Der glückliche Lügner - Leif GW Persson - E-Book

Der glückliche Lügner E-Book

Leif GW Persson

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Beschreibung

Evert Bäckström, irgendwo zwischen Mitte 40 und Mitte 50, klein, dick und primitiv, ist als Kommissar bei der schwedischen Polizei tätig. die Karriere verlief reibungslos, mit exzellenten Referenzen – seine Vorgesetzten waren immer froh, wenn sie ihn möglichst schnell wieder loswerden konnten. Er ist der Mann für die schmutzigen Fälle: Mord, bewaffneter Raubüberfall und so weiter. Am wenigsten scheut er dabei, sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Als in Stockholm der bekannte Rechtsanwalt Thomas Eriksson tot in seinem Haus gefunden wird, ist Bäckström sofort zur Stelle, hatte er doch eigentlich noch ein Hühnchen mit dem Mann zu rupfen. Offenbar veräußerte Eriksson kurz zuvor eine wertvolle Kunstsammlung bei Sotheby's, darunter eine russische Spieluhr in Gestalt des Pinocchio, der bei Betrieb die diamantenbesetzte Nase ausfährt. Wer war der Auftraggeber? Und wer wollte Eriksson tot sehen?

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Leif GW Persson

Der glückliche Lügner

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn

Die schwedische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Den sanna historien om Pinocchios näsa«bei Albert Bonniers, Stockholm.

1. Auflage

Copyright © 2013 by Leif GW Persson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-16013-5www.btb-verlag.de

Dies ist eine böse Geschichte für erwachsene Kinder, und wären da nicht der letzte russische Zar Nikolaj II., der englische Premierminister Sir Winston Churchill, der russische Präsident Wladimir Putin und Kriminalkommissar Evert Bäckström von der Polizei Stockholm-Västerort, wäre all das, wovon sie handelt, nie geschehen.

Insofern ist dies also auch eine Geschichte von Ereignissen, die die Taten vierer Männer in einem Zeitraum von mehr als hundert Jahren nach sich zogen – vierer Männer, die einander nie begegnet sind und die ihr Leben in ganz verschiedenen Welten verbracht haben, wobei der älteste von ihnen vierzig Jahre vor der Geburt des jüngsten ermordet wurde.

Wie so oft – und ganz unabhängig davon, in wessen Gesellschaft und in welchem Zusammenhang er hierin gelandet sein mag – wird Evert Bäckström den Schlussstrich unter diese Geschichte ziehen.

LEIF GW PERSSON

Professorenvilla, Elghammar

im Frühjahr 2013

IDer schönste Tag im Leben von Kriminalkommissar Evert Bäckström

1

Es war Montag, der 3. Juni, aber obwohl es Montag war und er mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wurde, sollte Kommissar Evert Bäckström diesen Tag als den schönsten seines Lebens in Erinnerung behalten. Sein Diensthandy klingelte um Punkt fünf Uhr morgens, und da der Anrufer offenbar nicht vorhatte, so schnell lockerzulassen, hatte der Kommissar keine Wahl.

»Jaaa«, meldete er sich.

»Ich hab hier einen Mord für dich, Bäckström«, sagte der wachhabende Polizist von der Polizei Solna.

»Um diese Uhrzeit?«, fragte Bäckström. »Dann muss es ja mindestens der König oder der Ministerpräsident sein.«

»Noch besser«, entgegnete der Kollege hörbar vergnügt.

»Ich höre.«

»Thomas Eriksson.«

»Der Rechtsanwalt?« Bäckström konnte seine Überraschung nur schwer verbergen. Das kann doch nicht wahr sein, dachte er. Das ist ja viel zu schön, um wahr zu sein.

»Der Rechtsanwalt Eriksson höchstselbst. Im Hinblick auf eure lange gemeinsame Geschichte wollte ich der Erste sein, der dir die gute Nachricht überbringt. Niemi aus der Technik hat mich angerufen und gemeint, ich soll dich wecken. Also, gratuliere, Bäckström. Aufrichtige Glückwünsche von uns allen hier im Präsidium. Am Ende hast du also doch noch gewonnen.«

»Und es ist sicher, dass es Mord war? Und dass es sich um Eriksson handelt?«

»Niemi ist sich hundertprozentig sicher. Unser armes Opfer soll zwar ganz grässlich zugerichtet sein, aber es ist wohl eindeutig er.«

»Ich werde an mich halten, um nicht vor Trauer zusammenzubrechen«, sagte Bäckström.

Das ist der schönste Tag meines Lebens, dachte er, als er das kurze Gespräch beendete. Hellwach war er auch, kristallklar im Kopf – einen Tag wie diesen musste man in vollen Zügen genießen. Und durfte keine Sekunde ungenutzt verstreichen lassen.

Als Erstes zog er seinen Morgenmantel an und ging auf die Toilette, um erst mal Druck abzulassen. Das war eine Angewohnheit, die er sich schon früh anerzogen und stets getreulich beibehalten hatte. Vor dem Schlafengehen Druck ablassen und nach dem Aufstehen gleich wieder, ganz gleich, ob es notwendig war oder nicht, und ganz egal, womit seine prostatageplagte männliche Umgebung den Großteil ihrer wachen Zeit verbringen mochte.

Der reinste Hochdruckschlauch, stellte Bäckström zufrieden fest, während er seine Supersalami fest in der Rechten hielt und förmlich spürte, wie der Wasserspiegel in seinen großzügig bemessenen unteren Regionen sank. Wurde auch allerhöchste Zeit, das Gleichgewicht wiederherzustellen, dachte er und schüttelte die Salami zum Schluss noch ein paarmal kräftig ab, um auch den letzten Tropfen herauszupressen, der sich im Lauf der traumlosen Nacht dort angesammelt hatte.

Dann ging er in die Küche, um sich ein anständiges Frühstück zu machen: einen ordentlichen Teller extradicke Scheiben dänischen Schinkenspeck, vier Spiegeleier, Toastbrot mit gesalzener Butter und üppig Erdbeermarmelade, frisch gepressten Orangensaft und eine große Tasse starken Kaffee mit warmer Milch. So einen Mordfall durfte man sich nicht auf nüchternen Magen antun, und zweifelsohne waren Karotten und Haferkleie verantwortlich dafür, dass seine ausgemergelten, einfältigen Kollegen so oft daran scheiterten.

Satt und zufrieden ging er ins Badezimmer, stellte sich unter die Dusche und seifte sich ein, während er das Wasser über seinen wohlgerundeten, harmonisch geformten Leib perlen ließ. Anschließend trocknete er sich gründlich ab, um sich dann mit einem ganz normalen Nassrasierer und reichlich Rasierschaum zu rasieren. Zum Schluss putzte er sich die Zähne mit der elektrischen Zahnbürste und gurgelte zur Sicherheit noch mit frischem Mundwasser.

Nachdem er zu guter Letzt Rasierwasser, Deodorant und alle erdenklichen anderen Wohlgerüche achtsam auf sämtliche strategisch wichtigen Stellen jenes Körpers verteilt hatte, der sein Tempel war, zog er sich sorgfältig an. Gelber Leinenanzug, blaues Leinenhemd, handgenähte schwarze Schuhe aus Italien und ein buntes Einstecktuch aus Seide für die Brusttasche als letzten Gruß an sein geschätztes Mordopfer. An einem Tag wie diesem musste man auf jedes Detail achten, weswegen er auch – zur Feier des Tages – seine normale Rolex aus Stahl gegen die aus Weißgold eintauschte. Er hatte sie von einem dankbaren Bekannten bekommen, nachdem er ihm aus einer kleinen Klemme hatte helfen können.

Auf dem Flur unterzog er sein Spiegelbild noch einmal einer abschließenden Kontrolle. In der linken Hosentasche die Geldklammer mit einer angemessenen Menge Scheinchen und das kleine Etui aus Krokoleder mit seinen ganzen Karten; in der rechten Schlüsselbund und Handy. In der linken Innentasche seiner Jacke das schwarze Notizbuch mit dem dazugehörigen Stift. Sein bester Freund, Klein-Sigge, ruhte sicher verwahrt im Halfter an der Innenseite seines linken Beins.

Bei seinem Anblick nickte Bäckström anerkennend. Blieb nur noch das Wichtigste. Eine präzise bemessene Dosis Maltwhisky aus der Kristallkaraffe auf der Flurkonsole. Zwei Halsschmerztabletten einwerfen, sowie der feine Nachgeschmack sich verflüchtigt hatte, und dann noch eine Handvoll davon in die Sakkotasche, für alle Fälle.

Als er auf die Straße hinaustrat, schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, und obwohl es erst Anfang Juni war, zeigte das Thermometer bereits zwanzig Grad. Der erste richtige Sommermorgen und somit genau das, was man sich wünschen durfte an einem Tag wie diesem.

Der Wachhabende in Solna hatte einen Streifenwagen mit zwei jüngeren Polizisten vorbeigeschickt, zwei mageren, pickligen Ausnahmetalenten, aber wenigstens der am Steuer hatte zumindest die Grundlagen der amtlichen Hierarchie erfasst. Er hielt Bäckström die Tür auf und schob seinen Sitz nach vorn, sodass Bäckström sich auf den Rücksitz setzen konnte, ohne auf den undankbaren Platz in der Mitte rücken zu müssen, wo er sich die sorgfältig gebügelten Hosenbeine zerknittert hätte.

»Guten Morgen, Chef«, sagte der Fahrer und nickte höflich. »Kein schlechter Tag heute.«

»Ja, sieht so aus, als würde es heute sogar ein Bombentag werden«, stellte sein Kollege fest. »Freut mich übrigens, Sie mal persönlich kennenzulernen, Herr Kommissar.«

»Ålstensgatan 127«, sagte Bäckström mit einem kurzen Nicken. Um weitere Bemerkungen im Keim zu ersticken, zückte er demonstrativ sein schwarzes Notizbuch, um erste dienstliche Aufzeichnungen zu machen. »Kriminalkommissar Evert Bäckström verlässt seine Wohnung auf Kungsholmen 0700, um zum Tatort zu fahren«, schrieb Bäckström, doch die Botschaft war offenbar nicht deutlich genug gewesen, denn noch bevor sie auf die Fridhelmsgatan gebogen waren, ging es schon wieder los.

»Schon ’ne komische Geschichte irgendwie. Der Wachhabende hat erzählt, dass das Opfer wohl dieser Rechtsanwalt ist, dieser Thomas Eriksson.« Der Fahrer nickte, und der andere fuhr fort: »Das ist doch ziemlich ungewöhnlich, oder? Ich meine – dass jemand einen Rechtsanwalt ermordet.«

»Stimmt, das kommt so gut wie nie vor«, pflichtete ihm sein Kollege bei.

»Tja, leider nicht«, sagte Bäckström. »Leider kommt das viel zu selten vor.« Noch zwei solche Vollidioten, dachte er insgeheim. Wo nehmen sie die nur immer her? Und warum gehen die ihnen nie aus? Warum müssen die alle Polizisten werden?

»Glauben Sie, dass er in irgendwelche finsteren Machenschaften verwickelt war, Chef? Er war ja Rechtsanwalt, da ist eine gewisse Nähe zum Milieu doch wohl gegeben, wenn man so will.«

Jetzt hatte sich der Trottel auch noch umgedreht und Bäckström direkt angesprochen.

»Genau darüber wollte ich gerade nachdenken«, sagte er. »Während die Herren mich zum Tatort an der Ålstensgatan fahren. In absoluter Stille.« Endlich, dachte er.

Zehn Minuten später hielten sie vor einer großen, strahlend weißen Villa im schlichten Stil der Fünfzigerjahre inklusive Privatzugang zum See, Bootshaus und Badesteg am Mälaren. Das Ganze hatte seinen Besitzer unter Garantie mehr gekostet, als ein Polizist in seinem ganzen Leben verdiente. Brutto.

Kein schlechter Tatort. Allerdings nützte diesem Wichser das Haus jetzt auch nichts mehr, dachte Bäckström.

Ansonsten sah es aus wie immer. Die Polizei hatte das Grundstück und ein gutes Stück Straße zu beiden Seiten mit blau-weißem Plastikband abgesperrt. Zwei Streifen, ein Einsatzwagen und drei Autos von der Spurensicherung – viel zu viele Kollegen, die tatenlos herumstanden und mit denen plauschten, die dort bereits versammelt waren: ein paar Journalisten mit Fotografen im Schlepptau und mindestens ein Kameramann von einem Fernsehsender, ungefähr zehn Gaffer aus der Nachbarschaft, die allerdings bedeutend besser gekleidet waren, als es solche Leute normalerweise waren. Auffallend viele von ihnen hatten einen oder mehrere Hunde in diversen Größen dabei.

Der Gesichtsausdruck war indes überall der gleiche. Ein Hauch von Angst, vor allem aber Interesse und Erleichterung, die sich aus dem Umstand nährte, dass – wenn nun schon das Schlimmste eingetroffen war – es wenigstens nicht sie erwischt hatte. Was bedeuten schon alle Tage – außer diesem einen – gegen ein ganzes Leben, dachte Bäckström, ein ganzes Leben inklusive dieses einen Tags, der sich als der beste deines Lebens entpuppt hat.

Bäckström stieg aus, nickte seinem pickligen Fahrer und dessen ebenso pickligen Kollegen zu, wimmelte die Pressegeier mit einem stummen Kopfschütteln ab und steuerte auf die Tür des Hauses zu, das bis vor wenigen Stunden noch das Heim seines aktuellsten Mordopfers gewesen war. Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, dass er einen solchen Gang antrat, und es würde auch ganz bestimmt nicht das letzte Mal sein, aber dieses Mal war es ihm eine süße Pflicht. Wäre er allein gewesen, wäre er die Treppenstufen zum Haus des Opfers emporgesteppt.

IIDie Woche vor dem besten Tag war eine ganz gewöhnliche Woche. Im Guten wie im Schlechten.

2

Montag, der 27. Mai – also eine Woche vor jenem Montag, der der beste Tag seines Lebens werden sollte –, war so gewesen, wie Montage eben waren, vielleicht sogar noch einen Tick übler als ein gewöhnlicher Montag, und er hatte auf eine Art begonnen, die jedem gesunden Menschenverstand spottete – sogar dem eines schlauen und mit allen Wassern gewaschenen Manns wie Evert Bäckström.

Es ging um zwei Angelegenheiten, die an Dämlichkeit kaum zu überbieten und aus unerfindlichen Gründen ausgerechnet auf seinem Schreibtisch gelandet waren: erstens ein vernachlässigtes Kaninchen, um das sich die Provinzverwaltung Stockholm gekümmert hatte. Und zweitens ein vornehmer Herr mit Verbindungen zum Königshof, der nach Angaben eines anonymen Zeugen mit einem Katalog des bekannten Londoner Auktionshauses Sotheby’s misshandelt worden war. Und als wäre dies alles noch nicht schlimm genug, sollte sich das Verbrechen auch noch auf dem Parkplatz vor Schloss Drottningholm ereignet haben, nur hundert Meter entfernt von ausgerechnet jenem Zimmer, in dem Seine Majestät der König von Schweden, Carl XVI. Gustaf, normalerweise seiner Nachtruhe nachkam.

Seit ein paar Jahren arbeitete Kriminalkommissar Evert Bäckström im Polizeirevier Västerort als Chef des Dezernats für Gewaltverbrechen. Es war kein schlechtes Revier, und hätte es in den USA gelegen, wo normale Menschen noch etwas zu sagen hatten, wäre Bäckström selbstverständlich zum Sheriff gewählt worden. Dreihundertfünfzig Quadratkilometer Land und Wasser zwischen dem großen Binnensee, dem Mälaren, im Westen und der Saltsjö-Bucht im Osten. Zwischen den ehemaligen Zollstationen an der Grenze zur Stockholmer Innenstadt im Süden und Norra Järva, Jakobsberg und den äußeren Schären des Mälaren im Norden.

Er selbst nannte das Gebiet mit seinen fast dreihundertfünfzigtausend Einwohnern in Gedanken gerne Bäckström County. Die vornehmsten Einwohner waren Seine Majestät der König nebst Familie, die im Schloss Drottningholm beziehungsweise auf Schloss Haga wohnten. Des Weiteren ein Dutzend Milliardäre und mehrere hundert Multimillionäre. Am anderen Ende der Skala ein paar zehntausend, die nicht genug zum Sattwerden hatten, von Sozialhilfe leben, betteln oder Verbrechen begehen mussten, um es von einem Tag zum nächsten zu schaffen. Plus die ganzen normalen Menschen natürlich. Alle, die sich um ihren eigenen Kram kümmerten, ihrem Durchschnittsalltag nachgingen und kein großes Aufheben um ihr Leben machten. Jedenfalls kam ihnen nur selten etwas in den Sinn, womit sie riskierten, auf Bäckströms Schreibtisch im großen Polizeigebäude in Solna zu landen.

Doch leider waren nicht alle, die dort wohnten, so gestrickt. Im Laufe eines Jahres waren an die sechzigtausend Verbrechen in dem Gebiet gemeldet worden, die Mehrheit davon freilich einfache Diebstähle, Sachbeschädigungen und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, aber es waren auch mehrere tausend Gewaltverbrechen begangen worden, und wenn man die Kriminalität in Västerort insgesamt unter die Lupe nahm, stellte man fest, dass sich das Phänomen durch alle gesellschaftlichen Schichten zog: von einer Handvoll Ganoven in Nadelstreifen, die Wirtschaftsverbrechen in Dimensionen von Hunderten Millionen Kronen begingen, bis zu den Tausenden, die im Einkaufszentrum alles Mögliche vom Rinderfilet und Würstchen über Make-up und Bier bis hin zu Kopfschmerztabletten klauten.

Gleichzeitig waren all diese Verbrechen so geartet, dass sie Bäckström kaltließen. Er beschäftigte sich mit Kapitalverbrechen. Das hatte er bereits ein ganzes Polizistenleben lang getan, und das gedachte er auch weiter so zu halten, bis dieser Abschnitt seines Lebens beendet war. Mord, Körperverletzung, Vergewaltigungen und Raubüberfälle und dazu noch die ganzen übrigen Merkwürdigkeiten, die in den gleichen Gefilden ihr Unwesen trieben, in Gestalt von Pyromanen und Pädophilen, Schlägern, Hooligans und Wahnsinnigen jedweder Couleur. Vielleicht obendrein auch noch der eine oder andere Exhibitionist und Spanner, der ein paar handfestere Ambitionen hegte. Solche Fälle gab es weiß Gott zuhauf. Tausende von Anzeigen gingen pro Jahr im Dezernat für Gewaltverbrechen ein, und all diese Fälle verliehen seinem Polizistenleben Sinn und Inhalt. Wenn er auf diesem Gebiet überhaupt etwas ausrichten wollte, dann galt es in erster Linie, Großes von Kleinem zu unterscheiden. An jenem Montag vor dem Montag, der der beste seines Lebens werden sollte, war ihm diese Unterscheidung nicht ganz so gut geglückt.

In Bäckströms Abteilung begann die Woche grundsätzlich mit einer Morgenbesprechung, bei der das menschliche Elend der vergangenen Woche zusammengefasst wurde und in der man sich gegen all das wappnete, was sich in der nun folgenden Woche dazugesellen würde, und den einen oder anderen alten Fall wieder hervorkramte, den man nur ungern zu den Akten legen und vergessen wollte.

Rund zwanzig Mitarbeiter standen ihm zur Seite, von denen einer sowohl schweigsam als auch kompetent war und ein weiteres halbes Dutzend immerhin tat, was er ihnen auftrug. Mit den anderen lief es nicht ganz so gut, und wären nicht Bäckströms starke Hand und feste Führung gewesen und nicht zuletzt die Fähigkeit, Großes von Kleinem zu unterscheiden, hätte vom ersten Tag an der Unfug überhandgenommen.

Neue Woche, morgendliche Besprechung, höchste Zeit für Kommissar Evert Bäckström, wieder einmal das Schwert der Gerechtigkeit in die Hand zu nehmen – das Herumgespiele an den Waagschalen der Frau Justitia hingegen überließ er nur zu gern den Schöngeistern und Bürokraten der Polizeiführung.

3

»Bitte, setzt euch«, sagte Bäckström und ließ sich auf seinen angestammten Platz am Kopfende des langen Konferenztisches sinken. Ihr faulen, nichtsnutzigen Penner, dachte er, während er den Blick über seine Mitarbeiter schweifen ließ. Montagmorgen. Leere Augen hinter schweren Lidern und wesentlich mehr Kaffeetassen als Notizblöcke und gespitzte Bleistifte. Was ist bloß mit dem Korps passiert?, dachte er. Wo sind die ganzen Fußsoldaten vom alten Schlag – Polizisten wie ich?

Dann übergab er das Wort an seine rechte Hand – natürlich eine Frau –, die Kriminalinspektorin Annika Carlsson, siebenunddreißig. Eine furchterregende Person, die aussah, als würde sie den Großteil ihrer Zeit im Fitnessraum im Keller des Präsidiums verbringen. Sicher auch in anderen, noch finstreren Kellerlöchern, aber daran wollte er lieber gar nicht denken.

Einen Vorzug hatte sie indes: Keiner im Team traute sich, gegen sie aufzumucken, und deswegen hatte sie die Anwesenden auch flugs durch die Liste der Vorfälle der vergangenen Woche und des Wochenendes geführt. Aufgeklärt und ungeklärt, Erfolg und Scheitern, neue Informationen und sachdienliche Hinweise, Aufgaben und Anordnungen, die in der neuen Arbeitswoche auf sie warteten – und nebenbei natürlich auch noch alle möglichen anderen Punkte praktischer oder administrativer Natur, die sich die Mitarbeiter der Abteilung zu Gemüte führen mussten.

Es lief wie am Schnürchen. In weniger als einer Stunde war Kriminalinspektorin Carlsson fertig und konnte ihren Vortrag sogar noch mit der Information krönen, dass der Mord, der drei Tage zuvor geschehen war, nach einem Geständnis aufgeklärt und dem Staatsanwalt übergeben worden war.

Ihr Täter hatte sich als äußerst entgegenkommender Säufer entpuppt. Am Freitagabend waren seine liebe Frau und er über das Fernsehprogramm in Streit geraten. Er war in die Küche marschiert, hatte sich ein stinknormales Tranchiermesser geschnappt und die Diskussion beendet. Anschließend hatte er beim Nachbarn geklingelt, von dessen Telefon aus er gern den Notarzt rufen wollte.

Allerdings war der Nachbar nicht ganz so hilfsbereit gewesen. Aufgrund früherer Erfahrungen hatte er gar nicht erst die Tür aufgemacht und stattdessen gleich die Polizei alarmiert. Die erste Streife war bereits nach zehn Minuten vor Ort gewesen, und als die Kollegen sich Zugang zu der Wohnung verschafft hatten, war ein Rettungseinsatz schon nicht mehr angesagt gewesen, woraufhin man dem frischgebackenen Witwer Handschellen anlegte und die Techniker und Ermittler hinzurief, damit sie sich um die schnöderen Aspekte der Polizeiarbeit kümmerten.

Schon beim ersten Verhör am nächsten Morgen rückte der nächste Angehörige des Opfers mit einem Geständnis heraus. Ihm standen zwar nicht länger sämtliche Details ganz klar vor Augen, es war ja allerhand passiert im Laufe jenes Abends, aber er wollte trotzdem festgehalten wissen, dass er seine Frau schon jetzt vermisse. Sie sei zwar stur und nachtragend und ein Zusammenleben sei so gut wie unmöglich gewesen – vor allem, weil sie gesoffen habe wie ein Loch –, aber trotz all ihrer Fehler und Schwächen wolle er doch unterstreichen, wie sehr sie ihm fehle.

»Vielen Dank«, sagte Bäckström zufrieden, und wahrscheinlich machte er in diesem Augenblick der Aufgeräumtheit den entscheidenden Fehler. Statt die Sitzung einfach zu beenden, sich in die Stille seines Büros zurückzuziehen und sich auf das nahende Mittagessen vorzubereiten, nickte er seiner rechten Hand zu und stellte die falsche Frage: »Dann sind wir wohl im Großen und Ganzen durch, oder? Oder hast du noch was auf Lager, bevor wir uns der banalen, ehrlichen Polizeiarbeit zuwenden?«

»Ich hab da noch zwei Sachen«, sagte Annika Carlsson. »Und die sind gelinde gesagt seltsam.«

»Ich höre«, sagte Bäckström mit einem aufmunternden Nicken. In all seiner Unwissenheit.

»Gut«, sagte Annika Carlsson und zuckte aus irgendeinem Grund mit den breiten Schultern. »Bei der ersten Angelegenheit handelt es sich um ein Kaninchen. Na ja, zumindest ist das der Anfang, wenn man es mal so sagen will.«

»Ein Kaninchen«, wiederholte Bäckström und dachte: Was zum Teufel faselt diese Frau?

»Genauer gesagt ein Kaninchen, das von den Behörden in Gewahrsam genommen wurde, nachdem sein Besitzer es vernachlässigt hatte.«

»Wie zum Teufel kann man ein Kaninchen vernachlässigen?«, fragte Bäckström. »Hat der Täter es in die Mikrowelle gesteckt?«

Begannen angehende Serienmörder nicht immer so ihre Karriere?, dachte er. Indem sie Kaninchen in die Mikrowelle steckten und die Katze in den Trockner warfen? Das wird ja immer besser. Und wenn man nach den Mienen der übrigen Anwesenden ging, war er offensichtlich nicht der Einzige, der so dachte. Auf einen Schlag waren sie alle merklich munterer und höchst interessiert – im Gegensatz zu vorher, als menschliche Verbrechensopfer und ihre Leiden abgehandelt worden waren.

»Nein.« Annika Carlsson schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, dahinter steckt noch eine viel üblere Geschichte.«

4

»Unsere Täterin ist eine dreiundsiebzigjährige Frau namens Astrid Elisabeth Linderoth, geboren 1940, Rufname Elisabeth«, begann Annika Carlsson. »Sie ist alleinstehend, keine Kinder, seit fünf Jahren verwitwet, wohnt in einer Wohnung in der Filmstaden in Solna. Ich hab aus reiner Neugier ihre Daten aufgerufen. Finanziell gut gestellt, unter anderem scheint sie seit dem Tod ihres Mannes eine reichlich bemessene Rente zu beziehen. Sie ist polizeilich noch nie auffällig gewesen, nicht die geringste Kleinigkeit ist aktenkundig. Aber jetzt hat sie sich eine Anzeige wegen Tierquälerei eingehandelt, und dazu kommt noch so einiges, was sich im Lauf der letzten Woche ergeben hat. Wenn du mich fragst, dann ist sie wahrscheinlich deswegen bei uns im Dezernat für Gewaltverbrechen gelandet.«

»Und was wäre das?«, erkundigte sich Bäckström.

»Widerstand, Gewalt gegen einen Polizisten im Dienst, versuchte Körperverletzung, zwei Fälle von Nötigung.«

»Moment mal«, ging Bäckström dazwischen. »Du hast doch gesagt, die alte Dame wäre dreiundsiebzig.«

»Du sagst es. Sie ist einfach eine alte Dame, und deshalb ist die Geschichte auch so traurig. Wenn du jetzt einfach mal zuhören würdest, dann könnte ich die Sache in aller Kürze zusammenfassen.«

»Ich bin ganz Ohr«, sagte Bäckström und machte es sich auf seinem Stuhl bequem.

Vor einem knappen Monat hatten die Stockholmer Behörden beschlossen, sich um ein Kaninchen zu kümmern, das der Tatverdächtigen gehörte. Eine Nachbarin hatte Anzeige erstattet, und zwar gerade einmal vierzehn Tage vor diesem Beschluss. Es schien sich nicht um wirklich aktive Tierquälerei gehandelt zu haben, eher um Vernachlässigung und mangelnde Pflege. Unter anderem soll die Besitzerin des Kaninchens ein paar Tage in Urlaub gefahren sein und vergessen haben, das Tier vor ihrer Abreise zu füttern. Außerdem sei das Kaninchen mehrfach im Treppenhaus aufgefunden worden, nachdem die Besitzerin vergessen hatte, die Wohnungstür zu schließen, woraufhin das Tier die Gelegenheit genutzt hatte und ausgebüxt war. Bei einer dieser Gelegenheiten war es von einem Dackel gebissen worden, der einem anderen Nachbarn gehörte.

»Ich habe das Gefühl, dass das Frauchen dieses Kaninchens wesentlich älter ist, als das Einwohnermeldeamt behauptet«, sagte Annika Carlsson und malte neben ihrer rechten Schläfe mit dem Zeigefinger kleine Kreise in die Luft. »Die erste Anzeige ging übrigens bei unseren Kollegen in Stockholm City ein, bei der neuen Tierschutzgruppe. Dort scheint man ungewöhnlich schnell gehandelt zu haben, was natürlich auch daran lag, dass Frau Linderoth im Januar schon einmal Gegenstand eines ähnlichen Einsatzes gewesen war. Da hatte dieselbe Frau Anzeige erstattet, und die Behörden hatten schon einmal den gleichen Beschluss gefasst, nur dass es damals wohl um einen Goldhamster gegangen war.«

»Na, hört sich ja ganz so an, als hätte die Alte ihr Haustier upgegradet«, lachte Bäckström. Er hatte sich bequem zurückgelehnt und war blendender Laune.

»Upgegradet? Wie meinst du das?«

»Na ja, ein Kaninchen ist doch mindestens doppelt so groß wie ein Hamster«, erklärte Bäckström. »Nächstes Mal schleppt sie vielleicht einen Elefanten an, wer weiß? Aber mir will immer noch nicht in den Kopf, warum zum Henker sie jetzt bei uns gelandet ist.«

»Dann werd ich’s dir erklären«, sagte Annika Carlsson. »Letzte Woche Dienstag, also am Dienstag, den 21. Mai, als zwei Kollegen von der Tierschutzgruppe Stockholm City mit zwei Angestellten der städtischen Behörden den Abholungsbeschluss vollstrecken wollten, weigerte sich Frau Linderoth zunächst, die Tür aufzumachen. Nach einigen Überredungskünsten hat sie die Tür am Ende einen Spaltbreit geöffnet – wenn auch mit vorgelegter Sicherheitskette. Und dann schob sie eine Pistole durch den Türspalt und forderte die Kollegen auf, umgehend zu verschwinden. Sie zogen sich zurück und riefen Verstärkung.«

»Das Sondereinsatzkommando?« Bäckström sah Annika Carlsson sensationslüstern an.

»Nein, tut mir leid, da muss ich dich enttäuschen. Wir haben einen von unseren Wagen hingeschickt. Einer unserer Kollegen kennt Frau Linderoth offenbar. Sie ist eine alte Freundin seiner Mutter. Also hat sie sich nach einigem Hin und Her überreden lassen, die Tür zu öffnen. Sie war zwar aufgewühlt, aber zumindest nicht gewalttätig. Wie sich herausstellte, war die Pistole ein antikes Stück aus dem achtzehnten Jahrhundert. Nach Angaben der Kollegen war sie nicht geladen und in den letzten zweihundert Jahren auch nicht abgefeuert worden.«

»Na dann«, sagte Bäckström.

»Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.« Annika Carlsson schüttelte den Kopf.

»Dachte ich mir fast.«

»Eigentlich war alles bestens – bis die Amtstierärztin das Kaninchen in den mitgebrachten Käfig setzen wollte. Da kommt Frau Linderoth nämlich mit hocherhobener Teekanne angestürmt und bedroht die Tierärztin. Man nimmt ihr die Waffe ab, setzt sie aufs Sofa, und die Kollegen aus City und die zwei Damen von der Behörde verlassen die Wohnung mit dem Kaninchen. Unsere eigenen Kollegen bleiben bei der Frau und unterhalten sich mit ihr. Dem Polizeibericht zufolge ist sie ruhig und gefasst, als sie gehen.«

»Das ist ja schön«, sagte Bäckström. »Frage: Woher kommen die ganzen Anzeigen?«

»Von den Kollegen aus Stockholm City«, sagte Carlsson. »Vom Tag danach. Sie haben Anzeige erstattet, auch im Namen der beiden Behördenmitarbeiterinnen, wegen gewaltsamen Widerstands, Gewalt gegen diensthabende Beamten, Nötigung und versuchter Körperverletzung. Wenn ich richtig nachgerechnet habe, sind es insgesamt zwölf verschiedene Vergehen.«

»Versteht sich von selbst«, meinte Bäckström. »Die Alte ist wirklich eine Bedrohung für den gesamten Sozialstaat. Höchste Zeit, dass sie hinter Schloss und Riegel kommt.«

»Ja, ich weiß, ich verstehe, was du meinst, und ich will dir auch gar nicht widersprechen. Was mich nur ein bisschen beunruhigt, ist die Anzeige wegen grober Nötigung, die wir am Donnerstagabend reingekriegt haben. Direkt hier im Präsidium. Die Person, die Anzeige erstattete, ist hierhergekommen und hat mit einem diensthabenden Kollegen gesprochen.«

»Lass mich raten. Die Kollegen vom Kaninchen- und Hamsterdezernat wollten noch was nachmelden, was sie zuvor vergessen hatten.«

»Nein.« Annika Carlsson schüttelte den Kopf. »Es war Frau Linderoths Nachbarin. Sie wohnt im selben Haus im vierten Stock, Frau Linderoth wohnt ganz oben im siebten. Es war übrigens dieselbe Nachbarin, die sie schon wegen Tierquälerei angezeigt hatte, sowohl im Fall des Kaninchens als auch im Fall des Hamsters. Außerdem hat sie sich mehrmals beim Eigentümerverein beschwert, aber das ist noch mal eine ganz andere Geschichte.«

»Wer ist die Frau?«

»Alleinstehende Dame, fünfundvierzig Jahre. Arbeitet als Teilzeitsekretärin für eine EDV-Firma in Kista. Bei uns nicht aktenkundig. Sie scheint den Großteil ihrer Zeit mit ehrenamtlichen Aktivitäten zu verbringen. Unter anderem ist sie Sprecherin der Organisation ›Unsere allerkleinsten Freunde schützen‹ – das ist anscheinend ein etwas radikalerer Ableger des Tierschutzvereins, bei dem sie früher im Vorstand saß.«

»Kann ich mir vorstellen. Hat sie auch einen Namen?«

»Fridensdal, Frida Fridensdal. Tal des Friedens, sozusagen. Den Namen hat sie selbst angenommen, ihr Geburtsname lautet Anna Fredrika Wahlgren, falls es dich interessiert.«

»Verdammt noch mal.« Bäckström merkte, wie allmählich sein Blutdruck anstieg. »Verdammt, Annika, das musst du doch selber hören! Frida Fridensdal, Tal des Friedens, ›Unsere allerkleinsten Freunde schützen‹ – das ist doch einfach nur eine verrückte Alte! Wieso überhaupt die allerkleinsten? Sorgt sie sich um Filzläuse und Kakerlaken?«

»Ich verstehe deine Gedankengänge nur zu gut. Deswegen hab ich sie ja auch selbst angehört. Schon am Freitag, und zwar an ihrem Arbeitsplatz, weil sie nämlich nicht ins Präsidium kommen wollte. Sie behauptet, dass sie sich nicht mehr nach Hause traue. Sie sagt, dass sie um ihr Leben fürchte und deshalb zu einer Freundin gezogen sei. Aber wie die Freundin heißt und wo sie wohnt, will sie nicht verraten. Sie behauptet, sie traue sich nicht, weil sie Angst hat, dass die Polizei sie nicht beschützen kann. Und die Freundin auch nicht. Letztere soll übrigens mit einem Polizisten verheiratet gewesen sein, der sie sowohl misshandelt als auch vergewaltigt hat.«

»Kann ich mir vorstellen«, schnaubte Bäckström.

»Erstens glaube ich nicht, dass sie sich all das ausgedacht hat. Abgesehen von ein paar menschlich verständlichen Übertreibungen, mit denen du und ich wohl beide gut leben können. Sie hat wirklich Angst. Schlicht und einfach Todesangst. Und die Bedrohung, von der sie erzählt, klingt wirklich nicht gut. Ein schwerer Fall von Nötigung, zweifellos.«

»Sagst du«, entgegnete Bäckström. »Was ist denn passiert?« Ich platze förmlich vor Neugier, dachte er. Von Kollegin Carlsson konnte man so allerhand behaupten, aber der ängstliche Typ war sie ganz sicher nicht.

»Ich komme gleich dazu, aber das große Rätsel ist tatsächlich ein ganz anderes.«

»Und zwar?«

»Es fällt einem wirklich schwer, diese Bedrohung, von der sie erzählt, mit der alten Frau Linderoth in Verbindung zu bringen. Sie scheint immerhin eine feine alte Dame zu sein. Es ist wirklich weit hergeholt, aber Frau Fridensdal ist sich zu hundert Prozent sicher, dass die alte Frau Linderoth hinter der Geschichte steckt.«

»Okay«, sagte Bäckström. »Ich höre.«

5

Am Donnerstagnachmittag hatte Frida Fridensdal ihren Arbeitsplatz in Kista um kurz vor fünf verlassen, war in die Garage gegangen und mit dem Auto direkt zum Solna Centrum gefahren, um ihren Wochenendeinkauf zu erledigen. Als sie fertig war, fuhr sie nach Hause zu ihrer Wohnung in der Filmstaden, um einen Happen zu essen, fernzusehen und sich dann schlafen zu legen.

»Nach ihren Angaben ist sie ungefähr um Viertel nach sechs zu Hause. Sie kocht sich was, isst, telefoniert mit einer Freundin. Sie sieht sich gerade die Nachrichten an, als es an der Wohnungstür klingelt. Sie meint, da muss es kurz nach halb acht gewesen sein.«

»Hatte sie die Tür abgeschlossen?«, fragte Bäckström, der sich fast schon ausrechnen konnte, was jetzt kam.

»Ja. Bevor sie aufmacht, wirft sie einen Blick durch den Türspion, weil sie keinen Besuch erwartet und im Allgemeinen vorsichtig ist, wenn Leute, die sie nicht kennt, bei ihr klingeln. Vor der Tür steht ein Mann, der aussieht wie ein Bote: blaue Jacke, mit einem großen Blumenstrauß in der Hand. Ein Blumenbote, bildet sie sich ein. Na ja, und da hat sie ihm eben aufgemacht.«

Manche lernen’s nie, dachte Bäckström.

»Danach geht es wohl ziemlich schnell. Er betritt ihre Wohnung. Legt die Blumen auf den Tisch im Flur. Sieht sie an und bedeutet ihr mit einem Finger auf den Lippen, dass sie ganz still sein soll. Er selbst sagt keinen Ton. Dann zeigt er auf das Sofa im Wohnzimmer. Sie geht hinein und setzt sich. Sie beschreibt es so, dass es in diesem Moment ganz leer in ihr gewesen sei. Sie hatte Todesangst. Sie wagt nicht zu schreien. Sie bekommt keine Luft mehr und traut sich auch nicht, ihn anzusehen. Die Arme ist völlig fertig.«

»Und, wie lautete die Botschaft?«

»Erst sagt er gar nichts. Er steht bloß da, und als er schließlich den Mund aufmacht, redet er sehr leise, fast freundlich, man könnte vielleicht sagen, in einem Tonfall, als wollte er sie überzeugen. Der Fernseher läuft immer noch, sodass sie ihn nur mit Schwierigkeiten verstehen kann. Es geht um drei Sachen. Erstens sind er und sie sich nie begegnet. Zweitens soll sie nie wieder etwas über Elisabeth sagen, und wenn sie jemand fragen sollte, wird sie nur Gutes erzählen, insbesondere über Elisabeths Tierliebe und wie aufopfernd sie sich um ihre Haustiere kümmert. Drittens wird er gleich wieder gehen. Sie soll noch eine Viertelstunde lang so sitzen bleiben, nachdem die Tür zugegangen ist, und niemandem auch nur einen Mucks von dem erzählen, was gerade passiert.«

»Elisabeth? Er hat Frau Linderoth Elisabeth genannt? Ist sie sich da ganz sicher?«

»Ganz sicher.« Kriminalinspektorin Annika Carlsson nickte nachdrücklich.

»Hat sie sonst noch was erzählt?«, wollte Bäckström wissen. Das klingt wirklich nicht gut, dachte er.

»Ja, leider. Nach seinen einleitenden Worten, wie ich sie gerade wiedergegeben habe, zückt er ein Springmesser oder Stilett. Frau Fridensdal meint, es habe ausgesehen, als hätte er ganz plötzlich ein Messer in der Hand gehalten. Er macht nur eine winzige Bewegung mit dem rechten Arm, und dann hat er plötzlich dieses Messer in der Hand. Ich finde ja, das klingt nach Springmesser oder Stilett. Sie meint überdies, dass er schwarze Handschuhe anhatte. Übrigens sieht sie erst in diesem Moment, dass er Handschuhe trägt, und sie glaubt, ab da überzeugt gewesen zu sein, dass er sie umbringen oder zumindest vergewaltigen will.«

»Aber das macht er nicht.«

»Nein, stattdessen lächelt er nur. Sieht sie an und sagt, wenn sie seinen guten Rat nicht befolgt, dann wird er dafür sorgen, dass sie ein ganzes Zoogeschäft in ihrer Fotze unterkriegt, und dabei hält er das Messer in die Höhe, und in der Kombination ist die Botschaft ja wohl deutlich genug. Dann geht er wieder. Die Blumen nimmt er mit. Er macht die Tür zu, und dann ist er einfach verschwunden. Keine Zeugen. Keiner, der irgendwas gesehen oder gehört hätte.«

»Und sie hat sich das nicht ausgedacht?«

»Nein. Du hättest sie sehen und hören sollen. Das war für mich mehr als ausreichend, um mich zu überzeugen.«

»Und dann?«

»Sie sitzt auf ihrem Sofa und schlottert, bis sie sich irgendwann so weit gesammelt hat, dass sie eine Freundin anrufen kann. Dieselbe Freundin, mit der sie gegen sieben telefoniert hat. Auf ihrem Handy ist es acht Uhr einundzwanzig. Die Freundin kommt sofort zu ihr, holt sie ab, und gemeinsam fahren sie zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Die Anzeige wird um Viertel nach neun aufgenommen.«

»Und die Freundin? Hast du mit der auch geredet?«

»Nein. Sie weigert sich, den Namen dieser Freundin zu verraten. Sie war bei der Vernehmung als Zeugin und seelische Unterstützung anwesend, und da nannte sie sich Lisbeth Johansson. Sie hat sogar eine Sozialversicherungsnummer und ihre Handynummer angegeben – aber die waren beide falsch. Diese Freundin ist dieselbe Frau, die mit einem Polizisten verheiratet war, der sie misshandelt und vergewaltigt hat. Ich habe Frau Fridensdal natürlich gefragt, warum sie – beziehungsweise alle beide – so vorgehen. Sie sagt, es liege daran, dass sie beide der Polizei nicht vertrauen.«

»Wie sieht es mit dem Täter aus? Konnte sie den Mann beschreiben?« Weigern sich, Namen und Wohnort anzugeben, aber beschützen sollen wir sie dann doch, dachte Bäckström. Scheißlesben.

»Doch, und die Beschreibung ist sogar richtig gut. Leider passt sie nur zu gut auf allzu viele, die in dieser Branche tätig sind. Der Täter trug eine dunkle Hose und eine halblange blaue Jacke mit Kapuze aus einem nylonähnlichen Material. Keine Aufnäher oder Abzeichen auf der Jacke, da ist sie sich ganz sicher. Schwarze Handschuhe, aber was er an den Füßen trug, weiß sie nicht mehr genau. Wenn sie raten sollte, würde sie vermuten, dass es ganz gewöhnliche Sneakers waren. Weiße Sportschuhe, so hat sie es formuliert. Er ist ungefähr eins neunzig groß. Kräftig gebaut, durchtrainiert, sah muskulös aus. Schmales, hageres Gesicht, markante Gesichtszüge, kurze schwarze Haare, dunkle, tief liegende Augen, markante, leicht gebogene Nase, markantes Kinn, Dreitagebart, sprach perfekt und akzentfrei Schwedisch, roch weder nach Tabak noch nach Schweiß oder Rasierwasser. Irgendwas zwischen dreißig und vierzig.«

Während sie redete, strich sich Annika Carlsson Stellen in ihren Notizen an.

»Ja, das war wohl alles. Ich wollte ein paar Bilder raussuchen, die sie sich ansehen sollte. Falls sie sich dazu bereiterklärt, noch mal bei uns vorbeizukommen. Sobald diese Sitzung beendet ist, kriegt ihr die Anzeige und das Vernehmungsprotokoll per Mail.«

»Hervorragend«, sagte Bäckström und hob sicherheitshalber die Hand, um eventuellen Fragen oder anderem unnötigen Geschwätz zuvorzukommen. »Wenn du dich um sie kümmerst, kümmere ich mich um die Sache, die uns die Kollegen aus City aufs Auge gedrückt haben. Dann bleibt noch die zweite Geschichte«, fuhr er fort. »Du hattest doch gesagt, dass du zwei Sachen auf Lager hättest. Worum geht’s bei der zweiten?« Wenn wir schon mal dabei sind, können wir das genauso gut auch gleich hinter uns bringen, dachte er.

»Ja, richtig«, sagte Annika Carlsson und verzog das Gesicht. »Aber ich glaube, es wäre fast besser, wenn Jenny das vortragen würde. Sie hat die Sache nämlich bearbeitet.«

Jenny, dachte Bäckström. Jenny Rogersson – seine neueste, jüngste Mitarbeiterin, die er selbst eingestellt hatte. Jenny mit dem langen blonden Haar, dem blendend weißen Lächeln und dem üppigen Dekolleté. Jenny, der einzige Lichtblick in diesem Irrenhaus, in dem er gezwungenermaßen seine Tage verbrachte. Jenny, eine Augenweide und Balsam für seine Seele. Sie beflügelte seine Fantasien und bescherte ihm die Möglichkeit, sich in eine andere, bessere Welt zu flüchten, sogar an einem Montag wie diesem.

6

»Danke, Annika«, sagte Jenny Rogersson und beugte sich über den Papierstapel, der vor ihr auf dem Tisch lag.

»Ich höre«, sagte Bäckström schroff. Hier bin immer noch ich derjenige, der das Wort erteilt, dachte er.

»Danke, Chef«, sagte Jenny. »Also, ich fange mal bei der Anzeige an. Die ging letzten Montagnachmittag bei uns ein, am Montag, den 20. Mai. Sie wurde hier im Haus am Empfang erstattet, aber von wem, ist unklar. Es herrschte ziemliches Chaos – ein Riesenandrang, lauter Leute, die Hilfe mit ihrem Pass brauchten und was weiß ich noch alles. Die Anzeige ging also anonym ein. Sie besteht aus einem Brief, der an die Polizei Solna gerichtet ist. Der Briefkopf lautet, ich zitiere: ›An die Kriminalabteilung der Polizeibehörde Solna‹. Darunter, als Überschrift sozusagen, ich zitiere: ›Anzeige wegen Körperverletzung auf dem Parkplatz vor Schloss Drottningholm am Sonntag, den 19. Mai, kurz nach elf Uhr abends‹, Zitat Ende. Der Vorfall soll sich also am Vorabend der Anzeige ereignet haben. Ja, so viel dazu.« Die stellvertretende Kriminalinspektorin Jenny Rogersson nickte, um zu bestätigen, was sie gerade gesagt hatte.

»Was steht denn nun in der Anzeige?«, wollte Bäckström wissen.

»Das ist eine lange Geschichte – fast zwei Seiten, in denen geschildert wird, was vorgefallen ist. Der Text wurde auf einem Computer geschrieben, säuberlich ausgedruckt, gut formuliert, keine Rechtschreibfehler. Man könnte höchstens behaupten, dass das Ganze ein bisschen unstrukturiert daherkommt. Aber der Brief endet mit den Worten, dass die Person anonym bleiben wolle, aber auf Ehre und Gewissen bezeugen könne, dass das, was sie uns da erzählt, wahr sei.«

»Sie? Woher weißt du das? Also … woher weißt du, dass es eine Frau ist?«, fragte Bäckström. Gott, was hat das Mädel süße Titten!, dachte er und schlug sicherheitshalber das linke Bein über das rechte, für den Fall, dass sich die Supersalami regte. Und dann auch noch dieses enge schwarze Top darüber.

»Irgendwie stell ich mir das so vor. Ich finde, das kann man ziemlich gut zwischen den Zeilen rauslesen. Unter anderem erwähnt sie ihren toten Mann. Eine gebildete ältere Dame, Witwe, die außerdem ganz in der Nähe des Schlosses wohnt, da bin ich mir ziemlich sicher, aber wenn du willst, Chef, kann ich natürlich noch mehr Beispiele geben«, sagte Jenny Rogersson, lächelte Bäckström an und präsentierte dabei sämtliche weißen Zähne.

»Erzähl, was vorgefallen ist«, sagte Bäckström. Oh Mann, dachte er. Die Supersalami hatte mittlerweile definitiv spitzgekriegt, was hier lief, und war drauf und dran, seine gut geschnittene Hose in ein Zirkuszelt zu verwandeln.

»Nach ihren Angaben war die Person zu ihrem allabendlichen Hundespaziergang draußen. Sie geht in südöstlicher Richtung durch den Teil des Parks, der direkt am Zaun zum Schlosspark liegt, und als sie sich dem Parkplatz nähert, hört sie zwei aufgeregte Männerstimmen. Am nördlichen Ende des Parkplatzes, direkt bei den Tennisplätzen, stehen zwei Männer und streiten. Einer ist furchtbar aufgebracht und schreit den anderen an und flucht.«

»Ja, weiter, ich höre«, sagte Bäckström, der jetzt sicherheitshalber seinen Stuhl näher an den Tisch herangeschoben hatte, sodass er direkt an der Tischkante saß, die seiner Supersalami ein schützendes Dach bot.

»Na ja, neben ihnen steht noch ein geparktes Auto, aber sie weiß nicht, was es für eine Marke war. Nur dass es schwarz war und teuer aussah, ein Mercedes oder BMW oder so. Ansonsten ist es menschenleer, weitere Autos gibt es nicht. Als sie die Männer hört, bleibt sie stehen, und wenn ich es richtig verstanden habe, stellt sie sich ein bisschen sichtgeschützt neben den Zaun bei den Tennisplätzen, ungefähr dreißig Meter von den beiden Männern entfernt. Damit die beiden sie nicht entdecken.«

»Okay, okay«, sagte Bäckström, der das immer stärkere Bedürfnis verspürte, seine Gedanken auf irgendetwas anderes zu lenken als auf die Kluft zwischen Jenny Rogerssons Brüsten. Vor allem jetzt, da sie sich ihm direkt zuwandte und nicht mehr allzu viel Abstand zwischen ihnen lag. »Korrigier mich, wenn ich dich falsch verstanden habe«, fuhr Bäckström fort. »Zwei Männer streiten miteinander, wobei der eine aggressiv ist und den anderen anschreit und flucht. Und dann kommt unsere Zeugin mit ihrem Hund daher und versteckt sich hinterm Zaun, um nicht entdeckt zu werden.«

»In Wirklichkeit ist unsere Zeugin allein«, fährt Rogersson fort. »Ihr Hund ist nämlich bereits tot. Er starb wohl letzten Herbst – ein Königspudel namens Sickan übrigens. Das erwähnt sie nämlich auch in ihrem Schreiben.«

»Augenblick mal«, sagte Bäckström. »Moment. Du meinst, die Alte läuft mitten in der Nacht durch den Park bei Schloss Drottningholm und schleift einen toten Köter hinter sich her?«

»Ich weiß natürlich, wie du darauf kommst.« Jenny Rogersson feuerte sicherheitshalber noch ein Lächeln in seine Richtung ab. »Aber wenn ich es richtig verstanden habe, hat die Dame jahrelang – und Sickan wurde immerhin fünfzehn – denselben Abendspaziergang mit ihrem Hund gemacht. Immer dieselbe Strecke. Von ihrem Haus in Richtung Süden, dann südöstlich, um den Parkplatz vor dem Drottningholmsteatern rum und wieder zurück. Das ist ihr zur Routine geworden, und an dieser Routine hat sie offenbar festgehalten, auch nachdem Sickan gestorben war. Da ging sie dann natürlich alleine.«

»Ich versteh’s immer noch nicht. Ist Sickan ein Männchen? Ein Rüde?«

»Ja, goldig, nicht wahr?« Jenny Rogersson lächelte breit mit ihren weißen Zähnen und den vollen roten Lippen. »Das ist sein Kosename gewesen, also …«

»Okay, gut«, fiel Bäckström ihr ins Wort. »Wollen wir jetzt …«

»Entschuldige, wenn ich unterbreche, aber wäre es zu viel verlangt, allmählich mal zu erfahren, was eigentlich passiert ist?«, fragte Annika Carlsson eisig und durchbohrte aus unerfindlichen Gründen ausgerechnet den völlig unschuldigen Bäckström mit einem scharfen Blick.

»Ja, tut mir leid, es ist nur alles ein bisschen chaotisch«, erklärte Jenny Rogersson, die sich trotz allem nicht aus der Ruhe bringen ließ. »Um es kurz zu machen: Wir haben also einen Mann – unseren Täter –, der aufgebracht ist, flucht und einen anderen Mann anschreit – unser Opfer. Gleichzeitig fuchtelt er mit irgendeinem Gegenstand herum, den er in der Hand hält und den unsere Zeugin für ein kurzes Rohr hält. Dann tritt er plötzlich vor und schlägt dem anderen direkt ins Gesicht, sodass der andere zu Boden geht, und dann beginnt der Täter, nach dem Opfer zu treten, das auf allen vieren über den Parkplatz kriecht, während der Täter immer wieder zutritt und mit diesem Rohr um sich schlägt. Dann versucht er anscheinend, seinem Opfer das Ding zwischen die Beine zu schieben, und versetzt ihm einen letzten heftigen Tritt in den Rücken. Dann geht er einfach so davon, setzt sich ins Auto und fährt nach einem Kavaliersstart weg. Während sein Opfer sich wieder hochrappelt und im Laufschritt den Tatort verlässt.«

»Hat sie das Autokennzeichen gesehen?« Annika Carlsson klang immer noch verhältnismäßig kurz angebunden.

»Nein, das hat sie nicht erkennen können. Sie ist sich allerdings fast sicher, dass die letzte Ziffer eine Neun war, und sie bildet sich ein, die vorletzte könnte ebenfalls eine Neun gewesen sein. Also zwei Neunen am Schluss. Und es war ein großes schwarzes Auto, das teuer aussah. Da ist sie sich ganz sicher.«

»Und das Rohr? Die Waffe? Für mich klang es so, als wäre die auf dem Parkplatz liegen geblieben.«

»Ja, richtig.« Rogersson nickte vergnügt. »Wirklich ganz unglaublich – es hat sich nämlich herausgestellt, dass es überhaupt kein Rohr war.«

»Kein Rohr?« Annika Carlsson klang nicht annähernd so vergnügt.

»Nein, es war ein Kunstkatalog. Den hatte der Täter zusammengerollt, deswegen sah das Ganze aus wie ein Rohr. Der Katalog stammt von einem berühmten englischen Auktionshaus. Weltberühmt sogar. Also die Auktionsfirma meine ich. Ich hab sie mal gegoogelt, sie heißt Sotheby’s und hat ihren Sitz in London. Die verkaufen dort teure Gemälde und Möbel und Teppiche und Antiquitäten, und dieser Katalog enthielt offensichtlich Bilder diverser Objekte, die bei einer Auktion in London Anfang Mai verkauft worden waren. Nur vierzehn Tage, ehe unser Täter ihn benutzte, um sein Opfer zu misshandeln. Ich hab ihn übrigens hier«, sagte Jenny Rogersson und hielt eine durchsichtige Plastiktüte in die Höhe, die einen Katalog mit grünem Einband und der Beschriftung »Sotheby’s« enthielt. »Den hat die Frau, die die Anzeige erstattet hat, mit beigelegt. Sie hat ihn auf dem Parkplatz gefunden und ist wohl zu dem Schluss gekommen, dass es sich dabei um die Waffe in der Hand des Täters gehandelt haben musste. Der Katalog lag mitsamt der Anzeige in einem ganz normalen Umschlag, wie man sie auf der Post kaufen kann. Außerdem befinden sich Blutflecken darauf. Also auf dem Katalog. Sowohl Spritzer als auch Schmierspuren. Wenn man bedenkt, was unsere Zeugin darüber erzählt, handelt es sich dabei höchstwahrscheinlich um das Blut des Opfers.«

»Und woher willst du wissen, dass es Blut ist?«

Annika Carlsson konnte es anscheinend nicht lassen. Die hat nicht viel menschliche Wärme für ihre Schwester übrig, dachte Bäckström.

»Ich hab den Kollegen Hernandez aus der Technik gebeten, es zu analysieren. Die Flecken wurden positiv auf Blut getestet. Er hat übrigens auch eine Probe ans Kriminaltechnische Labor geschickt und um einen Gentest gebeten.«

»Du meinst also, unser Opfer könnte sich bereits in unserer Datenbank befinden«, sagte Bäckström. Wozu eigentlich dieser ganze Aufstand? Die ganze Geschichte war doch glasklar, dachte er. Ein Schwuler, der einen anderen Schwulen verprügelte. Typische Schwulenschlägerei. Wahrscheinlich waren sie sich über den Preis für irgendeinen antiken Dildo in die Haare geraten, der einmal einem dritten Schwulen gehört hatte. Welchem normalen Menschen würde es denn bitte in den Sinn kommen, jemanden mit einem Auktionskatalog zu verprügeln?

»Nein, das nicht«, sagte Rogersson. »Das ist ja gerade das Tolle an der Anzeige. Die Frau hat das Opfer nämlich wiedererkannt. Einen Nachbarn. Sie kennt ihn schon seit Jahren, und sie ist sich ganz sicher. Sie erwähnt unter anderem, dass sie nur ein paar Straßen voneinander entfernt wohnen. Ich hab ihn überprüft: Er hat keine Vorstrafen. Scheint ein richtig netter Mensch zu sein. Vielleicht ist er sogar mit dem König befreundet, man kann ja nie wissen.«

»Erzähl weiter«, sagte Bäckström. Seine Supersalami schien sich wieder beruhigt zu haben. Muss an dem toten Köter gelegen haben, dachte er. Oder an diesen beiden Analakrobaten, die ihn völlig aus dem Konzept gebracht hatten.

»Er heißt Hans Ulrik von Comer, Freiherr, ein Blaublut also, dreiundsechzig Jahre alt. Verheiratet, zwei erwachsene Töchter, beide ebenfalls verheiratet. Er wohnt in einem Mietshaus. Es liegt nur ein paar hundert Meter vom Schloss entfernt und gehört offenbar der Hofverwaltung. Außerdem scheint er eine Verbindung dorthin zu haben. Er ist so eine Art Kunstexperte, Doktor der Kunstgeschichte, und er hilft anscheinend bei Hofe aus, indem er die Kunst- und Antiquitätensammlungen durchsieht und schätzt. Außerdem hat er eine Firma, die mit Kunst handelt, Gutachten erstellt, den Leuten beim Kauf und Verkauf von Kunst behilflich ist und so weiter.«

»Hat er selbst keine Anzeige erstattet?«, fragte Bäckström, obwohl er die Antwort bereits kannte. Verheiratet mit zwei Töchtern – warum sollte er da seine Frau unnötig aus dem Schlaf reißen? Schönen Dank auch, dachte Bäckström.

»Nein, und das ist auch das Komische daran«, sagte Jenny Rogersson. »Ich hab keine Anzeige von ihm gefunden. Also hab ich ihn angerufen und ihm erzählt, dass wir eine anonyme Anzeige reinbekommen hätten, die besagt, er wäre misshandelt worden, und wie er denn dazu stehen würde. Er wies den Vorfall komplett von sich. Er behauptete, er wäre zum fraglichen Zeitpunkt gar nicht vor Ort gewesen. Allerdings klang er ein bisschen nervös.«

»Surprise, surprise«, sagte Bäckström und warf demonstrativ einen Blick auf seine Uhr. »Okay«, fuhr er fort. »Wenn du mich fragst, ist das eine dieser Geschichten, die man am besten sofort zu den Akten legt. Wenn du die Anzeige bearbeitest, dann versieh sie mit dem Vermerk ›kein Verbrechen feststellbar‹, sonst verschlechtert sich unnötigerweise unsere Statistik. Ich kann dann gern meine Unterschrift unter den Vorgang setzen. Dann wäre diese Sitzung also hiermit abgeschlossen. Wenn noch irgendjemand etwas auf dem Herzen haben sollte: Ihr findet mich bis zur Mittagspause in meinem Büro. Dann muss ich leider zu einem Termin beim Landeskriminalamt, und ihr müsst versuchen, ohne mich klarzukommen.«

7

In der Sicherheit seines Dienstzimmers drückte er als Erstes auf den »Nicht stören«-Knopf. Dann atmete er dreimal tief durch, bevor er seine oberste Schreibtischschublade aufschloss und seine Büroflasche herausholte, um sich einen ordentlichen Schluck zu genehmigen, gefolgt von zwei Halsschmerztabletten, sowie der gute russische Wodka in seinem Magen ein bisschen zur Ruhe gekommen war. Erst danach war er in der Lage, seinen Vormittag im Geiste zusammenfassen.

Was mit einer Alten begonnen hatte, die vergessen hatte, ihr Kaninchen zu füttern, hatte sich zu einem Dutzend Anzeigen wegen schwerer Verbrechen ausgewachsen, deren Urheberin eine alte Oma war, die sich langsam wieder zu einem Kind entwickelte. Jetzt musste er nur noch sehen, wie er diese Anzeigen zu den Akten legen konnte, ohne dass sie die Aufklärungsquote seiner Abteilung belasteten.

Leider sah es aber so aus, als hätte ebendiese Alte unerklärlicherweise einen richtig unguten Typen angeheuert und auf ihre Nachbarin gehetzt, und den wollte er ganz sicher nicht so abtun wie seine bescheuerten Kollegen vom Kaninchen- und Hamsterdezernat in Stockholm City. Wie zum Teufel ist es möglich, dass eine Frau wie sie einen Mann wie ihn kennt?, dachte Bäckström. Das passt doch hinten und vorn nicht zusammen. Sie hat ja noch nicht einmal eigene Kinder.

So, was hätten wir denn noch?, fragte er sich, seufzte tief und goss sich sicherheitshalber noch einen Schluck ein, obwohl er sich normalerweise derlei kleine Ausschweifungen vor zwölf Uhr verkniff.

Zwei Schwule der etwas vornehmeren Sorte, die sich vor dem Schloss Seiner königlichen Majestät einen Damenboxkampf geliefert hatten. Wobei der unbekannte Täter offenbar einen Kunstkatalog als Waffe benutzt hatte und sein Opfer, der blaublütige Schwule, mit aller Entschiedenheit von sich wies, dass dieser Vorfall überhaupt stattgefunden hatte. Was zum Teufel ist eigentlich gegen einen guten alten Baseballschläger oder eine Axt einzuwenden?, fragte er sich und seufzte erneut, als jemand trotz der roten Lampe an seine Tür klopfte.

In diesem Haus gibt es bloß einen Menschen, der sich darum nicht schert, dachte er. Schleunigst räumte er seinen Schreibtisch auf und schloss die Schublade wieder zu – exakt eine Sekunde, bevor Annika Carlsson in sein Zimmer trat.

»Fühl dich wie zu Hause, Annika«, sagte Bäckström, ohne den Blick von den Unterlagen zu heben, in denen er zu lesen vorgab.

»Danke«, sagte Annika Carlsson und legte eine viel zu dicke Plastikmappe mit Anzeigen auf seinen Schreibtisch. Gesetzt hatte sie sich bereits.

»Die gesammelten Erzählungen vom Leiden der Tierschützer«, erklärte sie. »Du hast versprochen, dass du sie bearbeitest und abschließt.«

»Vor allem deinetwegen.«

»Dann will ich dir noch einen guten Rat geben«, sagte Annika Carlsson und lehnte sich zurück.

Annika Carlsson hatte mit ihren Kollegen von der Streife in Solna gesprochen, die dafür gesorgt hatten, dass Frau Linderoth zu guter Letzt doch noch den zwei Kollegen vom Tierschutz und den zwei Beamtinnen von der Behörde aufmachte und sie in die Wohnung ließ. Sie hatten Annika auch den Hinweis gegeben, dass Frau Linderoths direkte Nachbarin sich sehr über den Übergriff aufgeregt hatte, dem sie ihrer Ansicht nach ausgesetzt gewesen war.

»Der Kollege Axelsson – das ist der, dessen Mutter eine alte Freundin von Frau Linderoth ist – hat erzählt, dass weder die Kollegen vom Tierschutz noch die beiden Frauen von der Behörde Uniform trugen, und auch sonst wiesen keine äußerlichen Kennzeichen darauf hin, wer sie waren. Nach Angaben der Nachbarin klingelten sie erst bei Frau Linderoth, dann hämmerten sie an deren Tür, und zu guter Letzt rief einer von ihnen durch den Briefschlitz, dass sie aufmachen solle. Offenbar hat sie die Tür daraufhin einen Spaltbreit aufgemacht, wenn auch nur mit vorgelegter Sicherheitskette, und schob diese alte Pistole durch den Schlitz, und da hatten es die Kollegen plötzlich ganz furchtbar eilig, nach unten zu flitzen und sich ins Treppenhaus zu verziehen.«

»Und die Linderoth hat nicht irgendwie so ’n Guckloch in der Tür?« Das muss der Wodka sein, dachte Bäckström.

Auf einmal sah Annika Carlsson richtig vergnügt aus. »Hervorragend, Bäckström«, sagte sie. »So kenn ich dich. Nein, so was hatte sie nicht, weil sie das nämlich irgendwann mal hat zumachen lassen. Anscheinend hatte sie mal eins, aber da kann man nicht mehr durchgucken. Einen Dienstausweis kann sie also nicht gesehen haben, und der Besuch war ja auch nicht angekündigt.«

»Wie sicher ist sich die Nachbarin?«

»Sie wohnt im selben Stockwerk. Ihre Tür liegt der von Frau Linderoth direkt gegenüber, und sie hat einen funktionierenden Türspion, falls es dich interessiert. Und sowie die im Treppenhaus anfingen zu lärmen, stand sie an ihrem Guckloch. Offenbar hat sie die Kollegen sogar mit dem Handy aufgenommen. Die Bilder sind zwar nicht allzu prickelnd, aber der Ton ist gut. Sie hat es mir am Telefon vorgespielt, und ich muss sagen, die Kollegen haben einen ganz schönen Krach veranstaltet. Wie auch immer – sie hat auch nicht verstanden, was das eigentlich werden sollte, und meinte, sie war schon drauf und dran, die Polizei zu rufen. Sie dachte nämlich, es wären irgendwelche Gauner, die alte Leute in ihren Wohnungen überfallen und gerade versuchten, in die ihrer Nachbarin einzudringen. Zwei Frauen und zwei Männer – und sie hatte gerade erst in der Solnanytt gelesen, dass solche Leute oft in Gruppen aus Männern und Frauen arbeiten.«

»Du hast also persönlich mit ihr gesprochen? Mit der Nachbarin?«

»Ja, was glaubst du denn? Ich hab mit ihr telefoniert, und wenn es nötig werden sollte, kann es durchaus sein, dass ich sie aufs Präsidium bestelle.«

Jetzt klingt sie wieder wie immer, dachte Bäckström. Offen, positiv, nicht das geringste bisschen unterschwellige Aggression. »Interessant«, sagte Bäckström und dachte bei sich: Lehn dich bloß nicht zu weit aus dem Fenster.

»Ja, allerdings. Na, dann kümmer du dich mal um diesen Mist.« Kollegin Carlsson nickte zu dem Stapel Anzeigen hinüber und stand dann abrupt auf. »Übrigens – noch was ganz anderes: Der letzte Neuzugang in unserer Abteilung, die kleine Rogersson, war wohl kein besonderer Glücksgriff, auch wenn sie ja wohl angeblich die Tochter deines besten Kumpels ist.«

»Wie meinst du das?« Lehn dich nicht zu weit aus dem Fenster, dachte er.

»Die ist ja noch nicht mal trocken hinter den Ohren. Das ist doch noch das reinste Kind, Bäckström. Auch wenn sie Riesentitten hat, die du und sämtliche Kollegen des Dezernats die ganze Zeit über angeifert.« Mit einer kreiselnden Bewegung in Höhe ihrer eigenen Brüste deutete Annika Carlsson an, was sie meinte.

»Ist doch kein Drama.« Bäckström zuckte mit den Schultern. »Schlimmer wäre doch wohl, wenn sie tatsächlich trocken wär an diversen Stellen«, erklärte er mit Unschuldsmiene. Das hat gesessen, dachte er.

»Was soll das denn bitte heißen? Was denn für schlimmere Stellen?«

»Na ja, im Mund zum Beispiel. Stell dir vor, du redest und redest, und auf einmal kriegst du einen ganz trockenen Mund. Das ist doch auch nicht toll«, meinte Bäckström. »Wieso, was dachtest du denn, was ich gemeint habe?«

Da hat die Kampflesbe erst mal was zu knabbern, dachte Bäckström, während er die rechte Hand diskret in die Nähe des Alarmknopfes unter seinem Schreibtisch manövrierte. Nur für alle Fälle, dachte er.

ENDE DER LESEPROBE