Der Gezeitenwald - Dunkelherz - Carmen Schneider - E-Book + Hörbuch

Der Gezeitenwald - Dunkelherz Hörbuch

Carmen Schneider

5,0

Beschreibung

Nach dem tragischen Unfalltod ihrer Familie, droht die siebzehnjährige Kayla all ihren Lebensmut zu verlieren. Nur ihre Großmutter ist ihr geblieben, die abgelegen in einem Haus im Wald lebt. Kayla hat kaum noch Erinnerungen an sie. Mit drei Taschen und ihrer geliebten Büchertruhe zieht sie bei Hedwig ein und ahnt nicht, in welche mystische Welt, in der alles möglich zu sein scheint, sie hineingeraten ist. Für Kayla beginnt eine fantastische Reise auf dem Weg zu sich selbst. Schon in der ersten Nacht beginnt sie zu träumen ...

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Zeit:6 Std. 12 min

Sprecher:Sylvia Schneider
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Über die Autorin

Besuchen Sie uns im Internet:

www.talawah-verlag.de

www.facebook.com/talawahverlag

erschienen im Talawah Verlag

1. Auflage 2018

© Talawah Verlag

Text: Carmen Schneider

Umschlaggestaltung: Rica Aitzetmüller

www.coverandbooks.com

Lektorat: Jessie Weber

Grittany Design

www.grittany-design.de

unter der Verwendung von:

© Adobe Stock - japonka

Schwarz-Zeiß Zeichnungen: © Anna Lisa Weisgerber

ISBN: 978-3-947550-23-4

Tod

Eine Welt voll Schmerzen liegt in diesem Worte.

Es ist ein zweischneidiges Schwert, das,

indem es das teuerste unseres Herzens mordet,

so tief in die Brust eindringt,

dass sich alles um uns her verdunkelt,

wenn auch die Sonne auf Millionen Glückliche scheint.

(Hans Christian Andersen)

Dieser Winter war merkwürdig. Es war der laueste Winter, den Kayla je erlebt hatte. Und das waren nicht wenige. Um genau zu sein, siebzehn Stück.

Als sie in der schwarzen, großen Limousine den langen, einsamen Weg zu dem Haus ihrer Großmutter fuhr, begann es bereits zu dämmern. Sie hatten die befestigten Straßen verlassen und passierten einen schmalen Waldweg, der sich durch den dichten Bewuchs schlängelte. Nur die nächsten Meter waren zu erkennen, bevor sich der geschotterte Pfad im Nichts verlor.

Kayla konnte sich nicht an ihre Großmutter erinnern. Sie war fünf oder sechs Jahre alt gewesen, als sie das letzte Mal mit ihren Eltern hier zu Besuch gewesen war. Gesprochen hatten sie nie darüber. Irgendwann hörten die regelmäßigen Besuche einfach auf. Vermutlich konnten sich auch Kinder und Eltern einfach auseinanderleben. Es passierte einfach, irgendwann. Die Leben entfernten sich voneinander, und man hatte sich nichts mehr zu sagen.

Und nun war sie hier, in diesem Auto, in dieser Gegend, an einem Ort, an den sie nicht gehörte. Sie wollte nach Hause.

Da gab es nur ein Problem.

Ein einziges.

Nicht gerade winzig.

Es gab kein „zu Hause“ mehr.

Sie besaß nur noch die Kleidungsstücke, die in drei großen Reisetaschen hinten im Kofferraum verstaut waren. Und ihre Bücher, ihre geliebten Bücher. Sie hatte sie in ihrer dunklen Truhe aus schwarzblau gewachstem Palisanderholz transportiert. Ihr einziges Andenken an einen verlorenen Ort. Ein Andenken, dessen Verlust größer gewesen wäre als der Schmerz, den die darin verborgene Erinnerung mit sich brachte.

Nach einiger Zeit zeichnete sich zwischen den Bäumen der Umriss eines alten, aber nicht verwahrlosten Hauses ab. Nun ja, ‚Haus‘ war vielleicht eine nicht ganz zutreffende Bezeichnung. Was Kayla dort sah, glich mehr einem Schloss, nur nicht so groß. Es war einfach ein sehr weiträumiges Gebäude mit mindestens vier Etagen. Obwohl, so genau ließ sich das gar nicht sagen. Vielmehr erschien es wie eine Ansammlung von vielen verschiedenen Häusern, die alle aneinandergebaut waren. Hier und da reckte sich ein Turm keck in die Höhe. Es schien, als erhebe er sich gleich einem Finger, um dem Gewusel unter sich ein wenig Einhalt zu gebieten. Was ihm aber nicht wirklich gelang.

Was für ein wunderbares Bauwerk.

Kayla liebte solch alte Bauten, die viel erlebt und viel gesehen hatten. Fachwerk und Lehm vermittelten ihr ein Gefühl der Geborgenheit, und steinerne Mauern gaben Schutz wie eine Festung. Hier fand sich alles.

Manche Teile des Hauses zeigten das pure Mauerwerk, an anderen Stellen war es weiß und grob verputzt. Wieder andere Seiten bestanden aus Fachwerk, dessen Holz eine ungewöhnliche, dunkle, nachtblaue Färbung hatte. Es war dem Holz ihrer Truhe nicht unähnlich. Die Lehmflächen zwischen dem Gebälk schimmerten wie das schönste Perlmutt.

Der Wagen fuhr um die letzte Biegung und kam vor einem Nebengebäude zum Stehen. Nun, in der Stadt hätten seine Ausmaße eher auf ein Wohnhaus gedeutet. Das angelehnte, zweiteilige Tor gab den Blick in das Innere nicht frei. Vermutlich diente es als Unterstand für die Limousine, sonst hätte Gustav wohl nicht davor geparkt.

Kayla riss sich von dem Anblick los. Sie würde alle Zeit der Welt haben, ihre neue Umgebung zu erkunden. Aber nicht heute. Der Fahrer war inzwischen um den Wagen herumgegangen und hatte ihr die Türe geöffnet. Ja, nun war es wohl so weit. Gleich würde sie die Frau kennenlernen, die ihre Großmutter war und von der sie nicht mehr als ihren Namen wusste: Hedwig.

„Danke, Gustav.“ Hoffentlich hatte sie seinen Namen von vorhin richtig behalten. Zumindest folgte keine Korrektur. Sie bemühte sich um ein Lächeln und schob sich aus dem Wagen.

„Nicht dafür. Gern geschehen.“ Gustav hielt sie für einen Moment stützend am Arm, da sie ein wenig schwankte.

Nur ungern verließ Kayla das Auto und stand nun allein und zögernd auf dem großen, runden, kiesbedeckten Vorplatz, dessen schmale Verlängerung direkt zu der breiten Terrasse leitete, die um das ganze Haus zu führen schien. Sie bestand aus dem gleichen nachtblauen Holz, das auch zum Bau des Hauses verwendet worden war.

Ein leichter Wind kam auf.

An manchen der Bäume, die den Rand des Vorplatzes säumten, hingen noch die alten Blätter vom vergangenen Herbst. Ihr Rascheln schien ein stiller Vorwurf an die Natur zu sein. Es war zu kalt, um zu grünen, und zu warm, um sich endgültig zu befreien. So hing die Last des Alten noch an ihnen und weigerte sich, die Bäume freizugeben.

Für Kayla klang es jedoch wie eine ganz eigene Begrüßung. Sie fühlte sich unter stillen Freunden. Die Blätter der Riesen schienen ihr entgegenzuwispern. Das Haus, die Bäume und sie selbst, sie würden gut miteinander auskommen. Das konnte sie fühlen. Die Anspannung der letzten Tage fiel ein wenig von ihr ab, und sie zog mit einem tiefen Atemzug die erdige Luft des Waldes ein.

Langsam machte sie sich auf den Weg zur Tür. Ihr Herz begann, schneller zu klopfen.

‚Ach Kayla, es ist doch nur deine Großmutter. So, ein kleines Lächeln ins Gesicht, sonst bekommt sie noch Angst vor dir!‘

Mitunter musste sie sich auf diese Weise selbst ein wenig Mut zuflüstern. Was blieb ihr auch anderes übrig? Wer sollte es sonst tun? Langsam setzte sie ihren Weg fort. Kayla hörte Gustav hinter sich mit dem Gepäck hantieren. Als sie sich fragend zurückwandte, deutete er mit seiner Hand eine scheuchende Bewegung an und schickte sie weiter zur Eingangstüre.

Auf dem Holzboden, links neben der Tür, stand eine steinerne Katze. Ihr dürrer, kahler Schwanz schien sich zitternd nach oben zu strecken. Gleich einer Klapperschlange, die aufgeschreckt ihre Feinde mit einer letzten Warnung in die Flucht schlagen will. Kayla verspürte eine unangenehme Gänsehaut in ihrem Genick.

„Weg, lauf einfach weg!“, rief eine leise Stimme in ihrem Kopf. Aber wo sollte sie hin? Es gab sonst keinen Ort, an dem sie sich in ihrer Trauer verstecken konnte. Kayla sah noch einmal auf die Katze. Ihr Körper schien ausgezehrt, der Rücken war zu einem Buckel erhoben und das Gesicht, das dicht über dem Boden war, wirkte wie zu einem Fauchen verzerrt. An der Seite des Bauches ragten die Knochen spitz hervor. Es war eine unglaublich genau gearbeitete Figur. Sie sah so lebendig aus. Wenn Kayla nicht gewusst hätte, dass dieses Tier aus Stein war …

Sie streichelte es behutsam über seinen Kopf.

Starr, fest und kalt. Stein.

Zwei Schritte weiter, oberhalb des Eingangs, war ein filigranes Windspiel befestigt, das sich ungefähr über eine Breite von anderthalb Metern erstreckte. Es bestand aus Metall, das mit einer wunderschönen grünen Patina überzogen war. Die lose daran befestigten ‚Blätter‘ klimperten einen hellen, feinen Gesang, der Kaylas Nerven beruhigte. Sie schlugen eine zarte Saite längst vergangener Kindheitstage in ihrer Erinnerung an.

Noch bevor sie den goldfarbenen Türklopfer in die Hand nehmen und an den Eingang schlagen konnte, öffnete sich das Tor, und eine ältere Frau mit einem freundlichen Lächeln stand ihr gegenüber. Sie hatte ihr langes, graues Haar zu einem lockeren Knoten am Hinterkopf verschlungen, schaute sie aus warmen braungrünen Augen an und streckte ihr beide Hände entgegen, ohne bedrängend zu sein.

„Ich freue mich, dass du nun hier bist. Komm doch herein! Du bist nach der langen Fahrt sicher sehr müde und auch hungrig.“

Sie wartete ab und überließ Kayla den weiteren Verlauf der Begrüßung. Wie sie da so vor ihr stand, in ihren Jeans und dem grob gestrickten Pullover und dem herrlich schimmernden Halstuch, so gar nicht wie andere Großmütter, da wusste Kayla endlich, was ihre ersten Worte sein würden.

„Ach Grandma!“

Sie fiel ihrer Großmutter in die Arme. Es tat so gut, nach langer Zeit wieder einmal festgehalten zu werden. „Oh Kayla, es ist schön, dich hier zu haben. Bist du groß geworden! Und so schöne, lange rotgoldene Haare hast du! Du siehst aus wie deine Mutter.“ Bei diesen Worten traten Tränen in Kaylas blaue Augen. Die letzte Umarmung ihrer Mutter schien vor Ewigkeiten gewesen zu sein. Sie gehörte zu einem anderen Leben. Nichts würde mehr so sein wie früher. Nie wieder …

Kayla trat hinter ihrer Großmutter in den weiten Eingangsbereich ein. Die Wände waren bis auf halbe Höhe mit Holz verkleidet, darüber waren sie in einem cremigen Natur-Weiß verputzt. In der rechten Ecke gab es einen offenen Kamin, in dem ein loderndes Feuer brannte und knisternd Funken um sich sprühte. Davor stand ein sonnengelbes Sofa, das mit seinen dicken Kissen und wolligen Decken eine stille Einladung an jeden Eintretenden aussprach. An der linken Seite befand sich ein wunderschöner, reich mit Ornamenten verzierter Holzschrank, der sich nahtlos in die Wandverkleidung fügte. Waren die Jacken erst einmal darin verstaut, verflüchtigte sich jeder Gedanke an einen notwendigen Wiederaufbruch.

Gleich daneben führte eine bogenförmige Holztreppe auf eine Galerie in der zweiten Etage und leitete Kaylas Blick nach oben. Sie sah die Balkenkonstruktion unter dem Dach, die auf kunstvolle Weise mit einer Vielzahl von unterschiedlich starken Hölzern den Bau stützte. In gerader Richtung von der Eingangstüre aus gelangte man auf beiden Etagen weiter in das Haus hinein und zumindest hier unten in einen langen Flur, von welchem eine Vielzahl von Türen in die nächsten Zimmer führte. Wie sollte sie sich jemals hier in diesem Haus zurechtfinden?

„Du wirst sehen, es dauert nicht lange und das Haus ist dir vertraut.“ Grandma legte sanft ihre Hand auf Kaylas Arm.

„Hast du außer der Gabe des Gedankenlesens noch andere Fähigkeiten, von denen ich wissen sollte?“ Bereits zum dritten Mal, seitdem sie in der Nähe dieses Hauses war, schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.

„Wer weiß, vielleicht lüftest du ja noch das eine oder andere Geheimnis. Aber vorher sollten wir eine Kleinigkeit zu Abend essen. Würdest du mir da zustimmen?“

Ein leises Knurren in Kaylas Magengegend machte eine Antwort überflüssig.

Gustav war inzwischen mit dem Gepäck hereingetreten.

„Sei doch bitte so nett und bringe alles schon in Kaylas Zimmer. Ach, und Gustav, mach da bitte auch das Feuer an, damit es schön warm wird.“

„Gibt es in meinem Zimmer etwa auch einen Kamin, ist es so groß?“ Kayla konnte es kaum glauben.

„Ja natürlich! Das hier ist zwar ein beeindruckendes, aber auch altes Haus. Wir heizen ausschließlich mit dem Holz aus unserem eigenen Wald.“

„Und wie groß ist dein eigener Wald?“

„Durch den Teil vor unserem Haus seid ihr ja eben durchgefahren und nach hinten, nun diesen Teil werden wir wohl einmal die nächsten Tage mit den Pferden durchqueren.“

„Du meinst, seit dem Moment, in dem wir von der befestigten Straße auf den Waldweg abgebogen sind, haben wir uns in deinem Wald befunden?“

„Ja, aber es ist unser Wald. Alles gehört uns gemeinsam. Aber jetzt komm, ich zeige dir erst einmal den Küchentrakt, den hauptsächlichen Wohnraum und das Esszimmer. Das mag für heute Abend genügen.“

Die Küche sah genauso aus, wie sich Kayla immer eine dieser typischen Landküchen vorgestellt hatte. Sehr groß, nein, eher riesig! Im Zentrum befand sich ein gewaltiger Tisch mit zehn Stühlen aus naturbelassenem Holz, der jedes weitere Esszimmer unnötig machte. An der linken Seite führte eine Tür direkt nach draußen auf die Terrasse, die anderen Seiten waren komplett mit einer umlaufenden Küchenzeile ausgestattet, die einen sehr hochwertigen Eindruck machte.

Gegenüber der Türe befand sich ein Herd – oder zumindest die Stelle, an der vermutlich das Essen zubereitet wurde. Sicher war sich Kayla da nicht, denn so einen Herd hatte sie nie zuvor in natura gesehen. Vielleicht noch in einem alten Märchenbuch oder bei der „Kleinen Hexe“. Er hatte eine elfenbeinfarbene Front, die den Eindruck gebrochenen Porzellans machte. Vorsichtig fuhr sie mit ihrer flachen Hand über die glatte Oberfläche. Nein, die Risse waren unter der Glasur. Der Ofen sah wunderschön aus. Er besaß auf der Oberfläche sechs Herdringe. Auf dem einen stand ein Wasserkessel bereit. Die beiden Türen darunter waren mit einer Glasfront ausgestattet, die links den Blick auf den Brennraum und die noch darin befindliche Glut freigab und rechts auf den Backraum, in dem sicher vier Bleche auf einmal großzügig Platz fanden. Daneben war Platz für das notwendige Holz.

Oberhalb der Arbeitsflächen umgab eine fortlaufende, glänzende Stange die Küchenwände, an der eine Vielzahl von diversen Kupfertöpfen, Gusspfannen und anderen Küchenutensilien baumelte. Und auf den Arbeitsflächen stapelten sich hier und da Tongefäße in vielfältigster Form und Farbe bunt durcheinander. In manchen wurde ein Teil der Vorräte dekorativ aufbewahrt.

An der rechten Seite entdeckte Kayla eine weitere Tür.

„Wo führt die denn hin?“

„Ach, da ist nur die Speisekammer. Das ist mehr Rosas Refugium. Sie ist meine Küchenfee und hilft mir auch ansonsten, das Haus in Ordnung zu halten. Jetzt ist sie allerdings nicht mehr hier. Sie bewohnt im hinteren Teil des Hauses eine Etage. Der Zugang liegt auf der anderen Seite, und Rosa geht abends beizeiten hinüber. Aber sie hat uns noch im Esszimmer den Tisch gedeckt. Du wirst sie morgen kennenlernen. Gewöhnlich essen wir etwas früher und gemeinsam zu Abend.“

„Darf ich mal einen Blick in die Kammer hineinwerfen? Wir hatten in unserer Wohnung einfach nur einen Küchenschrank, und ich würde zu gerne wissen, wie man einen ganzen Raum mit Essen füllen kann.“

Grandma Hedwig nickte. Behutsam schob Kayla den schweren Riegel zurück und öffnete die Türe. Der Raum vor ihr war in tiefstes Dunkel gehüllt. Nur im vordersten Teil konnte sie ein Regal erkennen, das sich über die ganze Wandhöhe erstreckte und mit verschiedenen Einmachgläsern, Krügen und Tontöpfen gefüllt war.

„Oh, hier gibt es wohl kein Fenster.“ Kayla tastete die Wand neben sich nach einem Schalter ab.

„Nein, der Raum liegt ja im Inneren des Hauses und hat keinen separaten Eingang oder Fenster. Aber irgendwo da an der Seite muss der Lichtschalter sein. Es ist so ein schwarzer, großer Griff zum Drehen.“

„Ach, es ist schon gut. Die Speisekammer kann ich mir ein anderes Mal ansehen.“ Mit zitternden Händen schob Kayla die Tür wieder zu und verriegelte sie sorgsam. „Ich hab’s nicht mehr so mit fensterlosen Räumen. Lass uns jetzt lieber etwas essen.“

Zusammen traten sie aus der Küche heraus in den Korridor.

„Das Esszimmer ist sinnigerweise ganz in der Nähe der Küche. Du gehst hier im Flur nach rechts, und dort vorn zweigt der Korridor noch einmal nach links ab. Dann ist es gleich die erste Tür. Der Bereich hier geradeaus ist für dich nicht interessant. Dort gibt es verschiedene Hauswirtschaftsräume und auch eine Werkstatt, die sich Gustav eingerichtet hat. Und natürlich seine privaten Räume. Er hat es nicht so gerne, wenn man ihm in seinem Reich unaufgefordert über die Schulter schaut. Geh schon vor, ich verriegele nur noch die Eingangstüre.“

Kayla hob fragend eine Augenbraue. „Hier draußen habt ihr doch sicher eher selten unangemeldeten Besuch. Kennt außer uns überhaupt noch irgendjemand dein Anwesen?“

„Du hast schon Recht, das sind nicht viele, aber ich verriegele trotzdem jede Nacht die Tür. Es schläft sich dann einfach besser, und inzwischen ist es auch schon dunkel geworden. Hier draußen im Wald ist es nachts ziemlich finster. Bitte denke immer daran, Fenster und Türen nach Einbruch der Dunkelheit verschlossen zu lassen und verlass nicht mehr das Haus, sobald das letzte Sonnenlicht weg ist. Das ist wirklich wichtig!“

Was für ein ungewöhnlicher Umstand. „Ich werde mich daran halten, versprochen!“ Kayla versuchte, sich zu entspannen. Über diese Bitte ihrer Großmutter konnte sie morgen immer noch nachdenken. Heute war sie zu müde. Sie lauschte noch einen Moment Hedwigs leisen Schritten, die sich Richtung Eingangstür entfernten, und ging dann selbst den Flur in entgegengesetzter Richtung entlang.

Vor der Esszimmertür blieb Kayla stehen und bestaunte die gemauerten Wände, die in diesem Teil des Hauses nicht verputzt waren. In dem warmen Licht, das die Leuchten an der Wand erzeugten, schienen die gewaltigen Steine einen goldenen Schimmer zu haben. Hier und da zog sich eine regelrechte goldfarbene Ader hindurch. Was das doch für ein sonderbares Haus war. In dem Flur konnte sie an jeder Seite zwei weitere Türen erkennen, bevor er nach rechts aus ihrem Blickfeld verschwand und die Wände ihr den weiteren Blick versperrten.

In der Ecke des Flurs stand ein antikes Spinnrad, das Kayla auf besondere Weise anzog. Die dazugehörende Spindel lag auf einem kleinen Tisch daneben. Langsam ging Kayla auf die Spindel zu und betrachtete sie. Fein versponnener Flachs umgab das Holzstück, eine zweite, leere Spindel steckte auf dem Spinnrad. Fast war es ihr, als wollte sich das Rad in Bewegung setzen und …

„Kayla, kommst du zum Essen?“

Die Stimme der Großmutter riss sie aus ihren Gedanken. Von Kayla unbemerkt, war Hedwig hinter sie getreten und legte ihre Hand auf Kaylas Schulter ab. Erschrocken drehte sie sich um und sah in das lächelnde Gesicht ihrer Großmutter. „Setz dich doch!“ Im Umdrehen fiel Kaylas Blick in den eben noch verdeckten Flur, der nicht durch Fackeln beleuchtet war und sich im dunklen Nichts zu verlieren schien. Schnell wandte sie den Blick ab und ging mit Hedwig zum Esszimmer zurück. Gustav saß bereits an dem Tisch, über dem ein riesiger Kronleuchter hing. Er sah alt und wertvoll aus. Seine Kerzenhalter waren durch Fassungen für Glühbirnen ersetzt worden.

„Oh, der ist ja wunderschön, Grandma! Woher hast du diesen Kronleuchter?“

„Der hat schon immer hier gehangen.“

„Wie der funkelt! Dass Glas so schön sein kann …“

„Ja, aber jetzt setz dich endlich zu uns, sonst brichst du noch an dem gedeckten Tisch vor Schwäche zusammen.“

Vor Kayla standen Platten mit verschiedenen Wurst- und Käsesorten, ein Teller Obst, etwas Salat und drei unterschiedliche Sorten Brot.

„Du hast Recht, ich habe wirklich Hunger.“ Kayla nahm Platz und gesellte sich zu den beiden am Tisch, und eine ganze Weile genoss sie still, wieder einmal in Gesellschaft zu essen.

„Grandma, es ist wunderschön hier. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum Mutter nicht mehr hierher zurückkehren wollte.“

„Sie wird ihre Gründe gehabt haben, auch wenn wir beide das im Moment nicht verstehen können. Du kannst mich übrigens ruhig Hedwig nennen, falls dir das lieber ist.“

„Nein, du bist die einzige Familie, die ich noch habe. ‚Grandma‘ fühlt sich genau richtig an.“

„Ich freue mich, dass du dich bei uns wohlzufühlen scheinst.“ Hedwig umschloss Kaylas Hand. „Das geht nicht jedem so, der das erste Mal hierher kommt. Und ich glaube, dass sich deine Mutter nie so richtig zu Hause gefühlt hat, obwohl sie hier aufgewachsen ist.“ Ihr Blick ging auf einmal in die Ferne. Leise murmelte ihre Großmutter, völlig in ihre eigenen Gedanken versunken: „Die Gabe musste wohl eine Generation überspringen …“

„Was hast du gerade gesagt?“ Kayla hatte etwas von einer Gabe gehört aber dann den Schluss des Satzes nicht verstanden.

Gustav hielt ihr den Korb mit dem Brot entgegen. „Deine Großmutter hat dich nur gefragt: Soll ich dir später noch irgendetwas auf dein Zimmer bringen?“

Kayla hatte sich wohl verhört. „Oh nein, danke. Ich bin wirklich müde und werde mich früh hinlegen. Vielleicht könnt ihr mir jetzt mein Zimmer zeigen.“

Noch während sie das sagte, breitete sich die Angst vor einer weiteren schlaflosen Nacht in ihr aus. Endlos lange Stunden in Einsamkeit lagen vor ihr, die nur ab und an durch einen Albtraum unterbrochen wurden, wenn die Müdigkeit die Oberhand gewann.

„Ja natürlich, komm. Ich habe das schönste Zimmer für dich ausgesucht.“ Hedwig war bereits auf dem Weg in die Küche. „Möchtest du dir noch etwas Mineralwasser oder ein anderes Getränk mit nach oben nehmen? Du kannst auch einen Wasserkocher und Tee haben.“

„Tee nehme ich gerne mit. Vielen Dank.“

„Dein Zimmer ist in der ersten Etage. Die Treppe im Eingangsbereich hast du ja schon gesehen. Dort oben sind auch meine Zimmer. Du kannst dich überall wie zu Hause fühlen … ich meine … entschuldige bitte“, Hedwig räusperte sich verlegen, „diese Zimmer sollen natürlich dein Zuhause sein. Ich wollte dich nicht als Gast betrachten. Das musst du mir glauben. Ich hoffe, dass du dich bald sehr wohl hier fühlen wirst.“

„Grandma, mache dir bitte keine Gedanken, wir müssen uns beide erst an diese neue Situation gewöhnen. Ich bin dir wirklich dankbar, dass ich hier bei dir unterkommen konnte.“

Wir sind vom gleichen Stoff,

aus dem die Träume sind

und unser kurzes Leben ist eingebettet

in einen langen Schlaf.

(William Shakespeare)

Kaylas Leben war nicht eingebettet in einen langen Schlaf. Sie glaubte an einen höheren Sinn des Lebens. Mit dem Tod fand es nicht wirklich ein Ende. Aber der Tod war eine momentane Trennung, und Trennungen hatte sie noch nie gemocht. Deswegen kam es ihr eher so vor, als wäre ihr Leben ein langer Schlaf. Allerdings eher von der Sorte: nicht erholsam und voller Albträume, sollte vermieden werden.

Aber wie sollte das gehen?

Oft hatte sie geglaubt, die Enge der Familie nicht mehr zu ertragen. Ihre überfürsorgliche Mutter, eine nervende Schwester und einen Vater, der oft gerade dann nicht da war, wenn sie ihn besonders brauchte.

Und dann, in einem Augenblick, als sie überhaupt nicht damit rechnete, war auf einmal alles anders. Ihre ganze Welt veränderte sich, und sie konnte nur hilflos zusehen.

Nur ein paar Sekunden, eine einzige Entscheidung, und es war Nacht. Tiefste, dunkelste Nacht.

Dann war auf einmal alles, was so wichtig erschienen war, völlig nebensächlich, und sie wusste, worauf es in ihrem Leben ankam. Aber manchmal war es dann zu spät. Unwiderruflich. Leere. Verlust.

Und unendliche Einsamkeit.

Man war verlassen. Nur umgeben von all den unausgesprochenen Worten, die man besser gesagt, von all den Dingen, die man besser zusammen erlebt hätte. Und dann die Sätze, die man besser nie ausgesprochen oder gedacht hätte. Das waren die schlimmsten.

Alles erschien so unwirklich. Eine schlimme Nachricht, eine einzige Nacht hatte sie in eine andere Welt versetzt. Aber diese momentane Welt war nicht zu ertragen. Eine andere musste her, am besten eine ohne Gefühle. Ohne Bewegung und Veränderung. Ruhig verhalten und das Leben ignorieren. Das war im Moment Kaylas Ziel.

Kein Leben, keine Angst.

Schlafen. Essen. Tag. Nacht. Schlafen. Essen. Tag. Nacht. Schlafen. Essen. Tag. Nacht …

In ihrem neuen Zimmer hatte sie sich sofort wohlgefühlt. Als sie durch die Türe trat, fiel ihr Blick direkt auf den Kamin, in dem ein knisterndes Feuer brannte, und ihre geliebte Bücherkiste stand in einer Ecke, rechts von dem Fenster, zusammen mit einem nachtblauen Ohrensessel und einem kleinen Tisch.

Das Bett stand weiter links, mit dem Kopfende an der gegenüberliegenden Wand. Es war aus glänzendem, dunklem Holz und hatte einen zimmerhohen Aufsatz. An den beiden Seiten des Aufbaus befand sich ein durchscheinender grünlicher Vorhang, der im Moment von einem Band zusammengehalten wurde. Kayla setzte sich und sank tief in die weiche Matratze ein. Neben dem Bett stand ein Spiegeltisch aus dem gleichen Holz, davor ein gepolsterter Stuhl mit geschwungenen Armlehnen. Dann gab es noch den riesigen Kleiderschrank, in den Kayla wohl nun ihre Kleidung räumen sollte. Ihre Taschen waren auch schon da. Gustav hatte sie vor dem Abendessen hoch getragen und neben dem Schrank abgestellt. Mit einem müden Seufzen stand sie wieder auf und öffnete die erste Reisetasche. Stück für Stück fand seinen Platz auf den massiven Einlegeböden und der Kleiderstange. Als sie fertig war und den Schrank wieder schloss, ließ sie ihre Finger über die geschnitzten Rosen- und Blätterranken gleiten, mit denen die Türen verziert waren. Ihr Blick fiel nun auf den Eingang, neben dem sich eine schöne Kommode mit großen Schubladen befand.

Die drei Taschen waren schnell ausgeräumt. Kayla ging zum Fenster und schaute hinaus in den wunderschönsten Sternenhimmel, den sie je gesehen hatte. Der Mond warf lange Schatten um das Haus. Unzählige Sterne leuchteten in dem reinsten Glanz, den es nur in den abgelegenen Ecken der Erde gibt, in denen die Nacht nicht durch die künstliche Beleuchtung von Häusern und Straßen gestört wird. Nur der Mond, die Sterne und Kayla … Ein Meer von Diamanten.

Die Bäume bewegten sich sanft im Dunkeln. Der dichte Wald war wie ein wogendes Meer und verstärkte Kaylas Müdigkeit. Dennoch wusste sie, dass sie, sobald sie zu Bett gegangen war, wieder hellwach sein würde. Ihr Gedankenkarussell ließ sie nicht zur Ruhe kommen.

Aber was blieb ihr anderes übrig? Schließlich konnte sie nicht die ganze Nacht am Fenster stehend verbringen. Sie legte sich hin und zog die Vorhänge des Bettes zu. Der Mond schien durch den schillernden Stoff hindurch auf ihr Bett und tauchte sie in ein wundersames Licht.

In einiger Entfernung stand ein großer Holzverschlag am Waldrand, der vermutlich die Gartengeräte beherbergte. Irgendjemand hatte die Türe nicht richtig verschlossen. Der Wind griff immer wieder unter die Holzleisten, hob die Türe an und ließ sie los, hob sie an und ließ sie los. Der dumpfe, gleichmäßige Klang begleitete Kayla wie ein lang vermisstes Wiegenlied endlich in einen ruhigen Schlaf.

Kayla fand sich am Rande eines dunklen, dichten Waldes vor einer ärmlichen Hütte wieder. Sie trug nur ihr kurzes Nachthemd. Der Wind strich um ihre nackten Beine, aber sie fror nicht. Zu ihren bloßen Füßen sah sie kleine Steine. Erstaunlicherweise verspürte sie keinerlei Spitzen unter ihren Sohlen. Dies war keiner ihrer üblichen Albträume. Erstaunt realisierte sie ihre seltsame Distanz zum Geschehen. Seit wann begann man im Traum, seinen Zustand zu analysieren? Sie bewegte sich nahezu schwerelos zu dem nahen, erleuchteten Fenster, um einen Blick in das Innere der Hütte zu erhaschen. Leise Gesprächsfragmente drangen an ihr Ohr. Vorsichtig schob sie von der Seite ihr Gesicht vor das Sprossenfenster. Sie wollte nicht riskieren, gesehen zu werden, und hoffte auf die dunkle Nacht, die sie gnädig in ihrer Schwärze versinken ließ.

Am Tisch saßen ein offensichtlich armer Mann, seine Frau und drei junge Mädchen, die sich so ähnlich sahen, dass sie nur Schwestern sein konnten. Als Kayla versuchte, sich mehr auf das Gespräch zu konzentrieren, zog über dem Wald die Morgendämmerung herauf. Der Wind schwoll an und trug Kayla in einem sanften Strudel mit sich fort …

Als Kayla am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich seit Langem wieder einmal ausgeruht. Vage erinnerte sie sich an einen seltsamen Traum. Sie hatte sich im Wald verlaufen und eine Familie in einer Hütte gesehen. Mehr wusste sie nicht. Noch etwas verschlafen setzte sie sich im Bett auf und griff nach ihrem Wecker auf ihrem Nachttisch. Es war bereits zehn Uhr, so lange hatte sie nicht geschlafen seit … seit … Nein, sie dachte zu viel. Sie ließ sich wieder auf ihr Bett gleiten. Nur noch eine halbe Stunde …

Es war schon Mittag, als sie sich aus ihrem Bett kämpfte, in das Bad gegenüber schlurfte und sich schließlich eine halbe Stunde später auf den Weg zur Küche machte. Als sie dort ankam, war von ihrer Großmutter keine Spur zu finden. Aber eine rundliche Frau stand an dem Herd und rührte fröhlich summend in den Töpfen. Das konnte nur Rosa sein. Kayla klopfte zögernd an den Türrahmen.

Die Frau drehte sich zu ihr um und lächelte sie freundlich an. „Ah, du musst Kayla sein. Hedwig, äh“, sie räusperte sich verlegen, „ich meine, deine Großmutter ist eben mit Desmond zum See aufgebrochen. Mindestens einmal die Woche schauen sie auch da nach dem Rechten. Möchtest du etwas frühstücken? Ich bereite zwar schon das Mittagessen vor, aber ich glaube, Kohlrouladen auf nüchternen Magen mögen nur die wenigsten.“

Verwirrt realisierte Kayla, dass ihre Großmutter gestern Abend keinen Desmond erwähnt hatte. Und keinen See … und überhaupt, was war denn das für ein Name?

Rosa wies auf den Küchentisch. „Setz dich doch, ich bring dir ein paar Brötchen und Marmelade. Magst du vielleicht auch ein Frühstücksei haben?“

„Ja schon, aber ich möchte keine Umstände machen, ich kann mir die Sachen selbst holen und …“

„Willst du, dass ich arbeitslos werde?“ Mit gespieltem Entsetzen gab ihr Rosa einen leichten Schubs Richtung Tisch. „Deine Großmutter hat mich eindringlich angewiesen, dich heute Morgen zu verwöhnen. Lass mich das lieber mal machen. Also setz dich und iss erst einmal!“

Kayla tat, was ihr gesagt wurde. Sie hatte schon lange nicht mehr wirklich Appetit verspürt, aber nichts zu essen, das wusste sie bereits aus Erfahrung, half ihr auch nicht weiter. Schon mehr als einmal war sie ohnmächtig geworden und achtete nun darauf, wenigstens so viel zu essen, dass sie sich auf den Beinen halten konnte. Als sie das Marmeladenglas aufschraubte, stieg ihr ein intensiver Duft von Erdbeeren in die Nase. Für einen Moment vergaß sie, wo sie war. Vor ihr inneres Auge schob sich das Bild eines Sees. Er war von einer tiefgrünen Farbe, umgeben von uralten Bäumen. Ihre Füße standen auf dem warmen Holz eines langen Badesteges, der zu einer kleinen Insel im See führte …