete weiter, beide gleichzeitig über verschiedene Dinge, Graham vermochte ihnen nicht mehr zu folgen, während Hansen interessiert nickte. Er fragte sich, ob Hansen irgendetwas von dem, was die beiden erzählten, hätte wiedergeben können.
Wahrscheinlich nicht, spekulierte er. Schließlich verabschiedeten sie sich mit dem Hinweis auf die Arbeit, die noch zu erledigen war. »Nette Leute«, bemerkte Hansen, als sie außer Hörweite waren. Graham gab einen Laut von sich, der alles Mögliche bedeuten konnte und der von Hansen zweifellos als Zustimmung aufgefasst wurde. Alle waren hier immer nur nett zueinander, nur höflich und freundlich, es gab noch nicht einmal den sonst üblichen Nachbarschaftsklatsch. Graham wunderte sich, warum sie alle diese Heuchelei mitmachten, warum sich nicht wenigstens ein paar von ihnen so neutral verhielten, wie er es tat. War es die Tatsache, dass man sich in einem eigenen Haus befand und nicht einfach umziehen konnte, wenn einem die Nachbarschaft nicht mehr gefiel? Er hatte zu Rottberg, seinem Nachbarn zur Linken, noch nie ein sonderlich gutes Verhältnis gehabt. In Grahams Augen war der Mann, der allein in einem für ihn viel zu großen Haus lebte, verrückt. Er hielt sich für einen Fernsehstar, dabei hatte er für nicht ganz zwei Wochen in einem lokalen Sender einmal am Tag die Wettervorhersage vorgetragen, dazu noch in einer Weise, die Graham hatte vermuten lassen, dass Rottberg einfach nicht wusste, was er eigentlich erzählte. Spätestens seit dem Rausschmiss aus dem Programm war Rottberg auf eine schwer zu beschreibende Weise gestört. Graham war sicher, dass der Mann auch in der Zeit davor nicht völlig zurechnungsfähig gewesen war, aber seit dessen Ausflug in die Welt der Medien fielen ihm diese Störungen immer mehr auf. Vielleicht war Rottberg auch schizophren. Der Garten, in dem sein Vorgänger das Wunder vollbracht hatte, verschiedene exotische Pflanzen zu kultivieren, die normalerweise höhere Temperaturen benötigten, wurde über Monate hinweg seinem Schicksal überlassen. Erst wenn sich eine Zeitung ankündigte, um aus einem dubiosen Grund über ihn zu berichten, heuerte er drei oder vier Gärtner an, die innerhalb weniger Stunden für Ordnung und für ein tadelloses Erscheinungsbild sorgten. Danach vergaß er offensichtlich für ein halbes Jahr oder länger, dass sich um sein Haus ein Garten befand.
Und dann war da noch das Problem mit den Tauben. In unregelmäßigen Abständen fand Graham im Garten angeschossene Tauben, der Tierarzt vermutete ein Luftgewehr als Tatwaffe. Er wusste, dass Rottberg seit vielen Jahren eine Luftpistole besaß und zudem ein guter Schütze war, was seine vielen Pokale bewiesen, die er im örtlichen Schützenverein gewonnen hatte. Was das Bild jedoch störte, war die Tatsache, dass er mehrfach Tauben gefunden hatte, die nicht von Rottbergs Garten aus angeschossen worden sein konnten. Damit schied die Möglichkeit aus, Rottberg direkt anzuzeigen. Auch eine Anzeige gegen Unbekannt, die Graham beim Polizeirevier um die Ecke erstattete, verlief ergebnislos.
Kurz darauf erfuhr er über einen anderen Nachbarn, dass der Polizist, der die Anzeige aufgenommen hatte, zu Rottbergs besten Freunden zählte. Vermutlich saßen die beiden in seinem Haus und amüsierten sich köstlich über den Text, den Graham zu Protokoll gegeben hatte. Seitdem hatte er mit Rottberg kein Wort mehr gewechselt, manchmal spielte er mit dem Gedanken, auf dessen Namen Dinge zu bestellen, die er nicht gebrauchen konnte, diese Überlegungen verwarf er jedoch recht schnell, da außer Graham niemand als Urheber in Frage kommen konnte.
Er versuchte, sich damit abzufinden, neben einem Geistesgestörten zu leben, auch wenn es ihm nicht immer leichtfiel, zumal Rottberg keine Gelegenheit ausließ, sich in den Mittelpunkt zu stellen, und damit in den Augen der anderen eine wichtige Person war.
Als Hansen und er Rottbergs Haus erreichten, stand der vor dem Tor, das in den wieder einmal katastrophal aussehenden Vorgarten führte. Er grüßte beide, Hansen erwiderte den Gruß, während Graham schwieg und es vermied, Rottberg überhaupt anzusehen, der von Tag zu Tag lächerlicher wirkte. Seine Erscheinung wurde immer exzentrischer, die Bräune, die er stolz zur Schau stellte, konnte nur aus einem Sonnenstudio stammen, da er noch nie in Urlaub gefahren war. Jedenfalls konnte sich Graham nicht daran erinnern, von Rottberg länger als für einen Tag nichts gesehen oder gehört zu haben.
Während Hansen stehenblieb und mit Rottberg sprach, steuerte Graham zielstrebig sein Haus an. Seine Frau beschäftigte sich mit Unkraut, das im Vorgarten aus dem Boden schoss. Graham hatte es auf gegeben, ihr zu erklären, dass es kein Unkraut gab. Sie wollte oder konnte nicht einsehen, dass auch Pflanzen, die scheinbar nicht mit den übrigen harmonisierten, in Wirklichkeit ein biologisches Gleichgewicht herstellten, das sie durch ihre Vernichtungsaktionen immer wieder zerstörte.
Er gab ihr einen Kuss, den sie kaum wahrnahm, und ging ins Haus. Kurz darauf kam sie mit Hansen hinterher. »Das musst du dir anhören, Schatz«, sagte sie und verschwand in der Küche. Hansen stand einigermaßen verloren im Wohnzimmer, zumal Graham in die Zeitung vertieft war und die Anwesenheit des Besuchers noch nicht bemerkt hatte.
Sie kam aus der Küche und reichte Hansen ein Glas Fruchtsaft. »Danke«, sagte er. Graham blickte auf, als er die Stimme hörte. Erstaunt sah er Hansen an, dann bemerkte er den ungeduldigen Blick seiner Frau. Entweder hatte sie ihn aufgefordert, mit ins Haus zu kommen, oder Graham hatte es selber getan und dann sofort vergessen.
»Sie müssen sich mal Rottbergs Keller ansehen.«
Graham verzog das Gesicht und wollte zunächst nichts erwidern. Dann sagte er mehr versehentlich als interessiert: »Weshalb?«
»Der Boden ist voller Unebenheiten«, erklärte Hansen in bedeutungsschwangerem Tonfall.
»Vielleicht benutzt er ihn als Trampolin«, erwiderte Graham trocken.
Marie kicherte nervös über die Bemerkung ihres Mannes, um sein offenkundiges Desinteresse zu überspielen. Graham warf ihr einen für Hansen unbestimmbaren Blick zu, sie wusste dagegen, welche Meinung er von den Nachbarn und von den herrschenden Umgangsformen hatte. Er hatte es so satt, immer nur freundlich zu sein, noch nicht einmal in seinen eigenen vier Wänden durfte er sich so verhalten, wie er wollte. Allgegenwärtig waren die ungeschriebenen Gesetze der ewigen Freundlichkeit und des permanenten Lächelns. Manchmal fühlte er sich wie in einem dieser Filme, in denen Besucher aus dem Weltall den Menschen das absolute Glück bringen und anschließend alle lächelnd durch die Straßen laufen. Fast zwangsläufig blickte er auf die Ulk-Postkarte, die ihm ein Schulfreund aus den USA geschickt hatte und die neben einem seiner Ansicht nach geschmacklosen Gemälde hing, das einen Hirsch auf einer Waldlichtung darstellte. Seine Frau hatte in all den Jahren, in denen das kleine Bild die Wand zierte, noch nie einen Blick darauf geworfen, er war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt von der Existenz dieser Postkarte wusste, auf der eine Familie zu sehen war, die durchschnittlicher und zugleich amerikanischer nicht hätte aussehen können, obwohl Graham zugeben musste, dass er keine amerikanische Familie kannte. Aber da war irgendwo in seinem Gedächtnis die Erinnerung an alte amerikanische Filme, in denen die Schauspieler so ähnlich aussahen und auch die Häuser, in denen sie agierten. Die Frau wirkte wie aus einer Reklame für Haarspray entliehen, während der Mann und die beiden Kinder, alle mit kurzen nach hinten gekämmten Haaren, hellgrüne Köpfe hatten. Darüber die Zeile: »Sind Ihre nächsten Angehörigen Außerirdische?« In der rechten unteren Ecke die warnende Frage: »Haben Sie in der letzten Zeit in Ihrem Haus etwas Seltsames bemerkt?«
Graham war versucht, ein Ja auszusprechen. Während er abwechselnd seine Frau und Hansen betrachtete, überlegte er, welcher Behörde er diese beiden Außerirdischen melden konnte. Genaugenommen musste er mindestens den ganzen Straßenzug melden. Aber konnte er sicher sein, dass die zuständige Behörde nicht schon längst unterwandert war und auf diese Weise von Grahams Existenz und seiner versehentlich verbliebenen Menschlichkeit erfuhr? Wenn er wirklich der letzte überlebende Mensch nach einer Invasion war, wem sollte er dann noch beweisen, dass etwas nicht stimmte? Schließlich war er dann der einzige, der von der Norm abwich.
Er kam zu dem Schluss, dass es gar nicht so schwer war, verrückt zu werden.
Hansen stand nach wie vor an der gleichen Stelle, in der linken Hand hielt er das Glas, sein Blick ruhte auf Graham. Offensichtlich erwartete er, dass Graham sofort aufstand und mitkam in Rottbergs Keller. Er hatte kein Interesse daran, außerdem bestand nach wie vor die Möglichkeit, dass Hansen und all die anderen tatsächlich keine Menschen waren. In diesem Fall wollten sie ihn unter Umständen nur in den Keller locken, um ihn dort unschädlich zu machen.
»Ich werde heute Abend oder morgen mal rübergehen und mir das ansehen«, sagte Graham schließlich und sah aus dem Fenster. Er befürchtete, dass man ihm die Lüge ansehen könnte. Hansen schien jedoch beruhigt und trank das Glas aus, reichte es Marie und verabschiedete sich.
Graham blickte ihm nach, dann widmete er sich wieder der Zeitung. »Ich finde, Herr Hansen ist ein netter Mann. Wir sollten ihn und seine Frau bei Gelegenheit einmal einladen.«
Graham nickte, während er die nächste Seite seiner Zeitung aufschlug.
»Hast du eigentlich schon mal in unserem Keller nachgesehen?«, rief sie, während sie nach oben ging. Eine Zeitlang geschah nichts, schließlich stand er auf und ging in den Keller. Bislang hatte er sich nicht darum gekümmert, aber er wollte auf dem Laufenden sein, auch wenn er nicht beabsichtigte, jemandem vom Zustand des Kellers zu erzählen. Auf dem Weg nach unten vermied er, darüber nachzudenken, was ihn dort erwarten würde. Schon auf der Treppe bemerkte er die Veränderung. Feuchtigkeit schlug ihm entgegen, nicht allzu intensiv, aber eindeutig zu viel für den bislang trockenen Keller. Bereits auf der Hälfte der Treppe entdeckte er den ersten Riss, das genügte ihm, um zu wissen, dass er von der Entwicklung nicht ausgeschlossen war und dass es mehr zu bedeuten hatte als die schlechte Arbeit eines Handwerkers und mit Sicherheit etwas anderes als die von Michels erwähnte Bewegung im Erdinnern. Er machte kehrt und ging zurück ins Wohnzimmer, wo seine Frau mittlerweile vor dem Fernseher saß. Er setzte sich zu ihr und sah einige Zeit zu. Ein Film aus den Fünfzigern oder Sechzigern lief, er fragte nach dem Titel, seine Frau wusste ihn nicht. Er kam nach einer Viertelstunde zu dem Schluss, dass sie den Film schon mindestens zweimal gesehen hatten, was Marie energisch bestritt. Graham verfluchte sein schlechtes Gedächtnis, das ihm die Erinnerung über die weitere Entwicklung in der Filmhandlung vorenthielt. Sein Schweigen war für Marie gleichbedeutend mit Zustimmung, was ihm zwar nicht behagte, aber auf der anderen Seite hielt er es für unangemessen, angesichts des schwachen Drehbuchs eine langwierige Diskussion mit seiner Frau zu beginnen. Nachdem er mehrere Minuten lang die Handlung mitverfolgt hatte, erinnerte er sich, wie schlecht der Film war, und es überflüssig war, sein Gehirn mit so etwas zu beanspruchen. Dann überwältigte ihn eine unerklärliche Müdigkeit. Das letzte, an was er sich erinnern konnte, war seine Frau, die sich bei ihm unterhakte und ihm half, die Treppe zum Schlafzimmer hinaufzugehen. In der Nacht wurde er erstmals von Alpträumen geplagt: Aus den Rissen im Keller drangen eigenartige, tentakelbewehrte Gestalten und griffen nach ihm, sie riefen seinen Namen, aber nicht, um ihn aus dem Schlaf zu reißen. Sie wollten ihn vielmehr für immer schlafen lassen, er sollte nicht mehr aufwachen. Graham rannte und schrie, niemand hörte ihn, er wachte nicht auf.
Am nächsten Morgen fühlte er sich schlecht. Er konnte sich nicht an die Träume erinnern, die ihn im Lauf der Nacht heimgesucht hatten, aber der Blick in den Spiegel verriet ihm, dass sie schlimm gewesen sein mussten. Er sah so schlecht aus wie schon lange nicht mehr; seit Monaten dachte er erstmals wieder daran, nicht zur Arbeit zu gehen. Es dauerte einige Zeit, dann fühlte er sich besser, schließlich rasierte er sich, frühstückte und machte sich auf den Weg zum Bahnhof.
In der folgenden Woche traf er erneut Hansen, wieder auf dem Weg nach Hause. Graham fühlte sich nicht wohl und hatte bereits kurz nach Mittag das Büro verlassen und sich auf den Heimweg begeben. Er wunderte sich, dass Hansen ebenfalls um diese Zeit unterwegs war, fragte aber nicht nach dem Grund.