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1413. Ganz Aachen ist in Aufruhr: Am Todestag Karls des Großen soll die neue Chorhalle des Doms eingeweiht werden. Doch eine Serie mysteriöser Mord- und Unfälle überschattet die Vorbereitungen zu dem Ereignis. Ausgerechnet der angesehene Goldschmied Bardolf Goldschläger gerät in Verdacht. Seine Stieftochter, die Reliquienhändlerin Marysa, nimmt die Spur des Täters auf. Dabei kommt sie einer Verschwörung auf die Spur, die bis in die allerhöchsten Kreise reicht. Dort ist man nicht gewillt, sich die ehrgeizigen Pläne durchkreuzen zu lassen: Marysa gerät in Lebensgefahr …
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Seitenzahl: 425
Petra Schier
1413. Ganz Aachen ist in Aufruhr: Am Todestag Karls des Großen soll die neue Chorhalle des Doms eingeweiht werden. Doch eine Serie mysteriöser Mord- und Unfälle überschattet die Vorbereitungen zu dem Ereignis. Ausgerechnet der angesehene Goldschmied Bardolf Goldschläger gerät in Verdacht.
Seine Stieftochter, die Reliquienhändlerin Marysa, nimmt die Spur des Täters auf. Dabei kommt sie einer Verschwörung auf die Spur, die bis in die allerhöchsten Kreise reicht. Dort ist man nicht gewillt, sich die ehrgeizigen Pläne durchkreuzen zu lassen: Marysa gerät in Lebensgefahr …
Petra Schier, Jahrgang 1978, lebt mit ihrem Mann und einem Schäferhund in einer kleinen Gemeinde in der Eifel. Sie studierte Geschichte und Literatur und arbeitet mittlerweile freiberuflich als Lektorin und Schriftstellerin.
Mehr Informationen zur Autorin unter www.petralit.de.
Weitere Veröffentlichungen:
(die historischen Romane um die Apothekerstochter Adelina)
Tod im Beginenhaus
Mord im Dirnenhaus
Verrat im Zunfthaus
(aus der Romanreihe um die Reliquienhändlerin Marisa)
Die Stadt der Heiligen
sowie
Die Eifelgräfin
Aber ich gehe ins Gericht mit dir,
weil du sagst:
Ich habe mich nicht versündigt.
Wie kannst du nur so leicht bereit sein,
deinen Weg zu wechseln!
(JEREMIA 2, 35–36)
Es gibt nichts Verborgenes,
das nicht offenbar wird,
und nichts Geheimes,
das nicht bekannt wird
und an den Tag kommt.
(LUKAS 8, 17)
Markt am Adelheidispützchen, Bechlinghoven bei Bonn 19. September Anno Domini 1413
Über dem Lager der Gaukler lag der erste Hauch der Morgendämmerung. Noch funkelten am dunkelblauen Himmel die letzten Sterne, doch im Osten erschien bereits ein erster heller Streifen, der sich alsbald rötlich färben würde.
Das Gras unter Christophorus’ Füßen war nass vom Tau. Er stieg in den kleinen Bach und wusch sich gründlich. Trotz der frühen Stunde waren auch die anderen Mitglieder der Truppe schon auf den Beinen. Gizella, die Anführerin, war bereits dabei, das Feuer zu entfachen. Ihr Gefährte Winand und der hünenhafte Feuerkünstler Vico hatten begonnen, die Habseligkeiten der Gaukler zusammenzutragen und auf dem vierrädrigen Karren zu verstauen, denn nach der Frühmahlzeit wollten sie aufbrechen.
Nicht weit von Christophorus entfernt, hockten Gizellas Tochter Estella und die Französin Manon am Ufer des Baches und schrubbten die Teller, Schüsseln und Becher vom Abendessen.
Estella winkte und lächelte fröhlich; Christophorus nickte und zwinkerte ihr zu, was die junge Akrobatin zum Lachen brachte. Sie hatten in der vergangenen Nacht das Lager geteilt, doch um seinen guten Ruf als Ablasskrämer zu wahren war Christophorus zwei Stunden nach Mitternacht wieder zurück unter seine eigenen Decken gekrochen. Manchmal bedauerte er diese Heimlichkeiten, denn er mochte Estella wirklich gern. Andererseits hatte er ja gar nicht vor, sich offen zu ihr zu bekennen. Ihm gefiel sein freies und ungebundenes Leben – nicht umsonst gab er sich schon seit Jahren als Dominikanermönch aus. Diese Verkleidung, zusammen mit seinem außerordentlichen Talent, Schriften, Siegel und Urkunden zu fälschen, hatten ihm so manche Tür geöffnet und einträgliche Geschäfte verschafft.
Nur eines vermied er: Seit der Geschichte in Aachen vor über einem Jahr trat er nirgendwo mehr als Vertreter der Heiligen Römischen Inquisition auf. Zwar besaß er mehrere eindrucksvolle Dokumente, unter anderem auch eine gesiegelte päpstliche Bulle, die ihn legitimierte – natürlich von ihm höchstselbst angefertigt –, doch erschien ihm diese Maskerade inzwischen als zu gefährlich. Deshalb hatte er, kurz nachdem er im vergangenen Jahr Aachen verlassen hatte, eine weitere Urkunde angefertigt, die ihn offiziell aus dem Dienste der Inquisition entließ.
Während er sich abtrocknete und wieder in sein Habit schlüpfte, dachte er kurz an die Umstände, die ihn im vergangenen Jahr in die Stadt Karls des Großen geführt hatten. Manchmal vermisste er Aldo, seinen guten Freund und Gefährten auf der Pilgerreise nach Santiago de Compostela, noch immer schmerzlich. Ihm hatte er am Totenbett gelobt, sich um dessen Mutter und Schwester zu kümmern. Ob ihm das wirklich gelungen war, bezweifelte Christophorus jedoch.
Merkwürdig, überlegte er, dass er gerade heute wieder an die Vorfälle während der Aachener Heiltumsweisung denken musste. Vielleicht lag es daran, dass der Jahrmarkt, der gerade hinter ihnen lag, ebenfalls an einer Pilgerstätte stattgefunden hatte. Alljährlich im September zogen unzählige Wallfahrer zu dem kleinen Pützchen bei Bechlinghoven, der Quelle, die an der Stelle entsprungen war, wo die heilige Adelheidis einst in Zeiten einer großen Dürre einen Stab in die Erde gerammt und damit die Bauern der Umgebung vor großem Schaden bewahrt hatte. Gewiss, mit der Aachenfahrt konnte sich dieser Jahrmarkt nicht messen, dennoch hatte Christophorus auch hier mit seinen Ablassurkunden gute Geschäfte machen können.
Als er zu der Feuerstelle zurückkehrte, saßen die anderen bereits im Kreise beisammen, und Gizella schlug Eier in eine schmiedeeiserne Pfanne. Der Duft von Brot, das in der Glut knusprig braun röstete, lag in der Luft.
Dankbar nahm Christophorus von Manon eine Holzschale sowie einen Becher mit dem Most aus Sommeräpfeln entgegen und setzte sich ebenfalls.
«Da kommt Heinrich!», rief Estella und deutete auf einen jungen Mann in abgetragenen Kleidern, der auch zu den Gauklern gehörte.
Gizella richtete sich auf und blickte in seine Richtung. «Es scheint, als habe er gute Nachrichten.» Sie bedeutete Heinrich, sich zu ihnen zu setzen. «Nun, was hast du in Erfahrung bringen können?»
Heinrich nahm sich ein Stückchen von dem gerösteten Brot und warf es, da es noch heiß war, von einer Hand in die andere. «Ich war bei Friedmund und seiner Gruppe, danach noch kurz bei den umherziehenden Weibern», berichtete er mit einem verlegenen Seitenblick auf Estella. «Überall hört man das Gleiche. Alle wollen im Winter nach Aachen ziehen. Zur Einweihung der neuen Chorhalle soll eine kleine Winterkirmes stattfinden, und ganz sicher wird die Stadt von Pilgern nur so wimmeln.»
Gizella nickte. «Aachen wäre auch für uns kein schlechter Ort zum Überwintern. Was meinst du, Winand?» Sie schaute ihren Gefährten fragend an.
Winand hob die Schultern. «Meinetwegen gerne. Aber wir sollten nicht zu spät dorthin aufbrechen, sonst müssen wir wieder vor den Stadttoren nächtigen, weil uns die anderen Schausteller die besten Plätze schon weggeschnappt haben.»
«Du hast recht», stimmte Gizella zu. «Aber vor dem Spätherbst wird trotzdem nichts daraus. Wir haben noch einige Jahrmärkte vor uns. Den Lukasmarkt in Mayen will ich auf keinen Fall verpassen.» Aufmerksam blickte sie in die Runde. «Was sagt ihr dazu?»
Die anderen nickten zustimmend. Gizella nahm einen hölzernen Spatel und wendete die Eier in der Pfanne. «Also gut, dann wäre das abgemacht. Nach dem Lukasmarkt ziehen wir in Richtung Aachen.»
Rasch verteilte sie die Eier auf die Holzschalen, dann wandte sie sich an Christophorus: «Kommst du mit uns?»
Christophorus antwortete nicht sofort, sondern stocherte mit dem Messer in seinem Essen herum. Er dachte an Marysa Markwardt, die Schwester seines Freundes Aldo, die in Aachen lebte und vielleicht nicht eben erfreut sein würde, ihn wiederzusehen. Unwillkürlich wanderte seine linke Hand zu dem silbernen Kreuzanhänger, den er an einer Kette um den Hals trug. Schließlich hob er den Kopf und nickte. «Ja, Gizella, ich denke, ich werde euch nach Aachen begleiten.»
Aachen 2. November Anno Domini 1413
Marysa hielt der pausbäckigen Amme Geli die Tür auf und betrat nach ihr das Haus ihrer Mutter in der Kockerellstraße. Dem Knecht Tibor, der ihnen geöffnet hatte, drückte sie einen Korb voller rotwangiger Äpfel in die Hände. «Hier, bring die zu Orsolya in die Küche. Sie wird gewiss ihren guten Apfelwein daraus machen wollen», sagte sie mit einem Lächeln. «Wenn sie noch mehr Äpfel benötigt, soll sie es mir ausrichten lassen. Unsere beiden Bäume tragen dieses Jahr besonders reichlich.»
Tibor strahlte sie an. «Danke, Frau Marysa, das ist sehr aufmerksam von Euch. Ich sollte …» Als aus den Wohnräumen eine zornige weibliche Stimme erklang, verstummte er augenblicklich und zog den Kopf zwischen die Schultern. «Verzeiht», murmelte er verlegen. «Frau Jolánda ist verärgert.»
«Verärgert?» Marysa schmunzelte. Es hörte sich eher nach einem der berüchtigten Wutanfälle ihrer Mutter an. Sie wandte sich an die Amme. «Leg Éliás in seine Wiege. Nach dem langen Spaziergang dürfte er ruhig schlafen.» Dann ging sie ein paar Schritte auf die Tür zur Wohnstube zu, zögerte jedoch, sie zu öffnen, als ihr erneut ein Wortschwall entgegenkam.
«Wirf ihn hinaus, hab ich gesagt. Hab ich das nicht gesagt? Dieser Barom hat doch nichts Besseres zu tun, als sich in unsere Angelegenheiten einzumischen. Warum hast du ihm nicht gesagt, dass er uns ein für alle Mal in Ruhe lassen soll?»
Eine leise und beherrschte Stimme antwortete etwas, und Marysa lächelte amüsiert. Im nächsten Moment zeterte Jolánda weiter: «Sein Recht? Das darf doch wohl nicht wahr sein. Gazember! Átkozott!», fluchte sie. «Ich will ihn hier nicht mehr sehen! Ich wünsche ihm die Rüh an den Leib!» Etwas klirrte, dann war wieder die ruhige Stimme zu vernehmen. Wenige Augenblicke später öffnete sich die Stubentür, und Bardolf Goldschläger, Marysas Stiefvater, trat in den kleinen Flur. Als er Marysa erblickte, lächelte er herzlich und zog die Tür zu, hinter der Jolánda noch immer Gift und Galle spuckte.
«Marysa, meine Liebe, du bist schon wieder zurück? Wolltest du nicht mit Éliás spazieren gehen?»
Marysa schaute ihn fröhlich an. «Das war ich auch, aber der Regen hat uns zurückgetrieben. Immerhin haben wir es bis zum Büchel geschafft. Ich habe Orsolya einen Korb mit unseren guten Äpfeln mitgebracht.»
«Wunderbar!» Bardolfs Miene hellte sich noch weiter auf. «Dann gibt es bald ihren guten Apfelwein, will ich meinen.» Er seufzte. «Vielleicht beruhigt die Aussicht darauf deine Mutter ja ein bisschen.»
Marysa legte ihm mit einem mitfühlenden Blick eine Hand auf den Arm. «Warst mit dem Schweinehund, der die Krätze verdient hat, eben du gemeint?»
Bardolf wirkte einen Moment lang irritiert, doch dann lachte er leise. «Das hast du gehört? Nein, glücklicherweise war ich diesmal nicht die Ursache für das Gewitter.» Er wurde wieder ernst. «Hartwig war vorhin hier.»
Marysa runzelte die Stirn. «Was wollte er?»
«Was er immer will.» Bardolf seufzte erneut. «Er liegt uns schon seit Wochen in den Ohren, dass er dich mit seinem Gesellen Gort zu verheiraten wünscht.»
«Gort Bart?» Unwillig verzog Marysa das Gesicht. «Der ist wirklich ein Barom, ein blöder Hund! Er ist ungewaschen und kann nicht einmal während der Heiligen Messe aufhören, den Weibern nachzugaffen. Ausgerechnet den soll ich heiraten?» Auch Marysas Stimme war nun bedrohlich scharf geworden.
Bardolf hob beschwichtigend beide Hände. «Bitte, Marysa, nun fang du nicht auch noch an. Hab Erbarmen mit einem armen Mann!»
Marysa beruhigte sich wieder, und um ihre Mundwinkel zuckte es. «Was hast du zu Hartwig gesagt?»
Erleichtert, dass sich wenigstens das zweite Ungewitter verflüchtigt hatte, antwortete er: «Das, was ich ihm immer wieder sage. Als Stiefvater habe nur ich das Recht, mich um deine Vermählung zu kümmern. Und dementsprechend werde auch ich allein bestimmen, wer das Vergnügen haben wird, dein Gemahl zu werden.»
Marysa schnaufte leicht empört, rang sich aber zu einem Lächeln durch. «Und wer wird das sein?»
Bardolf tätschelte ihr die Wange. «Niemand, den du nicht willst, und auch erst dann, wenn du bereit dazu bist, mein Kind. Jetzt muss ich los, man erwartet mich in der Chorhalle.»
«Habt ihr schon mit der Vergoldung der Schlusssteine begonnen?»
Bardolf, der schon fast aus der Tür war, drehte sich noch einmal um. «Heute früh hat Piet mit dem ersten Stein angefangen. Aber wie ich vorhin hörte, gibt es Ärger, weil auch die Maler auf das Gerüst wollen.» Er verdrehte die Augen. «Wenn man sich nicht um alles selbst kümmert …» Zum Abschied hob er kurz die Hand. «Sieh dich vor, wenn du in die Stube gehst. Die Furie könnte noch immer Feuer spucken.»
Marysa kicherte und sah ihrem Stiefvater voller Sympathie nach. Bardolf Goldschläger war ein gut aussehender Mann Ende dreißig, dessen dichtes blondes Haar an den Schläfen bereits leicht ergraute. Im vergangenen Sommer war er von einer langen Wanderschaft nach Aachen zurückgekehrt, um die Goldschmiede seines verstorbenen Vaters zu übernehmen. Damals begegnete er der noch recht jungen Witwe des Schreinbauers Gotthold Schrenger und war ihrer Schönheit, aber auch ihrem aufbrausenden ungarischen Temperament sofort erlegen. Noch im September desselben Jahres hatte die Hochzeit stattgefunden, und Marysa erfreute sich an ihrer tiefen und innigen Liebe, jedes Mal, wenn sie die beiden zusammen sah.
Sie wollte gerade die Tür zur Stube öffnen, als hinter ihr das protestierende Weinen eines Säuglings ertönte. Gleich darauf vernahm sie die beruhigende Stimme der Amme, die Éliás mit einem leisen Singsang zu beruhigen versuchte.
Die Stubentür öffnete sich, und Jolánda, mit noch immer vor Zorn geröteten Wangen, kam heraus. «Éliás? Ist mein Schätzchen schon wieder zurück? Was hast du denn, kedvenc. Mama kommt schon!» Sie eilte zur Kammer der Amme und hätte Marysa fast angerempelt.
«Oh, du bist es!» Sie lächelte ihrer Tochter flüchtig zu und eilte zur Amme, die ihr Éliás in die Arme legte. Sofort hörte das Weinen auf. «Ja, ja, schon gut, mein süßer fiú», murmelte Jolánda und koste den Säugling zärtlich. «Musst nicht weinen. Mama ist ja da.»
Erst als Éliás ein fröhliches Glucksen ausstieß, hob sie den Kopf und sah Marysa an. «Ich habe gar nicht mitbekommen, dass ihr schon zurück seid.» Aller Zorn war aus ihrem Gesicht gewichen. «Hattet ihr einen schönen Spaziergang?»
«Nur bis es anfing zu regnen», antwortete Marysa und folgte ihrer Mutter zurück in die Stube, wo sie sich auf die gepolsterte Bank am großen Esstisch setzten. «Wie ich hörte, war Hartwig vorhin hier.»
Jolándas Miene verfinsterte sich sofort wieder. «Gort Bart!» Sie spuckte den Namen regelrecht aus. «Er will dich mit Gort Bart verheiraten. Mit diesem ungepflegten Taugenichts! Ich habe Bardolf gesagt, er soll deinen Vetter hinauswerfen. Aber meinst du, er hört auf mich?»
«Mutter, ich bin sicher, Bardolf hat für Hartwig die rechten Worte gefunden.» Marysa seufzte innerlich. Der Streit um die Vormundschaft über sie war kurz nach dem Tode ihres Gemahls, Reinold Markwardt, zwischen Bardolf und Hartwig entbrannt, und selbst nach über einem Jahr gab es keine Aussicht auf eine Einigung. Dabei führte Marysa, dank der Zunftgesetze, dessen Schreinwerkstatt weiter. Außerdem hatte sie Kontakt zu den früheren Geschäftspartnern ihres Vaters aufgenommen und sich über diese Verbindungen inzwischen einen guten Ruf als Reliquienhändlerin erworben. Testamentarisch war ihr Reinolds Haus zugesprochen worden. Sie erhielt eine nicht geringe Leibrente, das Siegelrecht war ihr ebenfalls zuerkannt worden. Sie war also voll geschäftsfähig und hätte leicht auch ohne einen neuen Ehemann auskommen können.
Doch vor dem Gesetz war eine alleinstehende Frau leider nicht viel wert. Da sie eine wohlhabende Meisterwitwe war, rissen sich die unverheirateten Gesellen aus der Zunft der Schreiner geradezu darum, sie vor die Kirchenpforte führen zu dürfen. Und nicht nur die. Auch verschiedene Kaufleute hatten bereits bei ihr vorgesprochen. Sie hätte also die freie Auswahl gehabt. Aber sie war nicht sonderlich erpicht auf eine neue Ehe. Die Missachtung und Gleichgültigkeit, mit der ihr Reinold begegnet war, hatten ihr alle Illusionen über den Ehestand geraubt und ihr den Gedanken daran, mit einem Mann Tisch und Bett zu teilen, gründlich vergällt.
Dennoch wusste sie, dass sie über kurz oder lang keine andere Wahl haben würde. Nach zwei Jahren hatte sie die Werkstatt mitsamt den beiden Gesellen, die sie nach Reinolds Tod eingestellt hatte, in die Hände eines fähigen Schreinbauermeisters zu legen oder aber einen Gesellen aus diesem Handwerkszweig zu ehelichen, um ihm die Meisterwürde zu verschaffen. Heiratete sie einen handwerksfremden Mann, so würde sie die Werkstatt ebenso aufgeben müssen, wie wenn sie nach Ablauf der Frist noch ledig bliebe.
Energisch verdrängte Marysa diese Gedanken und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Mutter. «Denkt ihr an das große Essen, das ich morgen Abend zu Ehren der ungarischen Handelsleute gebe? Ich habe Milo und Jaromir heute früh losgeschickt, eine Fuhre Holz zu holen. Als sie zurückkehrten, berichteten die beiden, die Männer seien bereits in Aachen eingetroffen und hätten sich im Goldenen Ochsen einquartiert.
Jolánda nickte eifrig. «Aber ja doch. Selbstverständlich kommen wir! Ich frage mich, ob einer von ihnen Nachrichten über meine Familie hat.» Sie blickte wehmütig in die Ferne. «Wie lange habe ich Vater schon nicht mehr gesehen. Ich hoffe, mein Brief mit dem Bericht von Éliás’ Geburt hat ihn überhaupt erreicht. Er muss doch wissen, dass er nach so vielen Jahren noch einmal einen Enkelsohn bekommen hat.»
Marysa legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. «Ganz gewiss hat er den Brief erhalten, Mutter.»
«Hm.» Jolánda schien sich nur mit Mühe von den Erinnerungen an ihre Familie losreißen zu können. Schließlich sah sie Marysa wieder ins Gesicht. «Was wird Balbina für die Händler kochen? Bereitet sie eine ihrer Spezialitäten vor?»
«Sie wird ihre berühmten heidnischen Kuchen mit Kräutersoße zubereiten. Dazu Safranbrot mit Apfelbutter und außerdem noch Bratäpfel. Du weißt doch, wie viele Äpfel wir dieses Jahr haben. Wir wissen kaum, wohin damit. Die Mieten im Keller sind übervoll.»
«Das klingt ja ausgezeichnet», befand Jolánda. «Aber Safranbrot? Ist das nicht furchtbar teuer?»
Marysa schüttelte den Kopf. «Johann Scheiffart hat mir ein Kästchen mit Küchengewürzen zukommen lassen. Anstelle einer Bezahlung für die Ursulareliquie, die ich ihm aus Köln beschafft habe.»
Besorgt ergriff Jolánda die Hand ihrer Tochter. «Du machst Geschäfte mit dem Kanoniker? Ich dachte, er führt selbst einen Reliquienhandel für das Marienstift.»
«Das tut er auch», bestätigte Marysa. «Aber er ist im Augenblick viel zu sehr mit den Einladungen für die Einweihung der Chorhalle beschäftigt. Außerdem war diese Reliquie für ihn persönlich bestimmt.» Sie legte den Kopf zur Seite. «Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Mutter. Scheiffart ist harmlos.»
«Wie bitte?» Empört starrte Jolánda sie an. «Er wollte dich vergangenes Jahr auf den Scheiterhaufen bringen! Nennst du das etwa harmlos?»
«Aber Mutter, so ist es nicht gewesen», versuchte Marysa sie zu beschwichtigen. «Er wurde doch genauso angeklagt wie ich.» Sie hielt einen Moment inne. «Ich gebe ja zu, dass er nicht gerade der angenehmste Zeitgenosse ist. Seitdem ich ihn überzeugen konnte, dass mein Geschäft lauter und vorbildlich geführt wird, ist er ganz umgänglich geworden. Offenbar hat er eingesehen, dass ich wirklich nur mit echten Reliquien handele.»
Skeptisch kniff Jolánda die Augen zusammen. «Stimmt das auch? Sind alle Reliquien, die du verkaufst, echt?»
Marysa gab keine Antwort, sondern lächelte nur.
«Marysa!» Jolánda wurde blass. «Du hast Scheiffart doch wohl keine Fälschung angedreht?»
«Mutter.» Marysa verschränkte ruhig die Hände in ihrem Schoß. «Nie im Leben würde ich einen Kanoniker des Marienstifts derart betrügen.»
«Ach.» Noch immer stand der Argwohn Jolánda deutlich ins Gesicht geschrieben. «Und was ist mit deinen anderen Kunden?»
Marysa schmunzelte. «Die, liebe Mutter, erhalten immer das, wonach sie verlangen.»
Eine Stunde noch hielt sich Marysa im Hause ihrer Eltern auf, dann machte sie sich auf den Heimweg, denn es dämmerte bereits. Da der Regen wieder nachgelassen hatte, hoffte sie, trockenen Fußes in ihrem Haus am Büchel anzukommen. Tibor begleitete sie und trug einen großen Krug Heidelbeerwein, den Orsolya, seine Gefährtin und Haushälterin im Hause Goldschläger, Marysa als Dank für die frischen Äpfel mitgegeben hatte.
Gerade passierten sie den Marktplatz und wollten in den Büchel einbiegen, als sie einen Aufruhr bei der Dombaustelle bemerkten. Die meisten Bauern und Händler hatten ihre Verkaufsstände bereits abgebaut, doch diejenigen, die noch auf dem Markt waren, liefen bei dem provisorischen Eingang zur Chorhalle zusammen und vereinten sich mit Knechten und Mägden, die für ihre Herrschaft noch letzte Besorgungen erledigten.
«Was ist dort los, Tibor?», fragte Marysa neugierig und blieb stehen.
Hilferufe wurden laut, und die Menschenmenge begann zu wogen. Im nächsten Augenblick kamen zwei kräftige Gesellen – der Kleidung nach waren es Maler – aus der Chorhalle und rannten zum Parvisch. Wieder ertönten Rufe.
«Da ist doch etwas passiert.» Marysa strebte bereits auf den Dom zu, obwohl Tibor sie aufhalten wollte.
«Wartet, Herrin! Das ist wüstes Mannsvolk. Ihr solltet da nicht hingehen.»
Doch Marysa beachtete ihn gar nicht, sondern drängte sich bereits durch die dicht beieinanderstehenden Menschen. Als sie Heyn Meuss, den Altgesellen aus ihrer Werkstatt, erblickte, tippte sie ihn an. «Was ist hier geschehen?»
Heyn drehte sich überrascht zu ihr um. Er war schon einige Jahre jenseits der Vierzig. Das steingraue Haar trug er kurzgeschoren, sein Gesicht war ledrig und mit Lachfältchen durchzogen, die von seiner angeborenen Heiterkeit zeugten. Nun aber wirkte seine Miene besorgt. «Frau Marysa!» Er schob einen anderen Mann beiseite, um ihr Platz zu verschaffen. «Es heißt, ein Unglück sei geschehen. Eines der Gerüste, auf dem die Goldschmiede arbeiten, soll eingestürzt sein.»
«O mein Gott!» Entsetzen durchfuhr Marysa. «Bardolf! Meister Goldschläger, ist er dadrinnen?» Nochmals versuchte sie, sich zwischen den Menschen hindurchzudrängen. Heyn half ihr dabei, indem er seine Ellenbogen einsetzte.
«Ich weiß es nicht, Frau Marysa. Sie haben die Tür verriegelt und zwei Männer geschickt, um Hilfe zu holen.»
Vor der verschlossenen Tür blieb Marysa stehen. Die Angst schnürte ihr für einen Moment die Kehle zu. «Ich muss …» Ihr kam ein Gedanke. «Folgt mir!», rief sie Heyn und Tibor zu bevor sie sich durch die Menge in Richtung Kaxhof drängte. Von dort aus betrat sie den Dom durch das große Portal. Der Knecht und der Geselle folgten ihr auf dem Fuße, als sie die kostbar eingerichtete Pfalzkapelle durchquerte und auf die Chorhalle zustrebte. In dem großen Leuchter, den Kaiser Friedrich, genannt Barbarossa, einst gestiftet hatte, brannten Kerzen, an den Wänden mehrere Fackeln. Das Marienstift würde hier in Kürze eine Abendmesse abhalten.
Marysa umrundete ein provisorisches Regal, in dem neben Malerfarben auch Werkzeuge, Lappen und Behälter mit Blattgold lagen, und blieb erschrocken stehen, als sie die Unglücksstelle erblickte.
Eines der schwindelerregend hohen Gerüste war tatsächlich umgestürzt und hatte ein weiteres mit sich gerissen. Beide Arbeitsplattformen waren beim Aufprall auf den Boden zerborsten.
Mehrere Männer, darunter zwei Kanoniker in ihren schwarzen Gewändern sowie drei Augustinermönche, klaubten das gesplitterte Holz und die Balken der Gerüste auseinander. Offenbar waren ein paar der Arbeiter unter den Trümmern verschüttet worden.
Als Marysa zwischen zwei Balken ein Stück blauen Stoff aufblitzen sah, schrie sie entsetzt auf. «Meister Goldschläger!»
Die Helfer an der Unglücksstelle blickten erstaunt auf Marysa. Einer der Mönche hielt sie fest, als sie zu dem Verunglückten laufen wollte.
«Bleibt stehen, gute Frau!» Er schob sie energisch zurück an den Rand der Unfallstelle. «Es ist zu gefährlich für Euch. Was habt Ihr überhaupt hier zu suchen?»
«Meister Goldschläger liegt dort.» Sie deutete auf die Stelle, an der Bardolfs blauer Mantel zu sehen war. «Er ist mein Stiefvater.»
Der Augustiner hielt sie noch immer am Arm fest. «Marysa Markwardt, Ihr seid es. Bitte beruhigt Euch. Wir versuchen, die Verunglückten zu befreien.»
Marysa zitterte mittlerweile am ganzen Leib. Dennoch nickte sie und winkte dann Tibor. «Geh und hol meine Mutter her. Beeile dich!»
Tibor hatte ebenfalls mit Entsetzen auf die eingestürzten Gerüste gestarrt. Sie sah ihm an, dass er lieber bei der Bergung der Verletzten geholfen hätte, doch er gehorchte und verließ den Dom im Laufschritt.
«Wir haben ihn!», rief einer der Kanoniker. «Ach du lieber Gott, holt sofort eine Bahre!»
Zwei weitere Malergesellen stürzten davon, und Marysa beobachtete, wie Piet, einer von Bardolfs Gesellen, zwischen den zerborstenen Balken hervorgezogen wurde. Sein Hemd war blutdurchtränkt, denn eine Stange hatte sich ihm in die linke Seite gebohrt. Die Männer legten ihn unweit von Marysa vorsichtig auf dem Boden ab.
«Tut etwas!», rief der Kanoniker, der sich besorgt über ihn beugte. «Holt einen Medicus oder einen Bader. Der Mann verblutet!»
Marysa eilte nun auch zu dem Schwerverletzten und hockte sich neben ihn.
«Was habt Ihr hier zu suchen, Weib?», herrschte der Kanoniker sie an, doch sie beachtete ihn gar nicht erst. Gewaltsam riss sie einen Streifen Stoff aus ihrem Unterkleid und presste es auf die klaffende Wunde. Dann hob sie den Kopf. «Heyn, lauf zu Magister Bertolff. Er muss sofort kommen!»
Der Geselle fuhr sich mehrfach durch sein graues Haar, dann nickte er. «Ja, Frau Marysa, bin schon unterwegs.»
«Vorsichtig», hörte Marysa den Augustiner rufen. «Hebt diesen Balken an! Könnt Ihr aufstehen, Meister Goldschläger?» Sie erhob sich und rannte auf Bardolf zu, der, von zwei Mönchen gestützt, vorsichtig zwischen den Gerüstteilen hindurchkletterte. Als sie erkannte, dass er aufrecht stehen konnte, berührte sie ihn erleichtert am Arm.
«Meister Bardolf, gottlob, Ihr seid unverletzt!», rief sie. Vor Fremden sprach sie Ihren Stiefvater immer mit dem ihm zustehenden Titel an.
Überrascht sah er sie an. «Marysa, was tust du denn hier?» Er schüttelte einen der Mönche ab, musste sich jedoch an der Wand abstützen. Offenbar konnte er mit seinem rechten Fuß nicht richtig auftreten. Und an seiner Stirn hatte er eine breite Schürfwunde.
«Eine ordentliche Beule habt Ihr da, Herr Vater», sagte sie und beeilte sich, ihn zu stützen, als er seinen Gesellen erblickte und auf ihn zuhumpelte.
«Piet!» Er beugte sich über den Bewusstlosen. «Das sieht übel aus.»
In diesem Augenblick kamen die beiden Malergesellen mit zwei langen Brettern zurück. Eines davon legten sie neben Piet ab und hoben ihn dann darauf. «Wohin mit ihm?», fragte der eine.
Bardolf machte ihnen Platz. «In mein Haus in der Kockerellstraße. Jemand muss den Medicus holen.»
«Ich habe Heyn bereits nach ihm geschickt», sagte Marysa und blickte noch einmal zu der Unglücksstelle hinüber. Offenbar gab es außer Bardolf und Piet keine weiteren Opfer. Die Männer begannen bereits, die ersten Balken abzutransportieren. Dazu mussten sie den Seiteneingang öffnen, sodass etliche der Schaulustigen von draußen in die Chorhalle drängen konnten. Entsetzte Rufe wurden laut. Die Nachricht über den schrecklichen Unfall verbreitete sich wie ein Lauffeuer.
«Lass uns gehen. Wir müssen für Piet sorgen», sagte Bardolf und wollte loshumpeln.
Marysa eilte an seine Seite und nahm ihn beim Arm. «Stützt Euch auf mich, Herr Vater. Draußen wird bestimmt Tibor …»
«Bardolf!», schallte in diesem Moment Jolándas Stimme durch den Dom. «Mein Mann, wo ist er? Geht es ihm gut?» Marysas Mutter kam in die Chorhalle gerauscht. Als sie Bardolf sah, blieb sie stehen und schluchzte erleichtert. «Dem Herrn sei Dank, du lebst!» Ohne auf etwaige Verletzungen zu achten, stürzte sie sich in Bardolfs Arme.
«Du solltest jetzt nach Hause gehen», sagte Jolánda leise und legte Marysa eine Hand auf die Schulter. Sie saßen in der Stube beisammen und warteten darauf, dass der Medicus, Magister Mertin Bertolff, Piets Behandlung beendete. Doch die Wunde schien schlimm zu sein; es dauerte jetzt schon über eine Stunde. Das Vesperläuten war längst verklungen, und die herbstliche Dunkelheit hatte sich über Aachen gesenkt. «Natürlich kannst du auch hier übernachten, wenn du möchtest.»
Marysa schüttelte den Kopf und stand auf. «Nein danke, Mutter. Ich gehe lieber nach Hause. Bardolf ist ja so weit wohlauf, und für Piet können wir gerade nicht viel tun. Er ist bei Magister Bertolff in guten Händen. Ich muss zu Hause nach dem Rechten sehen, bestimmt wartet Balbina schon mit dem Abendessen auf mich.» Sie schluckte. Die Ereignisse hatten ihr den Appetit verdorben.
Wieder verließ sie in Begleitung Tibors das Haus ihrer Eltern, diesmal jedoch kam sie ohne Zwischenfälle am Büchel an. Dort waren in der Werkstatt und den unteren Wohnräumen alle Fenster hell erleuchtet. Heyn hatte sicher den anderen bereits von dem Unfall in der Chorhalle berichtet, und nun warteten vermutlich alle darauf, von ihr die neuesten Nachrichten zu erfahren.
Nervös zupfte Marysa an ihrem Kopfputz herum. Das eng geschnürte Kleid stand ihr mit seinem dunklen Tannengrün und den goldfarbenen Stickereien an Saum, Ärmeln und Halsausschnitt sehr gut zu Gesicht. Auf ihren kunstvoll hochgesteckten kastanienbraunen Locken hatte sie ein hohes Samtschappel in der Farbe des Kleides befestigt, dessen zartweißer Schleier ihr bis über die Schultern fiel und ihr nun ein skeptisches Stirnrunzeln entlockte. Zu aufwendig? Sie wusste, dass sie einen sehr guten Geschmack besaß, was Kleider und Geschmeide anging. Da sie aber am heutigen Abend gleich fünf sehr bedeutende und, wie ihr zugetragen worden war, sehr fromme Reliquienhändler zum Abendessen erwartete, fragte sie sich, ob sie mit dieser Kopfbedeckung nicht zu viel des Guten tat. Zwei der Händler waren Geistliche.
Andererseits schadete es vielleicht nicht, wenn sie die Herren ein wenig mit ihrem Aussehen blendete. Manche Männer vergaßen beim Anblick einer hübschen Frau schon mal ihren Verstand, was sich für sie vielleicht vorteilhaft auf die Geschäftsverhandlungen auswirken könnte.
Noch einmal blickte sie prüfend in den kleinen polierten Silberspiegel, dann verließ sie ihre Schlafkammer und stieg die steile Treppe ins Erdgeschoss hinab. Aus der Küche drangen bereits seit Stunden die herrlichsten Düfte. Imela, ihre junge Magd, war, den Geräuschen nach, gerade dabei, den großen Tisch in der Stube zu decken. Die alte bucklige Fita kam mit einem riesigen Krug aus dem Keller, der bis zum Rand mit Marysas bestem Wein gefüllt war. Rasch eilte sie auf die Frau zu und nahm ihr die Last ab. «Was schleppst du dich denn damit ab, Fita?», wollte sie wissen. «Warum hast du nicht Jaromir oder Milo geschickt? Wo stecken die beiden überhaupt?»
Fita reckte sich stöhnend. «Die Jungs sind draußen», nuschelte sie mit ihrem fast zahnlosen Mund. «Habt ihnen doch befohlen, den Hof und die Remise aufzuräumen, Herrin.»
«Sicher habe ich das. Aber deshalb musst du dich doch nicht mit dem schweren Krug abplagen.» Kopfschüttelnd trug Marysa den Wein in die Stube und begutachtete die Tischdekoration, die Imela aus Efeu- und Tannenzweigen erstellt hatte. «Sehr schön», lobte sie das Mädchen. «Nun geh in die Küche und hilf Balbina.» Sie drehte sich wieder zu Fita um. «Und du gehst hinaus, um Milo zu sagen, er soll schon mal das Hoftor öffnen. Unsere Gäste können jeden Moment eintreffen.»
Wieder wurde Marysa von einer leichten Nervosität erfasst. Sie war zwar gerne in Gesellschaft, doch immer wenn sie selbst als Gastgeberin fungierte, wollte sie, dass alles perfekt war. Während ihrer kurzen Ehe hatte sie nur sehr selten Gäste zu bewirten gehabt und wenn, dann höchstens einmal Verwandte oder Meister der Schreinerzunft. Reinold war nicht sehr gesellig gewesen, hatte es auch nicht gerne gesehen, wenn Marysa sich in Gegenwart von Fremden allzu leutselig gab. Nach seinem Tod hatte sich ihr fröhliches und herzliches Gemüt jedoch mit aller Macht zurückgemeldet. Eine Tatsache, über die gewiss bereits hinter ihrem Rücken getuschelt wurde. Doch warum sollte sie ihre natürlichen Anlagen unterdrücken, wenn sie genau wusste, dass sie ihren Geschäften zupasskamen? Ganz abgesehen davon, dass sie sich seit Reinolds Tod wie von einer Last befreit fühlte. Anfangs hatte sie deswegen ein schlechtes Gewissen geplagt. Inzwischen jedoch war ihr nicht mehr unwohl, wenn sie abends ihre Laute hervorholte, mit ihren Eltern oder den Angehörigen ihres Haushalts gemeinsam sang und musizierte. Das Gefühl von Reinolds missbilligendem Blick, wenn sie sich auf einem Zunftbankett von einem der Männer zum Tanze auffordern ließ, verspürte sie inzwischen auch nur noch selten.
Vor dem Haus wurden das Klappern von Hufen und Stimmen laut, die einander auf Ungarisch etwas zuriefen. Ihre Gäste waren eingetroffen.
Mit gerafften Röcken eilte Marysa hinaus, um die ungarischen Händler zu begrüßen. Dort erlebte sie eine Überraschung.
«Marysa, Mädchen, so eine Freude! Lass dich ansehen. Gut siehst du aus! Freunde, ist meine Enkelin nicht ein hübsches Kind?», dröhnte der Bass eines kräftigen, hochgewachsenen Mannes mit schlohweißem Haar und sauber gestutztem Bart. Seine Sprache war von einem starken Akzent gefärbt, seine Umarmung herzlich und kraftvoll.
Einigermaßen verblüfft löste sich Marysa wieder aus seinen Armen. «Meister Kozarac – Großvater! Was macht Ihr hier? Warum habt Ihr uns nicht Nachricht geschickt, dass Ihr nach Aachen kommt?»
Bernát Kozarac lachte verschmitzt. «Ich hätte mir die Freude an der Überraschung vorenthalten sollen? Auf gar keinen Fall. Als ich erfuhr, dass meine Jolánda mit einem Jungen niedergekommen ist, habe ich mich sofort diesen guten Männern hier angeschlossen.» Er wies in Richtung der fünf Kaufleute, die inzwischen alle aus dem Sattel gestiegen waren. Jaromir und Milo beeilten sich, die Pferde in den Hof zu führen, auch Grimold, der alte Knecht, kam herbeigehumpelt. Er hatte sich kurz vor Ostern auf einer vereisten Gasse den Fuß gebrochen. Obwohl die Verletzung geheilt war, plagten ihn seither bei schlechtem Wetter heftige Schmerzen. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, ebenfalls eines der Reittiere in den Hof zu führen, um den beiden jungen Knechten beim Absatteln und Versorgen der Pferde zu helfen.
Bernát legte indes seiner Enkelin eine Hand auf die Schulter und führte sie zu seinen Mitreisenden. «Darf ich Euch bekannt machen, meine Herren, dies ist Marysa Markwardt – unsere Gastgeberin.» Er lächelte wieder. «Dies, mein liebes Kind, sind die Herren Barabás, Fábián und Gáspár sowie Bruder András und Bruder Pongrác, die allesamt hocherfreut wären, mit dir ins Geschäft zu kommen.» Er zwinkerte ihr zu.
Marysa begrüßte die Kaufleute und die beiden Mönche – offenbar waren es Augustiner –, erfreute sie mit einigen Sätzen auf Ungarisch und führte sie ins Haus. Nachdem sich alle ihrer Reisemäntel entledigt und die Hände in den dargebotenen Schüsseln gewaschen hatten, setzten sie sich an den Tisch.
«Marysa, wird deine Mutter uns heute Abend auch mit ihrer Anwesenheit beehren?», fragte Bernát, während er seinen Becher an die Lippen führte. Er nippte und lächelte dann erfreut. «Ein guter Tropfen!»
«Mutter und Meister Bardolf müssten jeden Moment hier eintreffen», antwortete Marysa. «Aber bestimmt brauchen sie etwas länger, da mein Stiefvater einen verrenkten Fuß hat.»
«Er hat sich den Fuß verletzt? Wie ist das passiert?»
«Ein schlimmer Unfall, Herr Großvater», erklärte Marysa. «In der neuen Chorhalle des Doms sind gestern zwei der Gerüste, auf denen die Goldschmiede arbeiten, zusammengestürzt. Meister Bardolf hatte Glück, dass er gerade nicht auf einer der Plattformen stand, sonst hätte es für ihn viel schlimmer ausgehen können …» Sie biss sich auf die Lippen. «Sein Geselle Piet stand ganz oben. Er ist so schwer verletzt, dass wir um sein Leben fürchten.»
«Das ist in der Tat schlimm.» Bernáts Miene drückte Betroffenheit aus. «Umso glücklicher dürfen wir darüber sein, dass Meister Goldschläger uns heute die Ehre erweist.» Er hob lauschend den Kopf. «Sind sie das?» In seine Augen war ein amüsiertes Funkeln getreten.
Aus der Werkstatt, die den vorderen Teil des Hauses einnahm, hörte man die aufgebrachte Stimme einer Frau. «Steh doch still, damit ich dir den Mantel abnehmen kann. Himmel, so stütz dich doch auf meinen Arm, wenn dir das Gehen schwerfällt. Glaubst du, ich bin zu zart, um dein Gewicht zu tragen? Hier, Fita, nimm unsere Mäntel und häng sie beim Küchenfeuer auf, damit sie trocknen. Diese grässliche Sänfte hatte ein undichtes Dach. Sieh nur, mein Kleid … Wie? Die Gäste sind schon eingetroffen?»
Im nächsten Moment öffnete sich die Stubentür. «Verzeiht uns die Verspätung, aber wir hatten …» Jolánda blieb wie angewurzelt mitten im Raum stehen, sodass Bardolf, der sich auf ihren Arm stützte, beinahe gestolpert wäre. «Vater!» Mit einem Freudenschrei stürzte Jolánda auf Bernát zu, ohne noch länger ihren Gatten zu beachten.
Bernát hatte sich bereits erhoben und umarmte seine Tochter so fest, dass sie beinahe unter seinen kräftigen Armen verschwand. Dann hielt er sie ein Stück von sich und strahlte über das ganze Gesicht. «Jolánda, mein liebes Kind. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, bist du noch schöner.» Er blickte kurz zu Marysa hinüber. «Und deine Tochter ist dein Ebenbild! Welch herrlichen Anblick bieten doch die Frauen meiner Familie.»
Marysa errötete und schaute verlegen nach unten. Ihre Mutter war in der Tat eine Schönheit. Marysa hatte ihre Locken, die schlanke, grazile Gestalt und auch das herzförmige Gesicht geerbt. Doch sie wusste um die seltsam herben Züge, die ihr Vater ihr mitgegeben hatte und die ihr einiges von der Anmut, die Jolánda auszeichnete, wieder nahmen. Insgesamt wirkte sie kantiger und strenger als ihre Mutter. Sie hatte sich damit abgefunden. Zwar wusste Marysa ihre Vorzüge durch passende Kleider durchaus zu betonen, doch sie als Abbild ihrer Mutter zu bezeichnen war eine kolossale Übertreibung und reine Schmeichelei.
«Dies dürfte wohl mein neuer Herr Schwiegersohn sein», fuhr Bernát fort und trat neugierig auf Bardolf zu. Die beiden Männer musterten einander ernst und aufmerksam. Bernát schmunzelte. «Ich bin froh, dass Marysa mich bereits über den Grund Eurer Gehbeschwerden aufgeklärt hat. Sonst hätte ich befürchten müssen, Ihr habet bereits den Zorn meiner lieblichen Tochter zu spüren bekommen.»
Bardolf grinste. «Diese Ehre wurde mir in der Tat bereits hin und wieder zuteil, Meister Kozarac, doch um mir eine Blessur wie die an meinem Fuß zuzufügen, hätte sie mich schon mit einer eisernen Bratpfanne malträtieren müssen. Und so weit, Gott behüte, wird es hoffentlich niemals kommen.»
«Das hoffe ich allerdings auch!» Mit einem dröhnenden Lachen klopfte Bernát seinem Schwiegersohn auf die Schulter. «Ich sehe, Ihr habt das rechte Gemüt, der Feuersbrunst zu trotzen, die das aufbrausende Temperament meiner Tochter zu entfachen imstande ist. Sehr gut. Aber nun», er wandte sich wieder an Jolánda, «erzähle mir von dem kleinen Éliás!»
Der Abend verlief recht vergnüglich. Da aber die ungarischen Reliquienhändler des Deutschen nur bruchstückhaft mächtig waren, wurden die Gespräche abwechselnd in beide Sprachen übersetzt. Über Geschäftliches wurde nicht gesprochen, sondern ausschließlich über die Reise, die Familien der Kaufleute und die bevorstehende Einweihung der neuen Chorhalle. Zur guten Stimmung tat Balbinas ausgezeichnetes Essen sein Übriges.
Als Marysa ihre Gäste schließlich kurz vor Mitternacht verabschiedete, durchströmte sie ein Gefühl der Vorfreude. Mit jedem einzelnen der fünf Handelsreisenden hatte sie sich kurz allein unterhalten können, bei mindestens zwei von ihnen, Meister Gáspár und Meister Fábián, versprach sie sich Aussichten auf eine Geschäftsanbahnung. Bei Barabás und den beiden Mönchen war sie sich noch nicht sicher. Barabás schien der Gedanke, Handel mit einer Frau zu treiben, zu befremden, und die Augustiner verhielten sich äußerst zurückhaltend. Marysa argwöhnte, dass auch diese beiden eher ungern mit dem weiblichen Geschlecht zu tun hatten, obwohl der eine von ihnen, András, mehrfach höchst auffällig auf den Ausschnitt ihres Kleides gestarrt hatte. In einem Anflug von Boshaftigkeit wünschte Marysa ihm dafür eine Nacht voller unkeuscher Träume.
Es regnete noch immer, als Marysa sich zu Bett begab. Zwar hatte sie gegen die Zugluft alle Fensterläden fest verschlossen, aber das stete Plätschern drang dennoch in ihre Schlafkammer wie ein eintöniges Lied. Nach dem langen Abend war sie müde, doch obwohl sie ihr Nachtlicht gelöscht hatte, blieben ihre Augen weit geöffnet. Es war still im Haus. Lediglich die hölzernen Dachbalken knarrten im Wind. Marysa kuschelte sich noch fester in ihre Decke und rieb ihre Füße gegeneinander. Jetzt bereute sie, dass sie Fita nicht gebeten hatte, ihr einen heißen Ziegelstein ans Fußende zu legen.
Sie wusste nicht recht, warum sie sich ausgerechnet heute so verloren in dem großen Bett fühlte. Normalerweise genoss sie es, sich über die gesamte Breite auszustrecken und nicht auf einen nörgelnden oder zudringlichen Ehemann Rücksicht nehmen zu müssen. Vielleicht lag es an dem Übermaß an Freude und Glück, das von ihren Eltern ausging. Nicht dass sie es ihnen neidete, im Gegenteil. Sie gönnte es ihnen von Herzen. Ihre eigene Ehe war nicht wirklich unglücklich gewesen, es hatte ihr nur an jener tiefen Liebe und innigen Partnerschaft gefehlt. Zwei Faktoren, auf die sie auch in Zukunft nicht würde setzen können, denn erstens hätte sie gar keinen Mann benennen können, für den sie nur annähernd so etwas wie Zuneigung empfand, und zweitens wurden Ehen in den allerseltensten Fällen aufgrund von Gefühlen geschlossen. Vielmehr standen der Fortbestand der Familie und der des Geschäfts im Vordergrund. Auch sie würde früher oder später zu einem Entschluss kommen müssen, was die Schreinwerkstatt betraf. Der einfachste – und vermutlich sinnvollste – Weg wäre es, einen ihrer Gesellen zu heiraten. Heyn war nicht nur über zwanzig Jahre älter als sie, sondern schien auch kaum Interesse an weiblicher Gesellschaft zu haben. Er kam also nicht in Frage. Blieb noch Leynhard Sauerborn, der ihr im Alter wesentlich näher stand und auch äußerlich ein ganz passables Mannsbild war. Hochgewachsen, etwas schlaksig, mit schwarzem Haar und gutmütigen braunen Augen. Leider ließ sein Verstand ein gewisses Maß an Wendigkeit vermissen. Zwar war er als Schreinbauer sehr geschickt, doch weder über den Reliquienhandel noch über andere ernsthafte Themen konnte sie sich mit ihm unterhalten, ohne ihm die Sachverhalte mehrfach erklären zu müssen.
Seufzend drehte sie sich auf die Seite und legte ihr Kissen unter dem Kopf erneut zurecht. Leynhard wäre immer noch die bessere Wahl gegenüber Gort Bart, dem Gesellen ihres Vetters. Hartwig war ehrgeizig; er stand kurz davor, zum obersten Zunftgreven der Schreiner gewählt zu werden. Gort war über Hartwigs Mutter mit ihm verwandt, und so rechnete sich Hartwig natürlich aus, dass eine Eheschließung mit Marysa ihre Werkstatt in Reichweite seines Besitzes bringen würde. Gort, der auch nicht sonderlich intelligent war, würde sich in allen Dingen von Hartwig führen lassen, was mit einer Übernahme der Werkstatt durch Hartwig so gut wie gleichzusetzen wäre.
Aber dazu würde es ganz gewiss nicht kommen. Eher würde sie die Werkstatt schließen, als Gort Bart auch nur in die Nähe ihres Bettes gelangen zu lassen. Sie wusste sehr genau, dass es ihn danach gelüstete.
Um sich von diesen unseligen Gedanken abzulenken, begann sie, Pläne für den nächsten Tag zu schmieden, da sie am Nachmittag Meister Fábián erwartete. Während sie überlegte, ob sie ihn als Lieferanten für die zahlreichen ungarischen Pilger gewinnen konnte, die vor allem in den Sommermonaten die Stadt aufsuchten, schlief sie endlich ein.
«Hat man so was schon gehört?», regte Jolánda sich zwei Tage später auf, als sie in Marysas Stube saß und mit flinken Fingern eine Stickerei auf einem Kissenbezug anfertigte. «Meister Hont ist höchstpersönlich in unser Haus gekommen, um Bardolf die Nachricht zu überbringen. Ausgerechnet Ansem Hyldeshagen soll Bardolfs Arbeiten an den Schlusssteinen in der Chorhalle übernehmen. Dabei weiß jeder, dass Ansem und Bardolfs Vater im Streit miteinander lagen. Das wird dem alten Zwist doch nur Wasser auf die Mühlen gießen, sagte ich. Aber Meister Hont besteht darauf, weil Ansem der Einzige ist, der es in der Kunstfertigkeit mit Bardolf aufnehmen kann. Und die Chorhalle muss fertig werden. Bis zur Einweihung wird das sowieso schon nicht mehr ganz zu schaffen sein. Aber stell dir vor, der Weihbischof kommt mit seinem Tross und muss die Feier in einer Halle ohne Vergoldungen vornehmen. Das wäre doch eine Schande! Ganz zu schweigen von den vielen Pilgern, die das Marienstift zu den Feierlichkeiten erwartet.»
Marysa nickte. «Also muss jemand für Bardolf einspringen, solange sein Fuß nicht verheilt ist.»
«Aber doch nicht ausgerechnet Ansem», protestierte Jolánda erneut. «Er wird versuchen, auch die anderen Goldarbeiten an sich zu reißen.»
«Das kann ich mir nicht vorstellen», widersprach Marysa. «So lange wird Bardolf doch nicht ausfallen. Sobald er richtig laufen kann, wird er die Arbeiten wieder übernehmen.» Bevor sich ihre Mutter noch weiter aufregen konnte, fragte sie: «Wie geht es eigentlich Piet? Heilt seine Wunde gut?»
Jolánda schüttelte betrübt den Kopf. «Leider nicht. Er hat seit gestern leichtes Fieber, und ich fürchte, die Wunde wird brandig. Magister Bertolff hat gesagt, wenn das geschieht, könne er nichts mehr für ihn tun. Die Verletzung ist zu nah an Piets inneren Organen, deshalb konnte sie ja auch nicht ausgebrannt werden.»
«Das wäre ein herber Verlust für Bardolfs Goldschmiede», sagte Marysa betroffen.
«Nicht nur das.» Jolánda blinzelte eine Träne fort. «Du weißt ja, wie sehr wir alle Piet mögen. Er mag manchmal ein wenig kauzig sein, aber er ist ein herzensguter Mensch.»
Beide Frauen senkten den Kopf und widmeten sich wieder ihren Handarbeiten.
«Wirst du morgen nach der Messe zu uns zum Essen kommen?», fragte Jolánda einige Zeit später. «Solange Vater sich in der Stadt aufhält, möchte ich gerne so oft wie möglich die Familie beisammenhaben.»
«Sehr gerne.» Marysa lächelte erfreut. «Dann könnte ich Balbina und dem restlichen Gesinde endlich einmal wieder einen freien Sonntag verschaffen.»
«Und was ist mit den beiden Gesellen?»
Marysa zuckte mit den Schultern. «Heyn und Leynhard werden sich bestimmt einen Tag lang aus der Vorratskammer bedienen können. Oder sie besuchen ihre Familien.»
«Leynhard scheint dir zugeneigt zu sein.»
Marysa hielt ihren Blick weiter auf ihre Stickerei gerichtet. «Tatsächlich?»
Jolánda hob den Kopf und blickte ihre Tochter prüfend an. «Er ist ein angenehmer Mensch. Ich könnte mir vorstellen, dass ihr sehr gut …»
«Nein, Mutter.» Nun hob auch Marysa den Kopf. «Ich weiß, worauf du hinauswillst. Aber es geht nicht.»
«Warum nicht?» Jolánda legte ihre Handarbeit auf den Tisch und beugte sich zu Marysa vor. «Kind, ich verstehe ja, dass du nach Reinold nicht allzu gut auf Männer zu sprechen bist. Aber es gibt auch sehr gute Ehen. Sieh Bardolf und mich an.»
«Das ist etwas anderes, Mutter.» Marysas Miene verschloss sich. «Ihr liebt einander.» Bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte, sprach sie weiter: «Ich erwarte ja nicht, dass mir ein Mann begegnet, dem ich mein Herz schenken kann. Aber Leynhard ist ganz sicher nicht der Richtige für mich.»
«Du glaubst, er wäre dir nicht gewachsen, nicht wahr?» Verständnisvoll legte Jolánda ihr eine Hand auf den Arm. «Und vielleicht hast du sogar recht damit. Aber auch wenn sich Leynhard mit dem Denken hin und wieder etwas schwertut, bedeutet das nicht, dass ihr keine gute Ehe führen könntet. Ein Mann, der sich vom scharfen Verstand einer Frau führen lässt, kann Gold wert sein.»
Kopfschüttelnd ließ nun auch Marysa ihre Sticknadel endgültig sinken. «Glaubst du, ich könnte es auf Dauer mit jemandem aushalten, dem ich verstandesmäßig überlegen bin?»
Jolánda seufzte. «Wenn du es so siehst …»
«So sehe ich es.»
«Aber gibt es denn wirklich niemanden …?» Jolánda hielt inne und musterte ihre Tochter aufmerksam. «Oder ist da jemand, von dem wir nichts wissen?»
Marysa zuckte zusammen und sah ihre Mutter verblüfft an. «Wie meinst du das?»
«Ich meine …» Jolánda senkte die Stimme, obwohl sie allein im Raum waren. «Gibt es vielleicht einen Mann, den du uns – aus welchem Grund auch immer – nicht nennen willst?»
Entgeistert schüttelte Marysa den Kopf. «Nein, Mutter! Wie kommst du denn darauf?»
Jolánda zuckte mit den Schultern. «Nun, wer weiß? Es hätte ja sein können. Manchmal begegnet man jemandem, doch die äußeren Umstände sprechen gegen eine Verbindung. In einem solchen Falle …»
«Mutter, du irrst dich.» Marysas Worte klangen schärfer, als sie beabsichtigt hatte; sie ärgerte sich darüber. Etwas ruhiger fuhr sie fort: «Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich habe keinen unstandesgemäßen Liebhaber …»
«So habe ich das doch nicht gemeint!»
«… und mein Herz gehört nach wie vor mir ganz allein», schloss Marysa in brüskem Ton. «Und so soll es auch bleiben.» Sie griff wieder nach ihrer Stickerei und strich sie glatt. «Ach herrje, sieh dir das an!» Um das Thema zu wechseln, deutete Marysa auf die unregelmäßigen Stiche und die kleinen Knötchen, die sich an einigen Stellen gebildet hatten. «Wie eine blutige Anfängerin. Ich sollte lieber ein wenig auf meiner Laute üben, meinst du nicht auch?» Rasch stand sie auf, holte das Instrument aus einer Lade in der Zimmerecke und stimmte es. Dann begann sie zu singen:
«Owê liehten tage,
owê bluomen rôt,
owê vogel sanc,
owê grüener walt!
nû wirt aber kalt,
nû der winter lanc.
dast der vogel nôt
unde ir meistiu klage.
nochb klage ich die schulde,
daz diu sældebære
mich enterbet hulde.
daz sint mîne swære,
die ich von ir dulde.
Minne, wende ir suezen haz!
«O weh», dachte Jolánda und lauschte dem Gesang ihrer Tochter nachdenklich.
«Damit wir uns richtig verstehen: Von wie vielen Pilgern sprecht Ihr?»
Meister Fábián hatte die Hände auf seinem nicht unbeachtlichen Bauch gefaltet und musterte Marysa über deren Schreibpult hinweg neugierig. Sein Gesicht wurde von einer langen gebogenen Nase sowie einem dichten schwarzen Bart beherrscht, was ihm auf den ersten Blick etwas Finsteres gab. Doch seine schwarzen Augen blinzelten fröhlich in die Welt, und seine Leibesfülle sprach dafür, dass er dem Wohlleben nicht abgeneigt war.
Marysa faltete ebenfalls die Hände und erwiderte seinen Blick ruhig. «Zwei- bis dreitausend im Jahr. Das sind aber nicht nur Ungarn, sondern auch Bewohner anderer östlicher Reiche. Im Jahr einer Heiltumsweisung kommen mindestens zehnmal so viele Menschen. Wie Ihr sicher bereits gehört habt, beschäftigt das Marienstift einige Priester, die der jeweiligen Sprache mächtig sind, um den Pilgern kirchlichen Beistand und die Beichte anzubieten. Es sollte sich also um Reliquien von Heiligen handeln, die in den östlichen Königreichen eine besondere Bedeutung haben, uns hier in Aachen jedoch nicht unbekannt sind.» Sie schwieg und sah den Kaufmann abwartend an.
In Meister Fábiáns Kopf arbeitete es, das konnte sie seiner gerunzelten Stirn und dem Mahlen seiner Zähne entnehmen. Er sagte lange nichts, doch schließlich beugte er sich ein Stückchen zu ihr vor. «Die heilige Elisabeth vielleicht? Sie gilt als Patronin der Witwen und Waisen, der Bettler und Kranken.»
Marysa nickte bedächtig. «Auch der heilige Stephan wäre passend.»
Fábián legte den Kopf auf die Seite. «Welcher?»
Sie lächelte. «Das kommt darauf an. Der Vorteil von mehreren Heiligen gleichen Namens dürfte aber auf der Hand liegen, oder?»
Der Kaufmann lachte. «Ihr seid wahrlich die Tochter Eures Vaters, Frau Marysa. Wenn Ihr auch die ungarische Zunge wesentlich besser als er beherrscht.» Er lehnte sich wieder zurück. «Nun gut, für den Anfang mögen Elisabeth und Stephan ausreichen. Ich vermute, Ihr wünscht, schon zur Einweihung der neuen Chorhalle eine erste Lieferung zu erhalten?»
Marysa entspannte sich ebenfalls und schmunzelte. «Wenn es möglich wäre.»
Fábián rückte seinen Stuhl zurück und stand auf. «Es ist zumindest nicht unmöglich.» Er verneigte sich höflich. «Lasst mir Eure Bestellung in den nächsten Tagen zukommen. Die Anzahlung beträgt zwei Fünftel des vereinbarten Preises. Ihr könnt mir auch gerne einen Wechsel ausstellen.»
«Das werde ich, Meister Fábián.» Marysa geleitete ihn bis zur Tür. «Gehabt Euch wohl!» Sie sah ihm zu, wie er sein Pferd von dem Pfosten vor dem Haus losband und sich trotz seiner Leibesfülle gewandt in den Sattel schwang. Er nickte ihr noch einmal zu und ritt dann zügig davon.
Marysa wollte die Tür wieder schließen, als sie ihre beiden Knechte, Jaromir und Milo, den Büchel heraufkommen sah. Sie winkten schon von weitem, deshalb wartete sie und ließ die beiden ins Haus.
«Nun, was gibt es?», fragte sie. «Wo ist der Wein, den ihr bei Herrn Gomprecht abholen solltet?»
«Herrin, Ihr werdet es nicht glauben, aber im Zunfthaus der Goldschmiede gab es fast eine Schlägerei!», berichtete Jaromir aufgeregt.
«Tatsächlich?»
«Meister Goldschläger war furchtbar wütend und hat Meister Hont so angebrüllt, dass man es fast bis auf den Parvisch gehört hätte», übernahm nun Milo das Wort.
Marysa warf den beiden Gesellen, die in ihrer Arbeit innegehalten hatten, einen kurzen Blick zu und winkte den Knechten dann, ihr aus der Werkstatt in ihr kleines Kontor zu folgen. «Und weiter?» Auffordernd blickte sie Jaromir an.
Dieser berichtete: «Er hat zu Meister Hont gesagt, dass er seine Gesellen in der Chorhalle weiterarbeiten lassen will, solange er krank ist.»
«Aber Meister Hont wollte nichts davon hören», fuhr nun Milo wieder fort. «Ich glaube, er hat irgendwas Beleidigendes gesagt, denn Bruno, der als Knecht im Zunfthaus arbeitet, hat erzählt, Meister Goldschläger sei daraufhin auf Hont losgegangen. Aber die anderen Meister konnten ihn zurückhalten, sonst hätt’ er dem Zunftgreven die Fresse poliert.»
«Milo!» Marysa hob warnend die Hand. «Mäßige deine Zunge!»
«’tschuldigung.» Milo grinste schief. Obwohl er bereits fast achtzehn Jahre alt war und nun seit über einem Jahr in Marysas Diensten stand, merkte man ihm die vielen Jahre, die er als Gassenjunge verbracht hatte, noch immer deutlich an. «Aber es muss wirklich so gewesen sein. Bruno hat sich das nicht ausgedacht.»
«Nun, wenn es sich tatsächlich so zugetragen haben sollte, dann hatte Meister Goldschläger gewiss einen guten Grund, sich aufzuregen», befand Marysa, die sich jedoch insgeheim wunderte. Bardolf neigte eigentlich nicht dazu, gewalttätig zu werden. Vielleicht sollte sie kurz bei ihrer Mutter nach dem Rechten sehen. Das Wetter an diesem Mittwochmorgen war zwar kalt, aber freundlich. Wie geschaffen für einen kurzen Spaziergang. Auf dem Rückweg würde sie beim Marienstift vorbeigehen und fragen, ob Scheiffart noch einen Auftrag für sie hatte.
«Wo ist nun der Wein?», wiederholte sie ihre Frage.
«Nicht da», antwortete Jaromir. «Herr Gomprecht sagte uns, dass seine Lieferung noch nicht angekommen sei. Aber er gibt Euch Bescheid, sobald er den Wein im Lager hat.»
Diese Nachricht war nun wirklich ärgerlich. Marysas Weinvorrat ging allmählich zur Neige, und für die nächsten Tage hatte sie die anderen Reliquienhändler eingeladen. Das war wohl ein Grund mehr, in der Kockerellstraße vorbeizuschauen. Vielleicht konnte ihre Mutter ihr ein Fässchen Wein aus ihrem Keller bringen lassen.
«Jaromir, geh in den Stall und hilf Grimold beim Ausmisten», befahl sie. «Milo, du begleitest mich zum Haus meiner Mutter.»
«Aber selbstverständlich lasse ich dir von Tibor ein Fässchen Wein hinüberbringen!», antwortete Jolánda wenig später auf Marysas Frage hin. «Was wohl Gomprechts Lieferung aufgehalten haben mag? Hoffentlich keine Wegelagerer!»
«Das hoffe ich ebenfalls», sagte Marysa. «Vielleicht gab es ja nur Probleme mit dem Transport. Nach dem Regen der letzten Tage sind die Straßen und Wege vermutlich in einem schauderhaften Zustand.»
«Stimmt. Selbst in der Stadt kann man kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen», klagte Jolánda. «Ich habe mir gestern schon das zweite Paar Schuhe verdorben, trotz der Holztrippen.» Sie zuckte mit den Schultern. «Aber das Wetter wird sich ändern. Die Wäscherin Lise, Milos Mutter, hat mir gesagt, dass der Wind gedreht hat. Es wird ein Unwetter und danach Frost geben.»
Marysa schmunzelte. «Na, sie muss es ja wissen.»
«Allerdings!» Jolánda tat beleidigt. «Sie hat ein Gespür für das Wetter. Und sie sagt, wenn ihr die Fingergelenke wehtun, gibt es Sturm.»
Marysa ging nicht weiter darauf ein. «Wo wir gerade von Sturm sprechen», wechselte sie stattdessen das Thema, «ich hörte, es gab heute früh einen Zwischenfall im Zunfthaus?»
«Einen Zwischenfall?» Grimmig verzog Jolánda ihren Mund. «Eine Unverschämtheit, die hat es gegeben. Meister Hont hat Bardolf nun tatsächlich vorläufig die Arbeiten in der Chorhalle entzogen und Hyldeshagen damit betraut, obwohl es Bardolfs Fuß schon wieder viel bessergeht. Er wollte sich heute zurückmelden, aber Hont meinte, er müsse sich noch schonen. Die Zunftgebote schrieben vor, dass ein Meister keinerlei körperliche Beeinträchtigungen haben dürfe. Schon gar nicht, wenn er, wie in der Chorhalle, auf diesen hohen Gerüsten arbeiten muss.»
«Ganz unrecht hat er damit nicht», wagte Marysa einzuwenden, fing sich damit aber einen wütenden Blick ihrer Mutter ein.
«Du kennst Hyldeshagen nicht. Wenn er einmal den Auftrag an sich gerissen hat, wird er alles daransetzen, ihn auch zu behalten.»
«Und wie lange wird es dauern, bis Bardolfs Fuß wieder vollständig geheilt ist?», fragte Marysa vorsichtig nach.
Jolánda seufzte. «Nur ein paar Tage, denke ich.»
«Dann wird es schon nicht so schlimm kommen.»
«Hoffentlich.» Der grimmige Ausdruck kehrte in Jolándas Gesicht zurück. «Dieser Auftrag ist nämlich Gold wert – und das meine ich wörtlich, Marysa!»
«Gute Arbeit», lachte die Stimme hinter dem Vorhang. Dann plätscherte Wasser aus einem Krug in eine Waschschüssel. «Auf diese Weise schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe.»
«Der Zufall hat uns in die Hände gespielt», antwortete die zweite Stimme.
«Papperlapapp!», erwiderte die erste, nun in strengem Tonfall. «Das war kein Zufall, sondern ein Wink des Allmächtigen. Daran werdet Ihr doch wohl nicht zweifeln?» Der Krug klirrte leise, ein Mann schob den Vorhang beiseite und trat nun – sauber rasiert – auf seinen Gesprächspartner zu. «Wie es aussieht, brauchen wir nur noch ein Weilchen abzuwarten und den richtigen Zeitpunkt abzupassen.»
«Habt Ihr einen Plan?», fragte die zweite Stimme atemlos.
Ein eigenartiges Gefühl beschlich Christophorus, als er die Stadt durch das Ponttor betrat. Er war schon in zahllosen Städten gewesen, viele davon suchte er regelmäßig auf. Doch niemals hatte er einen bestimmten Ort vermisst, nicht einmal seine Heimatstadt Frankfurt. In dem Moment, da er die verwitterten und stellenweise schon leicht maroden Stadtmauern Aachens in der Ferne auftauchen sah, hatte er es gespürt – das Gefühl, nach Hause zu kommen.