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Fassung in aktueller Rechtschreibung Im Mittelpunkt steht die detailreich geschilderte Kathedrale Notre-Dame de Paris. In ihr spielen die wichtigsten Teile der Romanhandlung, vor allem das Geschehen um die Gestalt des Quasimodo, des Glöckners von Notre-Dame. Hugo, den man wohl als den wichtigsten Schriftsteller der französischen Sprache bezeichnen kann, liefert ein reiches Porträt des spätmittelalterlichen Paris', mit bunt skizzierten Figuren und Orten, und bietet einen spannenden Einblick in die Geschehnisse der damaligen Zeit. Victor Hugo ist der "Shakespeare des Romans" (Alphonse de Lamartine). Hinweise zur Übersetzung: Grundlage ist die bekannte Übersetzung von Friedrich Bremer. Es wurden ca. 3500 Änderungen bzw. Korrekturen vorgenommen, um ein flüssiges aber trotzdem unverfälschtes Lesen zu ermöglich. Zusätzlich wurden 245 erklärende Fußnoten eingefügt. Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 920
Victor Hugo
Der Glöckner von Notre-Dame
Vollständige und überarbeitete Ausgabe
Victor Hugo
Der Glöckner von Notre-Dame
Vollständige und überarbeitete Ausgabe
(Notre-Dame de Paris)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Friedrich Bremer EV: Verlag von Philipp Reclam jun., 1884 und 1895 3. Auflage, ISBN 978-3-954181-43-8
null-papier.de/neu
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur ersten Ausgabe
Victor Hugo, Leben und Werk
Vorwort des Übersetzers
Einleitung
Erstes Buch
1. Der große Saal
2. Peter Gringoire
3. Der Herr Kardinal
4. Meister Jacob Coppenole
5. Quasimodo
6. Die Esmeralda
Zweites Buch
1. Aus der Charybdis in die Skylla
2. Der Grèveplatz
3. Besos para golpes
4. Unannehmlichkeiten, die entstehen, wenn man einem hübschen Frauenzimmer abends in den Straßen nachgeht
5. Weitere Unannehmlichkeiten
6. Der zerbrochene Krug
7. Eine Hochzeitsnacht
Drittes Buch
1. Die Kirche Notre-Dame
2. Paris aus der Vogelschau
Viertes Buch
1. Gute Herzen
2. Claude Frollo
3. Immanis pecoris custos, immanior ipse
4. Der Hund und sein Herr
5. Fortsetzung des Kapitels, welches von Claude Frollo handelte
6. Missliebigkeit
Fünftes Buch
1. Abbas Beati Martini
2. Dies wird jenes vernichten
Sechstes Buch
1. Unparteiischer Blick auf den alten Richterstand
2. Das Rattenloch
3. Geschichte eines Maishefekuchens
4. Eine Träne für einen Tropfen Wasser
5. Ende der Geschichte des Maiskuchens
Siebentes Buch
1. Es ist gefährlich, sein Geheimnis einer Ziege anzuvertrauen
2. Priester und Philosoph sind zweierlei
3. Die Glocken
4. ΑΝΑΓΚΗ
5. Die beiden schwarzgekleideten Männer
6. Was sieben Flüche in freier Luft für eine Wirkung hervorbringen können
7. Der gespenstige Mönch
8. Nutzen der Fenster, die nach dem Flusse hinausgehen
Achtes Buch
1. Der in ein dürres Blatt verwandelte Taler
2. Fortsetzung der Geschichte vom Taler, der in ein dürres Blatt verwandelt wurde
3. Ende der Geschichte vom Taler, der in ein dürres Blatt verwandelt wurde
4. Lasciate ogni speranza
5. Die Mutter
6. Drei verschieden gebildete Menschenherzen
Neuntes Buch
1. Fieber
2. Bucklig, einäugig, lahm
3. Taub
4. Steingut und Kristall
5. Der Schlüssel zur Roten Pforte
6. Fortsetzung der Geschichte vom Schlüssel zur Roten Pforte
Zehntes Buch
1. Gringoire hat mancherlei gute Gedanken im Verfolge der Bernhardinerstraße
2. Werdet ein Landstreicher!
3. Es lebe die Fröhlichkeit!
4. Der ungeschickte Freund
5. Die Einsamkeit, in der Herr Ludwig von Frankreich seine Horen betet
6. »Messer in der Tasche«
7. »Châteaupers zu Hilfe!«
Elftes Buch
1. Der kleine Schuh
2. La creatura bella bianco vestita
3. Heirat des Phöbus
4. Heirat des Quasimodo
Danke, dass Sie sich für ein E-Book aus meinem Verlag entschieden haben.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr Jürgen Schulze
Alice im Wunderland
Anna Karenina
Der Graf von Monte Christo
Die Schatzinsel
Ivanhoe
Oliver Twist oder Der Weg eines Fürsorgezöglings
Robinson Crusoe
Das Gotteslehen
Meisternovellen
Eine Weihnachtsgeschichte
und weitere …
Ich habe diese komplette Erstübersetzung von Friedrich Bremer komplett überarbeitet. Verglichen mit der in Gratisquellen zu findenden Version, habe ich insgesamt über 3500 Korrekturen und Anpassungen vorgenommen.
Aus That wurde Tat, aus Ueberaschung wurde Überraschung und aus Proceßacte die Prozessakte. Statt giebt heißt es nun gibt, statt circuliren nun zirkulieren. Gefahren wird nun im Wagen und gewogen mit der Waage – und nicht umgekehrt.
Meiner Meinung nach wird so am besten das Textgefühl der damaligen Zeit ins Heute herübergerettet.
Einige Fußnoten – meist rund um das Thema Kirche – habe ich erklärend hinzugefügt.
Jürgen Schulze, Neuss Juni 2012
Die Folgen der Revolution beschäftigen Frankreich, als Victor Hugo am 26. Februar 1802 in Besançon geboren wird, zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage nach der Verabschiedung der Konsulatsverfassung, die Napoleon Bonaparte praktisch zum rechtmäßigen Alleinherrscher aller Franzosen bestimmte.
Der junge Royalist
In dieser gesellschaftspolitisch aufgeladenen Atmosphäre wächst der jüngste Sohn von Sophie Trébuchet und General Joseph Léopold Sigisbert Hugo auf. Prägende Kindheitserfahrungen dürften sowohl das unharmonische Verhältnis der Eltern sein als auch das Fehlen fester Bezugspersonen, weil Vater Hugo selten daheim ist und die Mutter ihr Herz einem anderen Mann schenkt.
Victor beteiligt sich früh an Dichterwettbewerben und gründet als Jugendlicher eine royalistische Literaturzeitschrift, die er gemeinsam mit seinen Brüdern betreibt. Zu jener Zeit, im Alter von 17 Jahren, nimmt er ein Jurastudium in Paris auf, wo er gleichzeitig Zutritt zu den städtischen Literaturkreisen findet. Im Jahr 1820 erhält er seine erste Gratifikation für die »Ode sur la mort du duc de Berry«. Zwei Jahre später erscheint sein erster Gedichtband, dessen vollkommen royalistische Haltung ihm eine jährliche Pension von 1000 Francs einbringt.
Literat und Politiker
Seine literarischen Erfolge sind groß genug, um dem hoffnungsfrohen Schriftsteller ein bescheidenes Auskommen zu ermöglichen. Privat sind die frühen 1820er Jahre eine Zeit des Erwachsenwerdens, als Victor Hugo die junge Adèle Foucher zur Frau nimmt. Sie schenkt ihm fünf Kinder, von denen nur die jüngste Tochter ihren Vater überleben wird.
Mit Glück und Unglück der Familie geht der literarische Aufstieg Hugos einher, dem es gelingt, seinen Lieben eine vorerst genügsame Existenz zu erarbeiten, als er für sein 1823 veröffentlichtes Romandebüt »Han d’Islande« Bezüge von jährlich 2000 Francs bekommt. Im folgenden Jahr kündigen sich zarte Knospen eines Gesinnungswandels an, als er in den Kreis der Romantiker um Charles Nodier aufgenommen wird. Noch bleibt Hugo der Royalist, als der er aufgewachsen ist, ab 1826 vollzieht er einen radikal erscheinenden Gesinnungswandel zum Liberalen. Schon ab 1827 gilt Victor Hugo als maßgeblich für die romantische Literatur, zwei Jahre später erscheinen seine zunächst gemäßigten, später eindeutig regimekritischen Romane und Dramen.
Das Jahr 1833 kennzeichnet einen neuen Lebensabschnitt Hugos, als die Schauspielerin Juliette Drouet zu seinem neuen privaten Glück wird. Spätestens seit 1838 ist der Schriftsteller ein wohlhabender Mann, denn ein Verlag erwirbt für eine stattliche Summe sämtliche Rechte an Hugos Werken. Fünf Jahre später wird der Autor zum Mitglied der Académie française gewählt, 1845 schließlich ernennt ihn »Bürgerkönig« Louis-Philippe zum Pair. Seine Kollegen im Oberhaus verunsichert der Autor durch liberale Stellungnahmen, die von einem konservativen Abgeordneten in dieser Weise nicht zu erwarten sind.
Sein unabhängiges Denken trägt ihm im Jahr 1852 Verhaftung und anschließende Verbannung ein, als er gegen den Staatsstreich Bonapartes demonstriert. Sein Exil in Saint Peter Port nutzt der missliebige Schriftsteller, um »Napoléon le Petit« aus der Ferne zu attackieren und um sozialkritische Schriften zu verfassen. Im Jahr 1871, Napoléon III. ist gestürzt und die Dritte Republik ausgerufen, kehrt Hugo nach Paris zurück, wo er 1876 in den Senat gewählt wird. Als er 1885 stirbt, ist der leidenschaftliche Literat und Homo politicus eine intellektuelle Institution Frankreichs. Victor Hugo wird in der zum Panthéon umgewidmeten Kirche der Heiligen Genoveva in einem Ehrengrab beigesetzt.
Bedeutung und Schaffen des Monsieur Hugo
Die Trauer der Franzosen um ihren Nationalschriftsteller – seine Bedeutung ist mit derjenigen Goethes für Deutschland vergleichbar – war enorm, das Bedürfnis überwältigend, ihn angemessen zu ehren. Die Pariser Kirche St. Genoveva war bereits während der Revolutionsjahre zum Panthéon umgewidmet, später erneut geweiht und nun, anlässlich Hugos Bestattung, wieder zur Ehrenhalle ernannt worden. Der Autor war nach einem Schlaganfall im Jahr 1878 weniger aktiv gewesen als zuvor, dennoch galt er zum Zeitpunkt seines Todes als lebende Legende, als eine der bedeutsamsten Berühmtheiten seiner Zeit.
Das lag selbstverständlich an seinem mutigen politischen Engagement einerseits, andererseits besaß Hugo gewaltigen kulturellen Einfluss: In den späten 1820er Jahren, als er stilistisch und politisch gewissermaßen erwachte, prägte er sowohl Theater als auch Literatur der Romantik, als deren Kopf er seit 1827 galt. Unter anderem löste sein Stück »Hernani« bei der Premiere im Jahr 1830, heftige Auseinandersetzungen im Publikum aus.
Eines der bekanntesten Werke Hugos ist der im folgenden Jahr veröffentlichte historische Roman »Notre-Dame de Paris« (Der Glöckner von Notre-Dame), der viel mehr ist als das heute häufig aufgegriffene Liebesdrama um den verkrüppelten Quasimodo und seine schöne Esmeralda. Bei der unglücklichen Verehrung Quasimodos für die angebliche Zigeunerin handelt es sich lediglich um einen der vielen Handlungsstränge, die Hugo erst am Ende zusammenführt. Das Buch ist gleichermaßen sozial- und regimekritisch; darüber hinaus spricht es kulturelle Werte an, die seinerzeit kaum Beachtung fanden, indem es sich beispielsweise für den Erhalt historischer Bausubstanz einsetzt. Der Roman stieß bereits kurz nach Erscheinen auf außerordentlichen Anklang, Schriftstellerkollegen würdigten ihn als epochal – Lamartine erklärte Hugo gar zum »Shakespeare des Romans«.
Wie kein Zweiter verstand es Victor Hugo, dieser zutiefst politische Literat, Privates mit Gesellschaftlichem zu verknüpfen. Auch in »Notre-Dame de Paris« schlägt sich sein persönliches Fühlen nieder, wenn er einen seiner Protagonisten ins Unglück stürzt, indem er ihn verheiratet: Der Autor selbst verlor seine erste Gattin an einen Freund und Schriftsteller-Kollegen, der Affäre stand er hilflos duldend gegenüber. Erst nachdem er seine neue Lebensgefährtin Juliette Drouet kennenlernte, wich die Bitterkeit wieder aus seinen Schriften.
Nach der Julirevolution von 1830 verfasste Hugo zunächst extrem kritische Werke. Nachdem er aber den »Bürgerkönig« Louis-Philippe persönlich kennengelernt hatte, verlor sich diese Distanz vorerst. Anfangs musste der Literat damit leben, dass Stücke verboten wurden, »Le roi s’amuse« (Der König amüsiert sich) aus dem Jahr 1832 beispielsweise. Die weniger aufrührerischen oder gänzlich unkritischen Werke der folgenden Jahre, »Lucrèce Borgia«, »Marie Tudor«, »Angelo« und »Ruy Blas« wurden hingegen öffentlich goutiert. Gleichzeitig schrieb Hugo mehrere Gedichtbände, in denen sich nicht selten Persönliches niederschlug. Das änderte sich ab 1848 und während der Jahre des Exils auf Jersey und Guernsey, denn hier entstanden sowohl bissige politische Gedichte als auch das im Jahr 1862 vollendete »Les Misérables« (Die Elenden), woran der Autor bereits seit 1847 gearbeitet hatte. In gewisser Weise fließen in diesem Buch die Persönlichkeitsanteile des großen Franzosen wie in einem Schmelztiegel ineinander: sein kritischer Verstand, seine Urteilskraft und seine Fähigkeit zur Anteilnahme.
Der berühmte Roman Victor Hugos wird hiermit der deutschen Leserwelt in einer neuen Übersetzung dargeboten.
Ich habe mich bemüht, Form und Geist dieses größten Erzeugnisses der neuromantischen Litteratur Frankreichs treu und unverkürzt zu übermitteln; nur an einigen wenigen Stellen, wo die Diction forciert oder für die deutsche Fantasie zu glühend erscheint, sind mit leiser Hand kleine Dämpfungen angebracht worden. Die Übersetzung nimmt trotzdem aber das Recht für sich in Anspruch, eine im Sinne des Originales treue heißen zu können.
Möge meine Arbeit keine Splitterrichter finden, die Gunst des verehrlichen Publikums sich der mit Recht weltberühmten Dichtung aber von Neuem zuwenden!
Leipzig, Frühjahr 1884.
B.
Vor einigen Jahren fand der Verfasser dieses Buches beim Besuche, oder besser gesagt, beim Durchsuchen von Notre-Dame, in einem versteckten Winkel des einen der Türme das Wort:
ΑΝΑΓΚΗ1
mit der Hand in die Mauer eingegraben.
Diese großen griechischen Buchstaben, die vor Alter schwarz geworden und ziemlich tief in den Stein eingekratzt waren, hatten in ihren Formen und Stellungen so eigentümliche, an die gothische Schreibkunst erinnernde Züge, dass man in ihnen die mittelalterliche Hand erriet, welche sie da angeschrieben hatte. Überdies ergriff der düstere und unheimliche Sinn, den sie enthielten, den Autor in lebhafter Weise.
Er fragte sich, er suchte zu erraten, wer wohl die bedrängte Seele sein konnte, welche diese Welt nicht hatte verlassen wollen, ohne dieses Denkzeichen eines Verbrechens oder Unglücks an der Front der alten Kirche zu hinterlassen.
Seitdem hat man die Mauer mit Mörtel übertüncht, oder irgendjemand sie abgekratzt, und die Inschrift ist verschwunden. Denn so verfährt man seit bald zweihundert Jahren mit den wundervollen Kirchen des Mittelalters. Verstümmelungen erleiden sie von allen Seiten, von innen so wie von außen. Der Priester übertüncht sie, der Baumeister kratzt sie ab; schließlich kommt das Volk darüber und demoliert sie.
Daher ist außer dem schwachen Andenken, welches der Autor dieses Buches ihm hier widmet, heute nichts mehr von dem geheimnisvollen, im düstern Turme von Notre-Dame eingegrabenen Worte übrig; nichts mehr von dem unbekannten Schicksale, welches es in so schwermütiger Weise zum Ausdruck bringt. Der Mensch, welcher das Wort auf die Mauer geschrieben hat, ist vor mehreren Jahrhunderten aus der Mitte der Geschlechter verschwunden, das Wort gleichfalls von der Mauer verwischt, und die Kirche wird vielleicht selbst bald von der Erde verschwinden.
Gerade über dieses Wort ist vorliegendes Buch geschrieben worden.
März 1831.
Altgriechisch: Verhängnis, Schicksal. Anm. d. Übers. <<<
Heute vor dreihundertachtundvierzig Jahren sechs Monaten und neunzehn Tagen erwachten die Pariser unter dem Geläute aller Glocken, welche innerhalb des dreifachen Bereiches der Altstadt, Südstadt oder des Universitätsviertels und der Nordstadt mit lautem Schalle ertönten.
Und dennoch ist der 6. Januar 1482 kein Tag, von dem die Geschichte eine Erinnerung bewahrt hat. Nichts Merkwürdiges war an dem Ereignisse, welches seit dem Morgen die Glocken und die Bürger von Paris so in Bewegung und Erregung versetzte. Weder war es ein Überfall der Picarden oder der Burgunder, noch ein glänzender Jagdaufzug, noch ein Studententumult im Weingarten von Laas, noch ein Einzug »unseres allergnädigsten Herrn, des sehr gefürchteten Herrn Königs«, noch auch eine hübsche Aufknüpfung von Spitzbuben und Diebinnen im Gerichtshofe zu Paris. Nein, nicht einmal die im fünfzehnten Jahrhunderte so häufige Überraschung durch irgendwelche verbrämte und mit Federbüschen geschmückte Gesandtschaft war es. Vor kaum zwei Tagen hatte der letzte derartige Aufzug, nämlich derjenige der flamländischen1 Gesandten, welche mit Abschließung des Ehebündnisses zwischen dem Dauphin und Margarethen von Flandern beauftragt waren, seinen Einzug in Paris gehalten, zum großen Verdrusse des Herrn Kardinals von Bourbon, welcher, dem Könige zu gefallen, dieser ganzen tölpelhaften Gesellschaft flamländischer Bürgermeister höflich begegnen und sie in seinem Palaste Bourbon mit einem »viel köstlichen Moralitätsspiele, Possen- und Schwankspiele« hatte unterhalten müssen, während ein Platzregen die prächtigen Teppiche vor seinem Tore überschwemmte.
Der 6. Januar, welcher »die ganze Bevölkerung von Paris in Bewegung brachte«, wie Jehan von Troyes erzählt, vereinigte seit undenklicher Zeit ein Doppelfest in sich: das des Königstages und des Narrenfestes.
An diesem Tage musste es Freudenfeuer auf dem Grèveplatze, Maibaum-Aufstellung in der Kapelle Braque und geistliches Schauspiel im Justizpalaste geben. Am Abend vorher war es unter Trompetenschall in den Gassen durch des Herrn Oberrichters Leute in ihren Waffenröcken von violettem Camelot,2 mit großen weißen Kreuzen auf der Brust, ausgerufen worden.
Das Gedränge der Bürger und Bürgerinnen wogte also vom Morgen an, und nachdem Häuser und Verkaufsläden geschlossen waren, von allen Seiten nach einer der drei bezeichneten Stellen hin. Ein jeder hatte Partei genommen: der eine für das Freudenfeuer, der andere für die Maie, der dritte für das geistliche Schauspiel. Zum Ruhme des einfachen, gesunden Menschenverstandes der Pariser Maulaffen muss man sagen, dass der größte Teil der Menge seine Schritte nach dem Freudenfeuer lenkte, welches ganz zum Wetter passte, oder nach dem Schauspiele, welches in dem wohl verdeckten und geschlossenen Saale des Palastes aufgeführt werden sollte; und dass die Schaulustigen übereingekommen waren, die arme, grüne Maie ganz allein unter dem Januarhimmel auf dem Kirchhofe der Kapelle Braque frieren zu lassen.
Das Volk wogte vornehmlich auf den Zugängen nach dem Justizpalaste, weil man wusste, dass die flamländischen Gesandten, welche vor zwei Tagen eingetroffen waren, sich entschlossen hatten, der Aufführung des Schauspiels und der Wahl des Narrenpapstes beizuwohnen, die gleichfalls im großen Saale stattfinden sollte.
Es war kein leichtes Vorhaben, an diesem Tage in jenen Saal zu gelangen, welcher damals für den größten bedeckten Raum, der in der Welt war, galt (freilich hatte Sauval den großen Saal des Schlosses Montargis noch nicht ausgemessen). Der menschenbedeckte Platz vor dem Palaste bot den Schaulustigen an den Fenstern den Anblick eines Meeres dar, in welches fünf bis sechs Straßen als ebenso viele Strommündungen jeden Augenblick neue Fluten von Köpfen ergossen. Die Wogen dieser unaufhörlich zunehmenden Menge brachen sich an den Ecken der Häuser, welche hier und da, wie ebenso viele Vorgebirge in das unregelmäßige Becken des Platzes hervortraten. In der Mitte der hohen gothischen3 Fassade des Palastes wogte die große Treppe unaufhörlich ein Doppelstrom auf und ab, welcher, nachdem er sich unter dem Zwischenperron gebrochen hatte, in großen Wellen auf seine beiden Seitentreppen hinströmte; ohngefähr, behaupte ich, wie eine Kaskade in einen See spie die große Treppe unaufhörlich Menschen auf den Platz. Das Schreien, Lachen, Stampfen dieser Tausende von Füßen verursachte einen großen Lärm und mächtiges Toben. Von Zeit zu Zeit verdoppelten sich dieses Toben und Lärmen, sobald der Strom, welcher die ganze Menschenmasse nach der großen Treppe zu trieb, zurückprallte, durcheinander wogte und wirbelte; oder wenn ein Häscher Rippenstöße verteilte, oder das Pferd eines Sergeanten vom Gerichtsamte hinten ausschlug, um die Ordnung wieder herzustellen: – eine herrliche Überlieferung, welche das Obergerichtsamt an die Landreiter, und die Landreiter an unsere Pariser Gendarmerie vererbt haben.
An den Türen, in den Fenstern, an den Dachluken, auf den Dächern wimmelte es von Tausenden jener guten, ruhigen, rechtlichen Bürgergestalten, welche den Palast betrachteten, das Gedränge beobachteten und nichts weiter verlangten; denn sehr viele Leute in Paris sind schon zufrieden, Zuschauer von Zuschauern sein zu können, und für manche von uns ist schon eine Mauer, hinter der sich etwas ereignet, eine sehr merkwürdige Sache.
Wenn es uns, den Menschen von 1830, erlaubt wäre, im Gedanken uns unter diese Pariser des fünfzehnten Jahrhunderts zu mischen, und mit ihnen, gedrängt, gestoßen und getreten in den ungeheuern Saal des Palastes einzudringen, welcher am 6. Januar 1482 so beengt war, – dies Schauspiel würde für uns nicht ohne Reiz und Vergnügen sein, und wir würden so viel altertümliche Gegenstände rings um uns erblicken, dass sie uns ganz neu erscheinen müssten.
Wenn es dem Leser recht ist, wollen wir versuchen, den Eindruck zu schildern, den er beim Eintritt in diesen Saal, mitten unter den Schwarm in Wamms, in Jacke und in Weiberrock mit uns empfangen haben würde.
Schon von vornherein sind unsere Ohren betäubt, unsere Augen geblendet. Über unseren Köpfen befindet sich ein doppelbogiges Gewölbe, mit Holzbildschnitzereien vertäfelt, azurblau gemalt und mit goldenen Blumen geschmückt; unter unseren Füßen ein abwechselnd aus weißem und schwarzen Marmor zusammengesetzter Boden. Einige Schritte von uns erhebt sich ein riesiger Pfeiler, dann ein zweiter, dann noch einer: im ganzen sieben Pfeiler in der Länge des Saales, der mitten in seiner Breite die Schwibbogen der Doppelwölbung trägt. Rings um die vier ersten Pfeiler stehen Kramläden, die von Glas und Flittertand glänzen, um die drei Letzten Bänke von Eichenholz, die von den Hosen der Prozessierenden und den Amtskleidern der Sachwalter abgenutzt und glatt gesessen sind. Ringsum im Saale, längs der hohen Wände, zwischen den Türen, den Nischen und den Pfeilern befinden sich in unabsehbarer Reihe die Statuen aller Könige Frankreichs seit Pharamund: die schwachen Regenten unter ihnen mit herabhängenden Armen und gesenkten Blicken; die tapferen, schlachtberühmten mit mutig zum Himmel erhobenem Haupte und Händen. In den hohen Rundbogenfenstern aber glänzen tausendfarbige Scheiben; an den breiten Ausgängen des Saales sehen wir reiche Türen mit schöner Holzschnitzerei; und das Ganze: Gewölbe, Pfeiler, Wände, Simswerk, Täfelung, Türen und Statuen, ist von oben bis unten mit glänzender Malerei in Blau und Gold bedeckt, welche, als schon ein wenig gedunkelt in dem Zeitraume wo wir sie sehen, im Jahre der Gnade 1549, wo Du Breul sie nach der Überlieferung noch bewunderte, fast ganz unter dem Staube und den Spinneweben verschwunden war. Nun denke man sich diesen ungeheuren Saal in rechteckiger Gestalt erleuchtet von dem matten Lichte eines Januartages, überschwemmt von einer lärmenden und bunten Menge, die längs der Wände hinflutend um die sieben Pfeiler brandet, und man wird einen allgemeinen Eindruck von dem ganzen Gemälde haben, das wir in seinen merkwürdigen Einzelnheiten zu schildern versuchen wollen.
Sicher ist, dass, wenn Ravaillac Heinrich den Vierten überhaupt nicht ermordet hätte, es gar keine Prozessakten Ravaillacs, die in der Kanzlei des Justizpalastes lagen, gegeben haben würde; dass keine Mitschuldigen Interesse daran gehabt hätten, die genannten Akten verschwinden zu lassen; folglich keine Brandstifter erforderlich waren, um, mangels eines bessern Mittels, die Kanzlei anzuzünden, um die Akten zu verbrennen, und den Justizpalast einzuäschern, um die Kanzlei mit Feuer zu vernichten; in Folge wovon es schließlich 1618 keine Feuersbrunst gegeben hätte. Der alte Palast mit seinem alten großen Saale würde noch stehen, und ich könnte zum Leser sprechen: »Geh hin und sieh ihn an«; und wir würden demnach alle beide überhoben sein: ich, eine Beschreibung zu geben, und er, eine mittelmäßige Beschreibung zu lesen. – Diese neue Wahrheit beweist, dass große Ereignisse unberechenbare Folgen haben.
Freilich würde es sehr wohl möglich sein können, sobald Ravaillac keine Mitschuldigen hatte; hernach, dass seine Mitschuldigen, sofern er solche zufällig hatte, beim Brande von 1618 umsonst waren. Es gibt dafür zwei andere sehr annehmbare Erklärungen. Erstens: den großen flammenden Stern von ein Fuß Breite und einer Elle Höhe, der, wie jedermann weiß, am 7. März nach Mitternacht vom Himmel auf den Palast fiel. Zweitens: den vierzeiligen Vers Theophiles:
Der Spaß war wahrlich teuer, Als in Paris der Dame Recht Vom zu viel Schlingen wurde schlecht, Der Palast ganz aufging in Feuer.
Was man von dieser dreifachen politischen, natürlichen und poetischen Erklärung des Brandes des Justizpalastes im Jahre 1618 auch denken mag, die unglücklicherweise feststehende Tatsache ist der Brand. Heute ist nur noch sehr wenig vorhanden, Dank diesem Unglücke, Dank vornehmlich den verschiedenen Wiederherstellungsversuchen im Laufe der Zeit, welche vollends zu Grunde gerichtet haben, was er verschont hatte; es ist nur noch sehr wenig von diesem ersten Aufenthaltsorte der französischen Könige, von diesem ursprünglichen Palastbaue des Louvre übrig, der schon zu Philipps des Schönen Zeit so alt war, dass man hier nach den Spuren der prächtigen Bauten forschte, die vom König Robert aufgeführt und von Helgaldus beschrieben worden sind. Fast alles ist verschwunden. Was ist aus dem Zimmer der Kanzlei geworden, wo der heilige Ludwig »seine Ehe vollzog«? Was aus dem Garten, wo er Recht sprach, »angetan mit einem Camelotrocke, mit einem grobwollenen Obergewande ohne Ärmel, und mit einem Mantel darüber von schwarzem Sandal, auf Teppichen liegend mit Joinville«? Wo ist das Zimmer des Kaisers Sigismund? Dasjenige Karls des Vierten? Dasjenige Johanns ohne Land? Wo ist die Treppe, von welcher Karl der Sechste sein Gnadenedikt verkündete? Die Steinplatte, wo Marcel, in Gegenwart des Dauphins, den Robert von Clermont und den Marschall von Champagne erwürgte? Das Pförtchen, wo die Bullen des Gegenpapstes Benedikt zerrissen wurden, und aus welchem diejenigen mit Spottchorröcken und Bischofsmützen angetan heraustraten, welche sie überbracht hatten, und welche öffentliche Buße durch ganz Paris taten? Und wo der große Saal mit seiner Vergoldung, seinem Azurblau, seinen Spitzbogen, seinen Statuen, seinen Pfeilern; wo sein ungeheures Gewölbe, das von Steinmetzarbeiten ganz überzogen war? Und das vergoldete Zimmer? Und der steinerne Löwe, der an der Tür stand, mit gesenktem Kopfe, den Schwanz zwischen den Beinen, wie die Löwen an Salomo’s Throne, in der demütigen Stellung, welche sich für die Stärke vor der Gerechtigkeit schickt? Und wo die schönen Türen, und die farbenprächtigen Fenster? Wo die getriebenen Eisenbeschläge, welche Biscornette abschreckten? Und die zierlichen Schreinerarbeiten Du Hancys? … Was hat die Zeit, was haben die Menschen aus diesen Wunderwerken gemacht? Was hat man uns für alles das gegeben; für jene ganze Geschichte unserer Vorfahren, für jene ganze gothische Kunst? Die plumpen Halbwölbungen des Herrn de Brosse, dieses ungeschickten Baumeisters des Portals von Saint-Gervais – das hat man uns für die Kunst gegeben; und was die Geschichte betrifft, so haben wir die geschwätzigen Erinnerungen der dicken Schandsäule, die noch völlig wiederhallt von dem Altweibergewäsch der Leute wie Patru.4 Das hat keine Bedeutung. – Wir wollen zu dem wirklichen großen Saale in dem wirklichen alten Palaste zurückkehren.
Die beiden Endseiten dieses gigantischen Rechtecks waren gleichfalls nicht frei: die eine war von der berühmten Marmorplatte aus einem Stücke eingenommen, welche so lang, breit und dick war, wie man sie niemals gesehen hat, erzählen die alten Grundbuchakten in einem Stile, der die Begierde Gargantua’s, »eines ähnlichen Marmorblockes in der Welt« gereizt haben würde; an der anderen Seite befand sich die Kapelle, in welcher Ludwig der Elfte, auf den Knien vor der heiligen Jungfrau liegend, sich in Marmor hatte abkonterfeien lassen, und wohin er, unbekümmert, dass zwei Nischen in der Reihe der königlichen Standbilder leer würden, diejenigen Karls des Großen und des heiligen Ludwig hatte bringen lassen, – zwei Heilige, von denen er glaubte, dass sie als Könige von Frankreich im Himmel großes Ansehn hätten. Diese noch neue, kaum seit sechs Jahren fertige Kapelle war ganz im reizenden Geschmacke jener feinen Bauart und wunderbaren Meisel- und Grabstichelarbeit ausgeführt, die in Frankreich das Ende der gothischen Bauperiode kennzeichnet, und bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in den zauberischen Fantasiespielen der Renaissance fortdauert. Die kleine, durchbrochene Rosette über dem Portale besonders war ein Meisterwerk von Zartheit und Anmut: man hätte sie für einen Stern aus Spitzen halten mögen.
Mitten im Saale, der großen Tür gegenüber, war eine mit Goldbrokat bedeckte Erhöhung, die bis an die Mauer reichte, errichtet worden, und auf ihr durch ein Fenster aus dem Gange zu dem sogenannten goldenen Zimmer, ein besonderer Eingang für die flamländischen Gesandten und andere hohe Personen hergestellt, die zur Aufführung des Schauspieles geladen worden waren.
Dieses Schauspiel musste dem Herkommen gemäß auf der Marmorplatte aufgeführt werden. Am Morgen war sie dazu hergerichtet worden; die große Marmorfläche, die von den Absätzen der Parlamentsschreiber ganz zerritzt war, trug ein ziemlich hohes Balkengerüst, dessen Oberfläche, vom ganzen Saale aus sichtbar, als Theater dienen sollte, während sein mit Teppichen ringsum verhängtes Innere für die Personen des Stückes als Ankleidezimmer herhalten musste. Eine Leiter, die offenherzig außerhalb angebracht war, sollte die Kommunikation zwischen Szene und Ankleidezimmer unterhalten, und ihre steilen Sprossen den auf- und abtretenden Personen herleihen. Da gab es keine so plötzliche Erscheinung, keine Entwicklung im Schauspiel, keinen Theatereffekt, der nicht gezwungen gewesen wäre, auf der Leiter hinaufzuklettern. – O du unschuldige, teuere Einfalt in Kunst und Maschinerien!
Vier Diener des Gerichtsvogtes, die gewöhnlichen Aufseher aller Volksbelustigungen sowohl an den Festtagen, als an den Hinrichtungstagen, standen an den vier Ecken der Marmorplatte. Erst mittags, beim zwölften Glockenschlage auf der großen Palastuhr sollte das Stück beginnen. Das war freilich recht spät für eine Theateraufführung; aber man hatte auf die Zeit der Gesandtschaft Rücksicht zu nehmen.
Nun wartete diese ganze Menge schon seit dem Morgen. Eine gute Anzahl dieser neugierigen Spießbürger fror seit Tagesanbruch vor der großen Treppe des Palastes; ja, einige versicherten, die ganze Nacht dem Tore gegenüber zugebracht zu haben, um sicher zuerst den Saal zu betreten. Die Menge wurde jeden Augenblick dichter, und wie ein Gewässer, das sein Bett verlässt, fing sie an längs der Wände in die Höhe zu steigen, um die Säulen herum anzuschwellen, an den Täfelungen, Karnießen,5 Fensterbrettern, an allen Vorsprüngen der Architektur und an allen Erhöhungen der Bildhauerarbeit hinaufzusteigen. Dazu der Zwang, die Ungeduld, die Langeweile, die Zügellosigkeit eines frechen Narrenfestes, die Streitigkeiten, welche bei jeder Gelegenheit wegen eines spitzen Ellenbogens, eines eisenbeschlagenen Schuhes ausbrachen, das ermüdend lange Warten, – alles das gaben schon lange vor der Zeit, in welcher die Gesandtschaften anlangen sollten, dem Geschrei dieses eingeschlossenen, eingepferchten, gequetschten, erstickten Volkes einen scharfen und bittern Ausdruck. Man hörte nur Klagen oder Verwünschungen gegen die Flamländer, gegen den Oberbürgermeister, den Kardinal von Bourbon, den Palastvogt, gegen Madame Margarethe von Östreich, gegen die Polizisten, über Kälte, Hitze und schlechtes Wetter, gegen den Bischof von Paris, gegen den Narrenpapst, gegen die Pfeiler und Statuen, gegen diese verschlossene Tür und jenes offene Fenster, – alles das zur großen Belustigung der unter der Volksmenge zerstreuten Studenten- und Bedientenrudel, welche diese Unzufriedenheit durch ihre boshaften Neckereien erhöhten, und die allgemeine Missstimmung, so zu sagen, mit Nadelstichen reizten.
Unter anderen befand sich ein Haufe dieser lustigen Teufel, welche die Scheiben eines Fensters eingestoßen und sich keck auf das Gesims gesetzt hatten, und von wo aus sie ihre Blicke und Spöttereien abwechselnd bald nach innen, bald nach außen, auf die Menge im Saale und auf die des Platzes hinschickten. An ihren äffenden Gebärden, an ihrem lauten Gelächter, an den spöttischen Zurufen, welche sie von einem Ende des Saales bis zum anderen mit ihren Kameraden wechselten, konnte man leicht erkennen, dass diese jungen Gelehrten nicht die Langeweile und die Ermüdung der übrigen Anwesenden teilten, sondern dass sie recht gut verstanden, bei dem, was unter ihren Augen vorging, zu ihrem Privatvergnügen ein Schauspiel zu genießen, welches sie das andere geduldig erwarten ließ.
»Bei meiner Seele, Ihr seid’s, Johannes Frollo de Molendino!« rief einer von ihnen einer Art kleinem blonden Teufel mit hübschem und schalkhaften Gesichte zu, der sich an das Laubwerk eines Säulenknaufes angeklammert hatte, »Ihr heißt ganz richtig Mühlenhannes, denn Eure zwei Arme und Beine sehen ganz wie vier Flügel aus, die im Winde tanzen. Seit wie lange seid Ihr hier?«
»Bei der Gnade des Teufels«, antwortete Johannes Frollo, »seit mehr als vier Stunden, und ich hoffe mit Recht, dass sie mir dereinst auf meine Fegefeuerzeit angerechnet werden. Ich habe um Sieben die acht Sänger des Königs von Sizilien die erste Strophe des Hochamts in der heiligen Kapelle anstimmen hören.«
»Schöne Sänger das!« versetzte der andere, »und die eine noch spitzere Stimme haben, als ihre Mütze. Ehe der König dem heiligen Herrn Johannes eine Messe stiftete, hätte er sich erst erkundigen sollen, ob der heilige Herr Johannes lateinischen Psalmengesang mit provençalischem Akzent vertragen kann.«
»Bloß um die verdammten Sänger des Königs von Sizilien anzubringen, hat er das getan«, rief ärgerlich ein altes Weib in der Menge unter dem Fenster. »Ich frage Euch nur! tausend Livres Pariser Münze für eine Messe! Und außerdem die Pachtung des Seefisches in den Markthallen von Paris auch noch!«
»Ruhig, Alte!« versetzte ein dicker ernsthafter Mann, welcher sich neben dem Fischweibe die Nase zuhielt, »er musste wohl eine Messe stiften. Möchtet Ihr etwa, dass der König wieder krank würde?«
»Brav gesprochen, Herr Gilles Lecornu, Meister Hofkürschner!« rief der kleine Student, der am Säulenknaufe sich angeklammert hatte.
Ein lautes Gelächter aller Studenten bewillkommnete den unglücklichen6 Namen des armen Hofkürschners.
»Lecornu! Gilles Lecornu!« riefen die einen.
»Cornutus et hirsutus«,7 entgegnete ein anderer.
»Ei gewiss«, fuhr der Kleine oben auf dem Säulenknaufe fort. »Was ist da zu lachen? Ein Ehrenmann, der Gilles Lecornu, der Bruder des Meisters Johann Lecornu, des Profoß im königlichen Palaste, der Sohn vom Meister Mahiet Lecornu, dem Oberwaldhüter im Gehölz von Vincennes, – alles Bürger von Paris, alle verheiratet vom Vater bis zum Sohne!«
Die Ausgelassenheit verdoppelte sich. Der dicke Kürschner bemühte sich, ohne ein Wort zu sprechen, den Blicken sich zu entziehen, die überallher auf ihn gerichtet waren; – aber vergebens schwitzte und keuchte er: wie ein Keil, der ins Holz getrieben wird, dienten die Anstrengungen, die er machte, nur dazu, sein breites, aufgedunsenes, vor Zorn und Ärger purpurrotes Gesicht noch fester zwischen die Schultern seiner Nachbarn einzuklemmen. Endlich kam ihm einer von diesen, welche kurz, dick und ansehnlich wie er waren, zu Hilfe.
»Abscheulich! Schuljungen, die so mit einem Bürger sprechen! Zu meiner Zeit hätte man sie mit Ruten ausgepeitscht, und dann hätte man sie verbrannt.«
Die ganze Bande brach nun los.
»Holla he! wer liest da einem den Text? Wer ist der Unglücksrabe?«
»Warte, ich kenne ihn«, sagte ein anderer, »es ist Meister Andry Musnier.«
»Jawohl, es ist einer von den vier geschworenen Universitätsbuchhändlern«, sagte ein anderer.
»Alles ist vierfach in dieser Bude«, schrie ein dritter, »die vier Nationen, die vier Fakultäten, die vier Feste, die vier Prokuratoren,8 die vier Wahlmänner, die vier Buchhändler.«
»Nun wohl«, entgegnete Johann Frollo, »man muss ihnen auch den Teufel vervierfachen.«
»Musnier, wir werden deine Bücher verbrennen.«
»Musnier, wir werden deinen Diener prügeln.«
»Musnier, wir werden deine Frau zerdrücken.«
»Die gute, dicke Frau Oudarde.«
»Die so frisch und so lustig ist, als wäre sie Witwe.«
»Möge der Teufel euch holen!« brummte Meister Andry Musnier.
»Meister Andry«, fing Johann wieder an, welcher immer noch an seinem Säulenknaufe hing, »sei stille, oder ich falle dir auf den Kopf!«
Meister Andry hob die Augen auf, schien einen Augenblick die Höhe des Pfeilers, die Schwere des Burschen zu taxieren, multiplizierte in Gedanken diese Schwere mit dem Quadrate der Geschwindigkeit, und schwieg.
Johann, Herr des Schlachtfeldes, fuhr triumphierend fort:
»Ja, das würde ich tun, obgleich ich der Bruder eines Archidiaconus bin!«
»Schöne Herren, unsere Leute von der Universität! nicht einmal an einem Tage, wie dem heutigen, unsere Privilegien in Ruhe zu lassen! Kurz, in der Nordstadt gibt’s Maifest und Freudenfeuer, in der Altstadt Schauspiel, Narrenpapst und flamländische Gesandte, und im Universitätsviertel – nichts!«
»Und doch ist der Maubertsplatz groß genug!« entgegnete einer von den Burschen, die auf dem Fensterbrette kampierten.
»Nieder mit dem Rektor, mit den Wahlmännern, mit den Prokuratoren!« rief Johann.
»Diesen Abend wird man im Champ-Gaillard ein Freudenfeuer machen müssen«, fuhr der andere fort, »mit den Büchern Meister Andry’s.«
»Und mit den Pulten der Schreiber«, sagte sein Nachbar.
»Und den Stöcken der Pedelle!«
»Und den Spucknäpfen der Dekane!«
»Und den Aktenschränken der Prokuratoren!«
»Und den Kasten der Wahlmänner!«
»Und den Fußschemeln des Rektors!«
»Nieder!« rief der kleine Johann mit falscher Bassstimme, »nieder mit Meister Andry, mit den Pedellen und Schreibern, nieder mit den Theologen, Medizinern und Dekretisten;9 mit den Prokuratoren, den Wahlmännern und mit dem Rektor!«
»Das ist ja das Weltende!« murmelte Meister Andry, indem er sich die Ohren verstopfte.
»Ei seht da, der Rektor! Da geht er auf dem Platze«, rief einer von denen im Fenster. Die Folge war, dass sich alles nach dem Platze wandte.
»Ist das wirklich unser ehrwürdiger Rektor, Meister Thibaut?« fragte Johann Frollo du Moulin, der an einem Pfeiler im Innern hängend, nicht sehen konnte, was draußen vorging.
»Ja, ja«, antworteten alle anderen, »gewiss, er ist es, Meister Thibaut, der Rektor.«
Es war in der Tat der Rektor mit allen Würdenträgern der Universität, welche in feierlichem Zuge der Gesandtschaft entgegengingen, und in diesem Augenblicke den Platz des Palastes überschritten. Die in das Fenster gedrängten Studenten empfingen sie beim Vorübergehen mit Spottreden und ironischem Beifallsgeschrei. Der Rektor, welcher dem Zuge voranschritt, erhielt die erste Salve; sie war stark.
»Guten Tag, Herr Rektor! Holla! ei! Guten Tag denn!«
»Wie kommt es, dass er hier ist, der alte Spieler? Er hat also seine Würfel verlassen?«
»Wie er auf seinem Maulesel einhertrottet! der hat weniger lange Ohren, als er.«
»Holla, he! Guten Tag, Herr Rektor Thibaut! Tybalde aleator!10 Alter Esel, alter Spieler!«
»Gott schütze Euch! Habt Ihr vergangene Nacht oft Doppel-Sechs geworfen?«
»O! seht einmal das hinfällige, bleifarbige, matte Gesicht, mit den Spuren der Spielwut darin!«
»Wo geht es jetzt hin, Thibaut, Tybalde ad clades,11 weil Ihr der Universität den Rücken zugekehrt habt und nach der Stadt trabt?«
»Zweifelsohne will er eine Wohnung in der Straße Thibautodé12 suchen«, schrie Johann du Moulin.
Die ganze Bande wiederholte den faulen Witz mit donnerndem Geschrei und wütenden Händeklatschen.
»Ihr wollt Euch in der Straße Thibautodé Wohnung suchen, nicht wahr, Herr Rektor, Ihr Spielkumpan des Teufels?«
Dann kamen die anderen Würdenträger an die Reihe.
»Nieder mit den Pedellen! nieder mit den Stabträgern!«
»Sage mir doch, Robin Poussepain, wer ist denn jener dort?«
»Das ist Gilbert von Suilly, Gilbertus de Soliaco, der Kanzler des Kollegiums Autun.«
»Da hast du meinen Schuh: wirf ihn diesem an den Kopf; du hast einen bequemeren Platz als ich.«
»Saturnalitias mittimus ecce nuces.«13
»Nieder mit den sechs Theologen in ihren weißen Chorhemden!«
»Das dort sind die Theologen? – Ich dachte, es wären die sechs weißen Gänse, welche Sanct Genoveva der Stadt für das Lehngut von Roogny geweiht hat.«
»Nieder mit den Medizinern!«
»Fort mit den schwerfälligen und abgeschmackten Redeübungen!«
»Da fliegt dir meine Mütze an den Kopf, Kanzler von Sanct Genoveva! Du hast mir Unrecht getan.«
»Jawohl! er hat meine Stelle in der normannischen Landsmannschaft dem kleinen Ascanio Falzaspada gegeben, der zur Provinz Bourges gehört, weil er ein Italiener ist.«
»Das ist eine Ungerechtigkeit«, sagten alle Studenten. »Nieder mit dem Kanzler von Sanct Genoveva!«
»Ho he! Meister Joachim von Ladehors! Ho he! Ludwig Dahuille! Ho he! Lambert Hoctement!«
»Hole der Teufel den Prokurator der deutschen Landsmannschaft!«
»Und die Kapläne der heiligen Kapelle in ihren grauen Pelzmänteln, cum tunicis grisis.«
»Seu de pellibus grisis fourratis!«14
»Holla, seht, die Meister der freien Künste! Die ganzen schönen Schwarz- und Rotmäntel!«
»Die bilden einen schönen Schweif für den Rektor!«
»Man möchte ihn für einen Dogen von Venedig halten, der sich mit dem Meere vermählen will.«
»Sind das die Canonici15 von Sanct Genoveva, Johann?«
»Zum Teufel mit den Canonicis!«
»Abt Claude Choart! Doktor Claude Choart! sucht Ihr Marie la Giffarde?«
»Sie wohnt in der Straße Glatigny.«
»Sie macht dem Hurenkönige das Bett.«
»Sie zahlt ihre vier Heller; quatuor denarios.«
»Aut unum bombum!«
»Soll sie Euch hinter die Ohren bezahlen?«
»Kameraden! Meister Simon Sanguin, der Wahlmann der Picarden, der seine Frau hinter sich auf dem Pferd hat!«
»Post equitem sedet atra cura.«16
»Mutig, Meister Simon!«
»Guten Tag, Herr Wahlmann!«
»Gute Nacht, Frau Wählerin!«
»Sind die doch glücklich, alles sehen zu können«, seufzte Johannes de Molendino, der immer noch am Blätterwerke seines Säulenknaufes hing.
Währenddem neigte sich Meister Andry Musnier, der geschworene Universitätsbuchhändler, zum Ohre des Hofkürschners, Meister Gilles Lecornu.
»Ich sage Euch, Herr, es ist das Ende der Welt da. Man hat wohl niemals solche Zügellosigkeiten der Studentenschaft gesehen! Das kommt aber von den verfluchten Erfindungen dieses Jahrhunderts, die noch alles verderben: von den Geschützen, Feldschlangen und Donnerbüchsen, und vor allem vom Buchdruck, dieser zweiten deutschen Pest. Gibt’s keine Manuskripte mehr, gibt’s keine Bücher mehr! Der Buchdruck vernichtet den Buchhandel. Das Ende der Welt ist nahe.«
»Ich merke es auch recht am Überhandnehmen der Samtstoffe«, sagte der Pelzhändler.
In demselben Augenblicke schlug es Zwölf.
»Ah! …« machte der ganze Haufe mit einem Munde.
Die Studenten schwiegen. Nun entstand eine große Verwirrung, eine geräuschvolle Bewegung der Füße und der Köpfe, ein starkes, allgemeines Gehuste und Geschneuze; jeder stellte sich zurecht, richtete sich in die Höhe. Nun tiefes Schweigen; alle Hälse blieben gereckt, alle Mäuler offen, alle Blicke nach der Marmortafel gerichtet … nichts war dort zu sehen. Die vier Diener des Vogtes waren immer noch da, starr und unbeweglich, wie vier bemalte Statuen. Alle Augen wandten sich nach der, für die flamländischen Gesandten bestimmten Tribüne. Die Tür blieb geschlossen, und die Tribüne leer. Diese Menschenmasse erwartete nun seit der Frühe dreierlei: die Mittagsstunde, die flandrische Gesandtschaft, das geistliche Schauspiel. Der Mittag allein war da, auf die Minute. Das war für diesmal zu viel!
Man wartete eine, zwei, drei, fünf Minuten, eine Viertelstunde: nichts kam. Die Tribüne blieb leer, das Theater stumm. Da folgte der Ungeduld der Zorn auf dem Fuße nach. Gereizte Worte flogen umher, allerdings noch mit leiser Stimme. »Das Schauspiel! das Schauspiel!« murmelte man dumpf. Die Köpfe erhitzten sich. Eine Wetterwolke, die nur erst noch grollte, zog über die Häupter dieser Menge hin und her.
Johann du Moulin war es, der ihr den ersten Funken entlockte.
»Das Schauspiel, und zum Teufel mit den Flamländern!« schrie er aus Leibeskräften, indem er sich wie eine Schlange um seinen Säulenknauf wand.
Die Menge klatschte in die Hände.
»Das Schauspiel«, wiederholte sie, »und mit Flandern zu allen Teufeln!«
»Wir müssen das Stück auf der Stelle haben«, fuhr der Student fort, »oder ich bin der Ansicht, wir hängen den Palastvogt, als Ersatz für Lustspiel und Schauspiel.«
»Wohl gesprochen«, schrie das Volk, »und lasst uns mit den Gerichtsdienern das Hängen beginnen.«
Rauschender Beifall folgte. Die vier armen Teufel fingen an blass zu werden und sich gegenseitig anzusehen. Die Menge drang auf sie ein, und sie sahen schon das schwache Holzgeländer, das sie von ihr trennte, sich biegen und unter dem Drängen der Menge zusammenbrechen. Der Augenblick war kritisch.
»Drauf! drauf!« schrie man von allen Seiten.
In diesem Augenblicke hob sich der Teppich des Ankleidezimmers, welches wir oben beschrieben haben, und ließ eine Person herein, deren bloßer Anblick die Menge plötzlich zum Stehen brachte, und wie mit einem Zauberschlage ihren Zorn in Neugierde verwandelte.
»Still! still!«
Die Person trat, ziemlich bestürzt und an allen Gliedern zitternd, an den Rand der Marmorplatte unter vielen Verbeugungen, die, je näher sie kam, zu förmlichen Kniebeugungen wurden.
Indessen war die Ruhe nach und nach wieder hergestellt. Nur jenes leise Geräusch blieb übrig, das selbst noch beim Schweigen der Menge vernommen wird.
»Meine Herren Bürger«, sagte die Person, »und meine werten Bürgerinnen, wir sollen die Ehre haben, ein sehr schönes Schauspiel mit Namen: ›Das gerechte Urteil unserer lieben Jungfrau Maria‹ vor Seiner Eminenz dem Herrn Kardinal vortragen und aufführen. Ich selbst gebe den Jupiter. Seine Eminenz begleitet in diesem Augenblicke die sehr ehrenwerte Gesandtschaft des Herrn Herzogs von Österreich; diese ist gegenwärtig noch an der Pforte Baudets aufgehalten, um die Begrüßungsrede des Herrn Universitätsrektors anzuhören. Sobald der hochwürdigste Herr Kardinal angekommen sein wird, wollen wir anfangen.«
Sicherlich bedurfte es nichts weniger, als der Dazwischenkunft Jupiters, um die vier unglücklichen Diener des Palastvogtes vom Verderben zu retten. Wenn wir das Glück hätten, diese sehr glaubwürdige Geschichte erfunden zu haben, und folglich vor unserer Dame, der Kritik, dafür verantwortlich zu sein, so könnte man sich in diesem Augenblicke uns gegenüber nicht auf die klassische Vorschrift berufen: »Nec deus intersit.«17
Übrigens war das Kostüm des Herrn Jupiter sehr schön, und hatte nicht wenig dazu beigetragen, die Menge zu beruhigen, deren ganze Aufmerksamkeit er auf sich zog. Herr Jupiter war in ein Panzerhemd aus schwarzem Samt, der mit vergoldeten Nägeln beschlagen war, gekleidet; er trug einen Helm mit vergoldeten Silberknöpfen auf dem Kopfe; und wäre der rote und lange Bart, welcher die Hälfte seines Gesichts bedeckte, wäre die Rolle vergoldeter Pappe nicht gewesen, die er, mit eisernen Haken übersäet und starrend von Flittergoldstreifen, in der Hand trug, und in welchem geübte Augen leicht den Blitzstrahl erkennen konnten; wären die fleischfarbenen, nach griechischer Weise bebänderten Beine nicht gewesen, er hätte wegen der Ernsthaftigkeit seiner Haltung mit einem bretonischen Bogenschützen vom Korps des Herrn von Berry den Vergleich aushalten können.
Die Genugtuung und die Bewunderung, welche sein Kostüm überall hervorgerufen hatte, verschwanden jedoch während seiner Ansprache; und als er mit den unglücklichen Worten schloss: »Wir werden anfangen, sobald seine Hochwürden, der Herr Kardinal angekommen sein wird«, verschwand seine Stimme in einem donnernden Hohngeschrei.
»Fangt auf der Stelle an! Das Schauspiel! Auf der Stelle das Schauspiel!« schrie das Volk. Und über alle Stimmen hinweg hörte man diejenige des Johannes von Molendino, welche den Tumult durchdrang wie die Pfeife bei einer Katzenmusik in Nîmes: »Sofort anfangen!« kreischte der Student.
»Nieder mit Jupiter und dem Kardinal von Bourbon!« schrien Robin Poussepain und die anderen im Fensterkreuz hockenden Studiosen.
»Sofort die Aufführung!« wiederholte die Menge, »sofort, auf der Stelle! Galgen und Rad für die Schauspieler und den Kardinal!«
Der arme Jupiter, verwirrt, bestürzt und unter seiner Schminke erbleichend, ließ seinen Donnerstrahl niederfallen und nahm seinen Helm in die Hand; dann grüßte er zitternd und stotterte heraus: »Seine Eminenz … die Gesandten … Frau Margarethe von Flandern …« Er wusste nicht, was sagen. Er fürchtete auch, gehangen zu werden. Gehangen durch den Pöbel, wenn er zögerte, gehangen vom Kardinal, wenn er früher angefangen hätte. So sah er von zwei Seiten einen Abgrund, d.h. den Galgen. Glücklicherweise erschien jemand, um ihn aus der Verlegenheit zu ziehen und die Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen.
Ein Mensch, welcher sich diesseits des Geländers in dem rings um die Marmorplatte freigelassenen Raume befand, und den noch niemand bemerkt hatte, so vollständig war seine dürre, lange Figur für jedes Auge von dem Durchmesser der Säule, an welche er sich gelehnt hatte, verborgen worden, – dieser ziemlich große, magere, bleiche, blonde, trotz Falten an Stirn und Wangen noch junge Mann mit glänzenden Augen und lächelndem Munde, in schwarze, vom Alter abgenutzte und glänzende Sarsche gekleidet, näherte sich der Marmorplatte und gab dem armen Dulder ein Zeichen. Dieser aber, in seiner Bestürzung, sah ihn nicht.
Der Ankömmling trat einen Schritt näher.
»Jupiter! mein lieber Jupiter!« rief er.
Dieser hörte aber nichts.
Endlich schrie ihm der große Blonde ungeduldig geworden fast ins Gesicht:
»Michel Giborne!«
»Wer ruft mich?« sagte Jupiter erschrocken, wie aus dem Schlafe erwachend.
»Ich«, antwortete der Schwarzgekleidete.
»Ah!« sagte Jupiter.
»Fangt gleich an«, fuhr jener fort. »Stellt das Volk zufrieden; ich übernehme es, den Herrn Palastvogt zu beschwichtigen, der wieder den Herrn Kardinal beschwichtigen wird.«
Jupiter atmete auf.
»Meine Herren Bürger«, rief er mit aller Kraft seiner Lungen der Menge zu, welche fortfuhr, ihn zu verhöhnen, »wir wollen sogleich beginnen.«
»Evoe Jupiter! Plaudite cives!«1 schrien die Studenten.
»Juchhe! Juchhe!« schrie das Volk.
Ein betäubendes Händeklatschen begann, und Jupiter war schon hinter den Vorhang zurückgekehrt, als der Saal noch vom Beifallsgeschrei erzitterte.
Unterdessen war der Unbekannte, der auf so magische Weise »den Sturm in Stille« verwandelt hatte, wie unser alter, lieber Corneille sagt, bescheiden in das Halbdunkel seines Pfeilers zurückgekehrt, und würde dort unsichtbar, unbeweglich und stumm wie zuvor geblieben sein, wenn ihn von hier nicht zwei junge Frauenzimmer, die in der Vorderreihe der Zuschauer standen, und die sein Zwiegespräch mit Michel Giborne-Jupiter beobachtet hatten, weggelockt hätten.
»Meister«, sagte die eine von ihnen, die ihm mit der Hand ein Zeichen gab, heranzukommen …
»Schweiget doch, liebe Liénarde«, sagte ihre reizende, junge und in ihrem Sonntagsstaate stattlich geputzte Nachbarin; »das ist kein Gelehrter, sondern ein Laie; und Ihr dürft nicht Meister,2 sondern müsst vielmehr Herr sprechen!«
»Herr«, sagte Liénarde.
Der Unbekannte trat an das Geländer.
»Was wünscht ihr von mir, liebe Fräulein?« fragte er eifrig.
»Oh! nichts«, sagte Liénarde ganz verwirrt, »meine Nachbarin Gisquette la Gencienne ist es, die Euch sprechen will.«
»Ganz und gar nicht«, versetzte Gisquette errötend, »Liénarde hat Euch Meister gerufen, und ich sagte ihr, dass man Herr sagen müsste.«
Die beiden jungen Mädchen schlugen die Augen nieder. Jener der nichts angelegentlicher wünschte, als ein Gespräch anzuknüpfen, sah sie lächelnd an.
»Ihr habt mir also nichts zu sagen, werte Fräulein?«
»Oh! ganz und gar nichts«, antwortete Gisquette.
»Nein, nichts«, sagte Liénarde.
Der große blonde junge Mann trat einen Schritt zurück; aber die beiden Neugierigen hatten nicht Lust, die Beute fahren zu lassen.
»Mein Herr«, sagte Gisquette lebhaft und mit dem Ungestüm einer sich öffnenden Schleuse oder eines Weibes, die einen Entschluss fasst, »Ihr kennt also den Soldaten, der die Rolle der heiligen Jungfrau im Schauspiele geben wird?«
»Ihr wollt sagen die Rolle Jupiters?« entgegnete der Unbekannte.
»Ei, ja!« sagte Liénarde, »die Törichte! Ihr kennt also den Jupiter?«
»Michel Giborne?« antwortete der Unbekannte; »ja, wertes Fräulein.«
»Er hat einen prächtigen Bart!« sagte Liénarde.
»Wird das hübsch sein, was man da oben sprechen wird?« fragte schüchtern Gisquette.
»Sehr schön, mein Fräulein«, entgegnete der Unbekannte ohne das geringste Zaudern.
»Was wird es denn sein?« sagte Liénarde.
»Das gerechte Urteil der heiligen Jungfrau, ein moralisches Stück, wenn’s beliebt, mein Fräulein.«
»Ah! das ist etwas andres!« versetzte Liénarde.
Ein kurzes Schweigen folgte. Der Unbekannte unterbrach es:
»Es ist ein ganz neues Stück, und noch gar nicht gegeben.«
»Es ist also nicht dasselbe«, versetzte Gisquette, »welches man vor zwei Jahren, beim Einzuge des Herrn päpstlichen Gesandten gegeben hat, und in welchem drei hübsche Mädchen Rollen gaben …«
»Sirenen«, sagte Liénarde.
»Und ganz nackt –« fügte der junge Mann hinzu.
Liénarde schlug verschämt die Augen nieder. Gisquette sah sie an und machte es ebenso. Er fuhr lächelnd fort:
»Das war sehr spaßhaft zu sehen. Das heutige Schauspiel ist express für das gnädige Fräulein von Flandern gemacht.«
»Wird man Liebeslieder singen?« fragte Gisquette.
»Pfui!« sagte der Unbekannte, »in einem moralischen Stücke? Man darf die Gattungen nicht verwechseln. Wenn es eine Posse wäre, allerdings!«
»Schade!« entgegnete Gisquette. »Damals gab es an der Fontaine von Ponceau wilde Männer und Frauen, welche miteinander kämpften, mehrere Gruppen aufführten und kleine Arien und Liebeslieder sangen.«
»Was für einen päpstlichen Gesandten passt«, sagte ziemlich trocken der Unbekannte, »passt nicht für eine Prinzessin.«
»Und neben ihnen«, fuhr Liénarde fort, »spielten mehrere dumpfe Instrumente prächtige Melodien.«
»Und zur Erfrischung der Vorübergehenden«, fuhr Gisquette fort, »spie die Fontaine aus drei Mündungen Wein, Milch und Gewürzwein aus, wovon trank wer wollte.«
»Und ein wenig unterhalb Ponceau, bei der Trinité«, sagte Liénarde, »gab es ein Stück aus der Leidensgeschichte Christi, von stummen Personen aufgeführt.«
»Ja, ich erinnere mich!« rief Gisquette, »der Herr am Kreuze und die beiden Schächer links und rechts.«
Jetzt begannen die beiden Schwätzerinnen, in der Erinnerung an den Einzug des Herrn Legaten sich ereifernd, beide auf einmal zu sprechen.
»Und weiter vorwärts bei der Malerpforte waren andere sehr reich geschmückte Personen zu sehen.«
»Und bei der Fontaine Saint-Innocent der Jäger, welcher eine Hindin unter lautem Hundegebell und Hörnerschall verfolgte.«
»Und bei dem Schlachthause von Paris die Gerüste, welche die Burg von Dieppe vorstellten.«
»Und weißt du, Gisquette, als der Legat vorüberkam, spielte man die Erstürmung und allen Engländern kostete es die Köpfe.«
»Und nach dem Tore des Châtelet hin waren sehr schöne Figuren zu sehen!«
»Und auf der Wechslerbrücke, die oben ganz mit Teppichen behangen war.«
»Und als der Legat vorüberzog, ließ man auf der Brücke mehr als zweihundert Dutzend Vögel aller Art fliegen; das war herrlich, Liénarde.«
»Heute wird’s viel schöner sein«, fuhr endlich der Unbekannte fort, welcher ihnen anscheinend mit Ungeduld zuhörte.
»Ihr versprecht uns, dass dies Schauspiel schön sein wird?« sagte Gisquette.
»Ohne Zweifel«, antwortete er; dann fügte er mit einem gewissen Nachdrucke hinzu: »Meine Fräulein, der Verfasser desselben bin ich.«
»Wahrhaftig?« riefen die jungen Mädchen ganz erstaunt.
»Gewiss!« antwortete der Dichter, indem er sich vornehm in die Brust warf; »das heißt, wir sind zwei: Johann Marchand, der die Bretter zugeschnitten, das Gerüst des Theaters und das Holzwerk aufgebaut hat, und ich, der das Stück gemacht hat. Ich heiße Peter Gringoire.«
Der Dichter des »Cid«3 hätte mit nicht mehr Stolz sagen können: »Peter Corneille.«
Unsere Leser haben bemerken können, dass schon eine gewisse Zeit verflossen sein musste seit dem Augenblicke, wo Jupiter hinter den Vorhang zurückgekehrt war, und der Verfasser des neuen Stückes sich so plötzlich der naiven Bewunderung Gisquettens und Liénardens offenbart hatte. Sonderbare Tatsache! Diese ganze, wenige Minuten zuvor so unbändige Menge wartete jetzt mit Sanftmut auf das Wort des Schauspielers hin; was die ewige und in unsern Theatern noch alle Tage erprobte Wahrheit dartut, dass das beste Mittel, das Publikum geduldig warten zu machen, das ist, ihm zu erklären, dass man sofort beginnen werde.
Jedoch der Student Johannes ließ sich nicht in Sicherheit einwiegen.
»Holla, he!« schrie er auf einmal mitten in der ruhigen Erwartung, die dem Lärme gefolgt war: »Jupiter, heilige Jungfrau, Teufelsgaukler, wollt Ihr uns foppen? Das Stück, das Stück! Fangt an oder wir beginnen von Neuem!«
Mehr brauchte es nicht.
Eine Musik von lauten und gedämpften Instrumenten ließ sich aus dem Innern des Gerüstes heraus vernehmen; der Vorhang hob sich; vier geputzte und geschminkte Personen traten hervor, kletterten die steile Theaterleiter hinauf und stellten sich, auf der oberen Plattform angekommen, in einer Linie vor dem Publikum auf, welches sie mit tiefer Verbeugung begrüßten. Jetzt schwieg die Symphonie. Das Stück begann nun.
Nachdem die vier Personen das Beifallsklatschen für ihre Verbeugungen reichlich eingeerntet hatten, begannen sie unter andächtigem Schweigen der Hörer einen Prolog, mit dem wir den Leser bereitwillig verschonen wollen. Übrigens beschäftigte sich das Publikum, wie heutzutage noch geschieht, mehr mit den Kostümen, welche sie trugen, als mit der Rolle, die sie vortrugen; und in Wahrheit, es war in der Ordnung. Sie waren alle vier in halb gelbe und halb weiße Gewänder gekleidet, die sich voneinander nur durch die Beschaffenheit des Stoffes unterschieden; die eine war in Gold- und Silberbrokat, die andere in Seide, die dritte in Wolle, die vierte in Leinwand gekleidet. Die erste Person trug ein Schwert in der Rechten, die zweite zwei goldne Schlüssel, die dritte eine Waage, die vierte einen Spaten; und um den beschränkteren Köpfen, welche die Bedeutung dieser Attribute nicht vollkommen klar hätten begreifen können, zu Hilfe zu kommen, konnte man unten auf der brokatenen Robe in großen, schwarzgestickten Buchstaben lesen: »Ich bin der Adel«; unten auf der seidenen: »Ich bin die Geistlichkeit«, auf der wollenen: »Ich bin der Handel« und auf der leinenen: »Ich bin die Arbeit«. Das Geschlecht der beiden männlichen Figuren war für jeden urteilsfähigen Zuschauer an den weniger langen Gewändern und an der Mütze angedeutet, welche sie auf dem Kopfe trugen, während die beiden weiblichen Erscheinungen nicht so kurz gekleidet und mit einer Haube geschmückt waren.
Es hätte viel böser Wille dazu gehört, um aus dem Inhalte des Prologs nicht zu begreifen, dass die Arbeit mit dem Handel, die Geistlichkeit mit dem Adel vermählt war, und dass die zwei glücklichen Paare gemeinsam einen prächtigen Golddelphin hatten, den sie nur mit der Schönsten zu verbinden beabsichtigten. Sie zogen also durch die Welt, auf der Suche nach dieser Schönheit, und nachdem sie nach und nach die Königin von Golkonda, die Prinzessin von Trapezunt, die Tochter des Groß-Kans von der Tartarei u.s.w. u.s.w. verworfen hatten, waren Arbeit und Geistlichkeit, Adel und Handel nach dem Justizpalaste gekommen, um sich auf der Marmorplatte niederzulassen, und vor einem verehrungswürdigen Publikum so viele Sittensprüche und Maximen auszukramen, wie man damals bei der Fakultät der freien Künste, in den Prüfungen, wo die Meister ihre Doktorhüte erlangten, Trugschlüsse, Determinationen, Redefiguren und Disputationen an den Mann bringen konnte.
Alles das war wahrhaftig sehr schön.
In dieser ganzen Menschenmenge jedoch, über welche die vier Erscheinungen um die Wette Fluten von Gleichnisreden ausschütteten, gab es kein aufmerksameres Ohr, kein klopfenderes Herz, kein unstäteres Auge, keinen gereckteren Hals, als Auge, Ohr, Hals und Herz des Autors, des Dichters, dieses braven Peter Gringoire, welcher kurz zuvor dem Entzücken nicht hatte widerstehen können, den beiden hübschen Mädchen seinen Namen zu nennen. Er war nicht weit von ihnen entfernt hinter seinen Pfeiler zurückgekehrt, und dort hörte, sah und verschlang er. Der wohlwollende Beifall, mit welchem der Vortrag seines Prologs aufgenommen worden war, tönte noch in seinem Innern nach, und er war ganz von jener Art verzückter Betrachtung hingerissen, mit welcher ein Autor seine Gedanken, einen nach dem anderen, von den Lippen des Schauspielers in die Stille eines ungeheueren Auditoriums fallen hört. Würdiger Peter Gringoire!
Es tut uns leid, es zu sagen, aber diese erste Verzückung wurde sehr bald gestört. Kaum hatte Gringoire seine Lippen an den berauschenden Becher der Freude und des Triumphes gelegt, als ein Wermutstropfen hineinfiel.
Ein zerlumpter Bettler, welcher nicht hatte einsammeln können, weil er mitten im Gedränge sich befand, und der zweifelsohne in den Taschen seiner Nachbarn keine hinreichende Entschädigung gefunden hatte, war auf den Gedanken gekommen, irgend einen sichtbaren Platz zu suchen, um die Blicke und Almosen auf sich zu lenken. Er hatte sich deshalb während der ersten Verse des Prologes mit Hilfe der Pfeiler, welche sich an der Gesandten-Tribüne befanden, auf das Karniss4 geschwungen, welches den untern Teil derselben begrenzte; und da hatte er sich niedergelassen, um Aufmerksamkeit und Mitleiden der Menge durch seine Lumpen und eine scheußliche Wunde am rechten Arme auf sich zu ziehen. Übrigens sprach er kein Wort.
Das Stillschweigen, welches er beobachtete, ließ den Prolog ohne Störung vorübergehen, und keine merkliche Unordnung wäre eingetreten, wenn das Unglück nicht gewollt hätte, dass der Student Johannes von der Höhe seines Pfeilers den Bettler und seine Firlefanzereien gesehen hätte. Ein tolles Lachen packte den jungen Taugenichts, welcher, unbesorgt darum, das Schauspiel zu unterbrechen und die allgemeine Aufmerksamkeit zu stören, frech ausrief:
»Seht da den Elenden, der um ein Almosen bittet!«
Wer je einmal einen Stein in eine Froschpfütze geworfen, oder eine Flinte auf einen Vogelschwarm abgefeuert hat, kann sich einen Begriff von der Wirkung machen, welche diese unpassenden Worte bei der allgemeinen Stille hervorbrachten. Gringoire fuhr zusammen, wie von einem elektrischen Schlage getroffen. Der Prolog blieb stecken, und alle Köpfe wendeten sich heftig nach dem Bettler um, der, ohne die Fassung zu verlieren, in diesem Zwischenfalle gute Gelegenheit zu einer Ernte erblickte, und mit schmerzlicher Miene und halbgeschlossenen Augen zu rufen anfing:
»Eine milde Gabe, wenn’s beliebt!«
»Ei aber … bei meiner Seele«, versetzte Johannes, »das ist Clopin Trouillefou. Holla, Freund, deine Wunde genierte dich wohl am Beine, dass du sie auf den Arm gelegt hast?«
Bei diesen Worten warf er mit der Geschicklichkeit eines Affen ein kleines Silberstück in den schmierigen Filz, den der Bettler mit seinem kranken Arme hinhielt. Der Bettler nahm das Almosen und die beißenden Worte unbeirrt hin, und fuhr mit kläglicher Stimme fort: »Gebt mir ein Almosen, ich bitte!«
Dieser Zwischenfall hatte die Hörerschaft sehr zerstreut; und eine ziemliche Anzahl Zuschauer, Robin Poussepain und alle Studenten an der Spitze, klatschten diesem sonderbaren Duett lustig Beifall, welches, mitten im Prolog, der Student mit seiner kreischenden Stimme und der Bettler in seinem beharrlichen Klagetone eben improvisiert hatten.
Gringoire war sehr missgestimmt. Nachdem er sich von seiner ersten Bestürzung erholt hatte, ermannte er sich und rief den vier Personen auf der Bühne zu: »Fahret fort, zum Teufel, fahret fort!« ohne auch nur sich gemüßigt zu fühlen, einen verächtlichen Blick auf die zwei Störenfriede zu werfen.
In diesem Augenblicke fühlte er sich am Saume seines Oberkleides gezogen; er wandte sich nicht ohne eine gewisse Übellaune um, musste aber, wenn auch widerwillig, lachen. Es war der hübsche Arm der Gisquette la Gencienne, welche über das Geländer hinweg auf diese Weise seine Aufmerksamkeit reizte.
»Mein Herr«, sagte das junge Mädchen, »werden die da fortfahren?«
»Gewiss«, entgegnete Gringoire von dieser Frage ziemlich beleidigt.
»In diesem Falle, Herr«, fuhr sie fort, »habt Ihr wohl die Güte, mir zu erklären …«
»Was sie sagen werden?« unterbrach sie Gringoire. »Nun gut! hört nur zu!«
»Nein!« sagte Gisquette, »aber was sie bis jetzt gesprochen haben.«
Gringoire tat einen Satz, wie ein Mensch, dessen offene Wunde man berührt.
»Dass dich die Pest, du dummes, vernageltes Ding!« murmelte er zwischen den Zähnen.
Von diesem Augenblicke an hatte es Gisquette bei ihm vollständig verdorben.
Indessen hatten die Schauspieler seinem energischen Befehle Folge geleistet, und das Publikum, welches sah, dass sie wieder zu sprechen anfingen, hatte begonnen zuzuhören; viele Schönheiten waren ihm aber bei der Art Zusammenlötung der zwei Teile des so schändlich unterbrochenen Stückes verloren gegangen. Gringoire machte die bittere Bemerkung ganz in der Stille. Dennoch war die Ruhe nach und nach wiederhergestellt; der Student schwieg, der Bettler zählte einiges Geld im Hute, und das Stück hatte seinen Fortgang genommen.
Es war in der Tat ein sehr schönes Werk, aus dem man, wie uns bedünkt, noch heute mit kleinen Änderungen sehr wohl Nutzen ziehen könnte. Die Erfindung des Stückes war, wenn auch nach den Regeln der Kunst ein wenig lang und dürftig, einfach; und Gringoire bewunderte vor dem lauteren Heiligtume seines geistigen Richterstuhles deren Durchsichtigkeit. Wie man sich wohl denken mag, waren die vier allegorischen Gestalten ein wenig ermüdet von ihrem Zuge durch die drei Weltteile, ohne Gelegenheit gefunden zu haben, sich ihres Golddelphines angemessen entledigen zu können. Nun kam eine Lobrede auf den wunderbaren Fisch, mit tausend feinen Anspielungen auf den jungen Bräutigam Margarethens von Flandern, der damals höchst jämmerlicherweise in Amboise eingeschlossen war, und sich wohl nicht träumen ließ, dass Arbeit und Geistlichkeit, Adel und Handel soeben seinetwegen eine Fahrt durch die Welt gemacht hätten. Besagter Delphin also war jung, schön, tapfer und vor allem – herrlicher Ursprung aller königlichen Tugenden! – er war der Sohn des Löwen von Frankreich. Ich erkläre, dass dieses kühne Gleichnis bewunderungswürdig ist, und dass die Naturgeschichte des Theaters, an einem Tage, der für verblümte Rede und königliches Hochzeitsgedicht bestimmt ist, nicht irgendwie an einem Delphine Anstoß nimmt, welcher der Sohn eines Löwen ist. Das sind eben die seltenen und pindarischen Vermengungen, welche den Enthusiasmus zeigen. Nichtsdestoweniger, um auch noch etwas Tadel unter das Lob zu mischen, hätte der Dichter diesen schönen Gedanken in etwa zweihundert Versen aussprechen können. Es ist wahr, dass das Schauspiel nach Anordnung des Herrn Oberrichters von zwölf Uhr mittags bis um vier Uhr dauern sollte, und notwendigerweise wohl etwas gesagt werden musste. Außerdem hörte man geduldig zu.
Auf einmal, mitten in einem Streite zwischen Frau Handel und Frau Adel, im Augenblicke, wo Meister Arbeit folgenden wunderbaren Vers sprach:
»Nie sah man in Wäldern ein stolzeres Tier« –