9,99 €
Der junge Pfadfinder Edvin campt auf einer kleinen Schäreninsel, wo er und seine Kameraden Pilze sammeln. Ausgerüstet mit einem Körbchen findet er stattdessen einen halbvergrabenen Totenkopf im Wald. Obwohl er erst zehn Jahre alt ist, weiß er sofort, was zu tun ist: Er steckt den Schädel in eine Plastiktüte und türmt aus dem Pfadfinderlager zurück nach Stockholm geradewegs in die Wohnung seines Nachbars – dem berühmt berüchtigten Kommissar Evert Bäckström.
Evert Bäckström, irgendwo zwischen Mitte 40 und Mitte 50, klein, dick und durchaus nicht ganz auf der Höhe der Zeit, was Gleichberechtigung und politische Korrektheit angeht, ist als Kommissar bei der Polizei in Stockholm tätig. Sein Benehmen ist schlecht, sein Instinkt jedoch untrüglich. Er ist der Mann für die harten Fälle: Mord, bewaffneter Raubüberfall und so weiter. Am wenigsten scheut er dabei, sich selbst die Hände schmutzig zu machen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 597
Der junge Pfadfinder Edvin sammelt auf einer kleinen Schäreninsel Pilze. Ausgerüstet mit einem Körbchen findet er stattdessen einen halbvergrabenen Totenkopf im Wald. Obwohl er erst zehn Jahre alt ist, weiß er sofort, was zu tun ist: Er steckt den Schädel in eine Plastiktüte und türmt aus dem Pfadfinderlager zurück nach Stockholm geradewegs in die Wohnung seines Nachbars – dem berühmt berüchtigten Kommissar Evert Bäckström.
Evert Bäckström, irgendwo zwischen Mitte 40 und Mitte 50, klein, dick und durchaus nicht ganz auf der Höhe der Zeit, was Gleichberechtigung und politische Korrektheit angeht, ist als Kommissar bei der Polizei in Stockholm tätig. Sein Benehmen ist schlecht, sein Instinkt jedoch untrüglich. Er ist der Mann für die harten Fälle: Mord, bewaffneter Raubüberfall und so weiter. Am wenigsten scheut er dabei, sich selbst die Hände schmutzig zu machen.
LEIF GW PERSSON gilt als Großmeister der skandinavischen Kriminalliteratur. Persson, der lange Zeit als Profiler im Polizeidienst tätig war, ist Professor der Kriminologie, Medienexperte und seit mittlerweile 30 Jahren einer der erfolgreichsten Krimiautoren Schwedens. Er wurde mehrfach mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet, daneben erhielt er den Dänischen und den Finnischen Krimipreis. Seine Romane stehen regelmäßig auf Platz 1 der Bestsellerliste und verzeichnen Millionenauflagen. »Wer zweimal stirbt« ist der vierte Fall für Kommissar Evert Bäckström. Die Serie wurde erfolgreich verfilmt.
LEIF GW PERSSON
WER ZWEIMAL STIRBT
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Julia Gschwilm
Die schwedische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Kan man dö två gånger?« bei Albert Bonniers, Stockholm.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeiftung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2016 by Leif GW Persson
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Published by agreement with Salomonsson Agency
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-21344-2V001
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Dies ist ein böses Märchen für erwachsene Kinder, und diesmal ist auch eine der Hauptpersonen der Geschichte ein Kind: nämlich Evert Bäckströms Nachbar, der kleine Edvin, zehn Jahre alt.
Wenn man so will, kann man ihn als neuzeitliche literarische Entsprechung der Straßenkinder sehen, die uns in Conan Doyles Sherlock-Holmes-Romanen in der Baker Street begegnen, oder des kleinen Emil Tischbein in Erich Kästners Buch über »Emil und die Detektive«. Oder – denn Letzterer ist den schwedischen Lesern sicher am bekanntesten – unseres eigenen jungen Meisterdetektivs Kalle Blomkvist aus den Romanen von Astrid Lindgren.
Rein äußerlich ähneln sich Bäckström und Edvin nicht im Geringsten, doch es herrscht eine starke innere Verbundenheit zwischen ihnen. Edvin ist Bäckströms treuer Knappe und sein Bote in einer Vielzahl einfacher Verrichtungen von eher häuslicher und privater Natur, während Bäckström – wie Edvin die Sache vorzugsweise betrachtet – wohl am ehesten als Mentor und männliches Vorbild des Jungen beschrieben werden kann. Als Edvin während seines Aufenthalts im Sommerlager der Seepfadfinder zufällig einen sehr unheimlichen Fund mit deutlichen polizeilichen Vorzeichen macht, ist natürlich Bäckström der Erste, an den er sich mit seiner Entdeckung wendet.
Vielleicht hofft er auch auf die Chance, dem »Herrn Kommissar« bei der Auflösung dessen, was Bäckströms Auffassung nach bereits auf den ersten Blick nach einem »sehr vielversprechenden Mord« aussieht, zur Seite zu stehen. Ein Kommissar und legendärer Mordermittler, der die fünfzig bereits überschritten hat, und ein Junge von zehn Jahren also. Ob es ratsam ist, dass Letzterer im Ersteren eine Art geistige Vatergestalt sieht, darüber kann man natürlich diskutieren.
Nichtsdestotrotz, wenn wir nun von all dem absehen, unsere Herzen öffnen und in unserem Inneren Weitsicht walten lassen, ist es auch die Geschichte einer edlen Kameradschaft zwischen Männern, bei denen die innere Verbundenheit schwerer wiegt als alle äußeren Unterschiede. In allem Übrigen ist es eine Schauergeschichte. Böse Mächte treiben ihr Spiel, dunkle Wolken brauen sich über den Köpfen von Bäckström und dem kleinen Edvin zusammen.
Aber ich will die Ereignisse nicht vorwegnehmen. Lassen Sie mich stattdessen von vorne anfangen und in schönster Ordnung berichten, wie alles begann und wie es endete.
Leif GW PerssonProfessorenvilla, Elghammarim Sommer 2016
I Ein »ziemlich gruseliger« Fund mit polizeilichen Vorzeichen
Am Dienstagnachmittag, 19. Juli,klingelte um kurz vor sechs jemand an der Tür von Kriminalkommissar Evert Bäckströms Wohnung im Stockholmer Stadtteil Kungsholmen. Es war ein diskretes, aber gleichzeitig aufforderndes Klingeln, und darüber hinaus der Start einer weiteren Mordermittlung in Bäckströms Leben. Normalerweise begann es niemals auf diese Art.
Normalerweise folgte das Ganze festgelegten Routinen. Kriminalkommissar Evert Bäckström war Chef der Abteilung, die sich bei der Polizei Solna mit schweren Verbrechen befasste. Die schwersten Verbrechen, mit denen man es zu tun hatte, waren unterschiedliche Fälle tödlicher Gewalt, und Bäckström war dafür verantwortlich, dass in Ordnung gebracht wurde, was noch in Ordnung zu bringen war. Mit anderen Worten: Das Verbrechen aufgeklärt, der Täter dingfest gemacht und hinter Gitter gebracht und für die Angehörigen die Möglichkeit eines persönlichen Abschlusses, zumindest der Trauerarbeit.
Es begann fast immer mit einem Telefongespräch. Einer von Bäckströms Chefs, Kollegen oder vielleicht auch wachhabenden Polizisten rief an – wenn er nicht gerade im Büro saß – und bat ihn, sich um die Sache zu kümmern.
Seit Bäckström ein paar Jahre zuvor bei der Polizei in Solna angefangen hatte, leitete er in über zwanzig Mordfällen die Ermittlungen und hatte alle bis auf einen aufgeklärt. Eine Weile war er sogar so erfolgreich, dass er seine eigene Existenz riskierte, da sich die Anzahl der Morde in der Gegend auf höchst beunruhigende Weise verringerte. Glücklicherweise hatte sich das wieder gegeben, und während des letzten Jahres konnte Bäckström einen sehr erfreulichen Anstieg in der Statistik der tödlichen Gewaltverbrechen verzeichnen. Ein dienstliches Telefongespräch, und wieder landete eine Leiche auf Bäckströms Schreibtisch.
Doch diesmal begann alles anders, jemand klingelte an seiner eigenen Wohnungstür. Näher – in persönlicher und privater Hinsicht – kann ein Ermittler dem, was sich sehr bald als Start eines höchst komplizierten Mordfalls erweisen sollte, wohl kaum kommen.
Ein diskretes, aber gleichzeitig aufforderndes Klingeln, was ein Mysterium in sich war, da Bäckström dieses Klingeln schon viele Male gehört hatte und wusste, wer den Klingelknopf auf genau diese Art zu betätigen pflegte. Der kleine Edvin, dachte Bäckström. Merkwürdig, denn bei ihrem letzten Zusammentreffen, in der Woche vor Mittsommer, hatte Edvin erzählt, dass er ins Sommerlager der Pfadfinder fahren und erst einen Monat später zurückkehren würde, nämlich Ende Juli.
Bis zu dem mysteriösen Türklingeln war es ein ganz normaler Arbeitstag in Bäckströms Leben gewesen. Da das Wetter ausgesprochen schön war, hatte er im Büro angerufen und mitgeteilt, dass er sich leider gezwungen sah, am Vormittag von zu Hause aus zu arbeiten. Die nationale Polizeibehörde brauchte seine Hilfe bei einer dringenden Angelegenheit, was am einfachsten mithilfe seines eigenen Computers und ohne unnötige Wege durchgeführt werden konnte.
Dann hatte er sich auf den Balkon gesetzt, gefrühstückt und in aller Ruhe die Tageszeitungen gelesen, anschließend geduscht und sich mit Bedacht gekleidet (dem Wetter entsprechend, ein weiterer strahlender schwedischer Hochsommertag in dem herrlichen Leben, das er inzwischen führte), bevor er schließlich ein Taxi rief, das ihn zum Polizeigebäude in Solna fahren sollte. Bereits eine Stunde vor der Mittagspause war er vor Ort in seinem großen und menschenleeren Büro. Die halbe Belegschaft weilte im Urlaub, weil sie nicht begriffen hatte, dass gerade der Sommer die beste Zeit war, sich auszuruhen, wenn man klug genug war, dies in bezahlter Arbeitszeit zu tun. Nachdem sie so wenige waren, stand schlicht und einfach nicht zur Debatte, sich in arbeitsintensivere Abenteuer zu stürzen, ungeachtet der Wünsche der Führungsetage. Stattdessen beschäftigte man sich damit, in alten Papieren zu blättern und Fälle zu katalogisieren, die zum Stillstand gekommen waren. Kurz gesagt, man umging alles, das nicht von unmittelbarem und besonders dringlichen Charakter war.
Wie immer hatte er zunächst seine übliche Kontrollrunde erledigt, die sicherstellte, dass keiner seiner Mitarbeiter sich Dingen widmete, die Anlass zu weiteren polizeilichen Einsätzen gaben. Alles wirkte ruhig, überwiegend leere Zimmer, Korridore und Schreibtische, die üblichen Faulpelze, die im Pausenraum saßen und über alles zwischen Himmel und Erde palaverten, bloß nicht über die Arbeit selbst. Sobald er seine Runde beendet hatte, sprach er auf seinen Anrufbeantworter, er befände sich nachmittags auf einem Meeting und würde erst am Tag darauf in sein Büro zurückkehren.
Dann hatte er ein Taxi nach Djurgården genommen, um in einem schön gelegenen Wirtshaus zu Mittag zu essen, wo das Risiko, irgendeinen Kollegen zu treffen, der sich ebenfalls aus dem Büro verdrückt hatte, gegen null ging. Zuerst eine Variation vom Hering, ein kaltes tschechisches Pils und ein russischer Wodka für die Verdauung. Anschließend gegrilltes Beefsteak, ein weiteres Pils und ein ordentlicher Schnaps, um dem Effekt der gebratenen Zwiebeln entgegenzuwirken, die zu dem Beefsteak serviert worden waren. Das Ganze abgerundet mit Kaffee und Cognac, bevor er sich in das dritte Taxi dieses Tages setzte, um nach Hause zu fahren und seine wohlverdiente Mittagsruhe einzuleiten.
Bäckström war erst eine Viertelstunde, bevor Edvin an seiner Tür klingelte aufgewacht. Ausgeruht, guten Mutes und mit kristallklarem Verstand hatte er es sogar bereits fertiggebracht, sich einen erfrischenden Aperitif zu mischen, bevor das Geräusch der Türklingel seine Ruhe störte. Ungefähr gleichzeitig begann er in Gedanken, den gelungenen Abschluss dieses Arbeitstags zu planen.
Merkwürdig, dachte Bäckström. Einerseits das typische Klingeln des kleinen Edvin. Andererseits Edvins eigene Angaben, die im Übrigen von seiner Mutter bestätigt worden waren, als Bäckström sie einige Tage zuvor im Treppenhaus getroffen hatte. Dass Edvin sich in einem Pfadfinderlager befand, weit draußen in der Gegend um die Insel Ekerö im Mälarsee und mindestens dreißig Kilometer von seinem Wohnhaus entfernt. Und dass er erst wieder Ende nächster Woche zu Hause erwartet wurde.
Bäckström war zwar der bekannteste und angesehenste Polizist des Landes. Ein lebendes Symbol für die Sicherheit, die alle normalen Mitbürger als ihr Recht betrachteten. Ein Fels in der Brandung, bei dem man in diesen bösen und unsicheren Zeiten noch immer Schutz suchen konnte. So nahmen anständige, normale Leute ihn und das, wofür er stand, wahr – aus gutem Grund. Gleichzeitig gab es jedoch viel zu viele, die ihre Ansicht nicht teilten und die unter Umständen Edvins Klingelsignal imitierten, um ihm zu Leibe zu rücken, ja ihn sogar anzugreifen oder zu töten. Das hatte sogar sein einfältiger Arbeitgeber eingesehen, als er ihm schließlich das Recht zugestanden hatte, seine Dienstwaffe auch außerhalb der Arbeitszeiten zu tragen.
An allen Tagen der Woche, zu jeder Stunde des Tages, egal, wo er sich befand und was er tat, konnte er nun also seinen besten Freund im Leben mit sich führen. Klein-Sigge, seine Dienstpistole der Marke Sig Sauer mit dem größten verfügbaren Magazin, Kapazität von 15 Schuss. Auch wenn es schwer durchzukriegen und sogar das Eingreifen der höchsten Leitung des Polizeiwesens nötig gewesen war, bis einer seiner aktenversessenen Chefs gewagt hatte, diesen Beschluss zu verabschieden.
Man sollte es nicht darauf ankommen lassen, dachte Bäckström und holte Sigge aus der Tasche seines Morgenrocks, bevor er in den Flur ging, um einen näheren Blick auf seinen Besucher zu werfen.
Bäckström war ein vorsichtiger Mensch. Bösewichte lauerten überall, und sollte er die Zugbrücke zu der Burg, die er sein Heim nannte, herunterlassen, dann fasste er, und nur er, diesen wohlüberlegten Entschluss.
Durch den Türspion zu blicken war völlig unmöglich. Nur die minderbemittelte Kategorie der Lebensmüden ließ sich auf diese Weise den Schädel in Stücke schießen, und dass es überhaupt einen Türspion in seiner Tür gab, diente einzig und allein dazu, den Gegenspieler zu verwirren. Er verließ sich auf die gut versteckte Überwachungskamera, die er vor ein paar Monaten hatte installieren lassen, aus praktischen Gründen sowohl mit seinem Computer als auch mit seinem smarten Handy verbunden.
Definitiv Edvin, dachte Bäckström. Er tippte auf sein Handy, um die Kamera auf das Treppenhaus zu richten und sicherzugehen, dass er auch allein war. Und nur Edvin, dachte er.
Bevor er die Tür öffnete, steckte er Klein-Sigge zurück in die Tasche seines Morgenrocks, um seinen Gast nicht unnötig zu beunruhigen.
»Edvin«, rief Bäckström. »Schön, dich zu sehen. Sag, was kann ich für dich tun, junger Mann?«
»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar, bei allem Respekt«, sagte Edvin und verbeugte sich höflich, »aber ich glaube, diesmal kann ich etwas für Sie tun.«
»Was du nicht sagst. Das klingt ja gut. Dann komm mal rein.«
Merkwürdiger Bursche, dachte Bäckström. Von seinem komischen Aufzug ganz zu schweigen.
Edvin war klein und dünn. Dünn wie Zahnseide und nur unbedeutend länger als das Stück, das Bäckström abzureißen pflegte, bevor er morgens und abends die veritablen Kronjuwelen pflegte, die inzwischen seine ursprüngliche Garnitur ersetzt hatten. Edvin trug eine runde Hornbrille mit Gläsern dick wie Aschenbecher, und er redete wie ein Buch mit sehr kleinen Buchstaben. Eine kleine, Bücher verschlingende Brillenschlange, die ein paar Jahre zuvor eingezogen war. Vorteilhafterweise war er auf diese altmodische Art wohlerzogen, und glücklicherweise das einzige Kind, sowohl in seiner Familie als auch in dem Haus, in dem Bäckström und er wohnten.
Bäckström mochte keine Kinder. An sich war das nicht verwunderlich, denn er missbilligte im Großen und Ganzen alle Menschen außer sich selbst und auch die meisten Tiere und Pflanzen, aber bei Edvin machte er eine Ausnahme. Der Junge hatte sich nämlich als verschwiegen, unumstößlich loyal und darüber hinaus überaus nützlich erwiesen, wenn es darum ging, kleinere Erledigungen auszuführen, wie beispielsweise Zeitungen, Zutaten für seine Longdrinks und diverse Delikatessen vom Feinkostladen im Einkaufszentrum am Sankt Eriksplan zu besorgen. Es würde allerdings noch ein paar Jahre dauern, bevor Bäckström ihn zum Systembolaget, dem staatlichen Alkoholgeschäft, schicken konnte, um die etwas gewichtigeren Aufträge zu erledigen. Aber die Zeit würde kommen, und bereits jetzt war er Bäckström ans Herz gewachsen.
Heute war Edvin darüber hinaus in Uniform gekleidet. Ein langärmliges blaues Hemd, ein gelbes Halstuch, das von einer geflochtenen Lederschnur zusammengehalten wurde, knielange blaue Hosen und blaue Turnschuhe. Auf dem Hemd prangten mehrere Stoffembleme und einige metallene Abzeichen, an seinem Gürtel hingen ein mittelgroßes Messer in einer Scheide sowie drei Gürteltaschen unterschiedlicher Größe, und auf dem Rücken trug er einen kleinen Rucksack aus braunem Leder.
Vermutlich aus dem Pfadfinderlager getürmt, folgerte Bäckström in Polizistenmanier.
Bäckström und sein Gast ließen sich auf der Sitzgruppe in seinem Wohnzimmer nieder. Bäckström in seinem thronähnlichen Sessel mit Fußschemel, während Edvin zunächst den Rucksack abgenommen und auf den Couchtisch gestellt hatte, bevor er sich in die nächstgelegene Sofaecke setzte. Mit geradem Rücken wie ein Zinnsoldat und ernstem Gesichtsausdruck.
»Du hattest ein Anliegen«, erinnerte ihn Bäckström, nippte an seinem Drink und nickte seinem Besucher freundlich zu.
»Ja«, sagte Edvin. »Vor ein paar Stunden hab ich auf einer Insel in der Nähe des Lagers der Seepfadfinder, in dem ich gerade bin, etwas gefunden. Ich glaube, es könnte für den Herrn Kommissar von Interesse sein.«
»Ich höre.« Bäckström lächelte freundlich. »Erzähl.«
Edvin nickte, öffnete seinen Rucksack und holte eine Plastiktüte heraus, die er ihm reichte, und sobald Bäckström die Tüte in der Hand hatte, begriff er, was darin war. Das gibt’s doch nicht, dachte er.
»Wirklich ziemlich scheußlich«, bestätigte Edvin und nickte ernst.
Früher am Tag war Edvin mit seinen Pfadfinderkollegen beim Segeln gewesen, doch kurz nach dem Mittagessen hatte man ihm einen Spezialauftrag erteilt und ihn auf einer nahe gelegenen Insel abgesetzt, um Pfifferlinge, andere essbare Pilze oder sonst irgendetwas zu sammeln, das man verwenden konnte, um die Essenskosten für Edvin und seine Kollegen gering zu halten, ohne dass es sie umbringen würde.
Pilze hatte er keine gefunden, was Edvin, in Anbetracht des trockenen Wetters, das seit fast einem Monat herrschte, nicht sehr verwunderlich fand. Auch nichts anderes Essbares im Übrigen. Stattdessen hatte er eine völlig andere Art von Fund gemacht.
»Als ich ihn gesehen habe, dachte ich zuerst, es wäre ein großer Bovist.« Edvin nickte zu dem weißen Schädel hin, der zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Er war im Moos eingesunken, und nur die Stirn ragte heraus.«
»Was hast du dann gemacht?«, fragte Bäckström.
Etwas blass um die Nase bist du jedenfalls, dachte er.
»Na ja, ich bin draufgetreten. Wie man es bei Bovisten macht. Sodass er zerplatzt und staubt. Aber dann hab ich ja begriffen, was es war. Er lag außerdem genau vor dem Eingang zu einem Fuchsbau. Also hätte ich es vielleicht schon vorher kapieren müssen.«
Bäckström begnügte sich mit einem zustimmenden Nicken. Dann steckte er einen Stift in die Augenhöhle des Schädels und hielt ihn hoch, um ihn näher betrachten zu können, ohne Fingerabdrücke oder andere Spuren zu hinterlassen.
»Ich hab es genauso gemacht wie der Herr Kommissar. Um keine unnötigen Spuren zu hinterlassen«, sagte Edvin. »Ich hab ihn also nicht angefasst«, verdeutlichte er.
»Natürlich nicht. Wir sind ja Profis, du und ich. Nicht irgendwelche idiotischen Privatdetektive.«
Dieser Bursche hat’s drauf, dachte Bäckström, während er Edvins Fundstück untersuchte.
Es war ein menschlicher Schädel, dem der Unterkiefer fehlte, was oft der Fall war, sobald er eine Weile draußen in der Natur gelegen hatte. Ansonsten schien er in ausgezeichnetem Zustand zu sein. Weiß und ohne jegliche Gewebereste. Keine Werkzeugspuren, die durch Menschenhand zustande gekommen waren. Auch keine Abdrücke von Tierzähnen. Nur Spuren von Dingen, die mit Edvins Bericht zusammenpassten: Rückstände von Moos und Gras, ein längerer Halm, der sich zwischen den Vorderzähnen des Oberkiefers eingekeilt hatte, Erde an einer Seite. So weit nichts Merkwürdiges im Hinblick auf die Umstände, und im Lauf der letzten zweihundert Jahre hatten Generationen von schwedischen Archäologen Tausende ähnlicher Funde im Mälartal gemacht, die aus der Bronzezeit und früher stammten. Damit gab es auch keinen Grund für jemanden wie Bäckström, sich unnötig zu ereifern. Wäre da nicht das kleine, runde Loch in der rechten Schläfe gewesen, etwa in Höhe der Mittellinie der Augenhöhlen.
»Die Kugel liegt noch im Inneren des Schädels.« Edvin reichte Bäckström eine kleine Taschenlampe. »Ich hab sie klappern hören, als ich ihn hochgehoben habe. Also hab ich sie mir mit der Taschenlampe angeschaut.«
»Soso, das hast du also.« Bäckström kippte den Schädel vorsichtig in den richtigen Winkel und leuchtete in den Schädel hinein. Da lag sie, genau wie Edvin gesagt hatte.
Eine Bleikugel, ohne Ummantelung, vermutlich Kaliber .22. Ein Einschussloch mit scharfen und deutlichen Kanten, aber kein Austrittsloch. Die Kugel war platt gedrückt worden, sobald sie die Schläfe des Schädels durchdrungen hatte, und hatte einen doppelt so großen Durchmesser angenommen wie zuvor. Zu groß, um durch das Loch zu fallen, das sie verursacht hatte, und damit im Kopf des Menschen verblieben, den sie getötet hatte. Und ein guter Grund dafür, dass Edvins Fund auf Bäckströms Tisch gelandet war. Sogar auf seinem eigenen Sofatisch.
»Aha, ja.« Bäckström stellte den Schädel auf dem Tisch ab. »Was meinen wir also dazu? Nachdem es dein Fund ist, Edvin, schlage ich vor, du fängst an. Was fällt dir zu dem Totenschädel hier ein?«
Zuerst hatte Edvin nur genickt. Dann ein kleines schwarzes Notizbuch aus einer der kleinen Taschen geholt, die er an seinem Gürtel trug, samt einen Stift, den er aus der Brusttasche seines Hemds zog. Seine Brille zurechtgerückt und etwas diskret gesummt, eher für sich, wie es schien, bevor er schließlich das Wort ergriff.
»Danke, Herr Kommissar«, sagte Edvin. »Ich glaube, es ist eine Frau. Eine erwachsene Frau. Zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt. Also, als sie gestorben ist. Eigentlich bin ich mir da ganz sicher.«
»Wie kannst du dir so sicher sein?«
Dieser Junge übertreibt vielleicht ein bisschen, dachte Bäckström.
»Ich hab im Bus auf dem Weg hierher gegoogelt.« Edvin fiel es plötzlich schwer, seinen Eifer zu verbergen. Er hielt sein iPhone hoch, um seine Aussage zu bekräftigen.
»Ich will ja nicht nerven«, erwiderte Bäckström, »aber was macht dich so sicher?«
Alles, absolut alles, sprach Edvin zufolge dafür, dass es so war. Ein gut zusammengewachsener Schädel mit deutlichen Suturen. Genau wie bei einem Erwachsenen. Bleibende Zähne wie bei einem Erwachsenen. Keine Milchzähne, wie sie Kinder bis zu einem Alter von zirka 13 Jahren haben konnten. Definitiv ein erwachsener Mensch.
»Und warum meinst du, es ist eine Frau?«, fragte Bäckström.
»Tja, das liegt nicht in erster Linie an der Größe. Frauen haben zwar kleinere Köpfe als Männer, also im Durchschnitt, und dieser hier ist ja sehr klein, wenn er auf einem erwachsenen Mann gesessen haben soll. Aber es gibt ja große Unterschiede. Ich meine, auch zwischen Männern.«
Wie wahr, wie wahr, dachte Bäckström und nickte ermunternd.
»Es sind vor allem andere Dinge«, fuhr Edvin fort. »Senkrechte Stirn, runde Form. Männer haben oft eine eher nach hinten geneigte und etwas eckige Stirn. Ja, und dann wären da noch die Augenbrauenbögen. Bei uns sind sie oft markant, aber bei Frauen sind sie klein oder gar nicht vorhanden. Die Augenhöhlen sind bei Frauen runder, und wenn der Herr Kommissar sie sich genau anschaut, dann sieht man, dass die Oberkante der Augenhöhlen dünn und scharfkantig ist. Bei Männern ist sie wesentlich breiter und abgerundeter. Über das Kinn können wir ja leider nichts sagen, weil ihr der Unterkiefer fehlt.«
»Aber du bist ganz sicher?«
Was zum Geier sollen wir mit einem Nationalen Forensischen Zentrum, dachte Bäckström. Hunderte von Idioten, die herumlaufen und Däumchen drehen, obwohl man sie genauso gut durch seinen kleinen Edvin ersetzen könnte.
»Ja, ganz sicher.«
»Hast du noch mehr herausgefunden?«
»Ich glaube nicht, dass sie drogenabhängig oder kriminell war oder so was. Ich glaube, sie war ein ganz gewöhnlicher Mensch. Ein pflichtbewusster Mensch, der ein gutes Leben geführt hat. Sie hat zum Beispiel weiße, völlig gesunde Zähne. Keine einzige Plombe. Keine Löcher, nicht einmal Zahnstein oder Karies. Sie hat auch keine verheilten früheren Verletzungen am Kopf. Als wenn jemand sie geschlagen hätte, oder ihr ein Unfall passiert wäre, meine ich.«
»All das hast du herausgefunden, während du im Bus gesessen und gegoogelt hast?«
»Ja. Ich war fast allein im Bus, ich hab mich ganz hinten hingesetzt, sodass niemand sehen konnte, dass ich mir den Schädel unter die Lupe genommen habe. Außerdem hat die Fahrt nach Kungsholmen über eine Stunde gedauert.«
Vorne im Bus sitzen irgendwelche erwachsenen Trottel und denken darüber nach, ob sie Pizza oder Pasta zu Abend essen und ob sie es noch vor Ladenschluss zum Systembolaget schaffen, dachte Bäckström. Während sie dort mit ihren kleingeistigen Grübeleien beschäftigt sind, sitzt der kleine Edvin ganz hinten, um in aller Ruhe ausgehend von eingehend geprüften wissenschaftlichen Fakten den Schädel zu inspizieren, den er ein paar Stunden zuvor gefunden hat. Genau wie ich es getan hätte, dachte er. Es gab also noch Hoffnung für die Menschheit. Obwohl sie im Namen der Gerechtigkeit schon seit langem hätte verloren sein müssen.
»Gibt es irgendetwas, was ich deiner Meinung nach zu fragen vergessen habe?«, fügte er hinzu.
Vielleicht eine Sache, meinte Edvin, aber das sei nichts, das er sicher wisse, sondern eher etwas, worüber er nachgedacht habe. Ein Gefühl, das er gehabt hatte.
»Was denn?«, fragte Bäckström.
»Ich hab den Eindruck, sie ist nicht in Schweden oder Europa geboren. Es ist kein Schädel von kaukasischem Typ, wie man in der Anthropologie sagt. Dass sie samischen Ursprungs ist, ist wohl auch nicht sehr wahrscheinlich.«
»Glaub ich auch«, stimmte Bäckström zu.
Die Häufigkeit von Lappen im Mälartal sprach stark dagegen, glücklicherweise, dachte er.
»Und woher kommt sie dann?«
»Ich hab das Gefühl, sie kommt aus Asien«, sagte Edvin. »Thailand, Vietnam, Philippinen, vielleicht sogar China oder Japan. Ferner Osten, nicht Mittlerer Osten. Aber das ist also eher ein Eindruck, den ich habe.«
»Ich glaube, dieser Teil des Rätsels wird sich lösen lassen«, meinte Bäckström. »Sobald wir ihre DNA untersucht haben.«
»Das Zahnmark.« Edvin nickte. »Bei ihren guten Zähnen sollte das funktionieren.«
»Ja.«
Was hatte ich eigentlich erwartet, dachte Bäckström.
»Bleibt die entscheidende Frage«, sagte Edvin, während er mit dem Stift etwas in sein Notizbuch kritzelte.
»Was meinst du?«
»Mord oder Selbstmord.«
»Ja, ich wollte dich gerade danach fragen«, erwiderte Bäckström, was eine glatte Lüge war, denn das Einzige, worüber er in den letzten Minuten ihres Gesprächs nachgedacht hatte, war, dass es höchste Zeit war, sich einen neuen Drink zu mixen.
»Was meinst du?«, fragte er.
Wahrscheinlich ein Selbstmord. Dem Einschussloch und dem Einschusswinkel nach zu urteilen ein Schuss aus nächster Nähe in die rechte Schläfe. Vielleicht sogar ein aufgesetzter Schuss, wenn die verwendete Waffe eine Pistole oder ein Revolver war und kein Gewehr. Selbstmord mithilfe von Schusswaffen wäre außerdem häufiger als Mord, auch wenn es in der Regel Männer und nicht Frauen waren, die sich auf diese Art aus dem Leben verabschiedeten. Wenn das Einschussloch im Gaumen des Oberkiefers gesessen hätte, wäre Edvin sich sogar ganz sicher gewesen, dass es sich nicht um einen Mord handelte.
»Und deine Einschätzung?«, bohrte Bäckström nach. »Wie, wo und wann? Wie du weißt, sind das immer meine großen Fragen.«
Man sollte die Gelegenheit nutzen, dachte er, bevor der kleine Edvin in die Galaxie im äußeren Weltraum zurückkehren würde, von der er offenbar gekommen war. An diesen Ort, wo man bereits all das wusste, worüber jeder andere, er selbst leider eingeschlossen, lange nachdenken musste.
Mord, meinte Edvin. Allerdings vor allem aufgrund der polizeilichen Regel, die in unklaren Fällen galt, bis ohne jeden Zweifel das Gegenteil bewiesen war.
»Wie der Herr Kommissar immer sagt: Geh von Mord aus, bis das Gegenteil bewiesen ist«, sagte Edvin und nickte.
Ansonsten hatte er nicht mehr viel hinzuzufügen. Außer, dass der Ort, an dem er den Schädel gefunden hatte, vermutlich nicht der Tatort, sondern nur der Fundort gewesen sei. Im Hinblick auf den Fuchsbau, vor dem er gelegen hatte, glaubte er auch, dass die Leiche ursprünglich irgendwo anders auf der Insel vergraben oder versteckt worden war. Es waren an die hundert Meter bis zum nächsten Strand, und auf dem Weg gab es eine Unmenge von Stellen, an denen man eine Leiche verstecken konnte, warum sie also unnötig weit schleppen? Ein Fundort. Kein Tatort.
»Ich bin ja selbst dort gewesen«, verdeutlichte Edvin. »Da ist fast nur Gebüsch und Dickicht. Fast wie ein Dschungel. Da will sicher niemand eine Leiche herumtragen, wenn es sich vermeiden lässt.«
»Und der Tatort?«, fragte Bäckström.
»Vielleicht ein Boot. In dem Fall denke ich auch, es ist im Sommer passiert, wenn die Leute mit Booten auf dem See unterwegs sind.«
Glaube ich auch, dachte Bäckström, der trotzdem nur kurz nickte. Was sollte man draußen auf dem See auch anders machen, wenn man eine Leiche loswerden wollte? Zuerst hatte der Täter für die Nacht in irgendeiner hübschen Bucht geankert. Gerade rechtzeitig zu Hering und Schnaps hatte die Frau, die er dabeihatte, angefangen, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Da hatte er das Kleinkalibergewehr genommen, das er an Bord hatte, und allen weiteren Diskussionen ein Ende bereitet, indem er ihr in den Schädel schoss. Warum die Sache unnötig kompliziert machen, dachte Kriminalkommissar Evert Bäckström.
»Und wann ist es passiert?«, fragte er.
In diesem Punkt – wann der tödliche Schuss abgefeuert worden war – war Edvin immer noch unsicher. Kugeln des Kalibers .22 existierten seit fast hundertdreißig Jahren, das hatte er beim Googeln herausgefunden, und gerade diese Art von Angaben stimmten meistens. Natürlich gab es Schädel, die im selben Zustand waren wie der, den er gefunden hatte, obwohl sie über hundert Jahre in der Erde gelegen hatten. Aber wenn er die Wahl hätte, würde er sagen, dass es ein Mord war, der während seiner eigenen Lebenszeit stattgefunden hatte. In den letzten zehn Jahren.
»Wenn du die Wahl hättest«, wiederholte Bäckström. »Wie meinst du das?«
»Weil ich ihn gefunden habe«, sagte Edvin. »Es wäre irgendwie gerecht. Der Herr Kommissar versteht sicher, was ich meine.«
»Besten Dank, Edvin.« Bäckström nickte seinem Besucher freundlich zu. »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«
»Ich könnte nicht zufällig ein belegtes Brot haben?«, fragte Edvin. »Ich bin nämlich ein bisschen hungrig.«
»Selbstverständlich«, antwortete Bäckström mit offensichtlicher Wärme. »Ich habe Schinken und Wurst und Leberpastete und den ganzen anderen Kram. Hering und Krabbensalat und Maränenkaviar und geräucherten Aal und Lachs. Du kannst dir nehmen, was du willst.«
»Danke«, sagte Edvin. »Und dann ist da noch etwas, was ich mich gefragt habe.«
»Ich höre.«
»Wir sollten vielleicht mit Furuhjelm sprechen.«
»Furuhjelm?«
»Ja, das ist der Vorsteher des Pfadfinderlagers. Er kann ziemlich kleinlich sein. Weil ich nichts gesagt habe, als ich abgehauen bin, meine ich. Also, über das da.« Edvin blickte die Plastiktüte auf dem Tisch an.
»Klug von dir«, sagte Bäckström. »Die Leute reden viel zu viel, und das hier sollte unter uns bleiben. Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich darum.«
»Wie machen wir’s mit Mama und Papa?«
»Darum kümmere ich mich auch.
»Wie gut«, erwiderte Edvin mit deutlich erhellter Miene.
»Also, alles gut«, beruhigte ihn Bäckström. »Jetzt sieh zu, dass du was in den Magen kriegst.«
Problem, Problem, Problem, dachte Bäckström, sobald Edvin in seiner Küche verschwunden war. Ohne überhaupt näher über die Sache nachdenken zu müssen, konnte er bereits ein halbes Dutzend praktischer Probleme ausmachen, die durch den Beitrag zur Polizeiarbeit, den sein kleiner Nachbar ihm übergeben hatte, angestoßen worden waren und unmittelbare Maßnahmen erforderten. Der Vorteil an dieser Art von Problemen war, dass sie Bezug zu seiner Arbeit hatten, und nachdem Bäckström der Chef war, musste er nur in aller Deutlichkeit darauf hinweisen und dafür sorgen, dass einer seiner Mitarbeiter sich der Sache annahm.
Ich muss die praktischen Dinge delegieren, dachte Bäckström. Ich rufe Ankan an.
Annika Carlsson war neu ernannte Kriminalkommissarin und Bäckströms rechte Hand in der Abteilung für schwere Verbrechen. Unter den Kollegen wurde sie Ankan, »Ente«, genannt, und ob das nun ein Schimpfname oder ein Kosename war, hing ganz davon ab, wer es sagte. Unabhängig davon war es jedoch immer klug, sich zu vergewissern, dass sie nicht in der Nähe war und es nicht hören konnte.
Gesagt, getan. Bäckström rief Ankan an und erklärte in sehr groben Zügen, worum es ging. Eine Erstanzeige wegen mutmaßlichen Mordes erstellen, dafür sorgen, dass jemand den zehnjährigen Zeugen vernahm, dem diensthabenden Techniker einen Schädel mit Einschussloch und Kugel überstellen. Plus all das andere, das naturgemäß folgte, wenn man eine Mordermittlung einleitete.
»Edvin«, sagte Ankan. »Ist das der kleine Nachbar, den du immer als Dienstboten benutzt? Der kaum größer ist als ein Regenwurm? Ein niedliches Kerlchen. Ein richtiger kleiner Nerd.«
»Ich verstehe nicht, was das mit der Sache zu tun hat«, erwiderte Bäckström. »Ich will, dass du Ordnung in die Angelegenheit bringst.«
»Natürlich. Das wollen wir wohl alle. War das alles?« fragte Ankan Carlsson, sobald Bäckström zu reden aufgehört hatte.
»Ja, und dann noch, dass er von irgendeinem verdammten Pfadfinderlager draußen auf Ekerö abgehauen ist. Man sollte also vielleicht mit denen sprechen, und mit seinen Eltern, damit er nicht unnötig als vermisst gemeldet wird.«
»Du scheinst ja an alles gedacht zu haben, Bäckström«, konstatierte Annika Carlsson.
»Ja, was ist das Problem?«
Was hat sie denn jetzt, dachte Bäckström.
»Du willst also, dass ich zu dir rüberkomme und ihn abhole?«
»Das wäre doch zweifellos praktisch.«
»Ja, wirklich«, stimmte Annika Carlsson zu. »Denn du selbst hast Pläne für den Abend, die deinen kleinen Nachbarn nicht mit einschließen.«
»Was auch immer das mit der Sache zu tun haben soll. Korrigiere mich, wenn ich falschliege, aber ich dachte, du hast gerade Schicht?«
»Du hast recht, Bäckström. Ich bin verantwortlich. Außerdem hast du immer recht. Auch wenn du unrecht hast, meine ich.«
»Wie schön. Worauf warten wir also?«
»Wir sehen uns in einer halben Stunde.«
Nutzlose, faule Säcke, dachte Bäckström, sobald er das Handy weggelegt hatte. Die dauernd herummotzen. Woher kommen die nur immer? Gerade in Ankans Fall wagte er allerdings kaum über die Antwort auf diese Frage nachzudenken. Warum müssen nur alle Polizisten werden, dachte er und seufzte schwer. Er selbst wollte nun nachsichtig sein, noch ein paarmal tief durchatmen und versuchen, etwas Konstruktives zu tun. Nicht hektisch davonrennen, sondern in aller Ruhe damit beginnen, sich einen neuen Drink zu mixen. Sobald er mit diesem Teil fertig war, löste sich das meiste von ganz allein. Das wusste er aus langjähriger Erfahrung.
Zuerst ein kleines Abendessen in der entspannten Abgeschiedenheit seiner geliebten Stammkneipe im Viertel, bevor er dann das Stadtzentrum aufsuchen würde, um schließlich den öffentlichen Teil des Abends an der Bar des Riche abzuschließen. Dort waren Bäckström und seine Supersalami seit langem eine etablierte Marke, und nachdem sich sein Ruf wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, hatte es keines weiteren Marketings bedurft. Sein Kundenkreis wurde größer und größer, und es gab bereits einige Auswahl an Frauen, die dorthin kamen, um den Durst in ihrem Inneren zu stillen.
Ihren Durst in mehrerlei Hinsicht zu stillen, dachte Bäckström.
Als Ankan Carlsson eine halbe Stunde später bei Bäckström auftauchte, hatte sie bereits zwei der praktischen Probleme gelöst und ein neues geschaffen.
Zuerst hatte sie den Lagervorsteher Furuhjelm auf seinem Handy angerufen, bevor sie ihr Büro verließ, falls er der Typ Mensch war, der einen Kontrollanruf machen wollte, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich Polizistin war.
Eine Vermisstenanzeige hatte er wegen Edvins Verschwinden nicht aufgegeben. Dafür hatte er ein paar ältere Jungen losgeschickt, um nach ihm zu suchen. Frühere Erfahrungen hatten ihn gelehrt, dass Ausreißer meist zurückkehrten, wenn sie hungrig wurden. Blieben die disziplinarischen Maßnahmen, die er durchzuführen gedachte, sobald die Polizei Edvin ins Pfadfinderlager zurückgebracht hatte. Furuhjelm betrachtete Ausreißen als sehr ernstes Vergehen. Es widersprach den Grundwerten der Pfadfinderbewegung, der absoluten Forderung nach Disziplin und dem Willen, immer für sein Umfeld Einsatz zu zeigen.
»Dass ich seine Eltern verständigen muss, verstehen Sie sicher«, fuhr Furuhjelm fort. »Bei Ausreißern fahren wir eine Nulltoleranzpolitik.«
»Wer hat gesagt, er sei ausgerissen?«, fragte Ankan Carlsson. »Er ist zu uns gekommen, um eine Zeugenaussage in einem Fall zu machen, und wir sind sehr froh, dass er sich dazu entschlossen hat. Viele Erwachsene scheuen diesen Schritt, aber hier haben wir einen sehr mutigen kleinen Jungen.«
»Zeugenaussage«, sagte Furuhjelm. »Eine Zeugenaussage wozu, wenn ich fragen darf?«
»Natürlich dürfen Sie fragen«, antwortete Annika Carlsson mit sanfter Stimme. »Aber Sie sollten nicht damit rechnen, eine Antwort zu bekommen. Edvin unterstützt die Polizei als Zeuge in einer Ermittlung, die wir eingeleitet haben. Es geht um ein sehr schweres Verbrechen, und all diese Informationen sollten Sie bitte für sich behalten. Sie sind nämlich streng vertraulich. Haben Sie verstanden?«
»Ja, ja. Es ist nur …«
»Gut«, unterbrach ihn Annika Carlsson. »Sie werden Edvin morgen Vormittag wieder in Empfang nehmen. Bei dieser Gelegenheit werden Sie auch mich und einige meiner Kollegen treffen und unter anderem ein Formular unterschreiben, in dem es um Äußerungsverbot aufgrund der Geheimhaltung innerhalb eines Ermittlungsverfahrens geht, bevor wir Sie rein informativ vernehmen.«
»Aber was soll ich seinen Kameraden erzählen?«
»Ihnen wird schon etwas einfallen. Es ist doch bestimmt nicht das erste Mal, dass jemand aus dem Lager verschwindet. Das ist sicher schon früher passiert, oder?«
»Ja, allerdings nicht sonderlich oft, glücklicherweise.«
»Wie schön. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Wir beide werden uns morgen weiter unterhalten.«
»Morgen könnte es schwierig werden«, wandte Furuhjelm ein. »Da machen wir einen Ausflug und sehen uns ein paar alte vorgeschichtliche Überreste hier in der Gegend an. Ich bin also leider den ganzen Tag unterwegs.«
»Okay«, sagte Annika Carlsson. »Dann schlage ich vor, Sie werfen einen Blick in ihren Terminkalender, melden sich wieder bei mir und schlagen selbst einen Zeitpunkt vor. So bald wie möglich.«
»Natürlich, natürlich. Ich melde mich. Versprochen.«
»Schön. Dann machen wir es so.«
Na also, geht doch, dachte sie beim Auflegen.
Während Annika Carlsson auf dem Weg zu ihrem direkten Chef Evert Bäckström in ihrem Dienstwagen saß, um die praktischen Probleme zu lösen, die sein Nachbar Edvin ihm bereitet hatte, löste sie bereits das zweite, indem sie Edvins Eltern anrief, um zu erzählen, was ihrem Sohn geschehen war.
Sie waren im Urlaub bei Verwandten in Schonen, und nachdem ihr minderjähriger Sohn nun als Zeuge in einem eventuellen Mordfall vernommen werden sollte, gab es unterschiedliche Regeln, die berücksichtigt werden mussten. Bäckström selbst hatte – nicht ganz unerwartet – eine andere, praktischere Lösung vorgeschlagen. Warum nicht Edvin eine SMS mit diesem üblichen fröhlichen gelben Männchen schicken lassen, wie er es jeden Abend tat, um ihnen zu versichern, dass es ihm gut ging, und die Sache einfach eine Woche später aufklären?
»Man muss sie doch nicht unnötig aufregen«, verdeutlichte Bäckström.
»Klar«, stimmte Annika zu. »Klingt wie eine glänzende Idee. Du bittest ihn, ein Smiley zu schicken. Dann kannst du ihn aber auch verhören, dann habe ich später nicht die juristische Abteilung am Hals.«
»Unglaublich, wie empfindlich du bist. War ja nur ein Vorschlag. Mach, was du willst. Ich mische mich nicht ein.«
»Schön, dass wir uns einig sind«, konstatierte Annika Carlsson und beendete das Gespräch.
Das große Mysterium, dachte sie. Wie dieser Mann es schafft, sich nach dreißig Jahren bei der Polizei immer noch im Dienst zu halten. Wenn man bedenkt, was er schon alles geliefert und was er schon alles nicht geliefert hat.
Dann rief sie Edvins Vater an.
Edvin hieß zwar Edvin mit Vornamen, aber sein Vater hieß Slobodan und seine Mutter Dusanka. Sie waren serbische Flüchtlinge aus Kroatien. Die beiden waren Anfang der Neunzigerjahre – damals waren sie nur wenig älter gewesen als ihr Sohn jetzt – nach Schweden gekommen, mitten in den Kriegswirren, zusammen mit den Familienmitgliedern, die noch genügend Kraft hatten, um ihr Leben zu retten. Danach waren sie in Schweden geblieben und inzwischen schon seit langem schwedische Mitbürger.
Im Hinblick darauf, was Edvins Vater sicher in seinem Heimatland erlebt hatte, sollte er wohl kaum ein Problem damit haben, dass sein Sohn auf einer Insel im Mälarsee, mitten in der schwedischen Sommeridylle, zufällig einen menschlichen Schädel gefunden hatte. Obwohl gerade dieser hier offenbar ein Einschussloch in der Schläfe hatte.
Annika Carlsson berichtete in aller Kürze von dem, was passiert war. Slobodan hörte schweigend zu. Brummte ein- oder zweimal zustimmend, unklar wozu.
»Ja, das wäre wohl alles«, fasste Annika Carlsson abschließend zusammen.
»Aber dem Jungen geht es gut?«, fragte Slobodan.
»Alles in Ordnung«, beteuerte Annika Carlsson. »Ich glaube, er findet es vor allem spannend. Momentan sitzt er zu Hause bei Bäckström und isst belegte Brote.«
»Drücken Sie ihn von seinem Papa«, sagte Slobodan. »Sagen Sie ihm, dass ich an ihn denke.«
»Versprochen.«
Ansonsten hatte Edvins Vater nur noch einen Wunsch. Dass sie und Bäckström nur mit ihm sprachen, nicht mit seiner Frau.
»Dann muss sie sich nicht unnötig aufregen. Sie wissen, um des Haussegens willen«, erklärte er.
Noch einer dieser fürsorglichen Männer, dachte Annika Carlsson.
Annika Carlsson nahm Edvin und seinen kleinen Rucksack aus braunem Leder sowie eine Plastiktüte, die den Schädel einer toten Frau enthielt, mit aufs Polizeipräsidium in Solna, um ihn zu verhören. Ein Kinderverhör gemäß allen Paragraphen und allen Regeln der Kunst. Zwar ohne dass seine Eltern dabei sein konnten, aber mit dem Einverständnis seines Vaters. Stattdessen hatte Annika Carlsson zur Vertretung der Eltern den diensthabenden Sozialarbeiter als Zeugen dazugeholt.
Damit er das Gespräch mit Edvin nicht unnötig störte, hatte Annika ihn ins Nebenzimmer gesetzt, in dem er dem Geschehen auf einem Bildschirm folgen konnte. Ein gefilmtes Dialogverhör in jenem speziellen Raum, den man eigentlich nur benutzte, wenn man Kinder verhörte, und aus dem sie sorgfältig alle Kuscheltiere und Kleinkinderspielsachen entfernt hatte, um ihn nicht unnötig in Verlegenheit zu bringen. Edvin war ja trotz allem zehn Jahre alt, und wie sie sich erinnerte, waren solche Dinge in diesem Alter nicht unwichtig.
Edvin hatte von seinem Fund berichtet und mit dem angefangen, was ihm offenbar am meisten am Herzen lag: die unterschiedlichen Erkenntnisse und Schlüsse über menschliche Schädel, die er mithilfe seiner Google-Recherche gezogen hatte. Nachdem sie seinen Ausführungen gute fünf Minuten zugehört hatte, konnte Annika Carlsson nicht mehr an sich halten. Was habe Bäckström dazu gesagt? Darüber, wer ihr unbekanntes Opfer vielleicht gewesen sei, als es noch am Leben war?
Nichts Besonderes, meinte Edvin. Der Kommissar und er seien sich völlig einig gewesen.
»Der Herr Kommissar und ich sind uns meistens einig«, konstatierte Edvin.
»Denkst du vielleicht selbst darüber nach, Polizist zu werden?«, fragte Annika Carlsson.
»Ja, allerdings nicht so ein Polizist wie der Herr Kommissar. Eher wie die, die beim CSI arbeiten, wie man sie dauernd im Fernsehen sieht«, sagte Edvin. »Ich bin nämlich sehr naturwissenschaftlich interessiert.«
»Klingt klug«, erwiderte Annika Carlsson, ohne weiter darauf einzugehen, worin diese Klugheit bestand.
Als sie den Fund selbst abgehandelt hatten, kamen sie schließlich auf die Umstände, mit denen sie eigentlich hatte beginnen wollen. Wo hatte er den Totenschädel gefunden und wie kam es, dass er allein auf der Insel gelandet war, auf der er ihn entdeckt hatte? Und erst jetzt begann Edvin, zumindest kurzzeitig, einem ganz gewöhnlichen Jungen von zehn Jahren zu ähneln.
»An einem ziemlich schrecklichen Ort, ehrlich gesagt.« Die Insel sei auf der Seekarte als Unheilsinsel eingetragen, obwohl sie nur sehr klein war. Nicht so groß wie die übrigen verzeichneten Inseln. Oder wie jene, auf der Robinson Freitag getroffen hatte, denn die wäre ja riesig. Aber es war keine Schäre, dafür war sie doch zu groß. Schären konnten nämlich sehr klein sein. »Superklein sogar.«
»Okay, verstanden«, stimmte Annika Carlsson zu. »Aber warum heißt sie Unheilsinsel? Weißt du das?«
»Das liegt daran, dass sie Unglück bringt. Also denen, die sie betreten«, sagte Edvin mit gesenkter Stimme. »Außerdem spukt es dort. Jedenfalls war das früher so.«
»Glaubst du an Geister?«, fragte Annika.
»Ich weiß nicht so recht.« Edvin schüttelte zweifelnd den Kopf. »Aber wenn es welche gibt, glaube ich, die meisten sind ganz nett. Nur vielleicht unglücklich.«
»Das glaube ich auch«, pflichtete Annika ihm bei. »Also, dass die meisten Geister nett sind. Diese Insel, wo liegt sie? Wenn man mit dem Boot vom Pfadfinderlager dorthin fährt?«
»Fünf Distanzminuten Westnordwest vom Lager.« Edvin klang plötzlich ganz wie der Seepfadfinder, der er war.
»Das musst du jetzt erklären«, sagte Annika Carlsson lächelnd. »Ich bin nicht so gut in Schifffahrt.«
Laut Edvin war das gar nicht schwer. Eine Distanzminute oder Seemeile, oder nautische Meile, wie es eigentlich hieß, entsprach 1852 Meter. Der Abstand zwischen dem Pfadfinderlager und der Unheilsinsel betrage also ungefähr neun Kilometer.
»Aber Sie fragen sich vielleicht, warum es Distanzminute heißt.«
»Ja. Kannst du mir das auch erklären?«
»Also, wenn man sich vorstellt, man fährt mit einem Boot, das mit einer Geschwindigkeiten von fünf Knoten in der Stunde unterwegs ist …«
»… dann ist man in fünf Minuten dort.«
»Neeein!« Edvin konnte seine Verwunderung kaum verbergen. »Dann dauert es eine Stunde.«
»Ja, natürlich. So muss es ja sein …«
»Wollen Sie das mit dem Kurs auch wissen? Also Westnordwest?«, fragte Edvin, der nicht ganz davon überzeugt zu sein schien, dass seine Botschaft durchgedrungen war.
»Nein, mit einem Kompass kann ich tatsächlich umgehen. Das müssen alle Polizisten lernen, weil wir uns mit dem Kompass orientieren können müssen. Aber an Land, draußen in der Natur.«
»Der Herr Kommissar«, warf Edvin ein. »Der ist sicher super in Orientierung.«
»Warum glaubst du das?«
»Er ist rekordverdächtig gut im Schießen. Einmal hat er in unserem Haus einen Typen erschossen, der versucht hat, ihn umzubringen.«
»Ich weiß.« Annika Carlsson hatte sich damals eine halbe Stunde später am Tatort eingefunden. »Ja, er ist auch sehr gut in Orientierung. Gewisse Stellen kann er sogar finden, ohne dass er überhaupt einen Kompass braucht, und auch, wenn man ihm die Augen zuhält.«
»Wow«, sagte Edvin mit großen Augen. »Aber Sie sind eine typische Landratte, oder?«
»Ja. Absolut typisch. Aber erzähl. Wie kommt es, dass du auf der Unheilsinsel gelandet bist?«
Edvin schien die Frage etwas unangenehm zu sein, aber schließlich konnte er sich doch dazu durchringen, zu erzählen, wie die Sache zugegangen war. Der Lagervorsteher Haqvin Furuhjelm, der Edvin zufolge nicht nur »komisch hieß«, sondern auch »ein ziemlich komischer Typ« war, hatte ihn morgens als Gast auf seinem eigenen Segelboot rekrutiert. Eine in den USA gebaute Sparkman and Stevens von siebenunddreißig Fuß.
»Sparkman und Stevens sind die Typen, die sie erfunden haben«, verdeutlichte er. »Diese Boote sind superteuer.« Edvin verdrehte die Augen. »Kosten Millionen über Millionen.«
Zusammen mit fünf Kameraden vom Lager sollte Edvin nun lernen, ein größeres Boot zu segeln als die Optimist-Jollen, in denen sie normalerweise die Tage verbrachten, wenn sie in der Bucht vor dem Lager herumschipperten, während Furuhjelm und seine Mitarbeiter auf dem Steg standen und ihnen mithilfe eines Megaphons nähere Anweisungen gaben. Edvin hatte sich darauf gefreut, einen längeren Ausflug mit einem richtigen Boot machen zu dürfen. Eine Abwechslung zur normalen Tristesse, sozusagen.
Leider war das Ganze weniger gut ausgegangen. Lagervorsteher Furuhjelms Segelboot von siebenunddreißig Fuß hatte sich auf eine für Edvin völlig unbekannte Weise verhalten, obwohl es verglichen mit einer normalen Optimist-Jolle der reinste Atlantikdampfer war. Es schlingerte, hüpfte und sprang, und Edvin war schlicht und einfach seekrank geworden.
Als Edvin dann zum zweiten Mal das Deck vollgekotzt hatte, war er daher auf der Unheilsinsel an Land gesetzt worden, wo ihm ein Spezialauftrag erteilt wurde, der darin bestand, so viele Pilze, Beeren und andere essbare Dinge wie möglich zu sammeln, um die Nahrungsreserven im Lager aufzustocken, bevor man ihn vor der Heimkehr wieder abholte.
»Obwohl es dort spukt«, sagte Annika Carlsson. »Das war nicht nett von ihm.«
»Nein«, bestätigte Edvin. »Aber Furuhjelm ist immer ziemlich streng.«
»Kannst du mir das näher erzählen?«, fragte Annika Carlsson.
Im schlimmsten Fall muss ich wohl noch eine weitere Anzeige erstatten, dachte sie.
Es gab drei Gründe für Edvins Bedenken dem Lagervorsteher gegenüber.
Erstens besäße Lagervorsteher Furuhjelm demzufolge, was alle seine Kameraden einander im Bett vor dem Einschlafen zuflüsterten, unglaublich viel Geld, wovon ja auch sein eigenes Segelboot zeugte, und laut einem von Edvins älteren Kameraden war Furuhjelms Reichtum darauf zurückzuführen, dass sein Großvater ein alter Nazi gewesen war, der Tausende von Goldzähnen all der armen Juden gestohlen hatte, die während des Zweiten Weltkriegs ermordet worden waren.
»Aber woher wusste dein Freund das denn?«, wollte Annika Carlsson wissen. »Klingt ziemlich seltsam, wenn du mich fragst, Edvin.«
»Sein Vater hat es erzählt.« Edvin nickte überzeugt. »Er arbeitet beim Svenska Dagbladet, also denke ich, das muss schon stimmen. Mein Vater sagt, das ist die einzige Zeitung, auf die man sich verlassen kann. Die anderen Zeitungen erfinden nur dauernd irgendwelche Sachen.«
»Ich glaube trotzdem, das ist gelogen. Denk doch mal nach, Edvin. Welcher Vater würde sein Kind an so einen Ort schicken? Mit so einem Lagervorsteher, meine ich. Gibt es noch mehr, das du erzählen willst?«
Edvin wusste noch zwei Dinge zu berichten. Zweitens, dass Furuhjelm sich komisch benahm, und drittens, dass er auch komische Sachen sagte.
»Kannst du mir ein paar Beispiele geben?«, fragte Annika Carlsson.
»Er ist sehr, sehr streng.«
»Gib mir ein Beispiel.«
Nach dem abendlichen Bad – zum Beispiel –, wenn sie unter der Dusche standen und sich das Seewasser abspülten und sich vor dem Schlafengehen waschen sollten, ging Furuhjelm immer zwischen Edvin und seinen Kameraden herum und schlug ihnen mit einem nassen Frotteehandtuch auf den Hintern. Damit sie nicht zu viel warmes Wasser verschwendeten.
»Er macht sich vielleicht nur Sorgen um die Umwelt«, sagte Annika Carlsson.
Oder es gefällt ihm, kleinen Jungs auf den Hintern zu hauen, dachte sie.
»Ja, vielleicht. Aber er sagt auch noch total komische Sachen«, sagte Edvin widerwillig.
»Und die willst du nicht erzählen, weil es dir unangenehm ist.«
»Lieber nicht.«
»Völlig okay, Edvin«, beruhigte ihn Annika Carlsson. »Im Hinblick auf das, was du gerade erzählt hast … Also ich meine, dieser Furuhjelm scheint wirklich kein besonders witziger Typ zu sein.«
»Jaaa …«
»Was hältst du davon, wenn du heute Nacht bei mir schläfst, und dann fahren wir beide und ein paar andere Polizisten morgen zu dieser Insel raus, damit du uns zeigen kannst, wo du den Totenschädel gefunden hast?«
»Super«, antwortete Edvin. »Total super sogar.«
»Schön. Dann habe ich nur noch eine Frage. Wenn man mit einem Boot, das 30 Knoten schnell ist, vom Pfadfinderlager zu dieser Unheilsinsel fährt. Wie lang dauert das dann?«
»Zehn Minuten. Höchstens zehn Minuten.«
»Dann darfst du das morgen machen. Denn dann werden du und ich und die anderen Polizisten mit dem Polizeiboot zur Unheilsinsel rausfahren.«
»Sicher?« Edvin machte große Augen.
»Ja, ganz sicher. Einen Polizeihund nehmen wir auch mit. Vielleicht sogar zwei. Wir werden sehen.«
»Ein Hund ist gut«, stimmte Edvin zu und nickte. »Also, man kann es so ausdrücken: Wenn unsere Nase, also unser Geruchssinn, so groß wäre wie eine Briefmarke. Wissen Sie, wie groß dann der Geruchssinn eines Hundes wäre?«
»Nein.« Annika Carlsson schüttelte den Kopf. »Wie groß denn?«
»Wie ein Fußballfeld. Obwohl unsere Nasen sogar größer sein können als eine Hundeschnauze.«
»Das ist ja absolut fantastisch.«
»Ja«, sagte Edvin. »Es ist kaum zu glauben.«
Gleich nach dem Verhör waren Annika Carlsson und Edvin bei der Kriminaltechnik vorbeigefahren und hatten Edvins Schädel dem Techniker übergeben, der an diesem Abend Dienst hatte, dem stellvertretenden Kommissar Jorge Hernandez. Er war ein Einwanderer aus Chile und wurde von seinen Kollegen Chico genannt. Übrigens ohne die geringste Absicht, obwohl sein Spitzname auf Spanisch so etwas wie »Rotzbengel« bedeutete.
»Die Kugel liegt noch im Schädel«, erklärte Annika. »Wenn du sie herauskriegst und mir ein erstes Urteil geben kannst, wäre ich der glücklichste Mensch auf Erden. Das ist übrigens Edvin. Er hat ihn beim Pilzesuchen gefunden.«
»Nemas Problemas«, antwortete der Techniker. »Das ist nicht Spanisch, sondern eher Serbisch, falls es dich interessiert. Aber kein Problem. Du hast es in einer Stunde auf deinem Computer. Hier war es den ganzen Abend total ruhig. Keine Toten oder Verletzten. Nicht mal eine Patronenhülse, für die man mich gebraucht hätte.« Dann nickte er Edvin zu, klopfte ihm auf die Schulter und dankte ihm für die Hilfe.
»Danke.« Edvin schlug die Augen nieder, plötzlich schüchtern.
»Übrigens, bist du nicht der Nachbar von Bäckström?«, fragte Hernandez.
»Doch. Der Herr Kommissar und ich sind Nachbarn.«
»Er hat hier in der Arbeit von dir erzählt. Sagt, du bist ein cooler Typ. Sag Bescheid, falls du mal ein Schülerpraktikum hier machen willst.« Hernandez lächelte Edvin an. »Das kriegen wir leicht hin.«
Annika Carlsson schüttelte abwehrend den Kopf, bedankte sich, nahm Edvin mit und kehrte in ihr Büro zurück. Während er in ihrem Besucherstuhl mehr lag als saß und Spiele auf seinem iPhone spielte, kümmerte sie sich telefonisch um die praktischen Details, die für den nächsten Morgen noch anstanden, um die Mordermittlung einzuleiten.
Zuerst erstellte sie eine Anzeige wegen »Verdacht auf Mord«. Danach mailte sie dem Chef der Kriminalabteilung des Polizeipräsidiums Solna, Kommissar Toivonen, eine Kopie mit der Bitte um mehr Personal. Es sah nach einem schwierigen Fall aus: ein nicht identifiziertes Opfer – Identifizierungen erforderten oft viele Ressourcen. Deshalb brauchte sie sofort Verstärkung im Team.
Dann rief sie Peter Niemi an, den Chef der Kriminaltechnik bei der Polizei Solna, und erzählte, worum es ging.
»Das übernehme ich selbst«, unterbrach sie Niemi, bevor sie überhaupt zum Punkt gekommen war. »Ich muss nach dem Urlaub sowieso mal wieder raus und mich bewegen, ein bisschen Seeluft atmen. Weg von den ganzen Mücken, die wir zu Hause im Tornedal haben.«
»Danke«, sagte Annika Carlsson. »Auf dich ist wirklich Verlass.«
Das letzte Telefonat führte sie mit der Seepolizei, die den Transport für den morgigen Besuch auf der Unheilsinsel organisieren sollte. Auch dort gab es keine Probleme. Eines ihrer Boote war über Nacht in Mariefred vor Anker gegangen, nachdem man den Kollegen aus Sörmland bei der Suche nach einer Wasserleiche in der Nähe von Strängnäs geholfen hatte. Annika Carlsson bekam die Nummer des Kollegen, der Chef auf dem Boot war.
»Es ist wohl am einfachsten, wenn du die Details mit ihm klärst. Hier seine Handynummer.«
»Wir sind praktisch schon vor Ort«, bekräftigte der nächste Seepolizist, mit dem sie sprach. »Was hältst du davon, wenn wir euch am Steg der Seepfadfinder auf Ekerö abholen? Sag mir einfach eine Zeit.«
»Was sagst du zu neun Uhr morgens?«, fragte Annika Carlsson, die darüber nachdachte, dass Edvin heute Nacht sicher seinen Schlaf brauchte.
»Ausschlafen«, konstatierte der Kollege. »Von mir aus gern.«
Obwohl neun Uhr morgens für Evert Bäckström sicher mitten in der Nacht ist, überlegte Annika Carlsson, als sie das letzte Dienstgespräch des Abends beendete. Endlich, dachte sie, nickte Edvin zu und lächelte.
Edvin wirkte erstaunlich munter, obwohl es schon fast halb zehn Uhr abends war und er schon seit in aller Frühe auf den Beinen sein musste.
»Wie sieht’s aus, Edvin?«, fragte Annika Carlsson. »Was hältst du davon, dass wir jetzt zu mir fahren und schlafen, damit wir morgen munter und ausgeruht sind?«
»Das ist total okay«, sagte Edvin. »Aber ich hab noch eine Frage.«
»Zahnbürste, Schlafanzug«, schlug Annika Carlsson vor. »Keine Sorge, da kann ich aushelfen.«
»Nein, das ist es nicht.« Edvin schüttelte den Kopf. »Das hab ich mitgenommen, als ich aus dem Lager weggefahren bin. Liegt in meinem Rucksack.«
»Was denn dann?«, fragte Annika. Edvin war offensichtlich ein vorausschauender junger Mann.
»Ich frage mich, ob wir nicht auf dem Weg irgendwo anhalten und einen Burger kaufen können. Ich hab nämlich ein bisschen Hunger.«
»Klar können wir das.« Annika Carlsson lächelte. »Ich lade dich ein. Wollen wir zu McDonald’s oder zu Max?«
»Max. Max macht die weltbesten Burger. Wissen Sie, warum?«
»Nein. Erzähl.«
»Sie haben ein Geheimrezept«, erklärte Edvin mit gesenkter Stimme, während er sich zu ihr herüberlehnte. »Es ist sehr geheim, aber wenn Sie wollen, kann ich es Ihnen sagen. Wenn Sie versprechen, es niemandem zu erzählen. Mein Vater hat es mir gesagt.«
»Ja, mach ich. Ich versprech’s.«
»Der Besitzer von Max. Also, der ist Lappe. Na ja, oder Same, wie man vielleicht sagen sollte.«
»Ein Lappe? Oder Same.«
»Lappe darf man nicht sagen.«
»Nein, ich weiß. Und was ist mit diesem Samen, dem Max gehört?«
»Er hat auch massenhaft Rentiere. Er hat unglaublich viele Rentiere. Und wenn er das Hackfleisch für seine Burger macht, dann mischt er immer ein paar Rentiere mit rein. Deshalb sind seine Burger so lecker. Aber das ist total geheim.«
»Ich verspreche, nichts zu verraten«, sagte Annika Carlsson.
Das hat Edvins Vater wohl kaum im Svenska Dagbladet gelesen, dachte sie.
Edvin hatte seinen Burger im Auto bereits nach fünf Minuten Fahrt verschlungen, und als letzte Maßnahme die Mayonnaise von seinen Fingern geleckt, während Annika Carlsson das Auto vor dem Haus parkte, in dem sie wohnte.
Ich frage mich, was er mit all dem Essen macht, dachte Annika Carlsson. Dieses belegte Brot, das er bei Bäckström zu Hause in sich hineingestopft hatte, war nicht von schlechten Eltern gewesen. Ungefähr dasselbe Modell und dieselbe Größe wie die, die Elvis Presley das Leben gekostet hatten. Und jetzt, nur ein paar Stunden später, ein riesiger Burger. Immer noch dünn wie ein Regenwurm, obwohl er gerade eine Ziege verschlungen hatte. Oder vielleicht eher ein Rentier.
Während Annika Carlsson Edvin ein Bett auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer bereitete, verschwand Edvin im Badezimmer. Dem Geräusch nach zu urteilen wusch er sich und putzte sich die Zähne, und fünf Minuten später war er zurück. In einem blauen Pyjama, auf den jemand, vermutlich seine Mutter, das Emblem der Seepfadfinder aufgenäht hatte. Zu alt für das Sandmännchen, dachte Annika Carlsson, die mehrfache Tante war und keinen Mangel an Angeboten hatte, auf ihre Nichten und Neffen aufzupassen.
Edvin lehnte die Decke dankend ab, die sie ihm anbot. Ein Laken würde reichen. Dann schaltete er sein Handy aus und legte es neben sich auf den Sofatisch.
»Ich schlafe da drüben.« Annika Carlsson nickte zu ihrer offenen Schlafzimmertür hin. »Falls du irgendwas brauchst, sag einfach Bescheid.«
Er hat immerhin den Schädel eines erschossenen Menschen gefunden und ist erst zehn Jahre alt, dachte sie.
»Hmmaa«, sagte Edvin, blinzelte und ließ den Kopf sinken.
»Ich verspreche, nicht zu schnarchen.« Annika Carlsson lächelte und beugte sich über ihn. Keine Antwort. Edvin war schon eingeschlafen. Als hätte man eine Kerze ausgeblasen, dachte sie verwundert.
Sie selbst hatte in dieser Nacht Probleme damit. Das kam sonst fast nie vor, egal, was tagsüber passiert war. Zuerst lag sie da und döste, zwischen Schlaf und Dämmerzustand hin- und herpendelnd. Nach einer Stunde stand sie auf und schlich ins Wohnzimmer. Edvin schlief. Unbeweglich, auf der Seite, das Laken halb von sich gestrampelt, ein Kissen an seinen Bauch gedrückt, und ohne dass sie überhaupt sehen konnte, ob er atmete.
Verdammt noch mal, Annika, dachte sie, während sie einfach dastand und ihn anblickte. Nimm dich zusammen. Keine Kids. Erinnere dich.
Dann war sie in ihr Bett zurückgekehrt, so gut wie sofort eingeschlafen und sechs Stunden später aufgewacht. Edvin schlief noch immer. Mit Schweiß auf der Stirn, das Laken hatte er inzwischen ganz abgestrampelt, es lag auf dem Boden, aber das Kissen lag immer noch an seinem Bauch. Am besten, ich mach uns ein ordentliches Frühstück, dachte sie.
Während sich Ankan Carlsson um die praktischen Dinge polizeilicher Natur kümmerte, hatte Bäckström einen Spaziergang zu seiner geliebten Stammkneipe gemacht, um ein einfaches Abendessen einzunehmen. Sie war fußläufig bequem zu erreichen – seit langem beinahe ein Teil seiner täglichen Routine –, und auch wenn er vielleicht mit verbundenen Augen hingefunden hätte, hatte er jedoch noch nie die Notwendigkeit verspürt, dies auszuprobieren.
Nichts Extravagantes, es war schließlich ein gewöhnlicher Wochentag. Zuerst ein Toast mit Maränenrogen und Krabbensalat, dann ein gegrilltes Schweinekotelett, gut marmoriert und mit dicker Schwarte daran. Den zugehörigen französischen Gemüsekram hatte er gegen schwedische neue Kartoffeln und eine ordentliche Portion Knoblauchbutter ausgetauscht. Dazu die gewohnten begleitenden Getränke, tschechisches Pils und russischer Wodka. Ein einfaches Abendmahl gegen Ende eines weiteren Tages im Leben eines Kriminalkommissars.
Beim Essen widmete er sich erhabenen Gedanken zu seiner eigenen Kindheit, vermutlich hatte sein Treffen mit Edvin die Erinnerungen zum Leben erweckt. Auch Bäckström hatte nämlich eine Vergangenheit in der Pfadfinderbewegung. Sein Vater, der stets alkoholisierte Oberwachtmeister, hatte ihn dorthin geschickt. Ein Glied in der charakterlichen Erziehung des jungen Evert, zu den Pflichten und Tugenden die Papa Oberwachtmeister zufolge jedem schwedischen jungen Mann, der diesen Namen verdiente, zu eigen sein sollten.
Bäckström – damals unbedeutend älter als der kleine Edvin – hatte keine Wahl gehabt. Hätte er eine gehabt, wäre er lieber zu Hause in Södermalm geblieben. Hätte Unsinn in seinem Viertel angestellt, etwas aus dem nahe gelegenen Tabakladen geklaut, der von einem so gut wie blinden Inhaber betrieben wurde, heimlich geraucht und wäre Moped gefahren, obwohl er erst elf Jahre alt war.
Normalerweise war der Sommer eine gute Zeit, in der er nicht einmal übers Schuleschwänzen nachdenken musste, jedoch nicht in diesem Jahr, in dem sein Vater ihn für die Pfadfinder zwangsrekrutiert und bereits in der Woche nach Schulschluss in einem Lager draußen auf Tyresö einquartiert hatte. Zu dieser Zeit die reinste Bauernprovinz.
Zuvor hatte er in seiner neuen blauen Uniform den Pfadfindereid schwören müssen. Geloben, vor Gott, König und Vaterland seine Pflicht zu tun, anderen Menschen immer zu helfen und im Übrigen sklavisch den Regeln zu folgen, die das Pfadfindergesetz für ihn aufgestellt hatte. Dann hatte sein Vater noch für den Gefangenentransport gesorgt und ihn persönlich dem Lagervorsteher übergeben, und wäre Evert Bäckström ein anderer gewesen, hätte das Ganze richtig schlimm ausgehen können. Stattdessen war es ihm gelungen, bereits im Laufe der ersten Woche des Lagers verwiesen zu werden, was sogar für die Abteilung auf Tyresö, die bereits vor Bäckströms Ankunft nicht gerade den Ruf hatte, moralisch an der Spitze der schwedischen Pfadfinderbewegung zu liegen, ein neuer Rekord war.
Als Bäckström im Tyresölager angekommen war, hatte er neben anderer Schmuggelware wie Steinschleuder, Moramesser, Harzgeige, ein paar großen Rattenfallen sowie Snus und Zigaretten auch einen ordentlichen Stapel Pornohefte mitgebracht, die er dem blinden Tabakhändler gestohlen hatte. Kurz gesagt, alles, was er brauchte, um seine neue Umgebung in Ordnung zu halten und darüber hinaus während seines erzwungenen Aufenthalts etwas Geld zu verdienen.
Bereits am ersten Tag hatte er daher einen Lesezirkel unter seinen Kameraden gebildet. Gegen ein geringes Entgelt durften sie von den papiernen Früchten kosten, die Bäckström eingeschmuggelt hatte, und trotz all der Gelöbnisse, dass sie eigentlich hier waren, um vor Gott, König und Vaterland ihre Pflicht zu tun, hatte er es mit einer Nachfrage zu tun bekommen, die selbst seine wildesten finanziellen Erwartungen übertroffen hatte.
Einer seiner Kameraden, ein paar Jahre älter als er selbst, hatte somit bereits im Lauf von ein paar Tagen alles Taschengeld verbraucht, das seine Eltern ihm mitgegeben hatten. Es hätte den ganzen Sommer reichen sollen, doch nun war es schon nach drei Tage intensivem Zeitschriftenkonsum zu Ende, und solchermaßen verarmt gab es für jemanden wie ihn keine Hilfe mehr.
Kein Bares, kein Lesen, erklärte Bäckström und schüttelte seinen runden Kopf, worauf sein größter Kunde zuerst zusammenbrach, dann schnurstracks zum Lagervorsteher ging, Bäckström verpetzte und weinend gestand, wie dieser ihn und seine schwere Sucht ausgenutzt hatte.