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Moormumien aus dem historischen Schottland haben Runa schon immer gefesselt, obwohl sie diese Art zu sterben als eine der schrecklichsten empfindet. Trotzdem muss sie einem inneren Zwang folgend, zu jeder ausgestellten Moorleiche, die es gibt. Jedesmal kommt sie enttäuscht, ohne jedoch den Grund für ihre Enttäuschung zu kennen, wieder nach Hause. Doch dieses Mal scheint alles anders! Im Museum begegnet sie Lando, der dem gleichen inneren Zwang folgt und ihr zusammentreffen ist im wahrsten Sinne feurig. Nach einem öffentlichen Liebesakt machen sich die beiden gemeinsam auf eine astrale Reise in ihre gemeinsame und schwere Vergangenheit. Werden sie es schaffen alle Geheimnisse zu lüften und ihre zwanghafte Suche dadurch beenden können? Ein kleines Buch, gut während einer Zugreise zu lesen oder Zuhause vor einem gemütlichen Kaminfeuer, wenn einem der Sinn nach wahrer Liebe, Herzschmerz, Verrat, Geheimnissen und den schottischen Highlands ist.
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Seitenzahl: 320
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Manuela Tietsch
Der Gesang des Einhorns
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1 Feuer im Museum, Sommer 1999
2 Im Norden Englands, 11. Jahrhundert
3 Freunde
4 Schottisches Reich, im Norden
5 Entscheidungen
6 Hassliebe
7 Eifersucht
8 Die Starke
9 Schmetterling
10 Das Einhorn
11 Der sprechende Schmetterling
12 Geheimnisse
13 Enthüllungen
14 Tränen
15 Noch eine Enthüllung
16 Überraschungen
17 Der Anspruch
18 Der Treueid
19 Freund oder Feind?
20 Die innere Wandlung
21 Der Wandteppich
22 Nebel über dem Moor
23 Sommer 1999, die Trennung
24 Schottland
Landkarte, Malindas Weg
Impressum neobooks
Der Gesang des Einhorns
Ein feiner, kaum sichtbarer Staubschleier erfüllte die Luft und wurde bei jeder Bewegung aufgewirbelt, tanzte in den wenigen gebündelten Sonnenstrahlen, die durch die hohen Fenster fielen und hatte kaum Gelegenheit sich zur Ruhe zu setzen, da der Besucherstrom keinerlei Rücksicht auf ihn nahm. Der leicht muffige Geruch ließ erahnen wie viele Jahre die Ausstellungsstücke schon Besucher erfreuten, oder auch langweilten.
Runa unterdrückte ihren Hustenreiz, als sie den Staub im Sonnenlicht tanzen sah und folgte Vera weiter in die mit einer Glaskuppel überdachte Haupthalle. Währenddessen beobachtete sie ihre Freundin und glaubte nicht, dass dieses hautenge Minikleid, falls das bisschen Stoff den Namen Kleid verdiente, passende Garderobe für einen Museumsbesuch war, aber so war Vera eben.
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Weißgraue Gewitterwolken stapelten sich inzwischen, als hätte jemand weiche Kissen übereinander geworfen. Wenigstens war es hier drinnen noch einigermaßen kühl, außerhalb drückte die bleierne Hitze auf Atmung und Gemüt.
Sie wandte sich dem nächsten Schaukasten zu, eine mit Wachsfiguren nachgestellte Szene. Zwei auf dem Boden sitzende, mit einem Hund spielende Kinder und deren mutmaßliche Mutter, die mit einem Bein noch in der offenen Tür der Hütte stand und offensichtlich einen Stapel Wolle hinaus tragen wollte. An der Sichtgrenze, lebensnah gemalt von einem Namenlosen Künstler oder Studenten, kamen zwei Männer im ursprünglichen großen Tuch, dem Vorläufer des Kilts, über die Hügel auf das kleine Haus zu. Was wollten diese Männer von der Frau und ihrer Familie? Gehörten sie dazu? Oder wollten sie ihr etwas antun? Ein Schauer lief Runa über den Rücken. Immer wieder stellte sie fest, dass sie für das Frühmittelalter nichts übrig hatte und noch weniger für Schottland. Und trotzdem nahm sie alles was mit diesem Land und seiner Geschichte zu tun hatte wie ein Schwamm auf und sie hatte sie das Gefühl, je mehr sie sich innerlich dagegen wehrte, um so schlimmer wurde es.
Eine innere Unruhe ließ sie ihren Blick schweifen. Sicher, die Moorleichen würden nicht davonlaufen und trotzdem drängte sie eine unbestimmte Angst, dass genau das eintreten könnte, weiter zu gehen. Hoffentlich gelangte sie bald an ihr eigentliches Ziel.
Sie musste plötzlich schmunzeln, als ihr Veras Entgegnung auf ihre Einladung sie zur Ausstellung zu begleiten, wieder einfiel. „Moorleichen? Du willst dir verschrumpelte Tote ansehen?“ sie hatte die Augen verdreht, „Warum das denn?“
Runas Blick wanderte erneut zu Vera, die sich ganz nebenbei nach zwei viel zu jungen Männern umsah, die mit ihrer Klasse einen Ausflug ins Museum unternahmen. Ihre Freundin war unverbesserlich. In Runas Bauch zwickte es unangenehm. Neid? Dabei gönnte sie Vera doch ihren Spaß. Dass sie zu gleicher Leichtigkeit im Umgang mit Männern nicht fähig war, daran trug ja nicht Vera Schuld. Es war nicht die Eifersucht auf Veras Unbefangenheit, da war etwas anderes. Sie konnte es nicht greifen, doch dieses unbestimmte Gefühl wütete in ihrem Magen, viel schlimmer als irgendeine Prüfungsangst.
Ihr fielen die beiden Leichen aus dem Moor wieder ein und sie schüttelte sich. Warum verfolgte sie die Vorstellung im Moor zu ersticken? Und warum zog es sie dennoch zu jeder Moorleiche die es in Ausstellungen oder Museen zu sehen gab? Es war seltsam! In gewisser Weise fühlte sie sich diesen armen Leichen verbunden. Was erwartete sie zu finden? Worauf hoffte sie? Wieder und wieder stellte sie sich diese Fragen. Doch die Antworten blieben aus, wie jedes Mal und schon saß sie wieder in ihrer Wohnung am Computer und suchte im Netz schon nach der nächsten Ausstellung. Es war verrückt.
Falko warf einen Blick vom Rang hinunter in den riesigen Mittelsaal und was er dort entdeckte, gefiel ihm weitaus besser als der verstaubte Krempel aus dem Museum. Er winkte Lando und Jaromir zu sich.
„Wow!“, entfuhr es Jaromir, „noch kürzer und ich könnte ihren Beinansatz sehen.“
Falko nickte grinsend, während er seinen Blick nicht von den beiden weiblichen Wesen abwenden konnte.
„Die blonde kommt offensichtlich geradewegs aus einem der Schaukästen!“, lachte Jaromir belustigt und versuchte Falko und Lando ein bestätigendes Grinsen zu entlocken, was ihm nur bei Falko gelang.
Der wandte sich grinsend zu seinem Bruder Lando um, doch der schritt bereits mit Siebenmeilen Schritten weiter. Sein muskulöser Rücken wirkte als hätte er einen Schraubstock verschluckt und selbst die breiten Schultern schienen an einem Brett festgenagelt zu sein. Ihm war unbegreiflich wie ein Mann einerseits so katzengleich und andererseits so steif wie ein Schraubstock gehen konnte. Bestimmt weilte sein verehrter Bruder mit seinen Gedanken wieder in schottischen Gefilden. Sie sollten sich damit abfinden, er hatte eine Macke! Zudem waren ihm die Toten wichtiger als die Lebenden. Herrisch, rücksichtslos, eigensinnig, in einem Wort, Lando.
Er wechselte einen vielsagenden Blick mit Jaromir, ehe sie sich wieder den beiden Frauen zuwandten. „Wo sind sie hin?“, er blickte Jaromir fragend an.
Der zuckte die Schultern und sie folgten Lando schlecht gelaunt, weil er offensichtlich schon wieder die Richtung und Geschwindigkeit vorgab. Immer bestimmte er wo es langging und sie, die beiden Schäfchen folgten ihm. Falko nahm sich vor das in Zukunft zu ändern.
Schließlich gelangte Lando in einen stickigen, winzigen Raum, dessen Wände mit Aushängen, Lichtbildern und Landkarten überladen waren. Zudem bestärkten ihn die langen Abfassungen in winziger Schrift den Raum möglichst schnell wieder zu verlassen. Innerlich aufgerieben starrte er eine Weile auf eine Niederschrift, ohne jedoch wirklich wahrzunehmen, was dort stand. Jetzt hatte er sie schon zum dritten Mal gelesen, doch hätte ihn jemand gefragt, er wüsste den Inhalt nicht wiederzugeben.
Er hörte Falko und Jaromir eintreten, deren Gespräch wie auf Gebot verstummte.
Weshalb nahm er nicht gierig die Berichte auf, die ihm hier in solcher Fülle geboten wurden, stattdessen spürte er den unbändigen Drang zu seinem eigentlichen Ziel zu kommen, ja am liebsten hin zu rennen. Da war wieder diese innere Stimme, ein Zwang der ihn zu diesen beiden toten Menschen führen wollte, ihn lenkte. Er schüttelte sich. Im Moor zu sterben war der schrecklichste Tot von allen. Lieber ertrinken, oder abstürzen, oder von einem Auto überfahren werden! Er ging zum Überblick an der Tür. Wo entlang musste er, um auf dem schnellsten Weg zu den Leichen zu gelangen? Er drehte sich um. Wer redete so laut, lenkte ihn ab? Er wandte sich der anderen Tür zu.
Eine junge, zierliche Frau mit einem roten Minikleid, die kurzen Haare hennarot gefärbt und aufreizend zerzaust, lächelte ihnen entgegen, während ihr Blick gekonnt, in Windeseile, die anwesenden Männer abschätzte. Auf Jaromir heftete sich ihr Blick etwas länger, und offensichtlich sehr wohlwollend. Zuletzt musterte sie ihn. Innerhalb kürzester Zeit wusste sie, was sie wissen wollte. Hinter ihr drängte sich ein Paar durch die Tür herein. Den Abschluss bildete ein honigblonder Lockenkopf. Sein Blick wurde wie gebannt in diese Richtung gelenkt und von ihm angezogen. Das Paar und die Rothaarige traten in den Raum, um sich die Plakate an den Wänden anzusehen.
Schließlich konnte er Honiglocke in voller Größe sehen. Das Herz hämmerte plötzlich wie wild in seiner Brust. Seine Muskeln spannten sich wie vor einem Sprung. Im Bruchteil eines Augenblicks brach ihm der Schweiß aus und wo war nur die Luft die er zum Atmen brauchte? Aus ihrem braungebrannten Gesicht blickten ihm zwei dunkle, braune Augen entgegen. Sie hielt seinem Blick stand. Er fühlte das Blut in sein Gesicht schießen, konnte sie seine Gedanken lesen, wenn er ihr weiter erlaubte in seine Augen zu blicken? Ahnte sie, dass er sie am liebsten in die Arme gerissen hätte, um sie zu küssen, bis ihr Hören und Sehen verging? Sie zu lieben, wie er noch nie eine Frau geliebt hatte? Noch niemals hatte er solch heftige Gefühle und Erregung für eine Frau empfunden und das schon gar nicht innerhalb von wenigen Augenblicken. Was war nur los mit ihm? Beschämt schaute er unvermittelt in eine andere Richtung.
Sie wollte seinem Blick standhalten. Es fiel ihr so schwer, doch sie konnte sich an ihm nicht satt sehen. Diese Augen! So dunkel, so unergründlich! Er forderte! Er gab! Sie spürte wie sein Blick ihren Körper streichelte, spürte tief in sich sein Verlangen nach ihr. Sein männlicher Körpergeruch breitete sich aus wie ein starkes Duftwasser. Unvermittelt schaute er zur Seite, fast wie beschämt, als hätte sie seine Gedanken nur all zu sehr erahnt. Sie fühlte sich betrogen. Verzagt blickte auch sie in eine andere Richtung, trat an einen der Aushänge an der Wand. Sie musste sich noch einmal nach ihm umsehen. Schneidend bohrte sich die Enttäuschung in ihren Magen. Er war bereits auf dem Weg in den angrenzenden Raum. Hatte sie sich das ganze nur eingebildet? Es waren nur wenige Augenblicke gewesen, aber diese waren dafür um so tiefgreifender als wenn sie sich Stundenlang unterhalten hätten. Warum sprach er sie nicht an? Er sah doch mutig genug aus.
Und warum hatte sie nicht Veras Mut? Warum sprach sie ihn nicht an, wo der Funke doch so offensichtlich zwischen ihnen hin und her sprang? Was war schon dabei? als wollte ihre Freundin sie verspotten, klangen Runa, Veras Worte im Ohr.
„Hey, ich bin Vera!“ sagte diese gerade mit verheißungsvoller Stimme.
Sie ließ wirklich nichts anbrennen. Verstohlen blickte Runa hinüber, wen Vera da angesprochen hatte.
Der slawisch aussehende Mann lächelte Vera breit an, während er ihr antwortete und seine russische Betonung spielen ließ. „Jaromir, Hallo.“
Vera legte die Hand auf seinen nackten Unterarm, verwickelte ihn in ein Gespräch und Runa bemerkte, dass sie sehr darauf achtete, dass die körperliche Nähe nicht abbrach.
Runa wandte sich jäh ab, versuchte sich in die Schrift der Tafeln zu versenken.
Wo war er wohl hin gegangen?
„Das Einhorn! Wappentier Schottlands und Sagengestalt.“ Sie folgte dem Wortlaut bis zu einem Spruch:
„Behütet seid, hört ihr es singen.
Geheilt, so ihr es seht.
Geliebt seid, wenn es euch berührt“
Schottische Weisheit Verfasser unbekannt.
Was für ein seltsamer Spruch dachte sie benommen, während er leise eine Saite in ihr zum Schwingen brachte, von der sie bisher noch nie etwas vernommen hatte. Die gesamte Wand war mit Legenden, Berichten und Geschichten über das Einhorn geschmückt! Sie spürte ihren erwachenden Wissensdurst aufkommen und las weiter. Legenden berichteten von besonderen Taten, angebliche Wunderkraft oder von besonderen Einhörnern. Sie las jeden Satz, verschlang jeden Wortlaut. Sie war so gefangen und gefesselt, dass sie erst nach einer Weile merkte, wie die Einhörner den Einen in den Hintergrund geschoben hatten. Sein ganz eigener Duft, den er im Raum zurückgelassen hatte, ließ ihn allerdings mit einem Mal umso deutlicher wieder in ihr Bewusstsein treten.
Sie hatte zwar nebenbei wahrgenommen, dass die anderen den Raum verlassen hatten, trotzdem war sie jetzt ein wenig erstaunt, sich lediglich mit einem jungen Mann wieder zu finden, den sie unschwer als Bruder des Einen erkannte. Er stand unmittelbar neben ihr und lächelte etwas schüchtern, während er sich vorstellte.
„Hallo. Ich bin Falko,“ er streckte ihr seine rechte Hand hin.
Runa lächelte. Sie sollte nicht unhöflich sein, all ihre Sinne jagten zwar hinter seinem Bruder her, dennoch: „Runa, hallo,“ sie reichte ihm ihre Hand allerdings eher flüchtig.
Er nickte. „Ein sehr alter Name, oder?“
Während sie ebenfalls nickte, antwortete sie „Heißt Zauber, oder Geheimnis.“
„Passt zu dir,“ er lächelte breit, wusste nicht mehr, was er noch sagen sollte.
Runa bewegte sich langsam, ohne sich unhöflich abzuwenden, hinter den anderen her.
Wie eine zweite Ausgabe des älteren, schoss es ihr durch den Kopf. Falko fehlte indes etwas, das sie bei dem anderen so sehr in den Bann zog. Falko war ein netter Bruder.
„Was treibt Euch in diese Ausstellung?“ Bewusst sagte sie euch und nicht dich.
„Ursprünglich mein Bruder Lando. Er hat einen Schottentick, und ist völlig vernagelt diese beiden Leichen zu sehen.“
Runa schaute kurz zu ihm auf. Anscheinend wusste er gar nicht, wie sehr er seinen Bruder verehrte. Allein die Art wie er mein Bruder aussprach, sagte mehr als tausend Beteuerungen. Runa lächelte wider Willen. Die Moorleichen! So teilte sie wenigstens eines mit Lando. Sie wandte sich wieder zu Falko um.
„Aber Eure Namen sind auch alt?"
Er neigte den Kopf leicht. „Falko, der Falke, kommt aus dem Althochdeutschen, Lando ebenfalls.“
Runa sah ihn neugierig an, „Lando?“
Er nickte, „Lando, ursprünglich Landolt, abgeleitet von Land und Herrschen.“
Runa nickte befriedigt. Leise sagte sie, „das passt zu ihm.“
Falko schenkte ihr einen verstehenden Blick, „ja, das passt,“ sagte er leicht säuerlich. „Aber, dass Du das so schnell erkannt hast?“ Er betrachtete Runa verstohlen von der Seite. Er war ja kein Holzklotz, ihm war mit einem Mal sehr wohl klar wer Runas Neugier weckte, und leider war er es nicht, sondern sein Bruder. Doch auch Lando hatte ihr ganz anders in die Augen gesehen, als je einer anderen bisher, das hatte Falko ebenfalls gesehen. Nun, einen Versuch war es wert gewesen.
Aus seinem Gedankengang heraus, fragte er sie unvermittelt. „Was soll ich dir über ihn erzählen?“
Runa blickte ihn aus großen Augen, fragend an?
„Lando, meine ich!“
Sie kniff die Lippen zusammen. „Natürlich, Lando!“ Sie blickte zu ihm auf.
Wie klein und zierlich sie wirkte! „Tut mir leid wenn ich mit der Tür ins Haus falle.“ Er sah sie entschuldigend an, war er zu schnell zu weit gegangen?
Sie nickte, ihr befangener Gesichtsausdruck verunsicherte ihn, hatte er sich getäuscht?
Runa lächelte ihn plötzlich an und sagte: „Könnte mir vorstellen, dass ihr in dieser Gruppierung des öfteren die Damenwelt auf den Kopf stellt!“
„Mag sein,“ lächelte Falko, er war geschmeichelt, „aber bisher war Lando noch keine gut genug.“
Sie schaute erstaunt zu ihm auf. „Du glaubst, dass es dieses Mal anders ist?“
Er lächelte noch breiter und nickte wortlos.
Unerwartet lachte sie. Er fiel befreit ein. Gut, dass er so ehrlich gewesen war, nun stand keine Spannung mehr zwischen ihnen. Er mochte sie, und sie mochte ihn, und ganz besonders mochte sie seinen Bruder, er hatte sich nicht getäuscht. „Wollen wir weiter?“, er zeigte einladend mit der offenen Handfläche in Richtung der anderen.
Sie nickte und ging vor ihm durch die Tür.
Hinter sich hörte Lando das laute Lachen Falkos. Er lachte mit einer Frau. Ein kurzer Blick in seine Richtung zeigte ihm, dass er mit Honiglocke lachte. Ihr Lachen war weiblich und verführerisch. Wieso lachten sie? Worüber? Über ihn? Was war so lustig hier im Museum? Er wandte sich um, er war nicht eifersüchtig! Worauf denn auch? Die beiden gingen nebeneinander. Viel zu nah! Sie lächelten sich an. Verdammt! Nein, darüber würde er sich nicht ärgern! Zielstrebig setzte er einen Schritt vor den anderen, blickte weder nach rechts noch nach links. Schließlich erreichte er den riesigen düsteren Raum in dem die beiden Moorleichen zu finden waren. Dort lagen sie auf einem Metallgestell, mitten im Raum unter einer luftdichten Glashaube. Eine Kette sollte verhindern, dass die Besucher all zu nah an den Kasten gelangten.
Lando blieb einige Meter vor der Absperrung stehen. Dieselbe Kraft, die ihn unwiderstehlich hergelockt hatte, hielt ihn jetzt mit einem Mal davon ab näher heran zu treten. Das hatte er bisher noch nie erlebt. Ein unangenehmes Kribbeln jagte ihm über den Rücken, als er die Tafel vor der Absperrung las. Am liebsten wäre er sofort wieder fortgelaufen. Ja, gelaufen, nicht gegangen. Etwas an den beiden war beängstigend. Doch er zwang sich ruhig zu bleiben.
Bei den beiden Leichen handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach,
um den schottischen Clanführer Laird MacFarlaness
und seine Ehefrau. Lebenszeit ungefähr um 1016 – 1040 n.Chr..
Beide Körper sind außergewöhnlich gut erhalten
und befinden sich dank neuartig Verfahren
sozusagen noch im Ursprungszustand.
Ursprungszustand! Wie hörte sich das an? Als sprächen die Leute da von irgendwelchen Gegenständen, mit Gewährleistung! Er las weiter.
Sie lagen beinahe ein Jahrtausend im Moor und wurden zufällig
bei Bauarbeiten gefunden. Die gut erhaltene Kleidung, lässt die
Wiedererkennung mit neunzigprozentiger Sicherheit bestimmen.
Also was? Wenn es keine hundert Prozent waren, blieb es nur eine Vermutung oder waren sie sich sicher? Er las verärgert weiter:
Sehr ungewöhnlich ist die Verbindung beider Leichen miteinander.
Die sich haltenden Hände waren auch mit neuster Technik
nicht zu trennen, ohne dass man dabei die Leichen zerstört hätte.
Sie sind in der langen Zeit wie zusammengewachsen!
Er kostete den Wortlaut wie ein neues Gericht. Er wusste nicht wie es schmeckte, hatte jedoch das Gefühl es schon einmal gegessen zu haben, dennoch, er konnte sich daran nicht erinnern und trotzdem stieß ihm dieses Gericht sauer auf. Was erwartete er denn? Wo lag das Besondere, außer vielleicht, dass die Leichen zusammengewachsen waren? Ein Wunder nach dieser Zeit? Er hatte schon sehr viele Moorleichen gesehen, aber bei diesen war etwas anders.
Weitere Besucher des Museums erreichten die Halle, lenkten ihn ab. Sie unterhielten sich laut und lachten. Sie waren Störenfriede. Er ärgerte sich. Sie entweihten ein Heiligtum. Er musste sich ablenken, bevor er sie anschnauzte.
Wie war das mit dem Namen MacFarlaness? Wie schmeckte der? Er ließ ihn auf der Zunge zergehen. Der Name gefiel ihm, und er schmeckte. Was also störte ihn an dem gelesenen?
Eines der beiden jungen Mädchen zeigte auf die Leichen und verzog angeekelt das Gesicht. „Lena!“, sie zupfte ihre Nachbarin am Ärmel, „Stell dir vor so einer begegnet dir auf dem Nachhauseweg im Dunkeln!“ Sie schüttelte sich und machte einen Schritt auf ihre Freundin zu, während sie ihre Hände hob und das Gesicht verzog, als wäre sei sie ein Zombie. Ihre Freundin lachte.
Lando warf ihnen einen bösen Blick zu. Sie sollten endlich verschwinden, sie hatten kein Recht hier zu sein, und schon gar kein Recht über die Toten zu lachen.
Jaromir kam gerade durch die Tür herein, Vera am Arm. Er erhaschte Landos Blick. Was für eine Laus war denn ihm schon wieder über die Leber gelaufen? Er lächelte Vera an, hoffentlich merkte sie nicht, dass er ihrem Wasserfall ähnlichem Geplapper nicht mehr zuhörte, doch Lando beschäftigte ihn gerade mehr. Er sah zu ihm hin. Irgendwie wirkte er verloren, nein, eher verletzt und er starrte unverwandt auf die beiden Leichen hinunter. Schließlich blickte Lando herüber, ehe sein Blick auf die gerade eintretenden anderen fiel. Sein Blick verdüsterte sich noch mehr, als er Falko und die Blonde entdeckte.
Honiglocke und Falko redeten noch immer miteinander. Er starrte sie an, spürte wie seine Muskeln sich spannten. Warum verpasste er seinem Bruder nicht eine? Der blöde Kerl schritt tatsächlich auf ihn zu und die Gelockte folgte. Einen flüchtigen Augenblick lang zuckten die Muskeln seiner Beine und er spürte schon wieder das Verlangen davon zu laufen. Er lachte innerlich über sich selbst. War er denn ein kleiner Junge? Wovor fürchtete er sich eigentlich? Dass er über sie herfiel oder sie über ihn? Er grinste selbstspöttisch.
Breitbeinig kam Falko vor ihm zum stehen. Als wäre es alltäglich und üblich sagte er, „Lando, darf ich dir Runa vorstellen? Sie leidet an derselben Krankheit wie du, sie ist begeistert von Moorleichen!“ Er lächelte belustigt auf Runa herab.
Lando bemerkte ihr eher verlegenes Lächeln.
Wie sollte sie diesem Mann nur entgegentreten?
Er war so unnahbar. Genau wie Falko gesagt hatte. Sie fühlte Angst aufsteigen. Wenn sie nun etwas Falsches sagte? Musste sie denn unbedingt einen guten Eindruck machen? Sie war, wer sie war! Dennoch konnte sie die Schüchternheit nicht ablegen und so hauchte sie beinahe tonlos, „Hallo“ und hasste sich im gleichen Augenblick dafür.
Lando war so weit entfernt. Sie hatte sich doch vorgenommen, Männer nicht als Herren zu betrachten, sondern als gleichberechtigte Menschen, vor denen sie keine Angst haben musste.
Weshalb wirkte sie so verschüchtert? Wie ein verängstigtes Reh! Sah er so böse aus?
„Ah!“ sagte er nur kühl und knapp. Verdammt, so schroff wollte er gar nicht sein. Er fing den giftigen Blick Falkos auf.
Runa zitterte am ganzen Körper. Trotz ihres Ärgers, über ihr kindisches Verhalten und seine schroffe Herablassung, war sie doch zutiefst trunken von ihm. Verzweifelt suchte ihr Blick nach einer Ablenkung. Sie fand diese in der Tafel an der Absperrung. Eingehend las sie den Wortlaut darauf. Wie hieß die Frau? Warum stand ihr Name nicht da? Was war wohl geschehen? Weshalb war sie mit ihrem Mann im Moor gestorben? Hatte man sie getötet? War es ein Freitod gewesen? Ein Unfall? Ihre widersinnige Angst einmal im Moor zu ersticken oder ohne helfen zu können jemandem beim Sterben zusehen zu müssen, schnürte ihr jäh die Luft ab. Obwohl die beiden Leichen in dem geschlossenen Kasten lagen, glaubte sie den leicht süßlichen, harzigen Geruch des Moores zu riechen. Zögernd trat sie einen Schritt auf den Glaskasten zu. Sie rang um Luft.
Sie näherte sich dem Glaskasten. Nahm sie denn den Moorgeruch nicht wahr? Überstürzt machte er einen Schritt auf sie zu. Die Furcht schnürte ihm die Kehle zu. Sie sollte diese Menschen nicht aus der Nähe betrachten. Sie waren Tot! Die beiden Leichen verkörperten den Tod! Sie sollte sich aber dem Moor, dem Tod nicht nähern.
Runa ging langsam weiter. Ihr fiel das Atmen schwerer, je näher sie dem Glaskasten kam. Die Luft war zum schneiden dick, stofflich, bleiern. Der Schweiß trat ihr aus den Poren. Unvermutet wandte sie sich Lando zu. In seinen Augen konnte sie Bestürzung erkennen. Er wollte nicht, dass sie an die toten Menschen herantrat. Auch er roch das Moor, das konnte sie in seinen Augen erkennen, ebenso wie das Flehen, sie möge nicht weitergehen.
Es gab aber kein zurück, auch für ihn nicht, er konnte sich weigern das zu erkennen, es würde ihm nicht helfen. Sie hatte gefunden, wonach sie all die Jahre suchte. Dieses Mal würde sie das Museum nicht fragend wieder verlassen, um auf die nächste Ausstellung von Moorleichen zu hoffen. Von heute an würde sie nie wieder eine weitere Ausstellung mit Moorleichen besuchen müssen, das fühlte sie. Sie hielt ihm die ausgestreckte Hand hin, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Wie entrückt schritt sie weiter, machte einen Schritt über die Absperrung hinweg.
Lando ertrug es nicht mehr, er folgte ihr dicht auf. Noch bevor sie den letzten Schritt getan hatte, holte er sie ein, griff nach ihren Arm. Sie sah ihn erstaunt an, doch nur für den Bruchteil eines Augenblicks. Jegliche Regung wich aus ihrem Gesicht als sie sich dem gläsernen Sarg zuwandte. Sein Herz schlug wild in der Brust. Gleich musste sein Brustkorb zerspringen. Die Luft wurde von Augenblick zu Augenblick unerträglicher, drückte bleischwer auf sein Gemüt. Dieser schreckliche Geruch von Moor. Er packte sich ihrer Hand.
Warum überschritt sie die unsichtbare Grenze? Sie sollte diese beiden Menschen nicht sehen, nicht in diesem Zustand. Er wollte sie doch auch nicht sehen, jetzt nicht mehr! Er versuchte mit Nachdruck sich gegen die mächtige Kraft zu stemmen, doch der Drang sich neben Runa zu stellen, mit ihr in den Glaskasten zu blicken, war übermächtig. Alles andere verlor an Wichtigkeit. Sein Blick wanderte hinunter, er beugte sich dem unausweichlichen, der höheren Kraft.
Runa tat es ihm gleich. Sie verflochten ihre Finger zärtlich miteinander. Hand in Hand blickten sie in die Gesichter der Verstorbenen. Wichtig waren nur sie beide.
Jaromir konnte es nicht fassen. Eben waren sie noch Fremde, jetzt wie Liebende. Er tauschte einen Blick mit Falko, auch der begriff nicht was sich hier seltsames abspielte.
„Was haben sie vor?“ fragte Vera mit zittriger Stimme.
Jaromir schluckte hart, bevor er sprach, „Was Verbotenes!“
Falko setzte einen Schritt über die Absperrung, um Lando am Arm festzuhalten. „Lando, hey, das gibt nur Ärger.“
Er erhielt keine Antwort.
„Verdammt Lando, hast du einen Sonnenstich?“ Falko ärgerte sich, dass sein Bruder ihn nicht einmal kurz ansah oder beachtete.
Wieder schwieg Lando.
Jaromir war sich sicher, dass weder Lando noch Runa ansprechbar waren. Sie blickten wie leblos in den Kasten hinunter, es hatte keinen Sinn. Er bekam eine Gänsehaut. Was hier geschah, gehörte nicht zum alltäglich Vertrauten und ganz gewiss nicht zu dem, was er bisher erlebt hatte.
„Sie hören dich nicht,“ wandte er sich an Falko.
Der schaute ihn zweifelnd an, ehe er einsah und wieder zu ihnen zurückkehrte.
Vera drängte sich enger an Jaromir heran. „Hört ihr das Wetter? Als würde sich draußen ein Sturm zusammenbrauen.“
Sie wischte sich fröstelnd mit den Händen über die Oberarme, obwohl es hier drinnen alles andere als eiskalt war.
Jaromir blickte aus einem der Fenster und horchte nach draußen. Wirklich, sie hatte recht, das Wetter war in den letzten Augenblicken völlig umgeschlagen. Ein starker Wind trieb dicke Wolken vorbei. Die Luft kühlte sich spürbar und schnell ab. Ein schwaches, gelbliches Licht drang noch gerade so durch den schweren, wolkenverhangenen Himmel, der so trüb daherkam wie ein Winterabend. Das Licht tauchte die Umgebung in ein gespenstisches, grüngelbes Leuchten.
Plötzlich stieß Vera einen spitzen Schrei aus.
Jaromirs Blick folgte ihrem.
Das unheimliche Leuchten drang in den Glaskasten, hüllte die reglos dastehenden, Runa und Lando völlig ein. Ein unirdisches Schimmern kam von dem unheimlichen Ort des Geschehens, lockte sie näher heranzutreten. Ein Zwang wollte sie alles sehen lassen. Die beiden Leichen wirkten mit einem Mal noch lebendiger als zuvor.
„Oh mein Gott!“, rief Vera erstickt aus, „was ist das? Sie sehen aus, als, als würden sie gleich aus dem Kasten steigen!“ Sie griff nach Jaromirs Hand. „Da!“ schrie sie, „sie bewegen sich! Ihre Hände, sie bewegen sich!“
Jaromir konnte nicht sprechen. Die Worte blieben ihm im Hals stecken, er sah es ja selber und konnte es nicht glauben.
Die Leichen hoben ihre Arme.
„Lando, Runa!“, rief Falko, als hätte er Jaromirs Gedanken gelesen und wie um ihm zu antworten. Wie gebannt starrte er auf seinen Bruder und Runa, und die beiden Toten, die sich offensichtlich völlig verjüngt und wiedererweckt in dem Glaskasten aufzurichten versuchten.
Um sie herum tauchte das gelblichgrüne, schwefelige Leuchten alle Gegenstände in sein trübes Licht. Selbst aus den Toten schien es herauszudrängen. Inzwischen hielten die Leichen ihre Arme an den Ellenbogen abgeknickt und zeigten mit den Händen auf Runa und Lando.
Ein Strahlen zog wie eine Welle über ihre nun wunderschön wirkenden Gesichter. Alles verschrumpelte war von ihnen abgefallen. In Runa und Lando kam Bewegung. Sie wandten sich einander zu, eingehüllt in das gespenstische Licht, das gleiche überirdische Strahlen auf den Gesichtern. Sich bei den Händen haltend, umrundeten sie den Glaskasten. Runa auf der einen, Lando auf der anderen Seite. Auf Höhe der Hände der Toten angelangt, senkten sie die eigenen Hände nieder und berührten an dieser Stelle das Glas.
Ein lautes Klirren erschütterte die Luft. Das Glas zersplitterte, die Hände der Toten streckten sich Runa und Lando entgegen. Diese senkten ihre Hände. Sie berührten sich.
Falko stöhnte auf, unfähig zu sprechen. Was hier geschah überstieg seinen Verstand. Er fragte sich ernsthaft, ob der Zauber nicht Höhepunkt der Ausstellung, also eine Vorstellung war.
Ein lauter Donnerschlag zerriss die Luft. Freigelegter Strom lief in einem Kreis um den Kasten und die zwei Menschen herum. Unmittelbar nach dem Donnerschlag hörte Falko ein unheimliches Sirren. Ein Blitz schlug ein. Wie ein Zackenschwert sauste er auf die Hände herunter. Laut surrend umkreiste der Stromkreis den Glaskasten, wie ein Rudel Wachhunde, die Unbefugten den Eintritt verwehrten. Das Feuer fand Nahrung.
Obwohl Runa und Lando vom Blitz getroffen zu Boden hätten fallen müssen, stöhnten sie lediglich, während unter ihren Händen die Flammen emporstiegen. Sie ließen die Hände der Toten los, blickten sich in die Augen, umrundeten den Sarg bis zum anderen Ende und ließen sich sachte zu Boden gleiten. Sie hielten ihre Blicke stetig aufeinander gerichtet, während einer den anderen entkleidete. Mit ruhigen, zielstrebigen Bewegungen, begannen sie ihren Liebesreigen. Unglaubliches, wie Jahrhunderte aufgestautes Verlangen beherrschte ihre Körper. Sie wussten wohin sie steuerten und nichts oder niemand hätte sie jetzt noch aufhalten können. Trotz ihres unbändigen Verlangens, begegneten sich ihre Körper mit größter Zärtlichkeit.
Vera wollte auf Runa zugehen, noch ehe sie jedoch einen Fuß in den Stromkreis setzen konnte, krachte es erneut. Ein zweiter Blitz schlug ein, geradewegs vor ihrer Nase in den Boden. Erschrocken flüchtete sie sich in Jaromirs Arme.
Die beiden Menschen im Liebesreigen steuerten einem Rausch entgegen, wie ihn keiner der Anwesenden je erlebt hatte. Mit Hingabe trafen sie auf einander, verschmolzen zu einem Ganzen, loderten wie die Flammen über ihnen.
Im gläsernen Sarg tobte sich das Feuer aus. Die beiden Verstorbenen wurden von den Flammen verzehrt, als hätte es seit Jahrhunderten darauf gewartet. Im selben Augenblick, da sich die Leichen ein letztes Mal unter den Flammen aufbäumten, bäumten sich die beiden Liebenden in höchster Erfüllung ein letztes Mal entrückt auf.
Ängstlich öffnete Malinda die Augen, setzte sich ruckartig auf. Sie lauschte in das Morgengrauen hinein. Außer dem Rauschen des Windes in den Blättern, dem entfernten Grunzen einer Wildschwein Gruppe und dem rascheln der Eichhörnchen, konnte sie jedoch nichts wahrnehmen. Es beunruhigte sie in zunehmendem Maße, dass sie in der letzten Zeit ängstlich hinter jedem Busch einen Feind vermutete. In all den Jahren war sie nie ängstlich gewesen, vorsichtig ja, aber nicht ängstlich! Was sollte ihr auch noch Angst einjagen? Der Tod? Sie hatte ihm Auge in Auge gegenübergestanden. Schmerzen? Sie wusste was es bedeutete Schmerzen zu empfinden, mehr als sie glaubte ertragen zu können. Ja, sie hatte Angst noch einmal solche Schmerzen ertragen zu müssen, jedoch nicht mehr als all die Jahre bisher. Was bereitete ihr also Sorgen? Das Leben? Das Morgen, das noch im Dunkel lag? Das andere, alte Leben war in weite Ferne gerückt und selten übermannten sie die Erinnerungen an die schrecklichen Erlebnisse. Zehn Jahre war eine lange Zeit? Unvorstellbar inzwischen, wie eine Lady von edlem Blut zu leben. Des edlen Blutes war so viel vergossen worden, mehr als sie jemals Tränen hatte weinen können. Das Leben das sie führte war hart, doch war sie die Bestimmerin und kein anderer. Schon gar kein Mann!
Im Stillen dankte sie einmal mehr dem alten Einsiedler, der damals ihre körperlichen Wunden geheilt und versucht hatte, sie die seelischen vergessen zu lassen. Sie dankte ihrem Kampfgeist und ihrem Lebenswillen? Nicht immer war es leicht ihren weiblichen Körper und seine Formen zu leugnen, ihn unter festen Binden und lockerer Kleidung zu verstecken, doch manches Mal vergaß sie beinahe selber, dass sie kein Junge, sondern eine junge Frau war. So wie sie vergaß, dass sie des Sprechens nicht mehr fähig war, seit diesem verhängnisvollen Tag. Das Leben in den Wäldern und der Einsamkeit forderte ihr keine Worte ab. Im Sommer liebte sie die Ruhe und Freiheit in den Wäldern. Nur der Winter, der hatte es in sich, und dennoch, auch in der kalten, oft nassen Jahreszeit hatte sie in den Wäldern immer Schutz gefunden? Warum war sie also nun so missgestimmt?
Sie lehnte sich erneut an den Stamm der Buche zurück und schloss die Lider noch einmal. Der Tag begann erst zu erwachen, weshalb nicht noch ein wenig ausruhen? Wie um sie zu verspotten begannen in diesem Augenblick die ersten Vögel mit ihrem Morgengesang, dem Walderweckungsdienst. Ein Lächeln huschte über ihre schweigenden Lippen. Mit einem Mal wieder gutgelaunt öffnete sie die Augenlider.
Mit schnellem, geübtem Griff packte sie ihr kleines Bündel zusammen, sprang federnd auf die Füße und lief aufs geratewohl in nördlicher Richtung. Sie war neugierig, wohin trugen sie ihre Füße dieses Mal?
Sie schaute zum Himmel. Inzwischen musste sie seit etwa zwei Stunden unterwegs sein. Sie dankte dem Wald, der sie mit Beeren und Früchten versorgte und steckte die letzten Bissen in den Mund, während sie dem Lauf eines kleinen Baches folgte.
Ein unerwartetes Geräusch ließ sie innehalten. Vor ihr im Gebüsch lag ein Wesen das laut stöhnte. Es stöhnte vor Schmerzen. Vorsichtig schlich sie weiter durch das Gebüsch. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Etwa zwanzig Schritte entfernt lag ein Pferd im Gras am Bachufer. Sie beobachtete es eine Weile, suchte die Umgebung nach einem dazugehörenden Menschen ab. Offensichtlich war es alleine. Ebenso offensichtlich handelte es sich um eine Stute, die gerade im Begriff war zu fohlen. Sie stöhnte unter den Wehen. Doch die Geburt schien nicht die einzige Erschwernis zu sein. Ihr Körper war überzogen von blutigen Wunden. Ein Halfter lag viel zu eng um ihren Kopf geschnürt und ein abgerissener Strick schlängelte sich wie eine Schlange über den Boden bis zum Halfter. Ein Mensch hatte diese Stute grausam misshandelt, so viel stand fest. In ihrer Not war sie wahrscheinlich geflohen. Langsam trat Malinda aus ihrer Deckung, sie wollte weder die Stute erschrecken, noch einen Angriff des Tieres wagen. Bis zu diesem Augenblick war die Stute mit einer heftigen Wehe beschäftigt gewesen, nun schaute sie unerwartet auf und sah Malinda unmittelbar in die Augen. Einen langen Augenblick schauten sie sich an, bis Malinda sicher war. Sie musste ihr helfen.
Fionna hatte Malinda schon seit einer Weile erwartet. Sie wusste wohl, dass sie ihre Hilfe nötig hatte, denn die vielen Wunden schwächten sie mehr als sie geglaubt hatte. Sie war lange nicht mehr so stark und unverwundbar wie vor ihrer Liebe zu Donn ruadh. Die weisen Einhörner der Insel hatten sie gewarnt, doch sie war bewusst in die Beziehung mit ihm gegangen. Was bedeutete übernatürliche Kraft oder die Unsterblichkeit, gegen die Liebe? Wenn die Geburt nur nicht so anstrengend wäre! Eine neue Wehe verdrängte alle Gedanken, ließ sie, sich wieder voll mit dem Gebären befassen.
Malinda beugte sich herunter, langte, noch vorsichtig nach dem Halfter. Es war so eng geschnallt, dass es tief ins Fleisch einschnitt. Um die Stute schwirrten bereits die Schmeißfliegen auf der Suche nach Eiablageplätzen. Behutsam öffnete sie die Schnallen des Halfters. Die Stute ruckte kurz mit dem Kopf hoch, ehe sie das blutige Leder herunterzerren konnte. Verflucht sollte ihre Sprachlosigkeit sein. Sie wollte die Stute so gern mit Worten beruhigen. Was blieb, war, ihr beruhigend über den Kopf zu streichen, während sie in Gedanken mit ihr sprach. "Wer hat dich nur so zugerichtet? Bestimmt hatte sie großen Durst. Ich hole Wasser." Sie zog ihren Stiefel aus und holte damit vom Bach eine Ladung Wasser. Immer wieder schüttete sie sich anschließend etwas von dem Wasser in die hohle Hand, aus der die Stute gierig trank. Das ganze war sehr mühsam, aber notwendig.
Als schließlich das kleine, dunkelbraune Hengstfohlen vor Fionna im Gras lag, vergaß sie die anstrengende Zeit der Geburt. Glücklich und erschöpft blickte sie ihren Sohn einige Augenblicke an, ehe sie müde zurücksank und einschlief.
Malinda riss trockene Grasbüschel ab, sie musste den Blutkreislauf des Kleinen in Gang bringen. Auch er schien ermattet. Mit gleichmäßigen Bewegungen rieb sie sein Fell trocken. Es dauerte nicht lange bis er versuchte aufzustehen. Seine unförmigen langen Beine waren ihm dabei mehr hinderlich als nützlich. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Nach einiger Zeit schaffte er es tatsächlich zu stehen, wenn auch etwas wackelig, doch stolz. Was für ein kräftiger Kerl.
Fionna erwachte aus ihrem flüchtigen Schlaf. Die kurze Reise zu ihren Ahnen, hatte sie gestärkt. Sie musste alle Kraft für ihren Sohn haben. Ach wäre sie doch nur bei Donn ruadh! Schon wieder kraftvoller erhob sie sich, der kleine brauchte endlich seine Milch.
Malinda zog sich zurück und beobachtete das erste sich kennen lernen der beiden Pferde. Das war die Gelegenheit sich die Stute einmal genauer anzusehen. Ihr schneeweißes Fell glänzte, an den Stellen die nicht vom Blut befleckt waren, silbrig. Ihre Mähne hing ihr üppig, fein wie Menschenhaar, über beide Halsseiten, reichte beinahe bis zu ihren Kniegelenken. Wie pures Silber glänzten die nicht durch Blut verklebten Strähnen in der Sonne.
Der Kleine sah ihr von der Färbung her gar nicht ähnlich. Sein dunkelbraunes Haarkleid wurde von vier weißen Beinen und einer riesigen Blesse unterbrochen, die gut den halben Kopf überzog. Die Stute war nicht sehr groß, um weniges größer als die Pferde die von den Inseln kamen und sehr viel kleiner als die Kampfrösser der Ritter. Trotzdem wirkte sie sehr edel, nicht wie die kleinen zotteligen, kurzbeinigen. Ihre Stirn wurde von einem leuchtend weißen, faustgroßen Stern überzogen. So eine Blesse hatte Malinda noch nie gesehen und erst Recht nicht auf einem weißen Pferd. Täuschte sie sich, oder schien das Weiß der Blesse zu leuchten?
Noch immer schaute sie versonnen auf die beiden, als die Stute sich ihr unerwartet zuwandte. Sie schritt nahe an sie heran und senkte den Kopf zu ihr herunter. Malinda berührte sie sacht an der Stirn, geradewegs am Stern und ihr war, als führe ihr ein Blitz durch den Körper. Doch das Gefühl stärkte sie, es schwächte nicht.
Fionna sah sich Malinda genauer an und lächelte innerlich über die Gedanken der jungen Frau. Ja, sie hatte recht, sehr ähnlich war ihr Sohn ihr nicht. Dafür aber seinem Vater um so mehr, bis auf das viele Weiß an den Beinen und am Kopf. Später würde er einmal ein stolzer Hengst werden wie sein Vater und sein Fell würde, wenn es aus dem Fohlenalter herausgewachsen war, in der Sonne glänzen, als wäre es schweißnass. Seine Mähne würde wie Flachs im Wind wehen. Seine Vorfahren waren edelster Herkunft. Schließlich gehörte sie der ältesten Einhornfamilie an, welche einst von den Inseln im Nordwesten herüberkamen. Und wenn sie um ihrer Liebe willen auf ihre Unsterblichkeit verzichtete, so gab es wenigstens einen Nachkommen von ihr und Donn ruadh. Jetzt, nachdem sie die Geburt hinter sich gebracht hatte, gab es nur noch ein Ziel für sie. Sie musste so schnell es ging zu ihm zurückkehren.
Und Malinda würde mitgehen, dafür würde sie, Fionna von den Inseln, schon sorgen. Malinda lächelte sie an während sie in Gedanken mit ihr sprach. Gut, dass das Mädchen nicht ahnte, dass sie ihre Gedanken las.
"Ich möchte mir jetzt einmal deine Wunden ansehen, bevor die Fliegen sich darin verewigen. Lässt du mich?"
Die Stute nickte mit dem Kopf auf und ab, als hätte sie ihre unausgesprochenen Worte nicht nur gehört, sondern auch verstanden.
Sie öffnete ihren Beutel, holte alles was sie zurzeit noch an Heilkräutern und Salben dabei hatte, heraus. Zaghaft begann sie mit dem Säubern der Wunden und salbte sie anschließend ein. In Gedanken suchte sie sich einen passenden Namen für die Stute, doch ihr fiel kein anderer als Tapferes Mädchen ein. Ihr Blick wanderte zu dem Fohlen, das wie tot in der Sonne lag, sich wärmte und schlief. Ihn taufte sie Kleiner Bruder. Die Sonne brannte inzwischen heiß herunter und Malinda beeilte sich mit der Versorgung der Wunden.
Sie musste auf jeden Fall noch heute nach Kräutern suchen, mit dem bisschen Salbe kam sie nicht weit. Die Mengen die sie bei sich trug reichten für einen Menschen, aber nicht lange für einen Pferdeleib.