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Der Bestseller der beliebten dänischen Autorin Elsebeth Egholm: Die 33-jährige Kit möchte nach der Trennung von ihrem Freund Weihnachten bei ihren Eltern verbringen. Doch als ihr geliebter Vater einen Herzanfall erleidet, nachdem er eine mysteriöse Postkarte mit chinesischen Schriftzeichen erhalten hat, ist Kit gezwungen, sich der Vergangenheit zu stellen. Gibt es eine Verbindung zu ihren Albträumen, die immer wieder mit dem alten Gartenpavillon ihrer Kindheit in Hongkong zu tun haben?-
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Seitenzahl: 520
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Elsebeth Egholm
Saga
Der Gartenpavillon ÜbersetztHanne Hammer OriginalOpiumCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 2001, 2020 Elsebeth Egholm und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726569650
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
»If you wake at midnight, and hear a horse’s feet
Don’t go drawing back the blind, or looking in the street,
them that asks no questions isn’t told a lie.
Watch the wall, my darling, while the Gentlemen go by!«
RUDYARD KIPLING
Die Bilder kamen nachts. Und mit ihnen die Geräusche und der Geruch. Nie würde sie diesen Geruch vergessen. Wurde der Traum erst einmal lebendig, schien der süße, klebrige Geruch überall zu sein. Schien er die Luft zu durchdringen, wie so viele andere Gerüche damals. Nach in der Wärme faulenden Früchten, nach verbrannten Kräutern aus den Straßenküchen oder nach Fisch auf dem Markt, der zu lange in der Verkaufstheke gelegen hatte.
Denn sie waren nahezu das Einzige, woran sie sich erinnerte. Die Gerüche. Und die flüchtigen Gesichter. Ihr Vater und ihre Mutter. Karen-Lis und andere, ihr unbekannte Personen, die miteinander verschmolzen und in neuer Gestalt wieder auftauchten, mit schrägen Augen, hohen Jochbeinen und platten Nasen. Und natürlich Agnes Ling.
Im Traum waren sie zusammen. Sie war fünf und Agnes sechs. Sie waren gleich groß und sahen sich auf gewisse Weise ähnlich mit ihrem dunklen Haar, ihren dünnen Armen und Beinen und ihren ovalen Gesichtern. Punkt, Punkt, Komma, Strich. Sie sah sie beide wie durch die Linse der Schmalfilmkamera, die im Gras zwischen ihnen lag. Sie gehörte ihrem Vater, und sie hatten sie sich ohne Erlaubnis ausgeliehen; besser gesagt, Agnes hatte das. Schnell wie eine Schlange hatte sie sie vom Regal genommen, als sie drinnen im Haus spielten. Sie wollten einen Film machen, verkündete Agnes und hatte sie mit dem Ausdruck angesehn, der sie immer gespannt und unruhig zugleich werden ließ, weil sie wusste, dass es kein Entrinnen gab.
Wie es irgendwo zwischen Traum und Wachzustand passieren kann, gewann das Wissen der Erwachsenen die Oberhand. Sicher, sie sahen sich ähnlich, doch es gab einen Unterschied. Sie spürte ihn, als sie in der Dämmerung im Garten ihrer Eltern saßen und mit Glaskugeln spielten, vergessen von den Erwachsenen und von der Ama, dem chinesischen Kindermädchen, das bestimmt mit dem Koch und dem Gärtner in der Küche saß und Mah-Jongg spielte.
Es waren nicht nur die Augen; Agnes’ schräge Schlitze im Gegensatz zu ihren eigenen weit offenen blauen Löchern. Es war auch nicht die Haut, denn im Licht der untergehenden Sonne schien auch ihre Haut einen gelblichen Schimmer angenommen zu haben. Es war etwas anderes. Etwas, das in die Vergangenheit zurück, aber auch in die Zukunft hineinreichte. Eine Art Bewusstheit über die eigene Bedeutung und die der Familie im großen Zusammenhang. Ein Wissen um die Wichtigkeit der Erinnerung durch die Generationen hindurch.
»Chinesen vergessen nie«, wie Vater immer sagte – und sie war sicher, dass er Recht hatte. Vater hatte immer Recht. Auf ihn konnte man sich verlassen. Er war wie ein großer warmer Punkt mitten in ihrem Leben, in dem das Gefährliche in jeder Ecke lauerte und sich in allen Schatten und im hereinbrechenden Dunkel versteckte. Vater war das Licht, und ohne ihn war alles schwarz. Ohne ihn gab es keine Kit.
Agnes stand auf, sie war der Glaskugeln müde, und Kit folgte ihr. Sie folgte Agnes immer. Das Haus lag in Sai Kung in den New Territories mit Aussicht über Berge und Bucht, und der Garten war ein Paradies aus Blumen und Bäumen, die in der feuchten Wärme gediehen. Ihr Vater hatte das Haus billig von einem Chinesen gekauft, dem es Unglück gebracht hatte. Das hatte er ihnen erzählt, genau wie er ihnen verboten hatte, zu dem Pavillon am Ende des Gartens hinunterzugehen, wo der Chinese auf Anraten eines Feng-Shui-Experten Spiegel an den Mauern angebracht hatte, um die bösen Geister des Hauses fortzulocken. Auch in dem Pavillon wohnte ein böser Geist, sagte ihr Vater immer. Hinter den mit Spiegeln verkleideten Mauern. Dort sollte er bleiben, und niemand durfte ihn hinauslassen, da sonst das Unglück über sie hereinbrechen würde. Kit hatte nie gesehen, dass jemand den Pavillon betrat oder sich ihm auch nur näherte. Nur Vater. Denn Vater wagte alles.
Agnes’ Mutter war Dänin. Die beiden Familien waren Nachbarn, und ihre Väter waren Geschäftspartner. Agnes war nur zur Hälfte Chinesin, aber Kit wusste, dass sie nie etwas vergaß, genau wie Vater gesagt hatte. Wenn jemand ihr etwas versprochen hatte, tat er gut daran, es zu halten, da er sonst ihren Ärger zu spüren bekam und sie lange nicht mit einem sprach. Und auch nicht mit einem spielte.
Agnes zog sie am Ärmel. Gebot ihr zu schweigen, als sie nachgab. »Komm mit. Es ist nicht gefährlich. Wir sagen es nur niemandem. Schwörst du?«
»Ich schwöre«, sagte Kit atemlos vor Spannung und hoffte, dass sie ihr Versprechen halten konnte. Sie wusste nur zu gut, wo die Freundin hin wollte, denn sie hatten darüber gesprochen, und Agnes platzte fast vor Neugier.
Agnes zog sie den ganzen Weg durch den großen Ziergarten der Familie, in dem Obstbäume ihre Arme wie Schatten gen Himmel streckten und Gardenien und Kamelien die Luft mit ihren Düften würzten. Jetzt konnte sie den kleinen Pavillon sehen, der unten am See lag, in dem, wie sie wusste, die Goldfische wohnten und wo es eine Brücke gab, auf der man stehen und sie herumschwimmen sehen konnte. Wenn man sich in die Nähe des bösen Geistes wagte.
Ein schwaches Licht strömte aus den unter dem Pagodendach gelegenen Fenstern des Pavillons. Die Spiegel an der Mauer warfen einen blanken Schein über das Wasser des Sees. Die Fenster standen offen bei der Wärme, sie konnte das Murmeln von Stimmen hören. Ein großer Stein und einige kleinere lagen als Dekoration davor. Agnes stellte sich auf den großen Stein und guckte durch das Fenster. So blieb sie einen Moment lang stehen. Dann führte sie die Kamera zum Auge, und Kit hörte den schnurrenden Laut, als sie zu laufen begann.
Bereits da schien der Duft aus dem Pavillon zu strömen, und Kit spürte eine Angst, die sie bisher nicht gekannt hatte. Als würde jemand einen Arm von drinnen herausstrecken und sie mit einer kalten Hand mit starken Fingern zu erdrosseln versuchen. Und genau da, in dem Augenblick, schwenkte die Kamera zu ihr hin und eine kurze Sekunde stand sie ganz still, starrte in ihr gefühlloses Auge und spürte die sich ausbreitende Kälte.
Agnes stieg von dem Stein hinunter und machte Kit ein Zeichen, dass sie an der Reihe war. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht.
»Angsthase«, meinte Agnes spöttisch. »Komm schon.«
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. Wunderte sich jedoch über die Angst und versuchte erfolglos sich zu beruhigen. Es war doch nur ein Pavillon, nichts anderes. Ein Pavillon, in dem Spiegel die letzten Strahlen der Sonne einfingen und aus dem ein süßer, klebriger Duft gemischt mit leisen Stimmen ohne Worte strömte.
Sie machte einen Schritt auf den Stein zu. Schaffte es gerade noch, die Augen zu schließen, als könnte sie sich auf diese Weise schützen.
Agnes puffte sie in die Seite. »So. Guck endlich.«
Sie öffnete die Augen. Es brauchte eine Weile, bis sie sich an das dunkle Licht dort drinnen gewöhnt hatte. Aber dann war alles plötzlich lebendig und klar, und das Herz stand still, dessen war sie sich sicher, als der Anblick sie traf und sich zusammen mit dem Duft einen Weg bis dort hineinschnitt, wo nichts und niemand je zuvor gewesen war.
In dem Moment wusste sie, dass sie es getan hatte.
Sie hatte das Böse entfesselt.
»Nun mach schon ein frohes Gesicht. Wir haben schließlich Weihnachten, verdammt noch mal.«
Ihr Vater zeigte auf den Stuhl ihm gegenüber. Kit setzte sich. Dachte, dass ihr nur Block und Plisseerock fehlten, um einer Sekretärin in einem amerikanischen Film zu gleichen. Einer von denen, die effektiv und diskret die Geschicke ihres Chefs lenken, ohne dass er es weiß, und die dafür sorgen, dass Probleme gelöst werden, lange bevor sie auf seinem Tisch landen.
Bei dem Gedanken musste sie beinahe lächeln. Als würde sie auch nur die kleinste Kleinigkeit lenken, wenn es um ihren Vater ging. Als würde sie seine Probleme lösen können. Sie, die nicht einmal mit ihren eigenen zurechtkam. Wie mit dem verdammten Traum, der immer noch irgendwo saß und an ihr nagte. Wie ein Schuh, der drückte.
Der Vater trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Eine seiner vielen rastlosen Angewohnheiten. Ständig schien er voller Energie, selbst nach dem Herzanfall, der ihn fast umgebracht hatte.
Er ließ sich nicht so einfach aus dem Weg räumen. Aber sie sah ihm die Müdigkeit an, und das war nicht verwunderlich. Es zermürbte jeden, wenn man im Stich gelassen wurde.
»Was ist los?«, blaffte er wie ein Polizist. »Hat es mit ihm zu tun, mit diesem Typen?«
»Du meinst Henrik.«
Er machte eine ausladende Armbewegung, wie um zu sagen, dass der Name gleichgültig war. Dass er ihn beinahe vergessen hatte. Aber sie kannte ihn besser. Wusste, wie weh es getan hatte, auch ihm.
»Das ist doch schon eine Weile her«, sagte sie abwehrend. »Es geht sehr gut ohne ihn.«
Ihr Vater warf ihr einen zweifelnden Blick zu. Eine Viertelstunde sah sie die Gebrechlichkeit darin, und sie wusste, dass sich der Zweifel nicht nur gegen sie richtete. Er versuchte, es zu verbergen, aber in diesem Blick lag so viel Enttäuschung. Er glaubte nicht, dass man es sehen konnte. Vielleicht war auch nur sie dazu in der Lage. Immer hatte sie seine Stimmung wie ein Seismograph messen können. Besser als ihre Mutter. Auch besser als Karen-Lis.
»Haben wir diese Versicherung bezahlt?«
Sein Ton war geschäftsmäßig geworden. Jetzt war sie nicht mehr die Tochter, die Liebeskummer hatte. Jetzt war sie die Mitarbeiterin, die Befehle auszuführen hatte. Sie war an solch plötzliche Identitätswechsel gewöhnt.
»Der Scheck ist gestern herausgegangen. Carsten hat ihn zur Post gebracht.«
»Carsten«, brummte er. »Gut. Ein bisschen wenig Fantasie, aber okay.«
Sie lächelte in sich hinein. »Wenig Fantasie« war in den Augen ihres Vaters die schlimmste Todsünde, sie kam direkt hinter Autoritätsgläubigkeit und Unwissenheit über die feineren Nuancen des Schachspielens. Das Gegenteil davon waren ein paar der Gründe, warum er Henrik gemocht hatte.
Sein Blick wanderte durch das Zimmer. Sie hatte sein Büro zu Hause heimlich dekoriert. Über dem Fenster hingen ein paar Weihnachtsmänner, im Fenster standen ein Weihnachtsstern und zwei Hyazinthen, und auf dem Tisch thronte ein von ihr selbst entworfenes Gesteck.
Sie öffnete die Schreibtischtür. Holte die Flasche mit dem Portwein und zwei Gläser heraus. Das war ihr Ritual. Immer vor Weihnachten, am letzten Tag in der Firma, saßen sie wie zwei Verschworene zusammen und genehmigten sich einen Drink.
Sein Blick blieb an Karen-Lis’ Bild hängen, das in einem Rahmen auf seinem Tisch stand. Sie wusste, was er nun dachte. Dass es Karen-Lis wäre, die jetzt hier sitzen würde, wäre sie im Lande. Ihm gegenüber, im vertrauten Gespräch. Zumindest so vertraut, wie ein Gespräch sein konnte, wenn man Erik Bennett hieß und tausend andere Dinge im Kopf hatte.
»Ich vermisse sie auch«, sagte sie.
Er zuckte leicht mit den Schultern. »Scheiße. Hauptsache sie ist glücklich, dort wo sie ist«, sagte er ohne Überzeugung.
Sie wünschte, ihn trösten zu können. Ihm die Freude zurückgeben zu können. Sie musste gegen den Drang ankämpfen, ihm die Arme um den Hals zu legen und ihm zu erzählen, dass er doch sie hatte.
Aber das ging nicht. Er wäre nur irritiert und würde sich ihr entziehen. Genauso wie er sie abfertigte, wenn sie ihm von dem Traum erzählte. »Du hast wirklich eine lebhafte Fantasie«, pflegte er zu sagen, und in dieser Verbindung war Fantasie offenbar keine wünschenswerte Eigenschaft. »Vergiss es, lass dich nicht von einem Traum tyrannisieren.«
Aber das tat sie. Sie ließ sich tyrannisieren. Denn sie war keine Karen-Lis und kein Henrik. Sie war Kit. Und die Angst vor etwas, von dem sie nicht wusste, was es war, ging ihr bis ins Mark.
Sie tat ihr Bestes, um zu vergessen. Aber der immer wiederkehrende Traum hatte eine beunruhigende Wirkung auf sie. Brachte sie für ein oder zwei Tage vom Kurs ab. Eigentlich hatte sie geglaubt, dass er verschwunden war. Dass er sich einfach aufgebraucht hatte. Aber er kam wieder, immer wieder. Manchmal nach langen Pausen, wie ein Virus, das im Körper kursierte und mit dem sie nicht fertig wurde.
Nach dem Gespräch mit ihrem Vater ging sie in ihr Atelier, das sie sich im Haus ihrer Großmutter eingerichtet hatte, nachdem sie ihr Studium an den Nagel gehängt hatte, um in der Firma ihres Vaters Geld zu verdienen. Sie nahm die Skulptur, die auf dem Tisch stand, kritisch in Augenschein, griff nach dem Ton und baute langsam die Form des Gesichts auf.
Von da, wo sie stand, konnte sie in den Garten der Großmutter sehen. Merkwürdig, dachte sie. Großmutter war seit fünf Jahren tot, aber der Garten, der das Haus der Familie in Nyborg umgab, war noch immer ihrer. Es hieß Großmutters Haus und Großmutters Garten, obwohl ihre Eltern jetzt alleine hier wohnten, seit sie und Karen-Lis von zu Hause ausgezogen waren.
Kit lächelte ein wenig bitter und musste sich korrigieren. Ausgezogen ist nicht gleich ausgezogen. Sie selbst war, um es kurz anzumerken, im Alter von dreiunddreißig Jahren gerade wieder eingezogen. Nur bis sie ihr Leben wieder im Griff hatte. Bis sie wieder ihren Weg gefunden hatte.
Jetzt konnte sie zumindest in Großmutters Garten sehen, anstatt in den Hof mit dem Spielplatz, auf den man aus Henriks kleiner Wohnung in dem Wohnblock sah. Sie guckte aus dem Fenster. Der Weihnachtssturm hatte sie überrascht und den verwilderten Garten mit seinen durcheinander stehenden Baumstümpfen, wild wachsenden Ästen und Luftwurzeln mit eisigem Regen durchpeitscht. Alles war durchweicht und farblos wie auf einem Schwarzweißfoto. Selbst das Gras hatte sich schlafen gelegt. Im letzten Sommer hatte Henrik es mit dem handbetriebenen Rasenmäher gemäht, der alt war und wie eine Nähmaschine klang. Er hatte auch Großmutters alten blauen VW repariert, der noch immer in der Garage stand und noch immer nach ihr und den Katzen roch.
Das Auto und das Gras. Das waren wohl seine letzten Dienste für die Familie gewesen, bevor er aus ihrem Leben verschwunden war.
Ihre Bewegungen waren schneller geworden. Heftiger. Geduldig ließ sich der Ton klatschen, formen und in die Gestalt ihrer Wut pressen, die bis in ihre Finger gesickert war.
Henrik hatte sie im Stich gelassen. Sowohl sie selbst als auch ihren Vater. Hatte der Familie, die ihn aufgenommen hatte, den Rücken zugekehrt. »Wie ein Sohn«, hatte ihr Vater immer gesagt, bevor Probleme aufgetaucht waren und Henrik sich immer weiter zurückzog. »Er ist für mich wie ein Sohn. Und irgendwann wird er wohl auch mein Schwiegersohn.« Mit zufriedenem Blick hatte er das gesagt. Und sie hatte das Gefühl gehabt, plötzlich zehn Zentimeter in der Sekunde zu wachsen.
Aber es hatte nicht gedauert. Nichts war von Dauer, hatte sie mit der Zeit gelernt. Alle verschwanden früher oder später. Henrik. Karen-Lis. Großmutter. Sie waren nicht mehr hier. Waren nicht mehr Teil ihres Lebens.
Ärgerlich entfernte sie etwas von dem Ton. Es war zu viel. Wirkte falsch. Könnte man nur Gedanken und Gefühle so leicht formen, wie man Ton modellieren konnte. Hier etwas hinzufügen und da etwas wegnehmen, bis das Ergebnis genau passte.
Aber noch konnte sie ihre Gedanken nicht steuern. Und in dem Moment kam der ketzerischste von allen angeflogen und bohrte sich in ihr Gehirn.
Ihr Vater war geschwächt, das war nicht zu übersehen. Die Probleme setzten ihm zu; sowohl Karen-Lis als auch Henrik und bestimmt noch etwas in der Firma, das sich ihrer Kenntnis entzog. Die Enttäuschung in seinem Blick, in seiner gesamten Haltung, war das Schlimmste daran. Das, was zu sehen, am meisten wehtat.
Der Gedanke bohrte sich beharrlich fest. Genau wie die Angst, plötzlich und unerwartet jemanden zu verlieren, Panik hervorpeitschen konnte. Vielleicht war es ein Naturgesetz, dass alle einen früher oder später im Stich ließen. Vielleicht war es Teil des Mensenseins, dass Liebe plötzlich vergehen und verschwinden konnte, sich verändern konnte, wie wenn sie einen Mund oder eine Nase umgestaltete und das vorher bekannte und geliebte Gesicht fremd und beunruhigend wurde.
Sie wollte sich zusammenreißen und glitt dann doch ab ins Selbstmitleid, sie war sich dessen bewusst. Sie wünschte, dass es anders wäre. Dass sie stärker wäre. Aber ihr fehlte die Kraft, und sie wusste nicht, woher sie sie nehmen sollten.
Er schenkte sich noch einen Portwein ein. Das konnte nicht schaden.
Erik stieß heftig den Stuhl zurück. Dachte einen Augenblick an die Jahre in Hongkong und das Büro im St. George-Gebäude. Die Zeiten waren vorbei, als er nur die Beine auf den Tisch schwingen musste und die Welt allein dadurch steuern konnte, dass er aus dem Fenster sah und die Ideen aufmarschieren ließ. Sie einließ, wenn sie Schlange standen. Genau das hatten sie getan. Waren nahezu auf ihn eingestürmt, dass er Schwierigkeiten hatte eine Wahl zu treffen.
Aber das war vorbei. Heute würde er viel für eine einzige brauchbare Idee geben, an wen er sich jetzt wenden sollte.
Er seufzte. Beugte sich mühevoll hinunter und hob das Schachspiel auf. Das elektronische, das Kit ihm geschenkt hatte, als Henrik die Familie verlassen hatte. Weil er ihr Leid getan hatte, das wusste er, und es irritierte ihn. Lieber sollte sie ihre ganze Nervosität über Bord werfen und anfangen, ihr Leben zu leben. Aber so war sie nun einmal, Kit. Kaum zu glauben, dass sie seine Tochter war, aber er liebte sie so sehr. Kit war vorsichtig und nervös veranlagt wie ihre Mutter, hatte jedoch sein dunkles Aussehen. Karen-Lis war es, die sein Draufgängertum geerbt hatte. Seinen Mut. Kit hingegen konnte manchmal Angst vor ihrem eigenen Schatten haben, und für Stress und Druck war sie vollkommen ungeeignet. Aber das hatte er immer gewusst. Und darauf Rücksicht genommen, nicht zu vergessen. Manchmal vielleicht zu sehr.
Er stellte das Spiel auf. Warum auch nicht. Wenn niemand anderer da war, musste man eben gegen einen Computer spielen. Wenn es kein Gesicht gab, auf dem man lesen, keinen Feind, den man studieren konnte, musste man sich mit dem Nächstbesten begnügen.
Das Wort Feind ging ihm im Kopf herum, während er seinen Zug überlegte. Genau das war das Schwierige an dieser verdammten Situation. Der Feind hatte kein Gesicht. Der Feind war feige und versteckte sich hinter der Maske der Anonymität. Genau wie der Computer, weiß Gott.
Er hatte das Spiel ein paar Tage stehen gelassen. Konnte nur ein paar Züge durchführen, bevor es ihn zu langweilen begann. Er musste einräumen, dass er das Gesicht vermisste. Henrik vermisste, warum den Gedanken nicht denken. Aber trotzdem war er nicht wie Kit, die sich im Stich gelassen fühlte und sich in sich selbst zurückzog. Das war nicht seine Art. Wäre da nicht das Alter, hätte er die Schultern gezuckt. Herrgott noch mal, man verliert jemanden, und man gewinnt jemanden. So war das Spiel. Aber das Alter schien ihn zu verändern. Schien ihn auf den verkehrten Weg zu ziehen und weich zu machen. Er musste aufpassen. Bevor er sich versah, würde er womöglich noch seine Sünden bereuen. Gott bewahre! Vor solchen Menschen hatte er nie Respekt gehabt. Man sollte mit den Stiefeln an den Füßen sterben, hatte er immer gesagt. Mit Reue hatte er sich nie abgegeben. Er hatte damit gerechnet, die ganze Strecke durchzuhalten, auch wenn das Alter herannahte. Was es ja rein faktisch bereits getan hatte. Aber er hatte überlebt, als das Herz ihn gewarnt hatte.
Er machte seinen Zug mit einem der Läufer. Trank von dem Portwein und dachte ärgerlich, dass es eigentlich egal war. Nicht wie damals, als er über Kraft und Schnelligkeit verfügte. In Wirklichkeit war das hier nicht er. Es war eine Hülse von ihm, die hier saß und mit einem verdammten Computer Schach spielte.
Eine Weile dachte er über die Reue nach. Vielleicht gab es doch etwas, das er gerne aus dem inneren Strafregister gelöscht hätte. Nur eine einzige Sache. Keine schlechte Bilanz für ein ganzes Leben. Aber es war unmöglich, und er war Manns genug, damit zu leben.
Der Computer piepte und machte seinen Zug. Wie vorauszusehen, bewegte er den Turm auf seinen Läufer zu. Vielleicht hatte er doch eine Chance.
Er richtete sich auf. Noch war nicht alles verloren. Es war lange her, und seitdem hatte er nichts mehr gehört. Lange her, dass die Drohung aufgetaucht war, sein Leben zu zerstören und ihn schachmatt zu setzen. Vielleicht war es jetzt vorbei. Vielleicht war alles nur eine Täuschung, oder vielleicht konnte er sich freikaufen, das war auch eine Möglichkeit. Wenn er den Feind nur sehen könnte.
Er dachte eine Weile nach. Versuchte in die Zukunft zu denken. Drei Züge oder weiter. Aber er war nicht wie in den alten Tagen, vor drei Monaten, als Henrik und er stundenlang vor Zimmermanns antikem chinesischem Schachspiel mit den geschnitzten Figuren aus Elfenbein und Ebenholz sitzen konnten. Damals hatte er geglaubt, auf dem Gesicht seines Gegners lesen zu können.
Nun ja, vielleicht hatte er Henrik beim Schach besiegt. Aber er musste zugeben, dass Henrik zuletzt auf seinem Gesicht besser lesen zu können schien als er auf Henriks. Als wüsste er etwas, das ihm nicht zustand.
Erik Bennett seufzte. Versuchte noch einmal, nach vorn zu schauen. Drei Züge voraus zu sein. Aber vor seiner Nase schien eine Mauer zu stehen. Und hinter der Mauer lauerte der Feind.
Er packte das Spiel zusammen und leerte sein Glas.
»Gut siehst du aus, Mutter. Da in dem Licht gleichst du einem Engel.«
Ihre Mutter lächelte. Wehmütig, dachte Kit.
»Einem Weihnachtsengel? Hoffentlich keinem von den fetten.«
Kit schüttelte den Kopf. Suchte nach Worten. »Dem Engel des Lichts«, sagte sie schließlich. »Du siehst aus wie der Engel des Lichts, von Glanz umgeben.«
Es stimmte ja, dass die Sonne an diesem Morgen, an dem Tag nach dem Portweinritual, kurz ins Fenster hineinspähte und eine Art Glorienschein um das honigfarbene Haar ihrer Mutter bildete. Es hatte diese Farbe, so lange Kit zurückdenken konnte. Der Frisör hatte gute Arbeit geleistet, aber darüber sprach man nicht. Gott bewahre, ihre eigenen dunklen Locken wurden ja auch hin und wieder gefärbt. Der vornehmen Gestalt am Fenster konnte sowieso niemand ihre Schönheit nehmen.
»Der Engel des Lichts hat gerade eine fertige Leberpastete im Ofen«, sagte ihre Mutter, während sie die Form aus dem Ofen nahm.
Das vorvorletzte Türchen des selbst gebastelten Adventskalenders war geöffnet worden. Der Kalender hing an der Wand unter der Küchenuhr und erinnerte Kit daran, dass sie heute die restlichen Geschenke kaufen musste. Die Mitarbeiter von Kaliki hatten glücklicherweise immer am letzten Werktag frei. Der Adventskalender war eine Tradition, genau wie das Menü am Vorweihnachtsabend: Roggenbrot mit selbst gemachter Leberpastete und anschließend Milchreis. Auch in diesem Jahr, obwohl die Familie halbiert worden war.
Kit atmete den Duft der Leberpastete ein. Es war der Duft von Weihnachten. Der Duft von Familie.
Sie ließ sich auf der Küchenbank nieder und schenkte sich aus der Thermoskanne einen Morgenkaffee ein. Sie beobachtete ihre Mutter. Hellhäutig, groß und nordisch, in einer Schürze, die eine schöne Taille sichtbar machte. Sie war ihr Stolz, mehr noch als ihre Größe und die Grübchen. Mehr als das mädchenhaft lange Haar. Die Taille, die es mit jeder Taille in einem Brigitte-Bardot-Film hätte aufnehmen können. Karen-Lis hatte das Aussehen ihrer Mutter geerbt, doch ohne die Zartheit ihres Gesichts, dachte Kit, während sie ein Brötchen mit Butter bestrich. Sie wusste, dass ihre Mutter nur ihr zuliebe gelächelt hatte und auf die Bemerkung eingegangen war. Sie konnte es an der Stimme hören und an ihrer Haltung sehen. Ihre Mutter, die sonst immer gut gelaunt und frohen Sinnes war. Sie hatte die Traurigkeit nicht verdient, die in ihren Blick gekrochen war und die Kits Wut wieder unkontrolliert hochkommen ließ.
»Das kann sie doch nicht machen.«
Sie sah die Schultern ihrer Mutter, die sich verkrampften, als wäre die Kritik gegen sie gerichtet.
»Dieses eine Mal im Jahr«, fuhr Kit fort. »Ich könnte es ja verstehen, wenn sie Mann und Kinder und kein Geld hätte. Aber sie ist ungebunden. Sie verdient gut. Und dann hat sie keine Zeit, an Weihnachten ihre Familie zu besuchen?«
Ihre Mutter antwortete nicht. Was sollte sie auch sagen? Dass sie enttäuscht war; dass sie alle drei enttäuscht waren, brauchte nicht erwähnt zu werden. Dass Karen-Lis einen triftigen Grund hatte in Afrika zu bleiben. Bullshit! Sie hatte nur eine bequeme Entschuldigung.
Kit hörte die Schritte ihres Vaters an der Tür. »Was ist denn hier los? Jetzt kommen wir aber in Weihnachtsstimmung.« Er steuerte direkt auf die fertige Leberpastete zu, stieß eine daneben liegende Gabel hinein und kostete. »Nicht zu übertreffen«, lautete sein Urteil.
Es war fast nicht auszuhalten. Diese ganze gekünstelte gute Laune. Warum konnten sie es nicht einfach zugeben? Warum sagte es niemand laut? Dass sie Karen-Lis gleichgültig waren. Dass ihr nichts mehr an ihnen lag. Dass sie in ihrer Welt voll spannender exotischer Existenzen keinen Platz mehr hatten. In einem Anfall von Güte wollte sie Weihnachten in einem Kinderheim für AIDS-kranke Kinder in Simbabwe feiern, was natürlich edel war. Dagegen konnte man schließlich nichts sagen, und bestimmt hatte sie sich gerade deshalb dafür entschieden. Weil sie wusste, dass jegliche Kritik höchst unpassend, typisch verzogen und sich auf westliche Art selbst bemitleidend klingen würde. Kit konnte nur schlecht glauben, dass Karen-Lis etwas Wohltätiges tat, nur um es zu tun. Dafür kannte sie ihre Schwester zu gut.
Jetzt standen sie am Fenster, alle beide. Ihre Eltern. Dicht beieinander und trotzdem mit dieser verdammten Distanz, die man nahezu fassen konnte. Alle Frustrationen schienen sich zwischen sie gedrängt und sie einander entfremdet zu haben.
»Was ist mit dem Weihnachtsbaum?«, fragte sie verzweifelt und bereute ihre harten Worte von eben. »Wir werden doch trotzdem einen haben?«
»Wir fahren morgen Vormittag nach Holkenhavn hinaus«, teilte ihr Vater mit. »Du und ich, mit dem Trailer.«
»Können wir ihn dieses Jahr nicht für uns schlagen lassen?«
Es gelang ihm, verletzt auszusehen. »Dann ist es doch kein richtiges Weihnachten, nicht?«
Das würde es auch so nicht sein, doch diesmal sagte sie nichts. Nur sie drei. Keine Großmutter und keine Karen-Lis. Kein Henrik wie im letzten Jahr. Drei Menschen, die sich jeder für sich nach etwas Ganzem sehnten. Das einzige Ganze, das sie hatten, war eine Gans, die zu groß für sie war.
»Okay, dann schlagen wir einen«, sagte sie.
Während sie eine Weile um den Tisch herum saßen und sich unterhielten, gingen ihre Gedanken wie so oft in der letzten Zeit auf Wanderschaft. Sie wünschte, dass sie sie anhalten könnte. Die Erinnerung an Henrik blockieren könnte, an seine Nähe. Aber ihr Körper schien ein von ihr unabhängiger Teil geworden zu sein. Er rottete sich mit dem kleinen Teil des Gehirns zusammen, den sie nicht kontrollieren konnte, und beschwor ihn in Szenen aus den fünf Jahren herauf, die sie zusammen gewesen waren.
Fünf Jahre. Das klang nach einer langen Zeit, aber sie waren nie so weit gekommen, dass es angefangen hatte, sich so anzufühlen. Vielleicht war es ihr deshalb immer noch ein Rätsel, warum sie plötzlich an einem Punkt gelandet waren, an dem es kein Zurück mehr gegeben hatte. Aber wahrscheinlich sah nur sie das so. Für Henrik war es bestimmt anders. Für Henrik war es überlegter, denn Henrik tat selten etwas Unüberlegtes und etwas, das er nicht durchdacht hatte.
Bei dem Gedanken, dass er den Bruch mit seiner üblichen Gründlichkeit und Ehrlichkeit durchdacht hatte, fröstelte sie. Henrik, dem sie doch immer die Rolle dessen zugeteilt hatte, der ihrem Leben eine tiefere Bedeutung geben sollte. Henrik, den sie vom ersten Augenblick an zu ihrer eigenen großen Verwunderung wie einen Magneten erlebt hatte; der erste Mann, der sie irgendwie dazu hatte bringen können, alles andere zu vergessen. Selbst die Familie. Hätte er ihr nur etwas mehr Zeit gelassen. Hätte er nur etwas mehr Geduld gehabt, dann wäre es ihr vielleicht möglich gewesen, sich gemeinsam mit ihm in ein ganz neues Leben aufzumachen. Doch er hatte alles, was sie in ihrem Gepäck hatte, ignoriert. Inklusive des Traums und der Angst.
Ihre Mutter stellte Tee und selbst gebackene Kekse auf den Tisch. Pfeffernüsse, Lebkuchen und Spekulatius. Sie trank aus ihrer Tasse, während ihre Eltern freundlich diskutierten, was sie im Frühjahr mit Großmutters Garten machen sollten. Der Klang ihrer Stimmen war wie eine vertraute und sichere Tapete, ein unveränderbarer Hintergrund in ihrem Dasein. Kit verspürte den Drang, in den Kokon der Familie zu kriechen und sich zu verstecken; Zuflucht zu suchen vor einer Welt, die sie nicht ganz verstand.
Henrik hatte sich von ihr befreit. Das war es doch, worauf die ganze Übung, sich voneinander zu trennen, hinauslief, das wusste sie sehr wohl. Die Freiheit, er selbst zu sein und einen Partner zu finden, der ihn vielleicht nicht ganz so sehr brauchte. Ihn nicht auf die gleiche Weise auslaugte.
Wie immer schwankte sie zwischen Akzeptanz und Wut. Sie war nicht wie andere Mädchen, und das wusste er genau. Man war so, wie man war, davon war sie nun einmal überzeugt, und man konnte sich nicht einfach umformen, um zu passen. Sie war eine Einzelgängerin. Eine, die sich an einen oder zwei Menschen band. Sie hatte nie viele Freundinnen gehabt. Wenn sie angestrengt nachdachte, kam sie auf drei oder vier, die ihr etwas bedeutet hatten. Zwei wohnten jetzt in Aarhus und sie sah sie selten. Eine Schulfreundin aus der Grundschulzeit, Bibbie, wohnte mit Sicherheit in Nyborg, aber der Kontakt war längst eingeschlafen.
Sie hing sehr an ihrer Familie, und darüber hinaus war sie das, was sie als Einmannfrau bezeichnete. Aber sie wünschte, dass es anders wäre. Dann wäre der Verlust vielleicht nicht so groß, wenn er eintrat.
Und er war eingetreten. Weil sie sich gedrängt gefühlt hatte, etwas zu sein, das sie nicht war. Jedenfalls noch nicht.
Es schellte an der Tür.
»Das ist bestimmt die Post«, sagte ihr Vater und ging hinaus. »Die letzten Weihnachtsgrüße«, murmelte er, bevor er die Tür hinter sich schloss.
Kit blieb in der Küche und half ihrer Mutter, den Tisch abzuräumen. Sie hörten Stimmen aus dem Gang. Sie wusste, dass ihr Vater zu Weihnachten immer ein Glas Portwein und Plätzchen anbot. Der Postbote begnügte sich bestimmt mit Plätzchen, während ihr Vater einen Portwein trank.
Wieder dachte sie an Henrik. Fragte sich, was sie eigentlich miteinander geteilt hatten, da es ihr so verdammt schwer fiel, ohne ihn auszukommen. Es hatte andere Männer in ihrem Leben gegeben, aber es brachte nichts, Vergleiche anzustellen. Vielleicht weil Henrik anders und mehr als ein Freund war. Sie waren wie zwei Puzzleteile gewesen. Das Gefühl, zusammenzugehören. Zum Schluss natürlich nicht mehr, korrigierte sie sich. Zum Schluss war da der Schatten, der in ihr Leben gekommen war und plötzlich immer größer wurde. Auch größer als die Liebe, obwohl sie das nicht für möglich gehalten hatte.
Sie starrte in ihre Teetasse. Einen Moment hatte sie das Gefühl, ihn dort auf dem Grund zu sehen. Seinen ruhigen Blick, der ihrem begegnete. Wie er ihm beim allerersten Mal begegnet war, als sie das Gefühl gehabt hatte, dass er sie vor dem Ertrinken rettete.
Die Verbundenheit schien sich noch immer in diesem Blick zu finden. Schien sie zur Ruhe zu ermahnen und sie tiefer und leichter atmen zu lassen. Und in diesem Augenblick wusste sie, dass er noch immer da war, wenn sie ihn brauchte. Dass er kommen würde, wenn sie seinen Namen aussprach.
»Was wohl da draußen los ist?«
Die Stimme ihrer Mutter erreichte sie vom Spülbecken her, wo sie stand und den Küchentisch abwischte.
»Keine Ahnung.«
Im Gang war es still geworden. Wenn es Geschäftsbriefe waren, würde ihr Vater mit ihnen ins Büro gehen, bevor er mit der Weihnachtspost wieder in die Küche kam. Zu Weihnachten bekamen sie immer sehr viel Post. Viele Karten von befreundeten Geschäftsleuten, aber auch von Freunden und Bekannten aus der Zeit in Hongkong. Einige lebten immer noch dort, aber viele Dänen waren nach Hause zurückgegangen, nachdem sie mehrere Jahre für Maersk oder die Ostasiatische Gesellschaft oder andere dänische Firmen gearbeitet hatten. Sie hielten den Kontakt und trafen sich jedes Jahr im Januar zu einem Essen.
Sie hörten, wie sich die Tür zum Büro ihres Vaters schloss.
Kit dachte kurz, dass das merkwürdig war. Vielleicht war es etwas Wichtiges.
Eigentlich wusste sie nicht, warum sie lauschte. Es war, als würde sie auf eine Erklärung warten. Als wüsste ein Teil von ihr, dass etwas nicht stimmte.
Dann hörte sie etwas umfallen. Etwas Schweres. Gefolgt von einem Klirren.
Das Gesicht ihrer Mutter drehte sich von der Sonne weg. Kit sah, dass auch sie Angst hatte. Dass die Angst vielleicht die ganze Zeit da gewesen war.
»Erik!«
Ihre Mutter stürzte hinaus, und Kit folgte ihr.
Er lag halb unter dem Regal begraben. Seltsam verrenkt. Um ihn herum lagen Kleinigkeiten verteilt sowie einige Jahrbücher aus Hongkong, die aus dem Regal gefallen waren. Auch ein Bild von Karen-Lis war heruntergefallen.
Kit hielt den Atem an, damit der Schrei nicht entweichen konnte.
Verstand nicht, wie die Welt noch stehen konnte, wenn ihr Vater hier lag und ihre Mutter in einem lautlosen Jammern zusammengebrochen war.
Dann kniete sie sich hin und tastete nach seinem Puls.
Der Teufel musste Lego erfunden haben!
Henrik beobachtete seine großen Pranken, die vergebens versuchten, die Ritterlanze in der Hand der Figur festzuklemmen. Diese Hände waren nicht für eine solche Kleinarbeit geschaffen, konnte er gerade noch denken, bevor sein Neffe die Geduld verlor.
»Ich kann das selbst.«
Mit einem irritierten Seufzer gab er nach, und Victors fünfjährige Kinderfinger hatten die Situation schnell unter Kontrolle. Mit einem Ausdruck des Triumphs richtete er Helm und Visier des Ritters, klemmte ihn auf dem weißen Pferd fest und stellte die Equipage auf den Tisch neben die Schachtel mit dem Vorweihnachtsgeschenk, das sein Onkel ihm gerade mitgebracht hatte.
»So!«
»So!«, wiederholte Henrik wie ein Echo. Er wusste ja genau, dass es wie auf dem Bild aussehen musste, sonst war es nicht richtig. Viktor richtet leicht, fast symbolisch die Lanze, wie ein Frisör das Haar eines Kunden richtet, das sich wieder in die alte Form gelegt hat. Perfekt. Da standen sie Seite an Seite wie zwei Spiegelbilder. Zwei Ritter auf weißen Pferden, mit zwei Lanzen und zwei Schwertern und zwei Helmen mit Visier und wehenden Federn. In genau der gleichen Stellung, mit erhobener Lanze und dem Schwert dicht am Körper. »Der Ritter auf dem weißen Pferd«, murmelte Henrik und wusste, dass etwas an dem Ausdruck falsch war. Aber er konnte sich nicht erinnern was. Einen Augenblick ertappte er sich bei dem Wunsch, in der Zeit geboren zu sein, wo Muskelkraft, Schwerter und Lanzen über Streitigkeiten und Liebe entschieden. Dort hätte er bestimmt besser hineingepasst. Zumindest hätte er seinen Körper für etwas Seriöses einsetzen können wie zum Beispiel bedrohte Frauen retten und ihre Unschuld verteidigen, anstatt Fußball in der Old-Boys-Liga des Nyborg IF zu spielen und als Statist bei den jährlichen Stadtwallspielen mitzuwirken. Letzteres jedoch mehr um der Kameradschaft willen.
Das Telefon schellte, während er in seiner Fantasie noch immer mit Rüstung und Waffen auf seinem Pferd saß und sich wie der Turm in einem Schachspiel fühlte. Einen Moment dachte er an Kits Vater und das Zimmermann-Schachspiel mit seinen als Ritter und Könige und Knechte gestalteten Figuren. Das letzte Spiel hatten sie nie beendet. Vielleicht standen die Figuren noch immer da, fest gefroren wie auf einem toten Schirmbild.
Victor stürmte davon, bevor Henrik auch nur die Rüstung abwerfen und sich aus der Tiefe des Sofas erheben konnte. Kaum vorstellbar, dass man selbst einmal so ein kleiner Quirl war. Victor sollte nur wissen, wie schnell man plötzlich einen Meter neunundachtzig groß und neunzig Kilo schwer werden konnte, ohne deshalb sehr viel klüger zu werden.
»Kit, Kit«, jubelte der Neffe in den Telefonhörer. »Ich habe einen Ritter bekommen.«
Zu seiner eigenen Überraschung kam er dennoch so schnell auf die Beine, als würde der Sitz plötzlich unter ihm brennen.
»Willst du mit ihm sprechen?«, fragte der Neffe, jetzt geschäftsmäßiger. Kit hatte offenbar nicht das große Interesse für seinen Ritter bekundet.
Henrik nahm den Hörer. »Ja?«
»Henrik. Entschuldige, dass ich störe ...
Es war drei Monate her, seit er ihre Stimme gehört hatte, und sie hatte sich bereits verändert. Früher war sie eine lustige Mischung aus melodischem Fünisch in Moll und immer mit einer seltsamen Heiserkeit, die von zu vielen Zigaretten kam und von mehr Halsinfektionen als bei irgendjemand sonst, den er kannte. Plus einem Teil eingebildeter.
Jetzt klang die Stimme schrill, an der Grenze zur Panik. »Deine Mutter sagte, du wärst bei Janne.«
»Als Babysitter«, erklärte er und verfluchte die hilfsbereiten Mütter der Welt.
»Es geht um Vater ...«
Er konnte hören, dass sie den Tränen nahe war. Spürte, wie sein eigener Puls zu hämmern begann. »Ist es das Herz?«
»Wir haben ihn heute Morgen im Büro gefunden. Er liegt auf der Intensivstation in Odense ... Wir sind bei ihm ...«
Sie brachte es nicht über sich zu fragen, merkte er.
»Ich muss warten, bis sie nach Hause kommen. Sie machen Weihnachtseinkäufe«, sagte er. »Ich komme, sobald sie hier sind.«
Es entstand eine Pause. Dann redete diese fremde Kit-Stimme, die jetzt etwas zur Ruhe gekommen war, weiter.
»Du musst entschuldigen. Aber ich dachte ...« Sie zögerte.
»Ja?«
»Du kennst das doch. Von deinem Vater«, fuhr die Stimme nachdenklich fort und klang einen Augenblick völlig normal. »Du weißt, wie das ist. Wie es ist, dazustehen und nicht zu wissen, was man machen soll und ...«
Jetzt riss der Faden, merkte er und er wollte etwas Beruhigendes sagen. Aber sie war schneller und erzählte ihm die Wahrheit, die er bereits kannte.
»Es gibt sonst niemanden, den ich hätte anrufen können.«
Wenigstens war sie ehrlich. »Ist schon okay. Keine Panik.«
»Keine Panik«, wiederholte Kit panisch. Er konnte sie vor sich sehen, wie sie klein und dunkel dort in dem weißen Krankenhaus stand, ihre nervös flatternden Hände und ihre Augen, die überall Tod und Krankheit sahen. Eine kleine Gestalt in einer allzu großen Welt.
»Du hörst nicht zu. Das hier ist Darth Vader, der Böse. Der hier heißt Obi-Wan Kenobi, und er ist der Gute.«
Viktor war über seinen Mangel an Konzentration deutlich verärgert. Aber Henriks Gedanken gingen auf Wanderschaft, während er mit einem Rest von Aufmerksamkeit versuchte, seinen Onkelpflichten nachzukommen. Sonst hatte er damit keine Probleme, aber es passierte auch nicht jeden Tag, dass einen seine Exfreundin anrief. Er konnte noch immer ihre Stimme in seinem Ohr hören. Er hatte diese Stimme geliebt und sie beinahe gehasst. Diese Stimme, die in Tonlage und Ausdruck schwingen konnte wie Kit selbst. Ganz tief im Keller oder oben in den Wolken, je nachdem wer oder was das Gleichgewicht ihres Gemüts beeinflusst hatte. Sie war etwas für Fortgeschrittene, daran bestand kein Zweifel. Die ganze Familie war etwas für Fortgeschrittene.
Er versuchte erfolglos, interessiert auszusehen, während Victor ihn in Star Wars einführte. Stellte zu seiner Irritation fest, wie seine gesamte sorgfältig aufgebaute Erik-Bennett-Verteidigung in sich zusammenzubrechen begann.
Nach drei Monaten war die Familie Bennett ganz langsam aus seinem System verschwunden, und er hatte die Erleichterung zu fühlen begonnen, die er als Tausch für den Bruch bekommen hatte. Mit Kit, wie auch mit der ganzen Familie, denn sie traten als Paket auf, hatte er herausgefunden. »Nehmen Sie vier für Neunfünfzig«, hätte genauso gut auf der gesammelten Familienpackung stehen können.
»wenn ich auf den Knopf drücke, kämpfen sie. Hörst du das nicht?«, fragte Victor und ließ die beiden Star-Wars-Puppen Kampflaute ausstoßen und ihre Schwerter gegeneinander schwingen.
»Und wer gewinnt?«
Der Neffe sah ihn ärgerlich an. »Natürlich Obi-Wan Kenobi. Er ist doch der Gute.«
»Und die Guten gewinnen immer?«
Einen Moment sah Victor verwirrt aus. Henrik vermutete, dass er überlegte, was passieren würde, falls der Böse gewinnen würde. Aber das konnte er sich offenbar nicht vorstellen, denn er sagte voller Überzeugung: »Das weißt du doch genau.«
Henrik nickte. Natürlich wusste er das. Genauso wie er wusste, dass man gut und böse leicht ausmachen konnte, wenn man fünf Jahre alt war. Die ganze Welt war einfach in gut und böse unterteilt, dachte er und wünschte sich, dass es mit Vierunddreißig noch genauso leicht wäre.
Sobald Janne und Christian kamen, fuhr er nach Odense. Der weiße Volvo Amazon schnurrte gleichmäßig und beruhigend vor sich hin. Er genoss die Einfachheit des Autos, das wie ein unkomplizierter alter Freund für ihn war. Keine verborgenen Tagesordnungen und keine böswilligen Unterstellungen; keine Intrigen, immer direkt, keine Computertechnik, keine Tücken und kein übersensibler neumodischer Motor, der es nicht mochte, wenn sich eine Fliege auf ihn setzte. Immer und immer wieder hatte er sich – mit Kits Stimme – gesagt, dass man für ein Auto keine Gefühle hegen konnte. Und immer und immer wieder war seine Vernunft vom Gegenteil überzeugt worden. Der Volvo gab ihm eine Freude, die er ohne weiteres mit gutem und unkompliziertem Sex vergleichen konnte. Ein ketzerischer Gedanke, den er natürlich für sich behielt.
Während der Fahrt drängten sich ihm Erinnerungen auf. Ohne es wirklich zu wollen, fiel ihm ihr erstes Treffen auf einer Silvesterparty bei seinem Freund Carsten ein. Sie waren zusammen zur Schule gegangen, Carsten und er. Carsten hatte den gleichen Weg eingeschlagen, Handelsschule und anschließend eine Anstellung bei Kaliki bei Kits Vater, der Textilien herstellte und in alle möglichen Länder exportierte. Er selbst war zu diesem Zeitpunkt unentschlossen, was das Leben anging. Wie er es immer gewesen war, seit sein Vater die Familie verlassen hatte, als er zwölf war. Clever, aber unentschlossen, wie seine Mutter es ausdrückte. Das Einzige, wofür er sich im Alter von neunundzwanzig interessierte, waren Autos und Schach. In der genannten Reihenfolge. Sein Geld verdiente er als Springer, nachdem er drei Viertel eines Lehrerstudiums absolviert hatte. Keine besonders feine Personalakte. Aber ihm war das gleichgültig.
Er hatte bereits von Erik Bennett gehört. Hatte auch von der Tochter gehört. Und als er sie Silvester traf, war es mit seinem erstrebten Status als Junggeselle vorbei.
Der Weihnachtsverkehr war entnervend. Während er sich zwischen Autos hindurchschlängelte, die voll gepackt waren mit unleidlichen Jugendlichen und riskant im Rückfenster gestapelten Paketen, erinnerte er sich an das Ziehen im Bauch, als er an jenem Abend mit ihr getanzt hatte.
Sie war eigentlich nicht sein Typ. So klein und dunkel und zierlich, dass man sie beinahe in die Tasche stecken konnte. Mit dieser verdammten Verletzlichkeit, die sich für ihn als lebensgefährlich erweisen sollte.
Und das ihm, der geglaubt hatte, er stünde auf Blondinen, die gut aussahen und ansonsten für sich selbst sorgten wie der Kaktus, der ihn seit seinen Studententagen begleitete.
Dankbar für das kleinste bisschen Aufmerksamkeit. Aber so war Kit natürlich nicht. Sie war eine sensible Mimose, wie seine Mutter es freundlich ausgedrückt hatte. Er selbst hatte keine Ahnung, wie eine Mimose aussah, aber er stellte sich vor, dass sie genauso unberechenbar war wie der Motor eines Alfa Romeo. So war Kit. Sie gehörte zu der Sorte, auf die man Acht geben musste.
Die Manöver durch den heillosen Weihnachtsverkehr brachten ihn ins Schwitzen.
Kit selbst hielt sich für durchschnittlich, aber alles war ja relativ. Dafür hatte sie keine Zweifel daran, dass ihr Vater das achte Weltwunder war. Die hatte er auch nicht, als er Erik Bennett traf, dessen erste Frage zu seiner Freude war: »Spielen Sie Schach?«
Denn das tat er. Fast ebenso passioniert wie Kits Vater.
Nach zwei weiteren Monaten war der Springer nur noch Geschichte und das Fahrrad gegen ein Firmenauto ausgewechselt. Seine Karriere als unorthodoxer Verkäufer bei Kaliki hatte begonnen.
Die Leute glotzten dem Amazon hinterher. Einige lachten. Andere beobachteten ihn mit Bewunderung, während er davontuckerte.
Er musste versuchen, seine Gedanken zu ordnen. Sich auf das Treffen vorbereiten. Das war natürlich schwer, und einen Moment überlegte er, ob sie bei ihrem Anruf vielleicht noch einen Hintergedanken gehabt und nicht nur außer sich gewesen war und seine Unterstützung gebraucht hatte. Aber eigentlich glaubte er das nicht, denn Kit handelte meistens impulsiv. Und es stimmte, dass er durch seinen eigenen Vater Erfahrung mit so einer Situation hatte.
Er erinnerte sich nicht gerne, weder an die Wochen im Krankenhaus noch an seine Kindheit. Er hatte seinen Vater nicht so geliebt wie Kit ihren. Aber er war zur Stelle gewesen, wie es von einem Sohn erwartet wurde. Und er hatte alles mitbekommen.
Er seufzte. Sicher konnte er helfen und ihr zur Seite stehen, was mehr als nötig sein würde. Aber er musste vorsichtig sein, denn er lebte jetzt sein eigenes Leben. Es gab Mette, mit der alles so neu war und gerade anfing, richtig gut zu werden. Mette mit den runden Formen und dem blonden Haar. Sie glich einer Fee und war letztendlich vielleicht der Kaktus, nach dem er gesucht hatte.
Kit stand draußen und rauchte. Er erkannte sie von weitem. Die ruckartigen Bewegungen, das heftige Ziehen an der Zigarette und das unablässige Schwingen des Haars von einer Seite zur anderen, als wäre sie eine entlaufene Verbrecherin, die darauf wartete, aufgegriffen zu werden. Als er parkte, sah er im Spiegel, dass sie die Zigarette schnell an der Mauer ausdrückte und sich nach einem Papierkorb umsah.
»Mutter ist drinnen«, begrüßte sie ihn, bevor er sie auch nur umarmen konnte, was vielleicht auch eine schlechte Idee war. »Alles ist so chaotisch ...«
Ihr Blick begegnete seinem. Sie hatte die Augen ihres Vaters, tief schürfend und beunruhigend in bodenlosem Blau. Aber mit einer Verletzlichkeit, die Erik Bennett bestimmt nie gekannt hatte.
Er spürte bereits die innere Unruhe, und da klammerte sie sich auch schon an ihn, wie immer.
»Er ist bewusstlos. Aber sie rechnen damit ...« Ihre Stimme brach mitten im Satz ab. Sie schluckte etwas Luft und begann noch einmal. »Sie rechnen damit, dass er irgendwann aufwacht.«
Er war nicht gut in so was. Überlegte nur, ob er den Arm um sie legen sollte. Aber bei Kit musste man vorsichtig sein und außerdem musste er auf sich selbst Acht geben. »Was ist mit Karen-Lis«, fragte er. »Kommt sie?«
Kit schüttelte den Kopf. »Wir erreichen sie nicht. Weder per Telefon noch per Fax oder E-Mail.« Sie sah ihn wütend an. »Sehr nützlich die Technik, wenn sie nicht funktioniert.«
Er lächelte. Eigentlich nur, weil das gewöhnlich eine gute Wirkung hatte. Sie lächelte zurück.
»Ich weiß, dass das Scheiße war. Einfach so anzurufen.« Sie suchte seinen Blick. Saugte sich in ihm fest. »Aber wir haben beide eine Verantwortung«, fügte sie hinzu, und er wusste, was kommen würde. »Nach all dem, was passiert ist. Mit uns beiden. Mit Karen-Lis.«
Ihr Blick sah sich interessiert suchend auf dem Parkplatz um. »Das alles hat bestimmt eine Rolle gespielt«, sagte sie vage.
Er hätte so viel sagen können. Hätte sie fragen können, warum sie ihn angerufen hatte, wenn sie doch der Meinung war, dass alles seine Schuld war. Er hätte, was das anging, auch einfach beleidigt kehrtmachen können. Aber sie konnte nichts dafür. Und vielleicht hatte sie ja auch ein klein bisschen Recht, meldete sich irgendwo in ihm eine schwache Stimme.
Vielleicht hatte er seinen Teil dazu beigetragen. Er hatte schließlich nicht nur eine Freundin, sondern eine ganze Familie verlassen. Und seine Stellung als Kronprinz aufgekündigt.
Er seufzte in der Winterluft, die feucht und klamm war. Merkte, wie er gegen seinen Willen wieder in den Topf hineingezogen wurde, hinein in den schwer verdaulichen Familientopf aus Heimlichkeiten und Liebe und seltsam widerstreitenden, in verschiedene Richtungen strebenden Gefühlen. Insgesamt etwas, das über seinen Verstand hinausging, den er ansonsten als gut funktionierend bezeichnet hätte.
»Ihr müsst Karen-Lis erreichen«, versuchte er die Dinge praktisch anzugehen. »Habt ihr es mit einem altmodischen Telegramm versucht?«
Noch nie in ihrem Leben war sie so entsetzt gewesen.
Es war anders als letztes Mal. Da hatte ihr Vater nicht das Bewusstsein verloren, es war ihm lediglich schlecht gegangen, und sie hatten den Notarzt rufen können, als sie sahen, dass es wirklich nicht gut um ihn stand.
Diesmal war es anders. Nicht nur weil er dagelegen hatte, als hätte er sie bereits verlassen. Nicht nur weil sein Puls so schwach war, dass sie ihn fast nicht hatte finden können. Sondern weil es auf eine merkwürdige Weise wie die Verlängerung ihres Traums war. Als stünde sie plötzlich wieder bei der mit Spiegeln verkleideten Wand des Pavillons. Als hätte ein böser Geist sie den ganzen Weg von Hongkong hierher verfolgt.
Und während sie neben der Gestalt in dem Bett saß, wo Schläuche und Instrumente tropften und leise piepten, dachte sie, dass sie das Schlimmste jetzt erlebt hatte. Es war wie ein bizarrer Trost in dem Ganzen. Hier wurde Wirklichkeit, wovor sie sich immer gefürchtet hatte. Oder zumindest ein Teil davon. Und sie war noch da, konnte noch immer Arme und Beine spüren. Also waren die Krankheit ihres Vaters und die direkte Todesgefahr doch nicht unmittelbar mit ihrem Leben verbunden. Sie würde leben, und er würde sterben. Vielleicht nicht jetzt, aber irgendwann.
Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie, dass sie den Abschied überleben konnte. Zwar nur mit knapper Not und nur wenn sie etwas anderes hatte, woran sie sich klammern konnte.
Sie saßen einander gegenüber, Henrik und sie. Jeder auf einer Seite des Bettes. Der Arzt hatte gesagt, dass ihr Vater jetzt stabil war. Ihre Mutter war auf den Gang hinausgegangen.
»Stabil«, flüsterte Kit. »Wie kann er stabil sein, wenn er bewusstlos ist? Was ist daran stabil?«
Ob er je wieder aufwachen würde? Sollte sie nie mehr mit ihrem Vater reden können? Mit ihm zusammen lachen? Sich über seine Geschichten aus der Zeit in Hongkong wundern; seinen Mut und seinen Einfallsreichtum bewundern? Sollte sie nie mehr spüren, wie ansteckend seine Lebenskraft war, sodass ihr die Welt plötzlich hell und leicht zu meistern vorkam?
»Stabil ist ein gutes Zeichen«, versprach Henrik, seine Stimme hatte die Autorität eines Arztes. »Das ist der erste Schritt.«
Die Angst schien geringer zu werden. Wie immer, wenn Henrik da war. Sie kannte niemanden, der sie so beruhigen konnte wie er, und da war sie nicht die Einzige. Kindern und Hunden und Schwiegermüttern ging es nicht anders. Schon allein Henriks besonnene und Klartext redende Stimme und seine körperliche Präsenz schienen die Gemüter zu beruhigen. Konnte ihr Vater einem Lebensfreude und Mut einflößen, so flößte Henrik einem Ruhe ein. Doch diese beiden Männer in ihrem Leben waren plötzlich und auf unerklärliche Weise nicht mehr miteinander vereinbar. Henrik gehörte ihr nicht länger. Gehörte ihnen nicht länger.
»Du musst entschuldigen«, sagte sie noch einmal. »Ich hätte dich nicht anrufen sollen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist okay.«
»Du hast jetzt dein eigenes Leben.«
»Das hatte ich vorher auch. Du hast es nur nicht gewusst.«
Volltreffer. Vielleicht gab es viel, das sie nicht gewusst hatte. Aber sie wollte nicht daran denken. Vorbei war vorbei. In den vergangenen drei Monaten hatte sie gelernt, ohne seine Ruhe zu leben. Wieder spürte sie diese unkontrollierbare Wut. Hätten sie es nicht versuchen können? Hätte er das nicht? Sieh nur, was dabei herausgekommen ist, rief es kindisch in ihr. Aber sie wusste genau, dass dieser Gedanke ungerecht war.
»Und das auch noch kurz vor Weihnachten«, sagte sie bar jeder Logik.
»Weihnachten ist es besonders schwer, wenn so etwas passiert«, sagte er, als hätte er Erfahrung mit solchen Dingen.
Sie sah auf ihre Uhr. Es war acht Uhr abends. »Jetzt ist es zu spät, um noch Weihnachtsgeschenke zu kaufen.«
Er sagte nichts. Und sie erinnerte sich, wie oft es vorgekommen war, dass er nichts gesagt hatte und sie hatte reden lassen. Anschließend hatte sie sich immer ein bisschen ausgeliefert gefühlt, aber auch erleichtert.
»Ich habe die meisten Geschenke schon«, sagte sie fahrig. »Ich habe Karen-Lis etwas geschickt und für Vater und Mutter etwas gekauft. Wir sind ja nicht so viele. Aber man muss aufeinander Acht geben, wenn man nur noch zu wenigen ist und die Menschen aus dem eigenen Leben verschwinden.«
Es war nicht beabsichtigt, dass ihre Stimme vor Panik wieder schrill wurde. Vielleicht war es auch nicht beabsichtigt, dass er hier sitzen sollte. Vielleicht wäre sie ohne ihn zurechtgekommen.
Doch allein der Gedanke genügte, um das Blut durch den Körper zu jagen, sodass sie Atembeschwerden bekam und nach Luft rang. Verdammtes Asthma. Wo kam es her? Im Krankenhaus gab es weder Katzen noch Gras. Sie suchte in der Tasche nach dem Inhalator und inhalierte, als gelte es das Leben. Was es so gesehen ja auch tat.
Er stand auf und ging rund um das Bett und zog einen Stuhl neben ihren. Seine großen Hände schlossen sich um ihre wie eine Muschel. »Du hast Recht. Man muss aufeinander Acht geben, und das tut ihr ja auch in eurer Familie genau wie wir in meiner«, tröstete er. »Die, die noch übrig sind«, fügte er hinzu.
»Man trägt einfach diese Verantwortung«, schniefte sie und wusste, dass sie wie ein quengeliges Kind klang. »Eine große Verantwortung.«
Sie spürte seinen Arm, der sich um ihre Schulter legte. Die Sicherheit, die sich in ihr ausbreitete. Sie wollte so gerne teilen. Ihn mit in diese Verantwortung nehmen. Aber jetzt musste sie erwachsen und verantwortungsbewusst sein und sich daran erinnern, dass es vorbei war.
»Du wirst zurechtkommen, Kit«, sagte er. »Und du bist nicht allein, auch wenn du das glaubst.«
Doch genau das war sie.
»Ich glaube, irgendetwas hat das hier ausgelöst«, flüsterte sie und dachte, dass sie hätten suchen sollen, ihre Mutter und sie, in dem Durcheinander, das das umgestürzte Regal verursacht hatte. »Natürlich war er geschwächt. Es war so viel in letzter Zeit. So viele Spekulationen.«
Henriks Stimme war ruhig, als er mit ihr sprach, aber sie spürte, dass seine Aufmerksamkeit plötzlich geschärft war.
»Wie meinst du das?«
Sie konnte nichts dafür, sie musste sich an ihn klammern und die Finger in seinen Hemdärmel bohren.
»Ich glaube, dass irgendetwas in der Post war.«
Da war eine Staubwolke, die sich von weither näherte. In der flimmernden Hitze glich sie einer kleinen Windhose, die sich entschlossen hatte, dem Kiesweg von Binga zu folgen.
Karen-Lis hob den Blick von dem Weg und sah hinüber zum Lake Kariba, wo der versteinerte Wald aus Gespensterbäumen aus dem Wasser herausragte. Einst hatte hier ein echter Wald gestanden, und in der Mitte des Sees lagen unterseeische Dörfer, die einst bewohnt gewesen waren. Bis man das Wasser des Sambesiflusses gestaut hatte, um die Grundlage für Strom und somit fürs Überleben zu schaffen. Das war jetzt viele Jahre her, aber die Bäume standen noch immer wie stumme Zeugen in Gruppen am Ufer und bis zu den Knien mit ihren nackten, toten Wurzeln im Wasser.
Weit draußen konnte sie ein Hausboot sehen, das sich in Richtung Sengwa River bewegte. Ansonsten war der See blank und ruhig. Sie schloss die Augen, als sie dort auf der Treppe der Veranda saß, und zog die Beine zu sich heran in den Schatten des Daches. Es würde ein brütend heißer Tag werden. Bereits am Vormittag lag die Temperatur bei vierzig Grad. Und das kurz vor Heilig Abend. An einem Tag, an dem sie nicht einmal zu Hause anrufen oder eine E-Mail schicken konnte, weil das Telefonnetz wieder einmal aus unbekannten Gründen zusammengebrochen war.
Sie hörte Stimmen aus dem Haus. Das Gemurmel von Kindern, die in der Wärme nicht schlafen konnten; beruhigende Laute von Kollegen, die sie zu überreden versuchten, nicht zu schwatzen und die Ruhestunde einzuhalten. Sie waren aufgeregt. Der Weihnachtsmann sollte kommen, das wussten sie, aber sie wussten nicht, dass er in Gestalt eines freiwilligen Helfers unten aus Binga kommen würde. Sie sollten Geschenke bekommen, wussten sie. Genau wie einige von ihnen, die Ältesten, auch wussten, dass das ihr letztes Weihnachtsfest sein würde.
Sie griff nach dem Glas mit Saft, das neben ihr auf der Treppe stand, und trank von dem süßen Zeug. Es schmeckte nicht nach Weihnachten. Jedenfalls nicht nach ihrem Weihnachten. Aber es war ihre eigene Entscheidung gewesen, auch wenn sie sich nicht einbildete, sie aus dem edlen Motiv, etwas Gutes zu tun, getroffen zu haben. Natürlich spielte das mit hinein und war während ihres wochenlangen Aufenthalts in dem von Dänemark unterstützten Kinderheim immer stärker geworden. Am Anfang stand einfach nur die gute Geschichte. Die, die sie wie eine Art Tagebuch für die Zeitung für die saure Saure-Gurken-Zeit nach Neumahr schreiben sollte. Und dann war da die Familie. Die Distanz, die gut- und gleichzeitig wehtat. Die Familie, die wie eine überalterte Nachrichtengeschichte, aussortiert und nie gedruckt, dalag und auf sie wartete. Denn mit jedem Tag, der verging, wurde sie unwahrscheinlicher. Jeden Tag wurde es schwerer und schwerer, damit fertig zu werden und sie der Umwelt zu erklären.
Sie dachte kurz über das Bild mit der Geschichte nach. Es passte besser, als sie es sich hätte wünschen können. Sie wusste nicht, wann es passiert war, dass die Familie zu Hause in Dänemark sich plötzlich von ihr entfernt hatte oder umgekehrt sie sich von ihr. Es war nicht unmittelbar, nachdem sie ins Ausland gegangen war, passiert. Während ihrer Zeit als Korrespondentin für die Zeitung in Paris war sie oft zu Hause in Nyborg gewesen, und sie hatte sich selbst davon überzeugen können, dass alles war, wie es sein sollte. Aber irgendwann, vielleicht als sie sich in Jacques verliebt hatte und ein ganzes Jahr nicht nach Dänemark gekommen war, schien sie plötzlich eine Fremde geworden zu sein. Nicht länger eine von ihnen. Als sie nach dem Bruch mit Jacques endlich wieder Weihnachten zu Hause verbrachte, war alles anders. Kit und Henrik beschäftigten sich nur mit sich selbst, ihre und Kits Interessen waren unterschiedlicher denn je und ihre Eltern plötzlich älter und zerbrechlicher. Der unausgesprochene Vorwurf hatte klammheimlich Einzug gehalten; sie bemerkte es an Kleinigkeiten. Ein Blick, wenn sie begeistert von ihrer nächsten Aufgabe sprach; ein Seufzer, wenn sie nicht versprechen konnte, zu Geburtstagen und Gedenktagen da zu sein; Kits gequältes Gesicht, wenn sie das Gefühl hatte, eine Schwester zu haben, die nichts begriff.
Sie war ein Gast in ihrer eigenen Stadt geworden. Doch das war nicht alles. Da war auch noch das andere. Der Fluch, der wie eine Schlange zwischen sie gekrochen war und sich zusammengerollt hatte, bereit zuzuschlagen. Der die ganzen Jahre gelauert hatte und dem sie, solange sie sich erinnern konnte, verstanden hatte auszuweichen.
Sie folgte der Staubwolke mit den Augen. Jetzt konnte sie ein Motorrad erkennen und sie fragte sich, ob es der Weihnachtsmann mit seiner roten Kappe und dem in der Satteltasche versteckten Bart war.
»Vermisst du auch Tannenbäume und Marzipanschweine?« Henriette kam heraus und setzte sich neben sie. Unter den Armen hatten sich Schweißränder auf ihrem weißen T-Shirt gebildet, und das Haar wurde von einem Stirnband zurückgehalten, um nicht nass in sich zusammenzufallen.
Karen-Lis zuckte die Schultern. »Es ist so weit weg. Fast unwirklich.«
Henriette nickte. »Das ist das Gefährliche. Wenn man es sich nicht mehr vorstellen kann. Wenn unser kleines Gehirn und unsere abgestumpfte Seele nur noch eins nach dem anderen fassen können.«
»Was ist mit deiner Familie?«, fragte Karen-Lis und spürte die Unruhe. »Wie nehmen sie es auf? Ich meine, dass du so lange weg bist?«
Henriette war Krankenschwester und hatte auch Eltern und Geschwister in Dänemark. »Sie versuchen mir beharrlich weiszumachen, dass sie es verstehen. Aber sie sind es, die den Preis bezahlen.«
»Den bezahlen wir selbst doch auch«, sagte Karen-Lis und dachte an den Verlust, der wie ein schwarzes Loch im Magen arbeitete.
»Aber wir haben die Wahl«, meinte Henriette. »Wir sind es, die sie mit unserem Kommen und Gehen beherrschen.«
Karen-Lis verscheuchte eine Fliege. »Ich glaube nicht, dass ich irgendjemanden beherrsche. Jedenfalls will ich das nicht. Ich lebe nur mein Leben.«
Henriette beobachtete sie sanft. »Warum bist du eigentlich hier?«
Es war keine inquisitorische Frage, kein Misstrauen. Nur Freundlichkeit, wie eine ausgestreckte Hand.
Vielleicht machte es das so schwer. »Weil ich ein Feigling bin«, sagte Karen-Lis zu dem See mit den toten Bäumen.
Henriette widersprach nicht. Ein Außenstehender hätte vielleicht protestiert. Hätte eingewandt, dass man Feiglinge nicht mit HIV-infizierten und AIDS-kranken Kindern arbeiten lassen würde. Aber Henriette hatte acht Jahre als Krankenschwester in Afrika gelebt. Sie wusste, dass Wohltätigkeit viele Gesichter haben und viele Formen annehmen konnte. Und dass Flucht die verbreiteteste war.
»Man kann auch zu hart gegen sich selbst sein«, sagte sie nur.
Das Geräusch des Motorrads kam näher. Henriette stand auf. »Ob das unser Weihnachtsmann ist oder nicht, der Lärm muss aufhören. Er weckt sie alle auf.«
Karen-Lis beobachtete, wie sie schräg über den verstaubten Platz dem Mann entgegenging. Einen Augenblick später winkte ihr Henriette herüberzukommen.
»Für dich. Ein Telegramm. Du musst nur unterschreiben und bei Kasse eins bezahlen.«
Verwundert unterschrieb sie und gab dem Mann ein paar Münzen aus der Tiefe ihrer Shortstasche. Er nickte zum Dank, wünschte ihnen schöne Weihnachten und fuhr lautlos im Leerlauf den Hügel hinunter.