Der Gefangene des Himmels - Carlos Ruiz Zafón - E-Book + Hörbuch
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Der Gefangene des Himmels E-Book

Carlos Ruiz Zafón

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Beschreibung

Der packendste und temporeichste Roman des großen Carlos Ruiz Zafón, der mit den beiden Weltbestsellern ›Der Schatten des Windes‹ und ›Das Spiel des Engels‹ Millionen Leser auf der ganzen Welt in den Bann schlug. Jäh wird das traumschöne Barcelona aus dem Schlummer gerissen und zum Schauplatz eines rasanten Abenteuers: Als Fermín, ein charmanter Herumtreiber und Freund der Buchhändler Sempere, überraschend Besuch von einem mysteriösen Fremden bekommt, holen ihn finstere Intrigen aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs ein. Sie drohen nicht nur sein Leben und Liebesglück zu zerstören, sondern schlingen sich bald auch um das Glück seiner Freunde … Spannender und temporeicher als je zuvor entführt uns Carlos Ruiz Zafón mit erzählerischem Furor in eine magische Geschichte von Verfolgung, Liebe und Freundschaft.

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Seitenzahl: 331

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Carlos Ruiz Zafón

Der Gefangene des Himmels

Roman

Aus dem Spanischen von Peter Schwaar

FISCHER E-Books

Inhalt

[Vorspann][Motto]Erster Teil123456789101112Zweiter Teil123456789101112131415161718192021222324Dritter Teil12345678910111213Vierter Teil12345678910111213Fünfter Teil123456789EpilogPorträt: Carlos Ruiz Zafón © David RamosMein BarcelonaPersonen und Schauplätze[Personen][Schauplätze]
Der Friedhof der vergessenen Bücher

Dieses Buch gehört zu einem Zyklus von Romanen, die sich im literarischen Universum des Friedhofs der Vergessenen Bücher überkreuzen. Sie sind miteinander durch Figuren und Handlungsstränge verbunden, die erzählerische und thematische Brücken schlagen, aber jeder enthält eine in sich geschlossene, von den anderen unabhängige Geschichte.

Die einzelnen Bände der Reihe können in beliebiger Abfolge – oder auch jeder für sich allein – gelesen werden, so dass der Leser über verschiedene Wege und Türen ins Labyrinth der Erzählungen gelangen und es auskundschaften kann; miteinander verknüpft, werden sie ihn ins Zentrum der Geschichte führen.

Ich habe immer gewusst, dass ich einmal in diese Straßen zurückkehren würde, um die Geschichte des Mannes zu erzählen, der in den Schatten des in den dunklen Schlaf einer aschenen, stillen Zeit versunkenen Barcelonas Seele und Namen verloren hat. Diese Seiten sind im Schutz der Stadt der Verdammten mit Feuer niedergeschrieben worden, Worte dem Gedächtnis des Mannes eingeprägt, der mit einem im Herzen verankerten Versprechen und um den Preis eines Fluches von den Toten auferstanden ist. Der Vorhang geht auf, das Publikum verstummt, und noch bevor sich der Schatten, der sein Schicksal verdunkelt, aus dem Schnürboden herabsenkt, betritt eine Gruppe weißer Geister die Bühne, eine Komödie auf den Lippen und mit der seligen Unschuld dessen, der uns im Glauben, der dritte Akt sei der letzte, ein Weihnachtsmärchen erzählt, ohne zu wissen, dass ihn nach dem Umblättern der letzten Seite sein Atem langsam und unerbittlich ins Innerste der Dunkelheit mitschleifen wird.

 

Julián Carax, Der Gefangene des Himmels(Editions de la Lumière, Paris 1992)

Erster Teil

Ein Weihnachtsmärchen

1

Barcelona, Dezember 1957

In jenem Jahr brachen zur Weihnachtszeit alle Tage bleiern und raureifgetüncht an. Bläuliches Halbdunkel tönte die Stadt, und die bis zu den Ohren eingemummten Menschen zeichneten mit ihrem Atem Dampfspuren in die Kälte. In diesen Tagen blieben nur wenige vor dem Schaufenster von Sempere & Söhne stehen, um sich in seine Auslagen zu vertiefen, und noch weniger rafften sich dazu auf, einzutreten und nach dem verlorenen Buch zu fragen, das ein Leben lang auf sie gewartet hatte und dessen Verkauf, von seinem poetischen Rang einmal abgesehen, den misslichen Finanzen der Buchhandlung ein wenig hätte aufhelfen können.

»Ich glaube, heute ist es so weit. Heute wird sich unser Schicksal wenden«, verkündete ich, beflügelt vom ersten Kaffee des Tages – reiner Optimismus in flüssiger Form.

Mein Vater, der seit acht Uhr früh mit Bleistift und Radiergummi der Buchhaltung beizukommen versuchte, schaute vom Ladentisch auf und beobachtete die vorbeirauschende Masse der Kunden.

»Dein Wort in Gottes Ohr, Daniel – wenn es so weitergeht und wir das Weihnachtsgeschäft verpassen, können wir im Januar nicht einmal die Stromrechnung bezahlen. Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen.«

»Gestern hatte Fermín eine Idee«, sagte ich. »Er findet es einen meisterhaften Plan, um den Laden vor dem drohenden Bankrott zu retten.«

»Um Himmels willen.«

Ich zitierte wörtlich:

»›Vielleicht käme, wenn ich das Schaufenster in Unterhosen dekorierte, die eine oder andere literaturbeflissene, nach starken Emotionen lechzende Frau herein und würde kräftig einkaufen, denn laut den Sachverständigen liegt die Zukunft der Literatur bei den Frauen, und mein Gott, ich möchte das Weibsbild sehen, das dem wilden Sog dieses knorrigen Körpers widerstehen kann.‹«

Hinter mir hörte ich den Bleistift meines Vaters zu Boden fallen, und ich wandte mich um.

»Fermín dixit«, fügte ich hinzu.

Ich hatte gehofft, dieser Fermín-Einfall würde meinen Vater zum Lachen bringen, aber er verharrte in seinem Schweigen, und ich schaute ihn verstohlen an. Sempere senior schien diese Albernheit nicht nur überhaupt nicht lustig zu finden, sondern hatte auch ein nachdenkliches Gesicht aufgesetzt, als überlegte er, ob er das ernstlich in Betracht ziehen sollte.

»Sieh mal einer an, da hat Fermín vielleicht den Vogel abgeschossen«, murmelte er.

Ich starrte ihn an. Möglicherweise hatte die geschäftliche Dürre, die uns in den vorangegangenen Wochen gegeißelt hatte, mittlerweile den Verstand meines Vaters angegriffen.

»Willst du etwa sagen, du erlaubst ihm, in Unterhosen im Laden rumzuspazieren?«

»Nein, nein, darum geht es nicht. Das Schaufenster! Du hast mich auf eine Idee gebracht … Vielleicht ist es noch nicht zu spät, das Weihnachtsgeschäft zu retten.«

Er verschwand im hinteren Raum und kam nach kurzer Zeit in seiner Winteruniform zurück: demselben Mantel, Schal und Hut, die ich seit Kindesbeinen an ihm kannte. Bea sagte immer, vermutlich habe er sich seit 1942 keine Kleider mehr gekauft, und alle Indizien wiesen darauf hin, dass meine Frau recht hatte. Während er in die Handschuhe schlüpfte, lächelte er vage, und in seinen Augen erschien das fast kindliche Leuchten, das nur große Vorhaben auszulösen vermochten.

»Ich lass dich eine Weile allein«, verkündete er. »Ich muss etwas erledigen.«

»Darf ich fragen, wohin du gehst?«

Er blinzelte mir zu.

»Das ist eine Überraschung. Du wirst schon sehen.«

Ich folgte ihm zur Tür und sah ihn entschlossenen Schrittes auf die Puerta del Ángel zugehen, eine Gestalt unter vielen in der grauen Flut der Passanten, die sich durch einen weiteren langen Winter aus Schatten und Asche pflügten.

2

Ich nutzte das Alleinsein, um ein wenig Radiomusik zu genießen, während ich nach meinem Gutdünken die Buchreihen in den Regalen neu ordnete. Mein Vater war der Ansicht, das Radio laufen zu lassen, wenn Kunden im Laden waren, gehöre sich nicht, und stellte ich es in Gegenwart Fermíns an, so begann dieser sogleich zu jeder Melodie irgendwelche andalusischen Bittgesänge zu trällern oder, noch schlimmer, »sinnliche Rhythmen aus der Karibik«, wie er sie nannte, zu tanzen, was mich in wenigen Minuten auf hundert brachte. Aufgrund dieser praktischen Schwierigkeiten war ich zum Schluss gekommen, dass ich den Genuss der Ätherwellen auf die seltenen Momente beschränken musste, in denen außer mir und Zehntausenden von Büchern niemand im Laden war.

An jenem Vormittag brachte Radio Barcelona den heimlichen Mitschnitt eines Fans von dem großartigen Weihnachtskonzert, das der Trompeter Louis Armstrong und seine Band drei Jahre zuvor im Hotel Windsor Palace in der Avenida Diagonal gegeben hatten. Nach den Werbepausen mühte sich der Sprecher immer damit ab, diese Klänge als Jatz zu etikettieren, und machte darauf aufmerksam, dass einige dieser Synkopen nicht unbedingt das Richtige für den spanischen Hörer seien, der ja doch eher auf die vorherrschenden Couplet, Bolero und den eben aufkommenden Yéyé abgerichtet war.

Fermín sagte immer, wäre Isaac Albéniz als Schwarzer geboren worden, so wäre der Jazz genau wie die Dosenkekse in Camprodón erfunden worden, und zusammen mit den spitzen Büstenhaltern, wie sie seine vergötterte Kim Novak in einigen der Filme trug, die wir in den Vormittagsvorstellungen des Kinos Fémina sahen, sei dieser Sound eine der wenigen echten Errungenschaften der Menschheit im bisherigen 20. Jahrhundert. Darüber mochte ich nicht mit ihm streiten. In die Magie dieser Musik und den Geruch der Bücher gehüllt, ließ ich den Rest des Vormittags verstreichen und genoss in stiller Zufriedenheit meine einfache, aber gewissenhaft ausgeführte Arbeit.

Fermín hatte den Vormittag freigenommen, um, wie er sagte, letzte Vorbereitungen für seine auf Anfang Februar angesetzte Hochzeit mit der Bernarda zu treffen. Als er das Thema knapp zwei Wochen zuvor zum ersten Mal zur Sprache gebracht hatte, hatten wir alle gesagt, er überstürze das Ganze und Eile führe nirgends hin. Mein Vater hatte ihn zu überzeugen versucht, die Trauung wenigstens zwei oder drei Monate hinauszuschieben, mit dem Argument, Hochzeiten seien etwas für den Sommer und schönes Wetter, aber Fermín hatte an dem Datum festgehalten, denn ein Typ wie er, abgehärtet im rau-trockenen Klima der extremadurischen Hügel, gerate über die Maßen ins Schwitzen, sobald der Sommer die mediterrane, seiner Meinung nach semitropische Küste erreiche, und es mache sich schlecht, seine Verehelichung mit tortengroßen Flecken unter den Armen zu feiern.

Allmählich dachte ich, es müsse etwas Merkwürdiges im Gange sein, dass Fermín Romero de Torres, lebende Standarte des bürgerlichen Widerstands gegen die heilige Mutter Kirche, die Banken und die guten Sitten in diesem von Messe und Wochenschau geprägten Fünfziger-Jahre-Spanien, es mit der kirchlichen Trauung so eilig hatte. In seinem Voreheeifer hatte er sogar mit dem neuen Pfarrer der Santa-Ana-Kirche, Don Jacobo, Freundschaft geschlossen, einem Priester aus Burgos mit entspannter Ideologie und den Manieren eines pensionierten Boxers, den er mit seiner maßlosen Dominoleidenschaft angesteckt hatte. Sonntags nach der Messe lieferte er sich mit ihm im Restaurant El Almirall historische Partien, und der Geistliche lachte herzlich, als ihn mein Freund zwischen zwei Gläsern Montserrat-Likör fragte, ob er eigentlich die Gewissheit habe, dass Nonnen Schenkel hätten, und wenn ja, ob sie so zart zu beknabbern seien, wie er es sich seit seiner Jugend vorstelle.

»Sie bringen es noch fertig, exkommuniziert zu werden«, tadelte ihn mein Vater. »Nonnen sind weder zum Anschauen noch zum Berühren da.«

»Aber der Pfarrer steht ja fast noch mehr auf Frauen als ich«, wehrte sich Fermín. »Wäre da nicht die Uniform …«

Während ich mich an diese Diskussion erinnerte und zu Meister Armstrongs Trompete vor mich hin summte, hörte ich das träge Klingeln der Glocke über der Eingangstür. Ich schaute auf in der Erwartung, meinen Vater von seiner Geheimmission zurückkommen zu sehen oder Fermín, der den Nachmittagsdienst übernähme.

»Guten Tag«, hörte ich von der Schwelle her eine tiefe, schrundige Stimme.

3

Im Gegenlicht glich seine Silhouette einem vom Wind gepeitschten Baumstamm. Er trug einen altmodisch geschnittenen dunklen Anzug und gab, wie er sich so auf einen Stock stützte, eine finstere Gestalt ab. Unübersehbar hinkend, tat er einen Schritt vorwärts. Im hellen Licht der Lampe über dem Ladentisch zeigte sich ein von der Zeit zerfurchtes Gesicht. Der Besucher musterte mich in aller Ruhe; sein geduldig berechnender Blick erinnerte an einen Raubvogel.

»Sind Sie Señor Sempere?«

»Ich bin Daniel. Señor Sempere ist mein Vater, aber er ist im Moment nicht da. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Der Besucher überhörte meine Frage und begann durch die Buchhandlung zu humpeln, um mit einem an Habgier grenzenden Interesse Spanne für Spanne alles zu erforschen. Sein Hinken ließ vermuten, dass die Verletzungen, die sich unter seinen Kleidern verbargen, nicht gering einzuschätzen waren.

»Kriegsandenken«, sagte der Besucher, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Ich folgte ihm mit dem Blick bei der Inspizierung des Ladens und ahnte schon, wo er vor Anker gehen würde. Und tatsächlich blieb er vor der Ebenholzvitrine stehen, einer Reliquie aus der Gründungszeit des Buchladens im Jahr 1888, als Urgroßvater Sempere, damals ein soeben von seinen Abenteuern in der Karibik wohlhabend zurückgekehrter junger Mann, Geld aufgenommen hatte, um einen alten Handschuhladen zu kaufen und zur Buchhandlung umzubauen. In dieser Vitrine, die einen Ehrenplatz im Laden einnahm, verwahrten wir seit eh und je unsere wertvollsten Exemplare.

Der Besucher trat so nahe an sie heran, dass unter seinem Atem die Scheibe beschlug. Er zog eine Brille hervor, setzte sie sich auf die Nase und begann den Inhalt der Vitrine zu studieren. Seine Gebärde erinnerte mich an ein Wiesel, das in einem Hühnerstall die frisch gelegten Eier begutachtet.

»Schönes Stück«, murmelte er. »Muss einen ordentlichen Batzen kosten.«

»Das ist ein Familienerbstück. Es hat vor allem einen ideellen Wert«, antwortete ich. Mir war nicht wohl, wie dieser eigenartige Kunde selbst die Luft, die wir einatmeten, zu taxieren schien.

Nach einer Weile steckte er die Brille wieder ein und sagte gemessen:

»Soviel ich weiß, arbeitet bei Ihnen ein Herr von gefeiertem Esprit.«

Da ich nicht sogleich antwortete, wandte er sich um und schenkte mir einen dieser Blicke, die den Empfänger altern lassen.

»Wie Sie sehen, bin ich allein. Wenn mir der Herr vielleicht sagen würde, welches Buch er wünscht, werde ich es mit großem Vergnügen suchen.«

Der Unbekannte deutete ein alles andere als freundliches Grinsen an und nickte.

»Wie ich sehe, haben Sie ein Exemplar des Grafen von Monte Christo in dieser Vitrine.«

Er war nicht der Erste, der dieses Buch bemerkte. Ich servierte ihm den offiziellen Diskurs, den wir für solche Fälle auf Lager hatten.

»Der Herr hat ein sehr gutes Auge. Es ist eine wunderbare Ausgabe, nummeriert und mit Bildtafeln von Arthur Rackham, und stammt aus der Privatbibliothek eines bedeutenden Madrider Sammlers. Es ist ein einzigartiges, katalogisiertes Stück.«

Der Besucher studierte eingehend die Beschaffenheit der Ebenholzbretter des Regals und zeigte damit unverhohlen, dass ihn meine Worte anödeten.

»Für mich sehen alle Bücher gleich aus, aber mir gefällt das Blau des Einbands«, antwortete er verächtlich. »Ich nehme es.«

Unter anderen Umständen hätte ich Freudensprünge vollführt, wenn ich das wahrscheinlich teuerste Buch im ganzen Laden hätte verkaufen können, doch bei der Vorstellung, es gerate in die Hände dieses Menschen, drehte sich mir der Magen um. Ich hatte das Gefühl, wenn dieses Exemplar den Laden verließe, würde nie wieder jemand auch nur den ersten Abschnitt lesen.

»Es ist eine sehr kostspielige Ausgabe. Wenn der Herr es wünscht, kann ich ihm andere Ausgaben desselben Werks in einwandfreiem Zustand und zu erschwinglicherem Preis zeigen.«

Leute mit kleiner Seele versuchen immer, die anderen herabzusetzen, und der Unbekannte, der die seine zweifellos in einem Stecknadelkopf hätte unterbringen können, warf mir den verächtlichsten aller Blicke zu.

»Und die ebenfalls einen blauen Einband haben«, ergänzte ich.

Er überhörte meinen ironischen Tonfall.

»Nein, danke. Ich will das da. Der Preis ist Nebensache.«

Widerwillig nickte ich, ging auf die Vitrine zu und schloss die Glastür auf. Ich spürte, wie sich die Augen des Unbekannten in meinen Rücken bohrten.

»Immer ist alles Gute unter Verschluss«, bemerkte er leise.

Ich nahm das Buch und atmete tief ein.

»Ist der Herr ebenfalls Sammler?«

»Das könnte man so sagen. Aber nicht von Büchern.«

Den Grafen in der Hand, wandte ich mich um.

»Und was sammelt der Herr?«

Er ignorierte meine Frage und streckte den Arm aus, um das Buch entgegenzunehmen. Ich musste gegen den Impuls ankämpfen, es in die Vitrine zurückzustellen und wieder einzuschließen. Aber in diesen Zeiten hätte es mir mein Vater nicht verziehen, wenn ich mir die Gelegenheit eines solchen Verkaufs hätte entgehen lassen.

»Es kostet fünfunddreißig Peseten«, verkündete ich, bevor ich ihm das Buch aushändigte, und hoffte, bei dieser Summe ändere er seine Meinung.

Ohne mit der Wimper zu zucken, nickte er und zog einen Hundert-Peseten-Schein aus der Tasche seines Anzugs, der bestimmt keine fünfundzwanzig gekostet hatte. Ich fragte mich, ob es nicht Falschgeld war.

»Ich fürchte, für einen so großen Schein habe ich kein Wechselgeld, mein Herr.«

Normalerweise hätte ich ihn gebeten, einen Moment zu warten, und wäre zur nächsten Bank gegangen, um den Schein zu wechseln und zugleich auf seine Echtheit prüfen zu lassen, aber ich mochte ihn nicht allein im Laden lassen.

»Keine Sorge. Er ist echt. Wissen Sie, wie Sie das feststellen können?«

Er hielt die Note gegen das Licht.

»Beachten Sie das Wasserzeichen. Und diese Linien. Die Textur …«

»Ist der Herr ein Experte in Fälschungen?«

»Alles auf dieser Welt ist falsch, junger Mann. Alles außer dem Geld.« Er gab mir den Schein in die Hand, schloss meine Faust darum und tätschelte mir die Knöchel. »Das Wechselgeld lasse ich Ihnen als Anzahlung da für meinen nächsten Besuch.«

»Das ist viel Geld, der Herr. Fünfundsechzig Peseten …«

»Ein paar Münzen.«

»Ich stelle Ihnen auf jeden Fall eine Quittung aus.«

»Ich vertraue Ihnen.«

Der Unbekannte betrachtete das Buch gleichgültig.

»Es ist ein Geschenk. Ich bitte Sie, es persönlich zu überbringen.«

Ich zögerte einen Augenblick.

»Im Prinzip machen wir keine Hauslieferungen, aber in diesem Fall übergeben wir es natürlich sehr gern persönlich und ohne zusätzliche Kosten. Darf ich fragen, ob es in Barcelona selbst ist oder …?«

»Hier.« Sein eisiger Blick verriet Jahre von Wut und Hass.

»Möchte der Herr eine Widmung oder sonst ein paar persönliche Worte hineinschreiben, bevor ich es einpacke?«

Umständlich schlug der Besucher das Buch auf der ersten Seite auf. Da sah ich, dass seine linke Hand eine Prothese aus gefärbtem Porzellan war. Er zog einen Füllfederhalter hervor und schrieb ein paar Worte auf die Seite. Dann gab er mir den Band zurück und drehte sich um. Während er zur Tür humpelte, beobachtete ich ihn.

»Wären Sie so freundlich und würden Sie mir Namen und Adresse angeben, wo wir das Buch hinbringen sollen?«, fragte ich.

»Es steht alles da«, sagte er, ohne zurückzuschauen.

Ich schlug das Buch auf der Seite mit dem handschriftlichen Eintrag auf:

Für Fermín Romero de Torres, der von den Toten auferstanden ist und den Schlüssel zur Zukunft hat.

13

Da hörte ich die Türglocke, und als ich aufschaute, war der Besucher weg.

Ich eilte zum Ausgang und schaute auf die Straße hinaus. Der Besucher humpelte davon und verschmolz mit den Gestalten, die den bläulichen Nebelschleier in der Calle Santa Ana durchdrangen. Ich wollte ihm etwas nachrufen, biss mir aber auf die Zunge. Ich hätte ihn einfach gehen lassen können, aber der Instinkt und mein üblicher Mangel an Vorsicht und Sinn fürs Praktische waren stärker.

4

Ich hängte das »Geschlossen«-Schild an die Tür, drehte den Schlüssel um und machte mich auf, den Unbekannten in der Menge zu verfolgen. Ohne jeden Zweifel bekäme ich von meinem Vater, wenn er zurückkehrte und entdeckte, dass ich, kaum hatte er mich allein gelassen, trotz der Verkaufsflaute die Stellung aufgegeben hatte, einen scharfen Verweis, aber unterwegs würde mir sicher irgendeine Ausrede einfallen. Sein schnell verfliegender Zorn war mir lieber, als die durch diese unheimliche Figur in mir hervorgerufene Beunruhigung herunterzuschlucken und darüber im Ungewissen zu bleiben, was sie mit Fermín verband.

Ein Berufsbuchhändler kann nicht oft vor Ort die hohe Kunst erlernen, einen Verdächtigen zu beschatten, ohne entdeckt zu werden. Abgesehen davon, dass ein großer Teil seiner Kundschaft der Zunft der säumigen Zahler angehört, beschränkt sich sein Kontakt zur Welt der Delinquenz auf die Lektüre von Detektivgeschichten und Groschenromanen in den eigenen Regalen. Kleider machen keine Leute, Verbrechen aber – oder ein Verdacht – machen Detektive, vor allem Amateurdetektive.

Während ich dem Fremden in Richtung Ramblas folgte, frischte ich in meinem Kopf die Grundregeln auf, indem ich zuerst einmal gut zwanzig Meter Abstand zwischen uns einhielt, mich hinter einem korpulenteren Artgenossen tarnte und immer ein rasches Versteck in einem Hauseingang oder Laden im Visier hatte, falls der Gegenstand meiner Verfolgung unversehens stehen blieb und sich umwandte. Bei den Ramblas angekommen, überquerte der Fremde den Seitenstreifen und ging auf dem Mittelstück Richtung Hafen weiter. Wie immer war die Promenade weihnachtlich geschmückt, und in vielen Schaufenstern prangten Lichter, Sterne und Engel, Verkünder einer Prosperität, mit der es seine Richtigkeit haben musste, wenn das Radio es so sagte.

In jenen Jahren hatte Weihnachten noch einen Anstrich von Magie und Geheimnis. Das pulverisierte Winterlicht, der Blick und die Sehnsucht der in Schatten und Stille lebenden Menschen verliehen dieser Szenerie einen leichten Hauch von Wahrheit, an die man noch glauben konnte, wenigstens die Kinder und diejenigen, die zu vergessen gelernt hatten.

Vielleicht hob sich aus diesem Grund die so unweihnachtliche, so aus dem Rahmen fallende Gestalt, die ich verfolgte, noch deutlicher von dieser ganzen Traumwelt ab. Der Mann hinkte langsam weiter und blieb mehrmals vor einem der Vogel- oder Blumenkioske stehen, um Wellensittiche oder Rosen zu bestaunen, als hätte er noch nie welche gesehen. Zweimal trat er an einen der Zeitungskioske, die die Ramblas sprenkelten, studierte die Titelseiten von Zeitungen und Zeitschriften und brachte die Postkartenkarussells zum Rotieren. Er wirkte wie ein Kind oder ein Tourist, der erstmals auf den Ramblas spazieren geht, wobei Kinder und Touristen in solchen Momenten voller Naivität einen Fuß vor den anderen setzen, während jenes Individuum weder Naivität noch den Segen des Jesuskinds ausstrahlte, an dessen Bildnis er jetzt auf der Höhe der Bethlehem-Kirche vorbeikam.

Nun blieb er wieder stehen, ganz offensichtlich fasziniert von einem blassrosa gefiederten Kakadu, der ihn aus dem Käfig eines der Tierkioske bei der Einmündung der Calle Puertaferrisa anblinzelte. Der Fremde trat so nahe an den Käfig heran wie in der Buchhandlung an die Vitrine und flüsterte dem Vogel etwas zu. Dieser, ein großköpfiges Exemplar mit der Flügelweite eines luxusfedrigen Kapauns, überlebte den Schwefelatem des Fremden und konzentrierte sich voller Interesse auf seine Worte. Als gälte es Zweifel auszuräumen, nickte er mehrmals und sträubte sichtlich erregt einen rosa Federkamm.

Offensichtlich zufrieden mit seiner ornithologischen Zwiesprache setzte der Fremde nach wenigen Minuten seinen Weg fort. Als ich keine dreißig Sekunden später am Vogelkiosk vorbeikam, herrschte dort ein aufgeregtes Hin und Her. Der verwirrte Verkäufer deckte den Kakadukäfig eilig mit einer schwarzen Haube zu, um den Vogel davon abzuhalten, in perfekter Aussprache den Vers Franco, du elender Wicht, warum steht er dir denn nicht? zu rezitieren, den er zweifellos soeben gelernt hatte. Wenigstens verriet der Fremde einen gewissen Sinn für Humor und riskante Überzeugungen, was in jener Zeit ebenso selten war wie Rocksäume oberhalb des Knies.

Abgelenkt von diesem Zwischenfall, glaubte ich ihn schon aus den Augen verloren zu haben, doch bald entdeckte ich seine finstere Gestalt vor dem Schaufenster des Juweliers Bagués. Verstohlen näherte ich mich einem der Schreiberhäuschen, die den Eingang zum Virreina-Palast säumten, und beobachtete ihn aufmerksam. Seine Augen glänzten wie Rubine, und das Schauspiel von Gold und Edelsteinen hinter der kugelsicheren Scheibe schien eine größere Lüsternheit in ihm geweckt zu haben, als es eine Riege Revuegirls aus dem Criolla in dessen Glanzjahren geschafft hätte.

»Ein Liebesbrief, eine Eingabe, eine Bitte an die Exzellenz Ihrer Wahl, ein spontanes Bei-uns-alles-gut für die Verwandten im Dorf, junger Mann?«

Der Schreiber des Häuschens, das ich als Versteck auserkoren hatte, streckte den Kopf heraus wie ein Beichtvater und schaute mich an, begierig darauf, seine Dienste an den Mann zu bringen. Das Schild über dem Fenster besagte:

OSWALDO DARÍO DE MORTENSSEN

 

Literat und Denker

Liebesbriefe, Gesuche, Testamente, Gedichte, Schmähschriften, Glückwünsche, Bitten, Todesanzeigen, Hymnen, Diplomarbeiten, Bittschriften, Eingaben und verschiedenartigste Dichtungen in sämtlichen Stilen und Metren

Zehn Céntimos pro Satz (Reime extra)

Preisnachlass für Witwen, Versehrte und Minderjährige

»Na, junger Mann? Ein Liebesbrief von der Art, bei der die heiratsfähigen jungen Damen mit den Ausflüssen des Verlangens den Unterrock nässen? Ich mache Ihnen einen Sonderpreis, weil Sie es sind.«

Ich hielt ihm den Ehering unter die Nase. Unerschrocken zuckte der Schreiber Oswaldo die Schultern.

»Wir leben in einer modernen Zeit«, sagte er. »Wenn Sie wüssten, in welchen Scharen verheiratete Männer und Frauen vorbeikommen …«

Ich las das Schild noch einmal, irgendetwas klang bei mir an, aber ich wusste es nicht einzuordnen.

»Ihr Name kommt mir bekannt vor …«

»Ich hatte auch schon bessere Zeiten. Vielleicht von damals.«

»Ist das Ihr richtiger Name?«

»Ein Nom de Plume. Ein Künstler braucht einen Beinamen, der seiner Aufgabe gerecht wird. In meinem Geburtsschein steht Jenaro Rebollo, aber wer vertraut schon jemandem mit einem solchen Namen das Verfassen seiner Liebesbriefe an … Was halten Sie vom Angebot des Tages? Ein leidenschaftlicher oder sehnsüchtiger Brief gefällig?«

»Ein andermal.«

Der Schreiber nickte resigniert. Er folgte meinem Blick und runzelte neugierig die Stirn.

»Sie beobachten das Hinkebein, nicht wahr?«

»Kennen Sie ihn denn?«

»Seit etwa einer Woche sehe ich ihn täglich hier vorbeikommen und dann vor dem Schaufenster des Juweliers haltmachen und verzückt hineinstarren, als wäre statt Ringe und Halsketten der Hintern der Bella Dorita ausgestellt.«

»Haben Sie einmal mit ihm gesprochen?«

»Einer meiner Kollegen hat ihm neulich einen Brief ins Reine geschrieben – da ihm Finger fehlen …«

»Wer war das?«

Der Schreiber schaute mich zögernd an, wohl weil er befürchtete, mit einer Antwort einen potentiellen Kunden zu verlieren.

»Luisito. Der dort drüben, neben der Casa Beethoven, der aussieht wie ein Priesterseminarist.«

Zum Dank wollte ich ihm ein paar Münzen geben, doch er lehnte ab.

»Ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit der Feder, nicht mit dem Schnabel. Davon gibt’s mehr als genug in der Gegend. Wenn Sie eines Tages etwas in grammatischer Richtung benötigen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.«

Er reichte mir eine Visitenkarte, getreues Abbild des Schildes an seinem Häuschen.

»Montag bis Samstag, von acht bis acht«, ergänzte er. »Oswaldo, Soldat des Wortes, Ihnen und Ihren Briefangelegenheiten zu dienen.«

Ich steckte die Karte ein und bedankte mich für seine Hilfe.

»Da läuft Ihnen Ihr Tauberich davon«, sagte er.

Ich wandte mich um und sah, dass sich der Fremde wieder in Gang gesetzt hatte. Eilig holte ich den Abstand auf und folgte ihm die Ramblas hinunter bis zum Eingang des Boquería-Markts, wo er abermals stehen blieb und das Schauspiel von Ständen und das Treiben der Menschen betrachtete, die, beladen mit appetitlich aussehenden Lebensmitteln, entweder hinein- oder herausströmten. Er humpelte zur Pinocho-Theke und hievte sich mühsam, aber eifrig auf einen der Hocker. Eine halbe Stunde lang versuchte er all die Köstlichkeiten zu verzehren, die Juanito, der Benjamin des Hauses, nach und nach vor ihn hinstellte, aber ich hatte den Eindruck, dass ihm die Gesundheit kein großes Prassen erlaubte und dass er vor allem mit den Augen aß, als erinnerte er sich beim Bestellen der Tapas und Häppchen an Zeiten kräftigeren Zulangens. Der Gaumen genießt nicht, er erinnert sich bloß. Sich in seine gastronomische Abstinenz und die stellvertretende Betrachtung fremden Kostens und Lippenleckens schickend, bezahlte der Unbekannte schließlich und setzte seine Wanderung bis zur Mündung der Calle San Pablo fort, wo durch eine Fügung von Barcelonas unnachahmlicher Geometrie eines der großen Opernhäuser des alten Europas und eines der heruntergekommensten Hurenviertel der nördlichen Hemisphäre aufeinandertrafen.

5

Zu dieser Stunde wagte sich die Besatzung so mancher im Hafen vor Anker liegenden Frachter und Kriegsschiffe ramblasaufwärts, um Gelüste unterschiedlichster Art zu befriedigen. Angesichts der großen Nachfrage hatte sich an der Ecke bereits das Angebot in Form einer Reihe von Mietdamen formiert, denen man den hohen Kilometerstand ebenso ansah wie ihren durchaus erschwinglichen Grundtarif. Ich guckte scheu auf die taillierten Röcke über Krampfadern, auf purpurne Blässen, deren Anblick wehtat, und welke Gesichter – ein Gesamteindruck von letzter Station vor dem Ruhestand, der alles andere als Wollust auslöste. Um hier anzubeißen, musste ein Seemann viele Monate auf hoher See zubringen, dachte ich, doch zu meiner Überraschung blieb der Fremde stehen, um mit zwei dieser von vielen blütenlosen Lenzen rücksichtslos gebeutelten Damen zu kokettieren.

»Na, Herzchen, wenn ich dir einen runterhole, biste gleich zwanzig Jahre jünger«, hörte ich eine von ihnen sagen, die als Großmutter des Schreibers Oswaldo hätte durchgehen können.

Damit bringst du ihn nur um, dachte ich. Wohl in einer Anwandlung von Einsicht lehnte der Unbekannte die Einladung ab.

»Ein andermal, Süße«, antwortete er und bog ins Raval ein.

Ich folgte ihm etwa hundert Meter weiter, bis er vor einem dunklen, schmalen Hauseingang fast gegenüber der Pension Europa stehen blieb. Nachdem er darin verschwunden war, wartete ich eine halbe Minute und ging ihm dann nach.

Drinnen erwartete mich ein düsteres Treppenhaus, das sich im Innern des Gebäudes verlor; dieses schien nach Backbord zu krängen und, seiner stinkend feuchten Luft und seinem Abwasserproblem nach zu schließen, drauf und dran zu sein, in den Katakomben des Ravals unterzugehen. Auf einer Seite des Vestibüls saß in einer Art Pförtnerloge ein schmieriger Mensch im Unterhemd. Zwischen den Lippen hatte er einen Zahnstocher und neben sich einen Transistor, aus dem ein Stierkampfprogramm quoll. Er warf mir einen forschenden Blick zu.

»Kommen Sie allein?«, fragte er fast feindselig.

Man musste kein Luchs sein, um zu merken, dass man sich im Entree eines Stundenhotels befand und dass die einzige Dissonanz meines Besuchs in der Abwesenheit einer der Damen bestand, wie sie an der Ecke patrouillierten.

»Wenn Sie wollen, schick ich Ihnen ein Mädchen«, erbot er sich und bereitete schon das Bündel aus Tuch, Seife und etwas Gummiähnlichem oder sonst einem Verhütungsmittel vor.

»Eigentlich wollte ich bloß etwas fragen«, setzte ich an.

Der Portier verdrehte die Augen.

»Macht zwanzig Peseten die halbe Stunde, und die Braut bringen Sie mit.«

»Sehr verlockend. Vielleicht ein andermal. Was ich Sie fragen wollte, ist, ob vor zwei Minuten ein Herr hinaufgegangen ist. Schon älter. Nicht besonders gut in Form. Er ist allein gekommen, ohne Braut.«

Der Portier zog die Brauen zusammen. In einem einzigen Augenblick degradierte mich sein Blick vom Kunden zur lästigen Fliege.

»Ich hab niemand gesehen. Und jetzt verduften Sie, bevor ich den Tonet hole.«

Vermutlich war der Tonet kein sehr umgänglicher Mensch. Ich legte die mir verbleibenden Münzen auf den Tisch und lächelte dem Portier versöhnlich zu. Das Geld verschwand in seinen gummihütchenbesetzten Fingern so schnell wie ein Insekt auf der Zunge eines Chamäleons.

»Was wollen Sie wissen?«

»Wohnt hier der Herr, von dem ich Ihnen sprach?«

»Er hat seit einer Woche ein Zimmer gemietet.«

»Wissen Sie, wie er heißt?«

»Er hat einen Monat zum Voraus bezahlt, also hab ich ihn nicht gefragt.«

»Wissen Sie, woher er kommt, was er macht?«

»Ich bin kein Briefkastenonkel. Wer zum Bumsen herkommt, den fragen wir nichts. Und der bumst nicht mal. Machen Sie sich Ihren Reim darauf.«

Ich dachte nach.

»Alles, was ich weiß, ist, dass er ab und zu für eine Weile rausgeht und dann wiederkommt. Manchmal lässt er sich eine Flasche Wein, Brot und etwas Honig raufbringen. Er zahlt gut und sagt keinen Piep.«

»Und Sie erinnern sich wirklich an keinen Namen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Gut. Danke, und entschuldigen Sie die Störung.«

Ich wollte eben gehen, als er mir zurief:

»Romero.«

»Wie bitte?«

»Ich glaube, er sagte, er heißt Romero oder so ähnlich …«

»Romero de Torres?«

»Genau.«

»Fermín Romero de Torres?«, wiederholte ich ungläubig.

»So ist es. Hat es vorm Krieg nicht einen Torero gegeben, der so hieß?«, fragte er. »Ich sag ja, dass mir das gleich irgendwie bekannt vorkam …«

6

Auf dem Rückweg zur Buchhandlung war ich noch verwirrter als zuvor. Als ich am Virreina-Palast vorbeikam, winkte mir der Schreiber Oswaldo zu.

»Erfolg gehabt?«, fragte er.

Leise verneinte ich.

»Versuchen Sie’s doch bei Luisito, vielleicht erinnert der sich an etwas.«

Ich nickte und ging zum Häuschen von Luisito, der gerade seine Federnsammlung reinigte. Er lächelte mir zu und lud mich ein, Platz zu nehmen.

»Was darf’s denn sein? Liebe oder Arbeit?«

»Ihr Kollege Oswaldo schickt mich.«

»Unser aller Meister«, sagte Luisito, der noch keine fünfundzwanzig sein konnte. »Ein großer Homme de Lettres, dessen Meriten die Welt nicht erkannt hat, und da sitzt er nun, auf der Straße, wo er im Dienste des Analphabeten am Wort wirkt.«

»Oswaldo hat mir erzählt, Sie hätten neulich einen älteren Herrn bedient, hinkend und ziemlich verwahrlost, dem eine Hand fehlt und an der anderen einige Finger …«

»Ich erinnere mich an ihn. An die Einhänder erinnere ich mich immer. Wegen Cervantes, wissen Sie.«

»Natürlich. Und können Sie mir sagen, aus welchem Grund er zu Ihnen kam?«

Unbehaglich rutschte Luisito auf seinem Stuhl hin und her, die Wendung des Gesprächs passte ihm offensichtlich nicht.

»Sehen Sie, das ist nahezu ein Beichtstuhl. Die Vertraulichkeit hat Vorrang vor allem anderen.«

»Das ist mir bewusst. Es geht aber um etwas Wichtiges.«

»Wie wichtig?«

»Wichtig genug, um das Wohlbefinden von Leuten zu gefährden, die mir sehr viel bedeuten.«

»Ja schon, aber …«

Er reckte den Hals und suchte den Blick von Meister Oswaldo auf der anderen Seite des Patio. Ich sah Oswaldo nicken, und Luisito entspannte sich.

»Der Herr ist mit einem Brief gekommen, den er verfasst hatte und der in Schönschrift ins Reine gebracht werden sollte – mit seiner Hand ist ja …«

»Und im Brief war die Rede von …«

»Daran kann ich mich kaum noch erinnern, vergessen Sie nicht, dass wir hier täglich viele Briefe schreiben …«

»Strengen Sie sich ein wenig an, Luisito. Wegen Cervantes.«

»Ich glaube, und auf die Gefahr hin, ihn mit dem Brief eines anderen Kunden zu verwechseln, dass es irgendwie um eine große Geldsumme ging, die der einhändige Herr bekommen oder wiederbekommen sollte oder so was. Und irgendwas von einem Schlüssel.«

»Einem Schlüssel.«

»Genau. Er hat nicht im Einzelnen erklärt, ob es um einen Schrauben-, einen Noten- oder einen Hausschlüssel ging.«

Er lächelte mir zu, sichtlich zufrieden, zum Gespräch eine Prise Witz beigesteuert zu haben.

»Erinnern Sie sich an sonst noch was?«

Nachdenklich leckte er sich die Lippen.

»Er sagte, die Stadt habe sich sehr verändert.«

»In welchem Sinn verändert?«

»Ich weiß nicht. Verändert. Ohne Tote auf der Straße.«

»Tote auf der Straße? Das hat er gesagt?«

»Wenn mich die Erinnerung nicht trügt …«

7

Ich bedankte mich bei Luisito für die Information und brachte eilig das letzte Stück Weges zum Laden hinter mich, um mit etwas Glück vor meinem Vater da zu sein. Das »Geschlossen«-Schild hing noch an der Tür. Ich schloss auf, nahm das Schild ab und stellte mich wieder hinter den Ladentisch; sicher war in der letzten knappen Dreiviertelstunde meiner Abwesenheit kein einziger Kunde gekommen.

Da ich nichts zu tun hatte, begann ich darüber nachzudenken, was ich mit dem Band des Grafen von Monte Christo tun und wie ich das Thema gegenüber Fermín anschneiden sollte, wenn er käme. Ich mochte ihn nicht über Gebühr beunruhigen, doch der Besuch des Unbekannten und mein fruchtloser Versuch, dessen Absichten zu ergründen, ließen mir keine Ruhe. In jedem anderen Fall hätte ich ihm ohne weiteres erzählt, was geschehen war, aber diesmal hielt ich Fingerspitzengefühl für angezeigt. Seit einiger Zeit war Fermín sehr niedergeschlagen und hatte eine Stinklaune. Und seit einiger Zeit versuchte ich, ihn mit meinen müden Witzchen aufzumuntern, aber nichts vermochte ihm ein Lächeln zu entlocken.

»Fermín, entstauben Sie die Bücher nicht allzu sehr, sonst bleibt in den wenigen einschlägigen Exemplaren, die man uns liefert, bald nichts mehr vom schwarzen Humor übrig.«

Fermín war weit davon entfernt, solch armselige Scherze mitleidig zu belächeln, sondern nutzte jeden beliebigen Anlass für seine Mutlosigkeits- und Überdrussapologien.

»In Zukunft wird der Humor überhaupt nur noch schwarz sein, denn für das dominierende Aroma in der zweiten Hälfte dieses blutrünstigen Jahrhunderts sind Falschheit und Seelenschwärze noch Euphemismen«, philosophierte er.

Es geht schon wieder los, dachte ich. Die Offenbarung des heiligen Fermín Romero de Torres.

»So schlimm wird es wohl nicht sein, Fermín. Sie sollten mehr an die Sonne gehen. Neulich hat in der Zeitung gestanden, dass Vitamin D den Glauben an den Nächsten stärkt.«

»Es hat dort auch gestanden, dass irgendein Gedichtschmöker eines Franco-Schützlings die Sensation des internationalen Literaturpanoramas ist, wo er doch in keiner Buchhandlung außerhalb Madrids verkauft wird«, antwortete er.

Wenn sich Fermín mit allen Organen dem Pessimismus hingab, warf man ihm besser keinen Köder hin.

»Wissen Sie, Daniel, manchmal denke ich, Darwin hat sich geirrt, und in Wirklichkeit stammt der Mensch vom Schwein oder vom Hund ab, denn in acht von zehn Hominiden steckt ein Schweinehund, der darauf wartet, rausgelassen zu werden.«

»Fermín, Sie gefallen mir besser, wenn Sie eine humanistischere, positivere Sicht der Dinge zum Ausdruck bringen, wie letzthin, als Sie sagten, es sei keiner wirklich schlecht, er habe bloß Angst.«

»Das muss ein Absinken des Blutzuckerspiegels gewesen sein. So ein Schwachsinn.«

Der Spaßvogel Fermín, an den ich mich so gern erinnerte, befand sich in jenen Tagen auf dem Rückzug, und seine Stelle schien ein Mann eingenommen zu haben, der von Sorgen und Widrigkeiten geplagt wurde, die ich nicht teilen mochte. Manchmal, wenn er sich unbeobachtet wähnte, hatte ich den Eindruck, er schrumpfe in einer Ecke, von Angst verzehrt, förmlich zusammen. Er hatte Gewicht verloren, und da er ohnehin fast nur aus Knorpeln bestand, sah er allmählich besorgniserregend aus. Ich hatte es ihm einige Male gesagt, aber er bestritt, dass es irgendein Problem gab, und wich mit seltsamen Ausreden aus.

»Es ist nichts, Daniel. Aber seit ich darauf verfallen bin, die Liga zu verfolgen, sackt mir jedes Mal der Blutdruck ab, wenn Barça verliert. Ein Stückchen Manchegokäse, und ich bin gleich wieder der alte Stier.«

»Sind Sie sicher? Sie sind doch Ihr Lebtag noch nie zu einem Fußballspiel gegangen.«

»Das glauben Sie. Kubala und ich sind sozusagen zusammen aufgewachsen.«

»Mir kommen Sie jedenfalls im Moment wie ein Stück schlecht abgehangenes Fleisch vor. Entweder sind Sie krank, oder Sie achten überhaupt nicht auf Ihre Gesundheit.«

Zur Antwort zeigte er mir zwei Bizepse in Zuckermandelgröße und grinste wie ein Zahnpastavertreter.

»Fassen Sie’s ruhig an – na, los schon. Gehärteter Stahl, wie das Schwert des Cid.«

Mein Vater schrieb seine schlechte Form der Nervosität wegen der Heirat zu und allem, was das mit sich brachte, bis hin zum Fraternisieren mit dem Klerus und der Suche nach einem Restaurant oder Ausflugslokal für das Bankett, aber ich hatte es in der Nase, dass diese Melancholie tiefer gründete. Hin- und hergerissen, ob ich Fermín von der Episode am Vormittag berichten und ihm das Buch zeigen oder einen günstigeren Moment abwarten sollte, sah ich ihn mit einer wahren Leichenbittermiene zur Tür hereintreten. Als er mich erblickte, quälte er sich ein schwaches Lächeln ab und deutete einen militärischen Gruß an.

»Sieh einer an, Fermín. Ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr.«

»Als ich am Uhrenladen vorbeikam, hat mich Don Federico mit so einer Klatschgeschichte aufgehalten, dass heute Vormittag jemand Señor Sempere sehr schmuck in der Calle Puertaferrisa unterwegs zu einem unbekannten Ziel gesehen haben wollte. Don Federico und das dumme Stück von Merceditas haben gefragt, ob er sich eine Geliebte zugelegt habe, das sei ja jetzt schick geworden bei den Händlern des Viertels, und wenn das Mädchen auch noch Coupletsängerin ist, umso mehr.«

»Und was haben Sie geantwortet?«

»Dass Ihr Herr Vater in seinem beispielhaften Witwertum in einen Zustand urtümlicher Jungfräulichkeit zurückgekehrt ist, die von der Wissenschaftlergemeinde mit höchstem Interesse studiert wird und ihm beim Erzbistum einen Eilantrag auf Präkanonisierung eingetragen hat. Über das Privatleben von Señor Sempere spreche ich weder mit Vertrauten noch mit Fremden, weil das nur ihn etwas angeht. Und wer mir mit Zoten kommt, der kriegt eine geklebt, und damit basta.«

»Sie sind ein Gentleman der alten Schule, Fermín.«

»Wer von der alten Schule ist, das ist Ihr Vater, Daniel. Denn unter uns gesagt, es würde ihm ehrlich guttun, sich ab und zu eine Eskapade zu leisten. Seit bei uns der Ofen aus ist, schließt er sich den ganzen Tag mit diesem ägyptischen Totenbuch im Hinterzimmer ein.«

»Sie meinen das Geschäftsbuch«, stellte ich richtig.

»Was auch immer. Seit Tagen trage ich mich mit dem Gedanken, wir sollten ihn ins Molino mitschleppen und dann einen draufmachen, denn obwohl der Held dieser Geschichte fader ist als eine Kohlpaella, glaube ich, so eine richtige Begegnung mit einer drallen Jungfer, die über einen guten Kreislauf verfügt, würde sein Mark aufwecken«, sagte er.

»Und das sagen ausgerechnet Sie! Die Freude des Obstgartens. Wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll, dann sind Sie es, der mir Sorgen macht«, protestierte ich. »Seit Tagen sehen Sie aus wie ein Kakerlak im Regenmantel.«

»Tatsächlich ein trefflicher Vergleich, Daniel, denn obwohl der Kakerlak nicht das Komödiantengesichtchen hat, das die frivolen Regeln dieser dümmlichen Gesellschaft fordern, in der wir leben dürfen, so charakterisieren doch sowohl der glücklose Gliederfüßler wie meine Wenigkeit uns durch einen unvergleichlichen Überlebensinstinkt, durch unmäßige Gefräßigkeit und die Libido eines Löwen, die selbst bei höchster Verstrahlung nicht schwindet.«

»Mit Ihnen kann man einfach nicht diskutieren, Fermín.«

»Ich habe eben eine dialektische Veranlagung, die dazu neigt, beim geringsten Anzeichen von Täuschung oder Vertrottelung andere zu ärgern, mein Freund, Ihr Vater dagegen ist ein zartheikles Blümchen, und ich glaube, wir sollten jetzt eingreifen, ehe er gänzlich zum Fossil wird.«

»Und was für eine Art von Eingreifen soll das sein, Fermín?«, unterbrach uns die Stimme meines Vaters. »Sagen Sie bloß nicht, Sie wollen mich zu Kaffee und Kuchen mit der Rociíto verführen.«

Wir wandten uns um wie zwei ertappte Pennäler. Streng und keineswegs wie ein zartheikles Blümchen beobachtete uns mein Vater von der Tür aus.

8

»Und woher wissen Sie das mit der Rociíto?«, murmelte Fermín verdutzt.