Der Glanz von Blut im Licht und Schatten - Erik J. Baumgart - E-Book

Der Glanz von Blut im Licht und Schatten E-Book

Erik J. Baumgart

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Beschreibung

Auf dem geteilten Kontinent Waalomeris sind die Wüsten Savoleras seit Urzeiten der gleißenden Sonne zugewandt. Die kühlen Ländereien Greneras liegen in ewiger Dämmerung. In den heißen Gebieten lösen die Sonnenstrahlen den Menschen ihre Haut vom Körper. Die Geschöpfe Savoleras, die Avagar, erstarren, wenn sie zu weit in die kühle Zone eindringen. Durch diese natürlichen Barrieren getrennt, gibt es kaum Kontakt zwischen den so unterschiedlichen Völkern. Doch vom Machtstreben getrieben, scheint sich jetzt eine Möglichkeit aufzutun, diese Hindernisse zu überwinden und die uralte Ordnung zu durchbrechen. Die Völker Savoleras versinken seit Jahren im Krieg. Kirran, Anführer einer mächtigen Avagar-Streitmacht, schickt seine Krieger gegen die Nachbarländer aus. Er ist besessen davon, die gesamte Sonnenwelt unter dem Haus Verroder zu vereinen. Seiner Tochter Rascha ist das zu wenig, sie strebt auch die Unterwerfung der Menschenvölker an. In den Menschenreichen von Grenera herrscht seit elf Jahren Frieden. Intrigen und Verrat in den Königshäusern beschwören neue Zwistigkeiten herauf und führen Tamos, den Thronerben von Lendor, und seinen Halbbruder Rogan in Gefangenschaft. Eine geheimnisvolle Kreatur bietet den Prinzen ihre Hilfe an. Doch das Wesen verlangt als Gegenleistung die Unterstützung der Halbbrüder bei der Wiedergeburt eines kriegerischen Volkes, das seit Jahrtausenden als verschollen galt …

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Inhaltsverzeichnis

PROLOG

MORWALL

Das Volk der Vollaner

Verment

Die Weisen von Morwall

Die Zukunft der Lebenden

Moranas Vermächtnis

LENDOR

Die Söhne des Königs

Die Königin von Lendor

Ankunft der Gäste

Eureen

Fünf Krieger und ein Krüppel

Zu Tavons Ehren

Bündnis in rot

Junge Männer und alte Geschichten

Falsche Wahrheit

Die Taverne

Die verschwundene Stadt

Algoraa und ein seltsamer Toter

Das Wiesenland

Ungehorsam

Trophäenjagd

Die Rückkehr

Bluttränen

Orange Rosenblüten

Die Schenke zum schwarzen Horn

Die Medizin

Aussprache

Reisevorbereitungen

GODINA

Die Nachricht

Vorbereitungen

Erinnerungen hinter Schleiern

Vorsatz für ein besseres Leben

Löwenfels

Meine Männer

Streben nach mehr

Savolera

Stadt der Servos

Hof von Dula

Leben um zu dienen

Kinder zum Fressen

Senera

Pakt für die Ewigkeit

Liebe und die Regeln

Neue weiße Generation

Neugier nach dem Fremden

Details zum geschlossenen Pakt

Die Kinder der weißen Mutter

Jeder Einzelne und das Kollektiv

Fremdes, vertrautes Land

Kinder die ihre Mutter gebären

Erfüllung des Paktes

Letzte Etappe?

LENDOR

Arm – aber nicht glücklich

Die Opfer meiner Freunde sind nicht meine Feinde

Gleichgesinnte

Überredet

Alte Freunde – alte Geschichten

Vater und Sohn

Neue Ordnung

Widerstand

Neue Freunde

Neuer, alter Krieger

Neues Zuhause

König und Königin

Besuch – für länger?

SAVOLERA

Nicht geforderte Strafe

Rückschlag

Die Entscheidung

LENDOR

Ein Geheimnis wird gelüftet

Vertrautes, fremdes Land

Vom geplanten Weg abgekommen

LENTOS

Die schwarze Generation

GEBIETE UND VÖLKER

Waalomeris

Grenera

Savolera

Neromadorra

AUTOR

PROLOG

Elena kniete am Bachufer. Eine zerschlissene Stoffpuppe klemmte fest in ihrem Schoß. Sie summte leise ein Lied und reinigte dabei die gesammelten Kräuter im kühlen Wasser. Doch plötzlich schreckte das Mädchen etwas auf und die Puppe landete auf der Erde. Unter ihren nackten Füßen vibrierte der Boden. Schweres Stampfen und helles Klirren von Metall ließ ihren Blick suchend über die Wiese bis hinunter zum Waldrand schweifen. Der Achtjährigen stockte der Atem. Bewaffnete Krieger auf dunklen Streitrössern brachen durch die Baumreihen.

»Soldaten kommen!«, kreischte die kindliche Stimme, die sich vor Aufregung überschlug. Mit angstverzerrtem Gesicht stürmte sie in Richtung ihres Dorfes. Furcht trieb das blonde Mädchen durch das hohe Gras. Um das Tempo zu erhöhen, zogen ihre Händchen das lange Leinenkleid nach oben. Doch die Krieger holten schnell auf. Ohne eine Andeutung ausweichen zu wollen, trampelte die Horde Reiter über das Kind hinweg.

Elena blieb röchelnd zurück. Sie hustete Blut in ein Gewirr von Pflanzenhalmen. In Gedanken erschien ihre Mutter, nach der sie Hilfe suchend die Arme ausstreckte. Die Augen wurden leer, zum Schreien fehlte ihr die Kraft. Mit letzten Zuckungen entwich das junge Leben ins taunasse Grün.

Die herannahenden Soldaten versetzten das Dorf Arumat in Aufruhr. Unzählige Stimmen begannen durcheinanderzubrüllen. Die unbewaffneten Dorfbewohner hatten der Bedrohung nichts entgegenzusetzen. Männer und Frauen flüchteten mit ihren Kindern und verbarrikadierten sich in ihren Hütten. Einige der Einwohner, die über Jagdwaffen verfügten, versammelten sich mutig mit Bogen und Köcher vor dem großen Zugbrunnen in der Mitte des Dorfes.

Die Angreifer auf gepanzerten Pferden zogen ihre Streitäxte und steuerten auf die wenigen Verteidiger zu. Mit kräftigen Axthieben metzelten sie den Widerstand schnell nieder. Jene, die nicht gleich ihr Leben aushauchten und zu fliehen versuchten, wurden verfolgt und mit Lanzen von den Rössern herab gerichtet.

Der Kommandant, von dessen Brustpanzer der Kopf eines Schneelöwen prangte, riss an den Zügeln, um sein Pferd zu drehen. Mit dem gezogenen Schwert in der anderen Hand dirigierte er seine Befehle. »Holt sie aus ihren Häusern! Wir brauchen sie lebend.«

Die Krieger sprangen aus den Sätteln und schwärmten aus. Sie brachen die Türen auf und drangen in die Behausungen ein. Doch die Menschen setzten sich zur Wehr und mussten von den Schergen herausgezerrt werden.

Dem Anführer dauerte das zu lange. »Brennt alles nieder! Räuchert sie aus!«

Fackeln wurden an Feuerstellen in den Hütten entzündet und auf die Strohdächer geschleudert, was das trockene Material schnell mit lodernden Flammen überzog. In Todesangst strömten die Bewohner hustend und keuchend auf die Straßen, wo sie von den Kriegern erwartet und wie Vieh zusammengetrieben wurden.

Derweil holperten mehrere Zweiergespanne mit Käfigwagen durch das Dorf. Sie wurden von Männern in grauen Umhängen gelenkt, deren Gesichter unter den weit nach vorne gezogenen Kapuzen nicht zu erkennen waren. Sie stoppten am Dorfplatz, der bereits von dunklen Rauchschwaden eingehüllt war. Stimmen hallten durcheinander, Metall klirrte und Holz knisterte. Frauen umklammerten kreischend ihre weinenden Kinder, die ihnen von den fremden Soldaten brutal entrissen wurden. Die jungen Männer und ein paar Frauen wurden abgesondert.

Die Kutscher stiegen ab und klappten hölzerne Treppen am hinteren Ende der Wagen herunter. Rostige Schlüssel drehten in den Schlössern und öffneten die aus fingerdicken Eisenstäben geschmiedeten Türen. Drohgebärden und lautes Brüllen der Soldaten scheuchten die Opfer, deren bleiche Gesichter das rötlich flackernde Licht des Feuers überzog, in die Käfige. Eingepfercht und von innen an die Gitterstäbe gedrückt, streckten verzweifelte Mütter die Arme nach ihren Kindern aus, die beharrlich von den Wagen weggescheucht wurden. Nach und nach waren alle vier Karossen prall gefüllt und der Kommandant gab den Befehl zum Abmarsch.

Die Reiter trabten in Zweierreihen durch die verqualmten Straßen voraus. Ihnen folgend ratterten die schaukelnden Kutschen mit der menschlichen Fracht. Zurück blieb ein Gewusel von verzweifelten Menschen, die sich um die Toten und Verletzten kümmerten und panisch versuchten, ihre wenigen Habseligkeiten vor dem Feuer zu retten.

MORWALL

Das Volk der Vollaner

Rauer Wind umspielte steil abfallende Bergspitzen, die wetteifernd ihre rötlich schimmernden Gipfel in den Himmel streckten. Im Westen klebte die Sonne regungslos über dem Horizont. Nur ein kläglicher Rest von Wärme und Licht fiel im Osten auf den gigantischen Gebirgszug von Morwall. Hoch oben in dieser Einöde aus zerklüftetem Gestein durchbrach schmerzerfülltes Stöhnen die Stille.

»Halt endlich still!«, grantelte der Mentron, eine hagere Gestalt in einer weißen Kutte aus Berglöwenfell. Vor ihm auf einem Granitblock zitterte Lemos vom Stamm der Opaten. Der Junge war mit dem Rücken an ein verwittertes Brett gefesselt, eine Elle breit ragte es ihm vom Kreuz aufwärts bis über den Kopf. Hanfseile kratzten auf dem nackten Oberkörper. Sein Haupt war kahl geschoren und mit einem Lederriemen über die Stirn am Brett festgezurrt. Vom Schmerz getrieben, zuckten die Lider über seinen hellgrauen Augen.

Der Wächter der Ahnen, der sich über den Burschen gebeugt hatte, hielt einen dünnen Stock, an dessen Ende feine Metallspitzen angebracht waren, in seinen knochigen Fingern. Diese tauchte er ab und an in eine Schale mit blauer Farbe. Anschließend prasselten die feinen Spitzen mit schnellen Schlägen auf den Hals des Jungen nieder. Der Mentron verlieh Lemos kurz vor Vollendung des zwanzigsten Lebensjahres die Symbole seines Stammes.

Weit oben, meist in den Wolken versteckt, lag Amunus, die heiligste Stätte der Vollaner. Das Heiligtum wurde bewacht und behütet vom Mentron, der das über Jahrhunderte hinweg überlieferte Ritual an dem Jungen vollzog. Nur noch wenige Familien schickten ihre Söhne nach Amunus. Im Laufe der Generationen verlor die Verehrung der Ahnen in vielen Gemeinschaften an Bedeutung. Doch zwei junge Männer aus dem Dorf Arumat hatten den beschwerlichen Weg auf sich genommen. In abgetragener Kleidung aus Leinen und dünnen Ledersandalen trotzten sie der Kälte und stellten sich dem steinigen Aufstieg.

Tarton, der hinter dem Wächter wartete, beobachtete ungeduldig, wie seinem Freund Lemos die Symbole an der rechten Wange bis zum Hals eingeprägt wurden. Frostiger Wind kroch ihm unter den ausgefransten Wollumhang. Die Anspannung, als Nächster festgeschnallt zu werden, und die prickelnde Kälte auf der Haut ließen seine Beine wippen.

Nach einer Weile legte der Mentron die Nadeln nieder. Er streckte den krummen Rücken durch und löste die Fesseln. »Als Junge habe ich dich festgeschnallt. Als Mann binde ich dich los!«

Lemos sprang vom Steinblock und beugte den Hals über einen mit Wasser gefüllten Holzzuber, der abseitsstand. Seine Fingerspitzen tasteten über die wunden Stellen. Er drehte den Kopf hin und her, dabei betrachtete er sein Spiegelbild und war zufrieden.

Ein tiefer Seufzer trat dem Mentron über die Lippen, als er den Platz für den nächsten Jungen herrichtete. Die über den Kopf gezogene Kapuze gab sein gegerbtes Gesicht mit hellen Augen frei. Silberne Haarsträhnen klebten an den Schläfen. »Warte da drüben!«, wies er Lemos an und deutete mit der Hand zu einem Felsen.

Lemos, der die Schmerzen mit besonderem Stolz ertragen wollte, nahm Platz und wandte sich von der tief stehenden Sonne ab. In ihm kribbelte es. Er konnte es kaum erwarten, sich seinen Eltern und Verwandten zu zeigen.

Der Mentron sah jetzt Tarton an. »Ist es die Furcht, die deine Zähne klappern lässt?«

»Mir ist kalt!«, versicherte Tarton. »Ich habe keine Angst.«

»Die Kälte tut dir nichts! Mir tut sie gut. Altes Fleisch muss man frisch halten«, krächzte der Mentron mit einem Grinsen und rieb mit den Handflächen die fahle Haut seiner Unterarme, die aus den Ärmeln der Kutte lugten.

Hastig warf Tarton seinen Umhang ab und schlüpfte aus dem Leinenhemd. Der frostige Wind richtete jedes Härchen an ihm auf. Der Alte deutete auf den Felsblock und er nahm Platz. Der Wächter der Ahnen fischte ein kleines Messer aus der Seitentasche seiner Kutte. Er stellte sich neben den Burschen, um ihm mit der scharfen Eisenklinge die Haare abzuschneiden und mit den Metallspitzen die ewige Zugehörigkeit in die Haut zu schlagen. Als sich auch Tarton nach geraumer Zeit als Mann aufrichtete, betrachteten die jungen Männer gegenseitig ihre blutunterlaufenen Tätowierungen.

»Jetzt habt ihr die Ehre, mit den Ahnen zu speisen!« Der Mentron griff nach seinem Stock, der am Steinblock lehnte, um seinen klapprigen Körper zu stützen.

Wieder angezogen und auf den Hals des jeweils anderen starrend, stolperten die zwei Burschen dem Alten hinterher. Er führte sie unter einen Felsüberhang zur Höhle von Amunus. Fackeln säumten einen mit dunkelblauen Steinplatten ausgelegten Weg. Tief im Bauch des Berges lag das Zentrum unter einer hohen Kuppel. Dort saßen drei Personen an einer großen runden Tafel. Die steinerne Tischplatte war mit markanten Rillen in vier gleich große Stücke geteilt. Jedes Viertel trug unter dem flackernden Licht kunstvoll in den Stein gemeißelte runde Symbole von einem der vier Stämme der Vollaner.

Als die zwei Freunde nähertraten, stachen ihnen die prunkvollen Gewänder ihrer Gastgeber in die Augen. Die Stirn eines jeden am Tisch zierte ein goldener Reif. Sie saßen auf massiven Stühlen, über deren Rücken- und Armlehnen Schnitzereien verliefen. Der Mentron verneigte sich vor den Ahnen. Lemos und Tarton taten es ihm gleich.

Rechter Hand, in einer von den Fackeln kaum ausgeleuchteten Felsnische, brodelte eine Suppe in einem Kessel über dem Feuer, deren Duft die Besucher betörte. Aus dem hinteren Bereich der Höhle trat Deton hervor, der Schüler des Mentron und künftige Wächter. In der grauen Wollkutte des Gehilfen platzierte er einen Weidenkorb mit Brot in der Mitte des Tisches.

Der Mentron begann, Lemos und Tarton die Vorfahren vorzustellen: »Das ist Grimwal, der Erste des Stammes der Lakooren. Das ist Waltron, der Erste des Stammes der Opaten. Hier seht ihr Erwik, den Ersten des Stammes der Redonen. Leistet euren Ahnen Gesellschaft, so wie es eure Väter und Großväter vor euch getan haben.«

Als sie saßen, blickte Lemos neugierig auf den vierten, leeren Stuhl. »Ist das der Stuhl von Königin Mendora, der Ersten des Stammes der Kolitaten?«

Die Augen des Mentron erstarrten, sogleich stampfte er ein paarmal heftig mit dem Stock auf. »Das ist der Platz von König Mendor! Eine Königin hat es nicht gegeben.«

Lemos blickte verschämt nach unten und zupfte sein Hemd zurecht. Deton servierte derweil die Suppe.

Der Wächter nahm aus einer Nische in der Wand ein dickes Buch, das in abgegriffenes Leder gebunden war. »Esst!«

Die Finger der Burschen griffen nach einem Stück Brot und sie stürzten sich hungrig auf die Mahlzeit.

Der Mentron ließ das schwere Buch auf den Tisch fallen. Er rückte einen Stuhl heran und zappelte sich in eine bequeme Sitzposition. »Das ist das Buch der Ahnen, von dem nur wenige Abschriften existieren!« Er blickte auf und sah Lemos und Tarton nacheinander streng in die Augen. »Als vor über 3800 Jahren von Norden die Täler Greneras von den vier Stämmen besiedelt wurden, begannen diese Aufzeichnungen. Es wird über den 2000 Jahre andauernden Aufstieg zu vier reichen und mächtigen Königreichen berichtet.« Mit ausgestrecktem Zeigefinger hob der Mentron warnend seine rechte Hand. »Das Machtstreben der Herrscher mündete in den blutigen 600-jährigen Krieg! Während der verheerenden Schlachten hätten sich die vier Stämme beinahe selbst ausgelöscht. Prunkvolle Städte und Schlösser wurden zu Staub zermalmt.«

»Wir kennen die Geschichte unserer Vorfahren!«, machte sich Lemos mit vollem Mund wichtig und legte den Löffel beiseite. »Die wurden uns oft von den Dorfältesten erzählt.«

»Das ist gut«, stöhnte der Mentron mit ernstem Blick. »Achtet weiter genau auf meine Worte, damit ihr alles richtig behaltet. Vor 1263 Jahren haben vier weise Anführer die Stämme unseres Volkes geeint. Grimwal, Waltron, Erwik und Mendor haben den großen Frieden ausgerufen. Sie teilten den gigantisch großen Gebirgszug von Morwall unter sich auf. Die Täler Greneras, in denen so viel Unheil geschah, wurden für immer verlassen. Als neue Heimat des leidgeprüften Volkes waren die Berghänge von Morwall bestimmt. Von da an gab es keine Könige und keine Heere mehr. Angeführt von den drei Ältesten der Gemeinschaft, verwalteten sich die Vollaner in kleinen Sippen selbst. Alle Waffen, außer für die Jagd, wurden vernichtet.«

Lemos gähnte und dabei fiel sein Blick auf die drei Gestalten, die ihm gegenübersaßen. Grimwal hatte seine Nase verloren. Waltron fehlten zwei Finger und sein einst prächtiges Haar hielt nur mehr der goldene Stirnreif am Haupt. Erwiks Unterkiefer war so weit nach unten gerutscht, dass seine Zunge wie eine vertrocknete Pflaume aus dem Mund lugte.

Dem Mentron blieben die abschweifenden Gedanken des Jungen nicht verborgen. Ein Schlag mit der offenen Hand auf den Tisch hallte durch den Raum und holte die Aufmerksamkeit zurück. »Alle Stämme besiegelten das Friedensabkommen! Nur drei Stämme entsagten den Waffen. Die Kolitaten, die sich auch äußerlich immer mehr von den anderen Stämmen unterschieden, riefen Mendor als ihren neuen König aus. Mendor zog mit seinem Volk weit in den Süden von Morwall. Dort begründete er das Königreich Kolita. Abgeschottet von den anderen Völkern, entwickelten sie sich über Generationen zum reinen Volk der Kolitaten. Sie perfektionierten die Kampfkunst und unterhalten bis heute eines der gefürchtetsten Kriegsheere. Sie haben für Mendor einen Thron im Schloss der Kolitaten errichtet, von wo aus ihr Urvater über seine Kinder wacht. Deshalb steht der vierte Stuhl der Stammesväter in Amunus leer!« Der Wächter schlug das Buch lautstark zu. »Gibt es noch Fragen?«

Die Jungen sahen sich an und schüttelten verneinend den Kopf.

Der Alte zog sich an seinem Stock hoch. »Wir gehen!«

Ermattet von der Geschichte und mit den Gedanken bei ihren Eltern, schlurften die beiden dem Wächter der Ahnen hinterher. Vor dem Eingang zur Höhle warteten bereits drei weitere Burschen, um die Zeichen ihres Stammes zu erhalten. Lemos und Tarton zogen ihre Umhänge über die Schultern und kehrten Amunus den Rücken. Die neidischen Blicke der drei Jungen auf ihre Tätowierungen setzten ihnen ein breites Grinsen ins Gesicht.

»Bin ich froh, dass wir da endlich wegkommen!«, seufzte Tarton, als sie außer Hörweite des Alten waren.

»Ich auch!«, bestätigte Lemos. »Was kümmert mich die Geschichte! Ich wollte meinen Eltern gefallen. Dieser ganze Ahnenschmus ist nichts für mich. Mit den drei Mumien am Tisch zu essen ist widerlich.«

»Du hast recht. Viele unserer Freunde tun sich das gar nicht an und lassen sich im Dorf tätowieren.«

Die beiden erhöhten das Schritttempo. Dabei hinkte Lemos seinem Freund hinterher. Ihm fehlten von Geburt an beide großen Zehen, wie allen männlichen Vorfahren in seiner Familie.

Vorbei an scharfkantigen Felsen stürmten sie den Pfad entlang bergab. Nebelfetzen stiegen ihnen entgegen. Nach und nach wurden die kahlen Felsen zu grünen Berghängen. Eine Wiese lud die beiden außer Atem gekommenen Freunde zu einer kurzen Rast ein. Sie erfrischten sich mit kühlem Wasser aus einer Quelle. Geschafft ließen sie ihre Körper in das feuchte Gras fallen und räkelten sich umgeben von allerlei summendem und zirpendem Getier.

Lemos wischte sich den Schweiß von der Stirn und streckte seine rechte Hand in Richtung Tal. »Sobald wir den Wald da unten hinter uns haben, werden wir Arumat sehen.«

Tarton setzte sich aufrecht hin, zog die Knie zu sich und stützte seine Arme darauf. »Sie werden ein Fest für uns geben. Den Bauch werde ich mir vollstopfen und so viel Wein trinken, bis meine Beine weich genug zum Tanzen sind.«

Lemos’ Augen glänzten und über seine Lippen huschte ein Lächeln. »Wir sind nun Männer und müssen uns ein Mädchen zur Frau nehmen.«

»Die Feier wird großartig! Doch danach wartet wieder unsere Arbeit auf uns. Auf die freue ich mich nicht. Obwohl, die Tiere fehlen mir schon«, meinte Tarton nachdenklich.

»Wir haben großes Glück gehabt, dass sie uns für die Schweine eingeteilt haben. Stell dir vor, wir müssten in der Schmiede arbeiten. Den ganzen Tag in dieser Hitze und den schweren Hammer in der Hand. Oder auf den Feldern. Das wäre furchtbar! Mit den Schweinen haben wir es gut erwischt.«

Tarton nickte zustimmend und rappelte sich hoch. Zufrieden mit ihrem Leben beendeten sie die Rast. Bevor sie ihren Weg fortsetzten, blickten beide noch einmal zurück zum Gebirge. Links und rechts hinter ihnen erstreckte sich Morwall bis weit hinter dem nördlichen und südlichen Horizont.

»Was liegt wohl hinter den hohen Bergen?«, sinnierte Tarton.

»Komm, gehen wir! Vater bezeichnete es als Neromadorra, das Finsterland. An diesem Ort ist alles dunkel ohne Sonne. Die Vorfahren wachen über diese Gebiete. Der Himmel ist schwarz und mit Tausenden funkelnden Augen der Ahnen überzogen!«, wusste Lemos.

»Dort gibt es Dämonen. Die hausen in der Finsternis und töten jeden Eindringling.«

»Gut, dass es auf unserer Seite noch nie dunkel war.« Lemos wollte nicht weiter darüber reden und lief seinem Freund voraus.

Tarton holte auf und konnte trotz des Laufschritts nicht aufhören, Fragen zu stellen. »Warum war der Mentron so verärgert, als du Mendor als Königin bezeichnet hast?«

»Ach, die Kolitaten! Ich habe noch nie einen von denen gesehen. Dort! Schau! Ich kann unser Dorf erkennen. Die große Feuerstelle wurde entzündet!«

Mit vor Freude verzerrten Grimassen stürmten die Freunde den engen Weg entlang. Doch als sie näher kamen, verdunkelten sich ihre Mienen zusehends. Sie erkannten Rauchsäulen, die über Arumat aufstiegen. Niemand wartete mit Wein und frisch gebratenem Fleisch. Beißender Qualm und heiße Luft kamen ihnen entgegen. Aus Fenstern und Türen züngelten Flammen. Manche Hütten waren bereits zu Ruinen niedergebrannt. Die Gebäude waren verkohlt in sich zusammengebrochen. So fanden sie das Dorf Arumat vor. Lemos und Tarton verstanden nicht, was passiert war. Ihren Kehlen entsprangen verzweifelt die Namen ihrer Eltern und Freunde. Doch außer dem Knistern des brennenden Holzes und dem Knarren einstürzender Balken war nichts zu hören. Niemand war da, um die Feuer zu löschen. Nur ein paar Hühner und Schweine streunten gackernd und quickend ziellos durch die verrauchten Straßen.

»Was ist hier passiert?«, fauchte Tarton mit bebender Stimme und drehte sich auf der Stelle im Kreis. »Wo sind die alle? Wie konnte das ganze Dorf abbrennen?«

»Ich weiß es nicht!«, brüllte Lemos mit starrem Blick.

Tarton sah auf den Boden. »Überall Abdrücke von Schwarzhornpferden.«

»Niemand hier besitzt ein Pferd!«

»Dann waren Fremde hier!«

»Es müssen Menschen aus dem Tal gewesen sein.«

»Warum zerstören sie unser Dorf?«

»Hier ist überall Blut!«, schrie Lemos auf und kniete sich hin, um die blutgetränkte Erde anzufassen.

»Was ist hier nur passiert!«

Die Burschen hetzten rastlos an Rauchschwaden vorbei und durchstöberten die glosenden Reste der Hütten. Am eingestürzten Elternhaus fiel Lemos schluchzend auf die Knie, alles war zerstört. Dann bemerkte er an einem glimmenden Holzbalken ein glänzendes Ding, das nicht gebrannt hatte. Als er es mit einem Stock schaffte, das Teil aufzuheben, erkannte er es als einen der Knöpfe, die sein Vater aus Steinbockhorn geschnitzt hatte. Sie sollten die neue Jacke zieren, die seine Mutter für das Fest nähen wollte. Er sah sich um. Die fünf Stück, die er finden konnte, verschwanden in seiner Hosentasche.

»Wer das getan hat, muss dafür bezahlen!«, knurrte Lemos mit geballten Fäusten in sich hinein. Aber er wusste nicht, gegen wen er seinen Zorn richten sollte. Fassungslos sackte er zusammen und wischte sich Tränen und Staub aus dem Gesicht. Tartons Rufe richteten ihn wieder auf. Schwer atmend trafen sich die Burschen beim Zugbrunnen am Dorfplatz.

»Kannst du dich an die Geschichten der Ältesten erinnern?«, fragte Lemos resignierend.

»Ja! Ja!«, schrie Tarton. Das half ihm, seine Ratlosigkeit zu verbergen, und er plärrte weiter: »Wo sind alle?«

Lemos rieb seinen Hals, die Tätowierung tat weh. »Die Dorfältesten haben davon geredet! Falls eine Katastrophe über das Dorf hereinbricht, laufen wir zu den alten Felsbärenhöhlen im Wald.«

Tarton schöpfte Hoffnung, als er das von Lemos hörte. »Glaubst du, wir finden sie dort? Warum löschen sie nicht das Feuer?«

»Ich weiß nicht, wo sie sonst sein könnten. Lass uns nachsehen«, drängte Lemos, den Blick zu Boden gesenkt.

Tarton hielt noch kurz inne, aus einem Eimer neben dem Brunnen schöpfte er Wasser mit beiden Händen und ließ es über seinen Kopf laufen. Lemos machte es ihm nach. Doch das Wasser spülte nur den Staub von ihren Gesichtern, die Verzweiflung konnte nicht abgewaschen werden. Die Aufregung zerrte in den Magengruben der Burschen, sie stapften los in Richtung Wald. Ihre Beine hetzten über den laubbedeckten Boden, bis sie vor dem mit Gestrüpp verwachsenen Eingang der Bärenhöhlen standen. Es war still, nur ein leichtes Rauschen der Blätter im Wind durchstreifte die Baumwipfel und es roch nach Fäulnis. Nach Luft ringend, zogen die beiden Freunde ihre Blicke über den Waldboden.

»Da ist er aufgewühlt! Hier war jemand.« Lemos stürzte zum Eingang und schrie mehrmals in die Höhle hinein.

Die Äste vor dem Höhleneingang fingen an, sich zu bewegen. Eine Frau mit zerzaustem Haar und verdrecktem Kleid trat hervor. Tarton erkannte sie. Es war Emalie, seine Tante.

»Emalie, was ist passiert?«, rief er, während er auf sie zustürmte, um sie zu umarmen.

Ihr Blick war starr, sie erkannte ihren Neffen nicht.

»Sind sie weg? Sind sie weg?«, stammelte sie unentwegt mit leeren Augen.

Tarton versuchte sie zu beruhigen, ihr Körper bebte. Nacheinander schlüpften verängstigte Gestalten hinter dem Geäst hervor.

Zwei Kinder klammerten sich an Tartons Beine und schluchzten: »Sie haben Vater und Mutter mitgenommen.« Der Bursche drückte sie fest an sich.

Kamal, der Dorfälteste, humpelte in einem bodenlangen Mantel aus Steinbockleder aus dem Versteck.

»Was ist passiert?« Lemos blieb ruhig.

»Wir werden euch alles erzählen!«

Seine Töchter zogen Kamal auf den Boden unter eine stattliche Eiche. Die beiden Burschen und weitere setzten sich dazu. Die Stimmung war gedrückt. Lemos und Tarton schauten in viele verstörte Mienen.

Ludmar, die älteste Tochter Kamals, stöhnte: »Über ein Dutzend Soldaten auf gepanzerten Rössern waren da. Aus Eisengittern gefertigte Käfige auf Rädern haben sie gebracht, jeder von zwei Pferden gezogen. Die jungen Männer und ein paar Frauen wurden mitgenommen. Mein Ehemann und mein Sohn sind unter ihnen.«

»Soldaten?« Lemos verstand nicht.

»Auf ihre ledernen Brustpanzer waren Berglöwenköpfe geprägt!« Kamal fand seine Stimme wieder. »Es waren Krieger aus Godina.«

Ludmar sprang auf. »Wir müssen unsere Verwandten und Freunde befreien.«

»Setz dich hin!«, wiegelte Kamal ab. »Wir haben keine Waffen! Wir sind Bauern.«

»Die haben uns angegriffen!«, protestierte Ludmar lautstark.

»Wir müssen uns in den Bergen verstecken«, seufzte Kamal. »Vielleicht kommen sie wieder!«

»Wurde jemand verletzt?«, erkundigte sich Tarton. »Wir haben Blut gesehen.«

»Die Soldaten sind äußerst brutal vorgegangen. Es gibt Verletzte und einige von uns wurden erschlagen. Kinder waren darunter«, antwortete Ludmar mit Wehmut in der Stimme und zog sich ihre Wolljacke zurecht. »Wir haben alle begraben. Die Verwundeten werden in der Höhle versorgt.«

»Was ist mit unseren Eltern?«, brüllte Lemos entsetzt auf.

Ludmar senkte ihren Blick. »Die wurden mitgenommen.«

Tarton und Lemos waren tief erschüttert und Tränen stiegen ihnen in die Augen. Aus der Ferne unterbrachen Trommelklänge das Gespräch.

»Was ist das?«, schreckte Lemos auf und sah in den Himmel.

»Das sind Trommeln aus den Nachbardörfern.«

»Was sagen sie?« Lemos und Tarton fixierten Kamal, der die Töne übersetzen konnte.

»Nicht nur wir wurden überfallen! Es wurden auch in den anderen Dörfern Gefangene gemacht und es gibt Tote.«

Klopfende Klänge wurden von den hohen Bergen zurückgeworfen und drangen zu denen hier aus Arumat vor der Höhle.

»Sie rufen nach dem Rat der Weisen von Morwall. Jedes Dorf soll ihre Vertreter nach Verment, zur Festung der Töchter Moranas, entsenden.«

»Die Vollaner sind kein feiges Volk. Wir werden uns verteidigen.« Ludmar schöpfte Hoffnung.

»Nicht so voreilig!«, bremste Kamal und sah sie tadelnd an. »Was weißt du schon vom Kämpfen?«

»Willst du zulassen, dass unsere Freunde von Fremden entführt wurden? Die Vollaner waren einst große Krieger. Die Schmiede soll Waffen liefern!«

»Verdammt! Sei endlich still!« Kamal wollte nichts davon hören. »Die Weisen von Morwall werden entscheiden, was zu tun ist! Von unserer Sippe sind nur zwei junge Männer übrig. Lemos und Tarton gehen nach Verment. Und du, Ludmar, wirst sie begleiten.«

Die beiden Schweinehirten erhoben sich mit geschwellter Brust. Sie genossen die bewundernden Blicke der Mädchen.

»Wann brechen wir auf?«, erkundigte sich Lemos und hob stolz seine Nase in die Höhe.

»Setzt euch!«, zischte Kamal genervt. Was die beiden sofort wieder ins Laub senkte. »Ihr brecht erst morgen auf! Wir müssen besprechen, was unsere Botschaft sein wird.«

Kamal wandte sich an Rimet, einen der Ältesten, der die Kunst des Trommelns beherrschte. »Wir müssen antworten, dass unser Dorf Abgesandte nach Verment schicken wird.« Rimet nickte und verschwand. Anschließend blickte Kamal zu den Frauen. »Bereitet alles für die Reise der drei vor. Es ist ein weiter Weg. Sie brauchen ausreichend Proviant und frisches Gewand. In den Lumpen können wir die zwei Männer nicht nach Verment schicken.«

Gelächter von allen Seiten ließ Lemos und Tarton die Köpfe zu Boden senken. Sie schämten sich für ihre zerschlissene Kleidung.

Es war spät geworden. Im Süden stieg der tiefblaue Mond über den Horizont und färbte das Licht der Sonne blassblau.

»Wir bleiben die Blauphase über hier«, entschied Kamal. »Ihr müsst essen und schlafen.«

Die Frauen brachten getrocknetes Fleisch, Nüsse und Waldfrüchte.

Kamal lehnte sich an den Stamm der Eiche und strich die langen grauen Haare mit seinen dürren Fingern aus dem Gesicht. »Sagt dem Rat, dass wir nicht kämpfen werden!«

In Ludmar stieg die Wut hoch. »Wir müssen für den Kampf stimmen! Sollen wir uns feige wie Hasen in die Berge zurückziehen?«

»Lieber feige als tot!«, widersprach Kamal streng. »Vor 1263 Jahren wurden die schrecklichen Kriege beendet. Zuvor gab es 600 Jahre lang Tod und Zerstörung. Das darf sich nie mehr wiederholen. Unser Volk hat seither auf Waffen verzichtet.«

»Wir werden bedroht!« Ludmar hatte kein Einsehen. »Damals hat sich unser Volk gegenseitig abgeschlachtet. Als die Vollaner Grenera verlassen haben, gab es dort über 500 Jahre lang keine Menschenseele mehr. Erst vor ungefähr 800 Jahren wurden die Täler von Süden her wieder besiedelt. Niemand hatte es in Betracht gezogen, dass sich dort mächtige Königreiche entwickeln. Der große Frieden unter den Vollanern bleibt aufrecht! Wir müssen gegen unsere neuen Feinde kämpfen. Tun wir es nicht, gibt es bald keine Vollaner mehr!«

Lemos steckte sich ein paar Nüsse in den Mund. Er hatte Hemmungen, vor dem Ältesten zu sprechen. Doch der Zorn über den gemeinen Überfall und den Verlust seiner Familie löste die Blockade. »Ich bin hier in unserer Gemeinschaft aufgewachsen, in der es nie Zwietracht gegeben hat. Aber jetzt haben Fremde meine Familie verschleppt. Ich stimme Ludmar zu. Die Vollaner müssen sich verteidigen. Wir können das nicht mit uns machen lassen!«

Kamal, der mit seinen wenigen verbliebenen Zähnen heftig mit dem Dörrfleisch rang, schüttelte abweisend den Kopf. Für ihn stand der Wille der Ahnen über allem. »Die Gesetze der Ahnen lehren uns, auf Waffen zu verzichten!«

Ludmar verschränkte ablehnend ihre Arme. »Die Ahnen haben uns nicht vor dem Überfall geschützt!«

In Kamals Stirn gruben sich tiefe Zornesfalten, seine Augen quollen hervor. »Wie kannst du es wagen, dich gegen die Gesetze der Ahnen zu stellen!«

»Die Zukunft gehört den Lebenden und nicht den Toten! Wir müssen handeln.« Ludmar war stark und ihre Meinung teilten viele im Dorf. Die Jüngeren verloren den Glauben an die Ahnen.

Kamal konnte seine Tochter nicht verstehen. Doch er war müde und seine Kräfte schwanden. »Hört euch an, was die anderen sagen. Trefft eine Entscheidung für Arumat! Ich rufe die Ahnen an und bitte für Schutz und Weisheit.« Kamal wandte sich ab und gab ein Zeichen mit seinem Stock. Zwei Frauen halfen dem Greis hoch, um ihn in die Höhlen zu führen. Ludmar war zufrieden und aufgewühlt zugleich. Sie konnte die bevorstehende Reise kaum erwarten.

Lemos und Tarton hatten sich die Rückkehr in das Dorf anders vorgestellt.

»Ich vermisse meine Eltern!« Tarton war traurig. Hunderte Gedanken tanzten gleichzeitig in seinem Kopf. Er wollte weg und Lemos begleitete ihn. Nachdenklich stapften die beiden durch dicke Schichten abgestorbener Blätter. In der Ferne stimmte ein Waldkauz seine heulenden Balzrufe an. Die Luft war klar. An einer Lichtung ließen sich die Burschen in das Gras fallen.

»Glaubst du, dass alles wieder so wird wie früher?«, seufzte Tarton.

»Ich weiß es nicht! Aber ich würde es mir so wünschen.«

»Der Mond sieht aus wie immer. Zumindest da oben hat sich nichts verändert«, stellte Tarton fest und wurde ruhiger.

»Auf die blaue Kugel ist Verlass.«

Tarton starrte in den Himmel. »Der Mond kommt von Süden und verschwindet im Norden. Aber wo ist er dann?«

»Darüber denke ich nicht nach! Eine Blau- und eine Weißphase sind ein Tag. Der Mond gibt uns den Tag vor, das ist seine Aufgabe. Schwebt er am Himmel, färbt er das Licht blau. Wäre er nicht da oben, hätten wir immer weißes Licht und niemand wüsste, wann ein Tag endet!«

»Die Sonne steht immer am gleichen Platz.« Tarton beschäftigten die Himmelskörper, was ihn von seiner Trauer ablenkte.

»Ohne den Mond gäbe es das Neujahrsfest nicht«, meinte Lemos schroff und stand auf. »Wie sollten wir wissen, dass 333 Tage vergangen sind?« Lemos reichte Tarton seine Hand und zog seinen Freund hoch. »Wir müssen weiter!«

»Wie viel sind 333 Tage?«, nuschelte Tarton, während er aufstand.

»Die Ältesten zählen die Tage. Ich weiß es nicht.«

Plötzliches Rascheln stoppte ihre Schritte. Zwei Schweine wühlten im Laub.

»Das sind unsere Tiere!«

Lemos wollte nichts davon wissen. »Lass sie! Um die kümmern wir uns, wenn wir aus Verment zurück sind.«

Beim Anblick der Schweine fiel Tarton das Trockenfleisch ein, das er sich in die Hosentasche gesteckt hatte. »Salziges Dörrfleisch macht durstig!«, dachte er und schlug ein Ziel vor. »Komm, gehen wir zum Weinkeller. Der liegt abseits vom Dorf und wurde sicher nicht zerstört.«

»Gute Idee!«, grinste Lemos und die beiden begannen zu laufen.

Ein paar Baumreihen vor dem Keller stoppten sie, es war niemand zu sehen. Der Eingang lag in einem von Gras überwucherten Hügel. Leises Quietschen begleitete das Öffnen der moosüberzogenen Tür. Tarton nahm eine Fackel und entzündete sie mit Feuersteinen. Die weingetränkte Luft umschmeichelte ihre Nasen. Behutsam stiegen sie in die Kühle des Kellers hinunter.

Tarton griff nach einem der Keramikkrüge und hielt ihn unter den Zapfhahn des ersten Fasses. Die Vorfreude raubte ihm die Geduld. Bei halb vollem Krug würgte er den Hahn ab, um gleich zu probieren. »Herrlich!«

Lemos schnappte sich einen Hocker, den er an den Tisch neben den Fässern rückte, wo Tarton schon Platz genommen hatte. Beklommen prosteten sie sich zu. Es war der erste Becher Wein, den sie als Männer genossen.

»Glaubst du, dass wir kämpfen müssen? Ich habe Tiere getötet, aber noch keinem Menschen das Leben genommen«, war Lemos besorgt.

Tartons Mimik verriet Ratlosigkeit. »Vor zwei Jahren war ich mit Vater auf der Jagd nach Rehen. Wir haben sie fast bis hinunter in die Täler verfolgt. Da haben wir sechs Soldaten mit braunen Rüstungen gesehen. Auf deren schwarzen Hosen waren Metallplättchen aufgenäht. Sie trugen lange Schwerter und runde Schilde. Gegen die kommen wir nicht an.«

Lemos schaute auf seinen Becher, den er vor sich im Kreis drehte. »Die Menschen im Tal sind wie wir, nicht größer oder stärker! Unsere Vorfahren waren große Krieger. Ich glaube, wir könnten das Kämpfen lernen. Die Fremden haben unsere Familien entführt und unsere Leute ermordet! Solche Taten dürfen nicht ungestraft bleiben.«

Während sich die Burschen unterhielten, spülte der Wein die Schwere aus ihren Köpfen.

»Weißt du, was schade ist?«, piepste Tarton mit hoher Stimme. »Es ist schade, dass uns keine Mädchen begleiten. Ludmar, die Alte, könnte unsere Mutter sein.«

»Mit hübschen Frauen wäre die Reise besser!«, seufzte Lemos und schenkte noch einmal ein.

Nach ein paar weiteren Humpen und mit den Mädchen in ihren Gedanken senkten die beiden schlussendlich ihre Häupter sanft auf die Tischplatte.

Als sich der Mond schon lange hinter dem Horizont verzogen hatte, schliefen die beiden Freunde immer noch tief. Laute Rufe hallten von draußen in den Weinkeller und unterbrachen die friedliche Stille.

»Lemos! Tarton!«

Aufgeschreckt hob Lemos den Kopf. Benommen wischte er mit dem Ärmel seiner Jacke Schweiß und Rotz aus seinem Gesicht. Er rüttelte Tarton an der Schulter, der schnellte mit einem Ruck hoch. »Komm, die suchen uns!«

Träge torkelten die Freunde aus dem Keller. Das helle Licht brannte ihnen in den Augen. Ihre Beine wurden vom schlechten Gewissen angetrieben. Sie beeilten sich, zurück zu den Höhlen zu kommen.

Schon von Weitem schallten ihnen Schimpftiraden von Ludmar entgegen, als sie die Jungen durch die Baumreihen erspähte: »Ihr Nichtsnutze! Wir sollten bereits auf dem Weg sein!«

Lemos murmelte verlegen ein kurzes: »Tut uns leid!«, als sie vor Ludmar standen.

»Nehmt endlich eure Sachen!«

Die rotgesichtigen Burschen bückten sich nach zwei Rollen aus Wolldecken, in die frische Kleidung und Proviant für mehrere Tage eingewickelt war. Ludmar warf ihnen zwei Stück Hanfseile vor die Füße, welche die Burschen behäbig aufhoben, um sich die Bündel quer über den Rücken zu binden. Alles geschah vor den versteinerten Mienen der Dorfältesten.

»Seid ihr endlich fertig?«, fauchte Ludmar, die sich nicht beruhigen konnte. »Macht schon, sonst trete ich euch in den Arsch, sodass meine Fußspitze aus euren Nasenlöchern quillt.«

»Wir sind bereit!«, nuschelte Lemos und die beiden Männer rangen sich ein gequältes Lächeln ab.

Ludmar ging voraus. Die verbliebene Dorfgemeinschaft jubelte ihnen hinterher. Tarton und Lemos hatten Mühe, mit Ludmar Schritt zu halten. Die kräftige Frau mit schwarzer Wollhose und beiger Jacke tänzelte in knöchelhohen Stiefeln über den unebenen Boden. Lemos und Tarton keuchten hinterher.

Nach geraumer Zeit blieb Ludmar auf einer kleinen Lichtung stehen. Sie drehte sich um und stemmte ihre Arme in die Hüften. Sie machte keine Anstalten zu warten, wischte sich den Schweiß von der Stirn und lief weiter. Doch nach ein paar Schritten wurde sie von Trommelschlägen gestoppt, die erneut über die Berge hallten. Ludmar lauschte den Klängen, wodurch Lemos und Tarton zu ihr aufholen konnten.

»Was sagen sie?«, keuchte Lemos und schnappte nach Luft.

»Es wurden wieder Dörfer angegriffen. Viele Vollaner wurden verschleppt! Die Soldaten kommen immer wieder.« Kopfschüttelnd sackte Ludmar auf einen moosüberzogenen Felsen am Wegrand.

Mit einem Mal änderte sich die Klangfarbe der Trommeln. Ludmar streckte ihren Rücken durch und legte die Hand hinters Ohr. »Das sind die Trommeln aus Verment. Sie bitten Königin Asmara darum, eine Abordnung zu schicken.«

»Wer ist Asmara?«

Ludmar zeigte Erbarmen gegenüber der Unwissenheit der beiden und bot ihnen an, sich zu setzen. Der leichte Wind kühlte die erhitzten Leiber. »Sie ist die Königin der Kolitaten.«

Tarton interessierte das. »Wer sind die Kolitaten?«

Ludmar richtete sich mit ihren Fingern die von der feuchten Luft gekräuselten Haare über ihren eng stehenden kleinen Augen. »Die Kolitaten sind einer der vier Stämme der Vollaner. Als vor 1263 Jahren die Stammesfürsten übereingekommen sind, die Kriege zu beenden, hat Mendor dem Frieden zugestimmt. Er hat aber die Vernichtung der Waffen verweigert.« Ludmar suchte die richtigen Worte, um den Jungen einen Teil der Geschichte ihres Volkes näherzubringen. »Die Kolitaten sonderten sich von den anderen Stämmen ab und im Laufe der Zeit haben sie eine seltsame Veränderung in ihrem Aussehen erfahren.«

»Was genau ist passiert?«, stutzte Tarton und massierte seine schmerzenden Waden.

»Niemand weiß genau, was mit ihnen geschehen ist. Die Männer der Kolitaten wurden den Frauen äußerlich immer ähnlicher. Viele glaubten, dass dunkle Magie im Spiel war und dass die Kolitaten verhext worden seien. Keiner wollte mehr etwas mit ihnen zu tun haben. Sie wurden gemieden, verstoßen und als Weibsvolk beschimpft. Das hat dazu geführt, dass sie sich weit in den Süden zurückgezogen haben, wo sie ihr eigenes Königreich begründeten.«

»Das sind alles Frauen!«, unterbrach Lemos. »So hat es Vater erzählt.«

»Nein, bei denen gibt es genauso Männer«, stellte Ludmar richtig. »Die sehen nur aus wie Frauen! Nur wenn sie nackt sind, ist zu erkennen, ob sie männlich oder weiblich sind.«

»Wieso, wenn sie nackt sind?«, konnte Tarton nicht folgen, was Ludmar zum Lachen brachte und auch Lemos ansteckte.

»Ist ja gut«, murmelte Tarton und streichelte mit der Hand über sein Kinn.

»Es wird erzählt, dass sie sich zum reinen Volk der Kolitaten entwickelt haben«, erklärte Ludmar weiter. »Angeblich sind sie gegen Krankheiten immun. Bei denen wird nicht versucht, zu heilen. Wer krank wird, bringt sich um. Auf diese Weise sind Reinheit und Stärke in ihnen gewachsen. Nie hat eine Krankheit einen Kolitaten geschwächt. Deshalb wurden sie stark.«

»Ein seltsames Volk. Jetzt verstehe ich, warum niemand mit denen etwas zu tun haben will«, meinte Lemos mit nachdenklicher Mimik. »Das klingt blöd, sich gleich zu töten.«

»Das ist nicht alles!«, warf Ludmar ein. »Bis heute sollen sie die Selbsttötung praktizieren. Werden sie im Kampf verstümmelt, beenden sie ihr Leben. Ihre Alten, die ohne Hilfe anderer nicht für sich sorgen können, richten sich selbst. Nur ein Mensch in einem gesunden Körper hat in ihren Augen das Recht zu leben. Sie haben die Kampfkunst zur Vollkommenheit geführt und sind zu den gefürchtetsten Kriegern in unserer Welt geworden!«, schwärmte Ludmar mit einem verschmitzten Lächeln auf den wulstigen Lippen. »Ich habe aber noch nie einen von denen gesehen.« Sie klopfte sich auf die Schenkel und sprang hoch. »Wenn sie nach Verment kommen, sehen wir sie.«

Lemos und Tarton staunten. So viel über die Kolitaten hörten sie zum ersten Mal. Mit kraftvollen Schritten liefen die drei wieder los und folgten dem Pfad weiter in Richtung Süden. Als der Mond die Landschaft in ein leichtes Blau tauchte, hielt Ludmar Ausschau nach einem Lagerplatz. Ein Stück Wiese neben einem schmalen Bach schien gut zu sein. Ermattet und mit schmerzenden Gliedern zerrten die Burschen ihre Deckenbündel vom Rücken und ließen ihre Körper in das Gras sinken.

»Steht sofort auf! Sammelt Feuerholz!«, unterbrach die resolute Frau die kurze Pause.

Eingeschüchtert schleppten sich die beiden zum Wald.

»So, wie bei den Kolitaten die Männer den Frauen ähnlich wurden, entwickelt sich die Alte zum Mann! Ich habe gesehen, dass ihr ein paar Barthaare wachsen«, lästerte Lemos, der sich nach trockenen Ästen bückte, über Ludmar.

»Ich mag sie auch nicht!«

Mit dem Holz unter den Armen kehrten die beiden Freunde zurück und entfachten ein Feuer. Sie rollten ihre Decken aus und richteten ihre Schlafstellen neben den auflodernden Flammen ein.

»Schade, dass wir keinen Wein haben!«, seufzte Tarton.

Trotzdem zufrieden mit einem Stück Dörrfleisch zwischen den Zähnen, legten sich die Burschen hin und beobachteten den Himmel.

Ludmar schürte das Feuer. Sie spießte ein faustgroßes Stück Käse auf einen Stock, um es über den Flammen anzuschmelzen. »Wisst ihr überhaupt, dass wir heute den 297. Tag des 1263. Jahres haben? In 36 Tagen beginnt das neue Jahr. Bis dahin müssen wir wieder im Dorf sein, um es zu feiern.«

Tarton und Lemos, die nie unterrichtet wurden, konnten mit der Zahl 36 nicht viel anfangen. Bevor sie sich blamierten, war ein kurzes Nicken alles, was sie von sich gaben. Ludmar warf noch ein paar trockene Äste in das Feuer, setzte sich auf ihre Decke und verschlang den Käse. Satt legte sich schlafen.

»Die fette Alte grunzt im Schlaf wie ein Schwein!«, beschwerte sich Lemos. »Sei ruhig! Wenn sie dich hört.«

»Ich habe keine Angst vor ihr«, maulte Lemos, dabei versuchte sein Körper, eine angenehme Schlafposition zu finden.

Am nächsten Morgen rissen Ludmar die schrillen Schreie eines Rotkopfbussards aus dem Schlaf. Mit Fußtritten weckte sie die Burschen auf. »Ihr stinkt wie faules Fleisch. Wascht euch im Bach! Wenn ihr fertig seid, zieht ihr die Kleider an, die euch die Frauen in die Bündel gesteckt haben. Eure alten Gewänder verbrennen wir.«

Lemos sprang auf und machte seinem Ärger Luft. »Was bildest du dir ein? Du begleitest uns nach Verment und nicht wir dich!«

Ludmar stemmte die Arme in die Hüften, die Augenbrauen nach oben gezogen. »Ihr kennt nicht einmal den Weg nach Verment! Also macht, was ich euch gesagt habe!«

Der scharfe Ton ließ die Burschen zusammenzucken. Schweigend schlenderten sie zum Bach und reinigten ihre Leiber im kalten Wasser, bevor sie die neuen Gewänder überstreiften. Die Wollhosen kratzten, doch keiner der beiden traute sich, etwas zu sagen. Ludmar griff nach den abgetragenen Sachen.

»Halt!«, brüllte Lemos und riss ihr seine alte Hose aus der Hand.

»Warum schreist du so?«, wunderte sich Ludmar.

Hektisch durchwühlte Lemos die Taschen. Er zog die fünf Knöpfe hervor. »Das sind meine! Die hat Vater für mich geschnitzt.«

Ludmar schüttelte den Kopf und schleuderte schließlich die leer geräumte Hose in die Flammen.

Verment

Am sechsten Tag ihrer Reise keuchten die drei aus Arumat der Festung von Verment entgegen. Aus allen Richtungen strömten die Abgesandten der Dörfer und Sippen herbei.

Verment war auf einem Hochplateau erbaut worden. Die Felsplattform konnte nur an einer Stelle über einen links und rechts steil abfallenden Pass erreicht werden. Das Plateau erinnerte in seiner Form an eine bauchige Flasche, die von den Vollanern über ihren langen Flaschenhals erklommen wurde.

Auf dem mit einer grünen Haut aus Moos überzogenen ebenen Plateau verharrte trotzend eine steinerne Festung. Sie war ein Relikt aus den kriegerischen Zeiten der Vollaner. Zinnen schlossen rundherum die hohen Mauern ab und runde Wehrtürme fanden sich an allen vier Ecken. Unter den kegelförmigen Schindeldächern der Türme standen keine Wachen. Die Festungsmauern überragten die innen liegenden Gebäude, von denen ein dreigeschossiges Hauptgebäude mit schwarzem Giebeldach durch das offen stehende Burgtor zu erkennen war. Das Gemäuer war heruntergekommen. Moos und Efeu überwucherten die Außenwände bis nach oben. Vor 1263 Jahren hatten sich die Magier der vier Stämme an diesen Ort zurückgezogen. In den darauffolgenden Jahren wurden Alchemisten, Heiler und Zauberer aus ganz Morwall zusammengerufen, die hier ihre neue Heimat finden sollten und den Orden der Weisen von Morwall begründeten.

Als Ludmar, Tarton und Lemos die Felsplattform betraten, waren sie mit einem Gewusel von umherirrenden Personen konfrontiert. Unzählige Füße verwandelten das grüne Moos in braunen, morastigen Schlamm. Drei große Lager zeichneten sich ab. Es fand sich niemand, der in dem Chaos die Führung übernommen hätte. Der Kontakt zu anderen wurde vermieden. Zu groß war das Misstrauen gegenüber Fremden aus anderen Dörfern. Die Gruppe aus Arumat hielt Ausschau nach einem Platz bei den Opaten und begann damit, ein eigenes Lager einzurichten.

Lemos war fasziniert von der Burg. So ein gewaltiges Bauwerk aus Stein hatte er noch nie zuvor gesehen. »Das Tor ist geöffnet! Wann werden wir mit den Magiern sprechen?«

Ludmar drehte sich zu Lemos um. »Das Tor wurde seit über 1260 Jahren nicht mehr geschlossen. Die Burg wird von einem alten Fluch geschützt. Morana, die Mutter der Furryen, hat ihn über die Festung gelegt. Jedem, der die Burg ohne die Aufforderung der Magier betritt, drückt der Fluch das Leben aus dem Leib.«

»Wer sind die Furryen?«, schreckte Tarton auf.

»Das sind mächtige Hexen mit unvorstellbarer Zauberkraft«, wusste Ludmar. »Morana führte sie an. Sie scharte Mädchen um sich, auf die sie ihre Kräfte übertrug. Sie wurden auch Töchter Moranas genannt. Furryen zogen mit den Soldaten in die Schlacht. Nach den Legenden verwandelten sie einen schlichten Holzstock in eine Lanze oder in einen Speer. Um die Taille trugen sie Maranta, eine schwarze Schlange mit leuchtend weißen Augen. Sie schlängelte sich über den Arm und verwandelte sich in den Händen der Furryen zu einem Bogen. Pfeile, die sie davon abschossen, teilten sich in der Luft auf Hunderte vergiftete Pfeile auf, die erbarmungslos auf ihre Gegner niederprasselten.«

Lemos stand der Mund offen. »Was ist mit den Hexen passiert?«

Ludmar fuhr die kalte Luft in die Glieder, und bevor sie weiterredete, bückte sie sich nach einer Wolldecke und bedeckte ihre Schultern damit. »Nach dem großen Frieden haben sich alle Furryen nach Verment zurückgezogen, auch die der Kolitaten. In Friedenszeiten wurden sie nicht gebraucht und keine neuen Hexen ausgebildet. Die Alten sind seit Jahrhunderten tot. Heute gehört dieser Ort den Weisen von Morwall. Die Mitglieder des Ordens leben hier abgeschieden. Sie werden von den Leuten aus den umliegenden Dörfern mit Nahrung und allem sonst Notwendigen versorgt. Deshalb können sich die Ordensmitglieder dem Studium der alten Schriften, der Alchemie und der Zauberei widmen.«

»Wie kann jemand diesem Orden beitreten?«, war Lemos neugierig.

»Stirbt eines der 53 Mitglieder, wird am 66. Tag darauf ein Dorf ausgewählt, das dem Orden das nächste Neugeborene schenken darf. Das ist eine große Ehre.«

»Die sperren Kinder hier ein?« Tarton regte sich auf und er fragte: »Ist aus Arumat ein Kind hergebracht worden?«

»Ja, vor ungefähr 160 Jahren!«

Lemos und Tarton schämten sich für ihre Unwissenheit und wandten sich von Ludmar ab.

Die Weisen von Morwall

Über der Balustrade der Festung oberhalb des Torbogens zerrte der Wind an einem Banner. Auf grünem Hintergrund schwebte eine weiße Hand schützend über einem grauen Gebirgszug. Unter dem heftig flatternden Wappen von Verment fanden sich Samora, Ramol und Theron ein, die aus der Mitte der Weisen gewählten Ordensführer. In bodenlangen purpurnen Wollmänteln und mit weißen Fellmützen tief in die Stirn gedrückt, musterten sie die Lage vor der Festung.

»Viele sind gekommen!«, raunte Ramol, ein groß gewachsener Mann von kräftiger Statur. »Die können wir unmöglich alle empfangen.«

Samora beugte sich vor durch die Zinnen. Sie stützte ihre Hände auf die verwitterte Steinmauer und verschaffte sich einen Überblick. »Der Norden von Morwall ist groß. Fast täglich melden die Trommeln neue Überfälle. Das Volk hat Angst!«

»Nach Generationen des Friedens können sie mit der Bedrohung nicht umgehen. Sie suchen Rat«, meinte Ramol.

»Wissen wir, was zu tun ist?« Theron war skeptisch und kraulte seinen Bart am Kinn.

Samora sah Theron streng in die Augen. »Es ist unsere Aufgabe, eine Lösung zu finden!«

»Wann haben die Weisen schon jemals über eine Sache entschieden?«, seufzte Theron, der daran zweifelte, dass der Rat eine Entscheidung treffen würde. »Vielleicht hören die Überfälle von selbst wieder auf.«

»Willst du tatenlos zusehen, wie Soldaten aus Godina unser Volk verschleppen? Was machen sie mit ihnen?«, widersprach Ramol scharf. »Die Vollaner waren einst ein stolzes Volk und hatten mächtige Kriegsheere. Seht euch die prächtigen Gemälde in der Ratshalle an, dann wisst ihr, wovon ich spreche!«

»Diese Zeiten sind lange vorbei!«, entgegnete Samora. »Die Menschen da unten sind keine Krieger.«

»Was werden wir ihnen raten?«, warf Theron ein und vergrub die Hände vor der Kälte schützend tief in die Taschen seines Mantels. »Sollen sie sich bewaffnen und Widerstand leisten? Oder sich weiter oben in den Bergen verstecken?«

Die Lider über Samoras dunklen Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Die Ahnen haben bestimmt, dass die Vollaner in Frieden leben. Sie sollen nicht kämpfen!«

»Das kann nicht der Wille der Ahnen sein!«, unterbrach Theron streng. »Ein ganzes Volk soll sich erniedrigen und töten lassen, nur um eine Konfrontation zu vermeiden?«

Ramol atmete tief ein. »Wir können sie nicht weiter hinauf in die Berge schicken. Dort oben sind die Böden karg, die würden alle verhungern.«

»Die Entscheidung darüber liegt nicht bei uns!«, stöhnte Samora und wandte sich von den beiden ab. »Die Ahnen müssen entscheiden! Ich werde sie befragen.« Sie ließ ihren Blick bedächtig über den Platz vor der Festung schweifen. »Ich brauche drei Auserwählte. Von jedem Stamm einen. Durch sie werden die Heiligen mit mir sprechen.«

»Du hast recht. Grimwal, Waltron und Erwik sollen entscheiden«, bestätigte Ramol mit einem verlegenen Schmunzeln. »Aber seht sie euch an, wie sie kopflos herumirren. Wie sollen die sich auf einen aus ihrer Mitte einigen?«

»Dann müssen wir die Auswahl treffen!«, forderte Samora schroff. »Bringt mir von jedem Stamm einen kräftig gebauten Mann. Ich bereite im Garten der Ahnen alles für das Ritual vor.« Ramol und Theron nickten mit versteinerten Mienen. »Erst wenn wir den Willen unserer Vorfahren kennen, sprechen wir zum Volk«, entschied Samora. »Lasst uns beginnen! Die Vollaner erwarten unseren Rat.«

Die drei Magier stiegen von der Burgmauer. Über eine Wendeltreppe im rechten Wehrturm erreichten sie den Burghof. Samora huschte über das Steinpflaster und verschwand durch eine schlichte Eichenpforte im mittleren Teil des Hauptgebäudes. Ramol und Theron begaben sich zum Burgtor. Als sie durch den Torbogen schritten, blieb das von den vor der Festung lagernden Menschen nicht unbemerkt. Die zwei Weisen schritten langsam hinaus. Dutzende Augen hafteten gespannt an ihnen. Die Magier vermieden es, zu weit vor die Burg zu treten. Sie wollten sich ihre braunen Lederstiefel nicht mit Morast beschmutzen und ließen die Wartenden auf sich zukommen.

»Es ist uns eine große Freude, euch in Verment zu begrüßen!«, rief Ramol in die Menge, die näher kam. »Unser friedliches Zusammenleben wurde gestört! Die Weisen wurden angerufen!« Die beiden Ordensmitglieder waren von Menschen umzingelt. »Drei Männer sollen uns in die Festung begleiten. Sie werden Zeugen sein, wenn Samora, die große Magierin, mit den Stammesfürsten Grimwal, Waltron und Erwik in Verbindung tritt, um deren Rat zu erbitten.«

»Wer von euch möchte mit uns kommen?«, brüllte Theron los.

Anfangs zwar etwas zögerlich, reckten sich dann doch ein paar Arme in die Höhe. Ramol musterte die Tätowierungen, die ihm die Stammeszugehörigkeit verrieten. Er schritt die vorderste Reihe ab. Mit einem Klaps auf die Schulter wählte er drei Männer aus. Begleitet von den staunenden Blicken der zurückweichenden Menschentraube, führten die Weisen die drei Auserwählten vor das Burgtor. Sie gaben den Männern ein Zeichen zu warten. Ramol und Theron durchschritten den Torbogen, drehten sich um und baten die drei in die Festung. Die groß gewachsenen Männer in zerlumpter Kleidung trotteten den Weisen hinterher.

Samora empfing die Auserwählten mit zwei Gehilfen vor dem Eingang zum Hauptgebäude. »Das sind Reha und Mandal. Bitte folgt ihnen in das Badehaus. Ihr müsst euch reinigen und euer Gewand wechseln«, instruierte sie die Männer mit einem süßen Lächeln auf den vollen Lippen. »Meine Gehilfen führen euch danach hinaus zu mir in den Garten der Ahnen.« Die Männer warfen sich gegenseitig Blicke zu, folgten aber wortlos den Anweisungen.

Die Ordensführer begaben sich derweil in die Ratshalle. Dort warteten die anderen sechs Ratsmitglieder, alle mit purpurnen Wollmänteln und weißen Fellmützen bekleidet. Die rund ausgeführte Halle wurde durch Dutzende ovale Fenster in der darüberliegenden Kuppel erhellt. Von den Wänden strahlten farbenprächtig arrangierte Mosaikbilder mit Kampfszenen aus den kriegerischen Zeiten der Vollaner. Im Zentrum bildeten neun gleich gestaltete Kapuzenstühle aus dunklem Eichenholz einen Halbkreis. Der Rat der Weisen von Morwall nahm Platz. Samora berichtete über ihre Entscheidung, die Ahnen zu befragen. In den Stühlen lehnend, mit gekreuzten Armen über ihren Bäuchen, lauschten die Magier den Ausführungen.

»Sind alle damit einverstanden?«, fragte Samora abschließend mit einem sanften Ton. Es gab keine Wortmeldung. Die Weisen beugten sich nach vorne und gaben der Ordensführerin ihre Zustimmung durch ein Nicken. Dabei blieben sämtliche Blicke an Samora haften. Als sie aufstand, schnellten auch die übrigen Weisen aus den Stühlen. Die Anspannung entwich aus ihren Gesichtern. Eilig entfernten sie sich aus dem Saal, froh darüber, dass keine wirkliche Entscheidung getroffen werden musste.

Samora, Theron und Ramol schlenderten durch einen langen Gang in den hinteren Teil der Festung, wo sie ins Freie gelangten. Ihr Ziel war der Garten der Ahnen.

Zwischen tristen Steinwänden hielt sich ein modriger Geruch. Anstelle von sattem Grün war alles mit stark verwitterten Steinplatten zugepflastert. In der Mitte standen vier kniehohe Holzkisten, die statt eines Deckels ein großmaschiges Eisengitter zur Abdeckung hatten. Durch das Gitter wuchsen mehrere fingerdicke Pflanzenstiele. Eine der mannslangen Kisten war vom Unkraut bedeckt, die anderen drei wirkten gepflegt. Dahinter erhob sich ein quadratischer Steinblock, der als Altar diente. Samora legte ihre Fellmütze darauf ab. Ein Lederband aus der Seitentasche ihres Mantels fixierte ihre bis zur Hüfte wallenden schwarzen Haare zu einem Zopf.

Theron bereitete eine Kanne mit Wein und drei Becher am Altar vor. Ramol zog ein Messer aus der Innentasche seines Mantels und reichte es Samora. Sie machte sich daran, die hölzernen Pflanzenstiele in den Kisten zu kürzen. Gekonnt führte sie die Klinge und verpasste den Stielen eine pyramidenförmige Spitze, die exakt mit der Höhe der Eisengitter abschloss.

Mandal führte die drei Vollaner in den Garten. Die Auserwählten trugen eine über die Knie reichende weiße Leinenschürze, an der lange Ärmel angenäht waren, in denen ihre Arme steckten. Mit einem Band um den Hals und um die Hüfte war sie festgebunden. Die Männer drängten sich dicht zusammen. Sie fühlten sich unwohl. Ihre Rückseite präsentierte sich vom Nacken abwärts gänzlich unbedeckt.

Samora trat ihnen gegenüber. Wortlos reichte sie den Männern die mit Wein gefüllten Becher vom Altar. »Das ist der Wein des Vergessens. Trinkt! Er wird euren Geist reinigen. Ihr werdet die Botschaft der Ahnen frei von alten Gedanken empfangen.« Sie streichelte den drei nacheinander über die Köpfe und flößte ihnen den Trunk ein.

Die Flüssigkeit tat schnell ihre Wirkung und vernebelte die Erinnerungen der Männer. Sie löschte ihr ganzes Leben aus dem Gedächtnis. Die Augen erstarrten, die Gesichter versteinerten. Die Männer reagierten einzig und allein auf die Stimme Samoras. Ohne Widerstand ließen sie sich mit mehreren breiten Riemen rücklings auf dem Eisengeflecht über den Kisten festschnallen.

Die Magierin stellte sich hinter die drei. Sie bückte sich nach einer Handvoll Erde und hielt sie mit ausgestrecktem Arm in den Himmel. »Diese Erde spende Golema, dem heiligen Gewächs, die Kraft zu wachsen. Grimwal, Waltron und Erwik, ich schicke euch diese drei Seelen! Durch sie werde ich eure Botschaft empfangen.« Sie streute die Erde über die drei gefesselten Körper, die ohne jegliche Regung der Dinge harrten.

Samora legte den purpurnen Mantel ab, entledigte sich der übrigen feinen Seidenkleider und kauerte sich nackt auf den Altar. Die angewinkelten Beine mit beiden Armen fest umklammert, die Stirn zwischen die Knie gestützt, verfiel sie in Trance.

»Wie lange wird es dauern?«, erkundigte sich Ramol, der das erste Mal dem Ritual beiwohnte.

»Das braucht schon seine Zeit, bis sich Golema den Weg durch das Fleisch der Opfer bahnt. Sie wird dort so lange bewegungslos sitzen, bis sie die Botschaft der Ahnen empfangen hat.«

Während die beiden miteinander sprachen, begann Golema, sich aus der dunklen Erde zu nähren, und bohrte sich langsam in das Fleisch der drei Männer.

»Werden sie sterben?«, wollte Ramol wissen, als er mit Theron in das Gebäude zurückging.

»Ja«, antwortete Theron schroff, »das lässt sich nicht vermeiden, wenn jedem von ihnen fünf Stöcke durch den Körper wachsen.«

Die Zukunft der Lebenden

Die Menschen vor der Burg verfielen in Tristesse und Unmut breitete sich aus. Niemand, außer den drei Männern, war bisher hineingebeten worden und von denen war keiner mehr zurückgekehrt.

»Auf was warten wir?«, quengelte Lemos und setzte sich neben die Feuerstelle. »Ständig hören wir von neuen Überfällen.«

Ludmar saß auf ihrer Wolldecke und ärgerte sich. »Es ist eine Frechheit, uns in diesem Dreck verweilen zu lassen! Vater hat immer gesagt, die Weisen wüssten für alles eine Lösung.«

Tarton saß am Boden und wärmte seine Hände am Feuer. »Wann wurden die Weisen zum letzten Mal angerufen?«

»Puh!«, schnaubte Ludmar. »Ich weiß es nicht. Solange ich lebe, kann ich mich nicht erinnern, dass die Weisen jemals über etwas entschieden hätten. Ich war noch nie hier. Verment kenne ich nur aus den Geschichten von Kamal.«

Im Wirrwarr des Lagergeplänkels knirschte Holz und klapperte Metall, unzählige Stimmen plapperten durcheinander.

Doch plötzlich schnappte Lemos etwas auf, das sich von den anderen Geräuschen abhob. »Seid still!«, fauchte er Ludmar und Tarton an. Dabei fuchtelte er aufgeregt mit den Armen. Er stand auf und legte die Hand hinter sein Ohr. »Da schreit doch jemand?«

Tarton, der auf seiner Decke lümmelte, erhob sich. »Ich höre nichts.«

Ludmar, die etwas Mühe hatte, ihren beleibten Körper aufzurichten, lauschte ebenfalls. »Ja, du hast recht. Da schreit jemand. Ich kann es deutlich hören.«

Lauter werdende, schmerzerfüllte Schreie rüttelten auch die anderen auf. Die Geräusche des Lagers verstummten, Gespräche wurden unterbrochen. Blicke richteten sich auf die Festung aus, von wo das gequälte Wehgeschrei zu ihnen drang. Verstärkt durch Nebelschleier, die über das Lager zogen, breitete sich eine unheimliche Atmosphäre über das gesamte Plateau aus. Stumm lauschten die Menschen dem Geheule, dessen Herkunft niemand richtig deuten konnte.

Dann aber lenkte das Geklapper von Hufeisen die Vollaner ab. Über den schmalen Pfad trabten hintereinander vier Schwarzhornpferde herauf. Schlanke weibliche Geschöpfe in den Sätteln zügelten sie. Im Schritt führten sie die Tiere vorbei an der neugierigen Meute. Vor dem Eingang zur Festung fächerten sich die Reiter auf.

»Kolitaten!«, »Kolitaten!«, raunte es durch die Menge.

Plötzlich schwenkten schlagartig alle Blicke wieder auf das Ende des Pfades. Von dort war ein dumpfes Stampfen und Scheppern von schweren Ketten zu hören. Etwas sehr Großes kam da den Weg herauf. Die Vollaner erschraken und wichen vor diesem Ungetüm zurück. Ein Monstrum von einem Wolkenbären mit dunkelblauen Augen und weißem, gekräuseltem Fell tapste an verunsicherten Mienen vorbei. Eine feminine Gestalt am Rücken des Raubtieres führte es neben die vier Pferde. Neugierige Blicke klebten an dem Bären, dessen breiter Kopf die Rösser überragte.

Zwei der Reiter stiegen ab. Sie öffneten die silbern glänzende Fibel am Hals und streiften sich den weiten Wollumhang mit Kapuze vom Körper, den sie auf die gut eingerittenen Sättel warfen. Ein fingerbreiter silberner Reif glänzte quer über ihrer Stirn. Die vier oder fünf am Stirnreif befestigten Metallkettchen waren mit den schneeweißen Haaren über dem Kopf zu einem festen Zopf verflochten. Die Knäufe ihrer Schwerter, die sie am Rücken in gekreuzten Lederscheiden trugen, ragten über die Schultern.

Lemos, Tarton und Ludmar drängten sich nach vorne, um besser zu sehen.

»Sind das Kolitaten? So wunderschöne Frauen habe ich noch nie gesehen.« Tarton war begeistert. »Das sind doch Frauen? Oder sind da auch männliche Kolitaten dabei?« Er starrte auf die eng anliegenden, aus schwarzem Leder gefertigten Hosen im Schritt.

Ludmar beobachtete ihn. »Glotz nicht so!«

»Schau auf ihre ledernen Brustpanzer mit der schmalen Taille. Der ist bei allen mit weiblichen Brüsten ausgefüllt. Ich glaube, das sind Frauen«, legte sich Tarton fest.

Ludmar rollte mit den Augen. »Bei denen haben auch die Männer weibliche Brüste und eine schmale Taille.«

»Wie viele Waffen sie tragen«, fiel Lemos auf. »Seht, sogar in den Reitstiefeln stecken zwei Messer.«

»Alle Vollaner waren früher so bewaffnet, aber das ist sehr lange her«, erklärte Ludmar wehmütig. »Genauso müssen wir uns wieder bewaffnen.«

»Könnten Tarton und ich Soldaten werden?«, machte sich Lemos wichtig. »In einer Rüstung auf einem Pferd zu reiten, das würde die Mädchen beeindrucken.«

»Was wisst ihr schon! Dass aus euch zwei Tollpatschen gute Krieger werden, kann ich mir nicht vorstellen.«

»Können wir alles lernen«, räumte Lemos ein und stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser zu sehen.

»Das lange Warten ist zermürbend«, jammerte Ludmar. »Vielleicht bewirkt die Ankunft der Kolitaten etwas.«

Zwei der Krieger schritten zum offen stehenden Tor. Die Menschen, die sich um sie drängten, wollten sie aufhalten. Einige fuchtelten mit den Armen und schrien: »Ihr könnt da nicht hinein! Der Fluch! Ihr werdet sterben!«

Einer der Kolitaten drehte sich um. »Uns passiert nichts!«, hallte es in ruhigem Ton zurück. »Mea ne mafei ona tatau ote!«

»Was bedeutet das?«, zappelte Tarton ungeduldig.

»Das ist ihr Kodex in der alten Sprache der Vollaner.« Ludmar verstand die Worte. »Es bedeutet so viel wie: ‚Was nicht fähig ist zu leben, muss sterben!‘«

»Was ist das für ein Volk?«, wunderte sich Lemos.

»Gerade durch ihren Kodex haben sie so einen starken Zusammenhalt erfahren«, verteidigte Ludmar die Kolitaten. »Jeder muss in der Lage sein, für sich selbst zu sorgen. Keiner darf die Gemeinschaft durch eigene Schwäche belasten. Seht euch unsere Alten an. Können nicht mehr allein essen. Scheißen und pissen sich voll! Was für eine Belastung, sich dauernd um diese Krüppel kümmern zu müssen. Die Kolitaten machen das schon richtig. Mehr als dein Leben zum Wohle aller anderen zu opfern, kannst du für dein Volk nicht machen.«

Tarton und Lemos teilten Ludmars Ansichten nicht, trauten sich aber nicht zu widersprechen.

Furchtlos und mit strengem Schritt traten die zwei Kolitaten in die Festung ein. Kurz nach Durchqueren des Tores krümmten sich beide plötzlich zusammen, als verspürten sie starke Schmerzen im Bauch. Doch nur kurze Zeit später standen sie wieder aufrecht. Einen Herzschlag lang erschien ein schemenhaft verzerrter Frauenkopf, der mit einem kräftigen Windstoß von den beiden entwich.