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Ein toter Journalist im Sperrmüll, der blutige Luxus der High Society und die schwelenden Konflikte einer Großstadt. In ihrem zweiten Fall muss Staatsanwältin Vogelsang sich nicht nur ihrer schmerzhaften Vergangenheit stellen, sondern auch gegen die eigenen Leute ermitteln. Ein kalter Herbstabend in Frankfurt. Greta Vogelsang hat es sich gerade gemütlich gemacht, als es an der Tür klingelt. Es ist Robert Altmann. Er ist in Panik, glaubt verfolgt zu werden – und drückt ihr einen Umschlag in die Hand. Vogelsang aber will von ihrem Ex nichts mehr wissen. Zu schwer wiegt die Erinnerung an das, was sie zusammen erlebt haben. Sie legt den Umschlag weg und versucht den Vorfall zu vergessen. Vergeblich. Denn wenige Tage später gerät sie unfreiwillig in die Räumung eines besetzten Hauses, bei der die Leiche eines Investigativjournalisten gefunden wird. Es ist Altmann. Alles deutet auf Mord hin. Vogelsang untersucht sofort Altmanns Umschlag. Und findet Hinweise auf eine dubiose Agentur für Luxusevents, die illegal mit wertvollem Wildfleisch handeln soll. Ihr ist schnell klar, dass Altmanns Tod und der Wildtierhandel zusammenhängen. Und dass es zugleich um sehr viel mehr gehen muss. Warum sonst der brutale Mord? Als sie dann noch erfährt, dass der Agenturbesitzer mit einer seltenen Form von Milzbrand im Krankenhaus liegt und um sein Leben kämpft, spitzt sich die Lage dramatisch zu.
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Seitenzahl: 321
Florian Wacker
Ein Fall für Greta Vogelsang
Kriminalroman
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Titelseite
Über Florian Wacker
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Bisherige Veröffentlichungen: »Albuquerque«, »Dahlenberger«, »Stromland« und »Zebras im Schnee«. Für seinen Roman »Weiße Finsternis« wurde er mit dem Robert Gernhardt Preis ausgezeichnet. 2023 erschien mit »Die Spur der Aale« der erste Band um die Frankfurter Staatsanwältin Greta Vogelsang. Wacker lebt mit seiner Familie in Frankfurt am Main und schreibt Prosa, Dramatik und Code.
zur Kurzübersicht
Ein toter Journalist im Sperrmüll, der blutige Luxus der High Society und die schwelenden Konflikte einer Großstadt. In ihrem zweiten Fall muss Staatsanwältin Vogelsang sich nicht nur ihrer schmerzhaften Vergangenheit stellen, sondern auch gegen die eigenen Leute ermitteln.
Ein kalter Herbstabend in Frankfurt. Greta Vogelsang hat es sich gerade gemütlich gemacht, als es an der Tür klingelt. Es ist Robert Altmann. Er ist in Panik, glaubt verfolgt zu werden – und drückt ihr einen Umschlag in die Hand. Vogelsang aber will von ihrem Ex nichts mehr wissen. Zu schwer wiegt die Erinnerung an das, was sie zusammen erlebt haben. Sie legt den Umschlag weg und versucht den Vorfall zu vergessen. Vergeblich. Denn wenige Tage später gerät sie unfreiwillig in die Räumung eines besetzten Hauses, bei der die Leiche eines Investigativjournalisten gefunden wird. Es ist Altmann. Alles deutet auf Mord hin.
Vogelsang untersucht sofort Altmanns Umschlag. Und findet Hinweise auf eine dubiose Agentur für Luxusevents, die illegal mit wertvollem Wildfleisch handeln soll. Ihr ist schnell klar, dass Altmanns Tod und der Wildtierhandel zusammenhängen. Und dass es zugleich um sehr viel mehr gehen muss. Warum sonst der brutale Mord? Als sie dann noch erfährt, dass der Agenturbesitzer mit einer seltenen Form von Milzbrand im Krankenhaus liegt und um sein Leben kämpft, spitzt sich die Lage dramatisch zu.
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Epilog
Figurenverzeichnis
Er fürchtet sich nicht vor den Geräuschen. Er kennt den Wald, seit er denken kann, er kennt das Knacken und Rascheln, das leise Zischen und Fiepen. Nur wenn es ganz still wird, dann bekommt er Angst. Dann glaubt er, dass er hier draußen ganz alleine ist. Aber jetzt ist alles gut. Er lehnt den Kopf gegen den Stamm des Baumes, er darf nicht die Augen schließen, er darf nicht einschlafen. Er hat das Licht seiner Stirnlampe ausgeschaltet und wartet. Es ist schon seine zweite Nacht. Er war noch nie länger als zwei Nächte weg. Aber er darf nicht mit leeren Händen heimkommen. Er spürt ein Pochen in den Händen, er spürt das kalte Metall des Gewehrs an seinem Arm. Er weiß, dass sie irgendwo da draußen sind, er weiß, dass er nur lange genug warten muss.
Koffi Dibala hasst die Jagd. Er hasst es, das Gewehr auf ein Lebewesen zu richten und abzudrücken; er hasst es, sich den toten Kadaver um die Schultern zu legen und den Weg zurück zur Straße zu gehen, zu seinem Motorrad; er hasst es, seine Beute auf dem Sozius der Maschine festzuzurren und auf der staubigen Straße zurück in die Stadt zu fahren. Da hat er immer das Gefühl, gar nicht mehr von der Stelle zu kommen, als wolle ihn der Wald nicht gehen lassen, als verfolge er ihn, als wisse er um seinen feigen Diebstahl. Er hasst es, nicht sofort nach Hause fahren zu können, zu Clémentine und den Kindern, sondern zuerst die Lagerhalle ansteuern zu müssen. Weiß wie ein Knochen ist sie, kühl ist es im Inneren, aus einem Radio kommt Musik. Dorthin bringt Koffi seine Beute. Er hat keine andere Wahl.
In der Dunkelheit sieht er manchmal Clémentine vor sich, und er weiß, dass er ihrer Erscheinung nicht nachlaufen darf, ihrem Lächeln, ihrer Aufforderung, mit ihm zu kommen. Du bist kein Jäger, sagt sie zu ihm, du hast viel zu feine Hände dafür. Koffi darf nicht auf ihre Worte hören, wenn er erfolgreich sein will. Er umfasst das Gewehr, steht auf und dreht sich auf der Stelle. Er will nicht nachdenken, aber in der Dunkelheit versammeln sich alle um ihn, Clémentine, seine Kinder, seine Eltern, die Geschwister. Da stehen sie und schauen ihn an, er hört die Stimme seines Vaters, der ihn fragt, was er hier draußen tue, in dieser verlassenen Einsamkeit, und er hört seine Mutter fragen, ob er dafür in die Schule gegangen sei, um dann hier im Gebüsch zu kauern und auf Beute zu warten.
Er schaltet die Stirnlampe an, sofort umgeben ihn kleine Fliegen, aber die Gesichter sind verschwunden.
Die Straße nach Ituri furcht sich staubig durch das wuchernde Grün. Seit es die Straße gibt, ist Koffi ein Jäger. Seit es die Straße gibt, muss er hinausfahren, jedes Mal ein Stück weiter. Früher jagte er mit seinen Geschwistern direkt hinter dem Haus, aber es war mehr ein Spiel, eine Mutprobe, um zu zeigen, wer sich am weitesten hinauswagte, wer sich am geschicktesten anstellte. Jetzt ist es anders, jetzt muss er irgendwie davon leben. Er geht ein paar Schritte auf die kleine Lichtung zu, der Kegel seiner Lampe streift über den Waldboden. Dort hinten, weiter im Unterholz, dort sind zwei seiner Fallen. Im Umkreis von einem Kilometer hat er mehrere aufgestellt, schon vor Wochen, jetzt wartet er darauf, dass sie zuschnappen. Er schaltet das Licht wieder aus, will die Tiere nicht abschrecken.
Koffi schläft nicht. Er hört den Wald flüstern, er hört das Raunen der Tiere im Dickicht. Sie beobachten ihn. Er muss ganz still sein, nur dann werden sie kommen. Eigentlich dürfte er gar nicht hier sein. Wenn die Wildhüter ihn aufspüren, wird er eine Geldstrafe bekommen. Wenn die Soldaten ihn finden, werden sie ihn verprügeln. Oder Schlimmeres. Es gibt Geschichten von Jägern, die nie mehr aus dem Wald zurückkamen, einmal hat er ein zerfetztes Hemd im Unterholz entdeckt.
Früher, als er noch im Hafen in Kisangani arbeitete, konnten sie sich Hühner- oder Ziegenfleisch leisten, die Arbeit war hart, der Ton rau, aber er bekam am Monatsende sein Gehalt ausbezahlt, und Clémentine konnte auf dem Markt für ein großes Essen einkaufen, zu dem er auch immer seine Eltern und Geschwister einlud. Sie waren schon lange nicht mehr bei ihm. Koffi spürt ein Brennen im Hals, er trinkt einen Schluck Wasser. Er hätte es wie sein Bruder Dioko machen sollen; Dioko glaubt an sich und an seine Beine. Er war schon immer der Schnellste und Geschickteste der Geschwister. Er träumte davon, bei TP Mazembe zu spielen, aber dann geschah ein Wunder: Ein Scout sprach ihn an, von Olympique Lyon. Jetzt ist Dioko in Europa, zumindest glaubt Koffi das, seine Eltern glauben es, alle glauben es. Dioko hat es geschafft. Und er, Koffi, hockt allein im Wald. In einem Shirt, auf dessen Rücken steht: Eintracht Frankfurt, und darunter ein Name: Yeboah.
Manchmal, da ist er so müde, da will er einfach nur unter einem der großen Bäume sitzen bleiben und sich nicht mehr von der Stelle rühren, da will er eins werden mit dem Wald. Da will er etwas abhaben von seiner Stärke, seiner Macht. Als der Vorarbeiter eines Morgens zu Koffi kam und ihm sagte, er solle sich im Büro melden, man werde ihm den zustehenden Lohn noch auszahlen, aber ab morgen brauche man ihn nicht mehr, da hatte er um sich schlagen, da hatte er alles in Brand stecken wollen. Aber er hatte keine Wahl. Er holte sein Geld, fuhr nach Hause zu Clémentine und sagte ihr, dass er am Morgen auf die Jagd gehen würde.
Er kauert an den Baum gelehnt und wartet auf das Zuschnappen der Fallen. Dann hört er plötzlich Stimmen. Zuerst glaubt er zu träumen, aber er ist hellwach, und jetzt kann er in der Dunkelheit einzelne Lichtpunkte erkennen. Es sind schwere Schritte. Ihm wird eiskalt. Er umfasst sein Gewehr. Die Stimmen kommen näher, sie kreisen ihn ein.
Er weiß, es sind Soldaten, sie sind wie er auf der Jagd. Schon seit einiger Zeit durchstreifen sie die Wälder rechts und links der Straße nach Ituri, um an Fleisch zu kommen. Er hat sie schon einige Male gesehen und sich immer vor ihnen versteckt. Auch jetzt drückt sich Koffi dichter an den Baum, schiebt sich zwischen das Laub der Sträucher und atmet flach. Er hört ihre Stimmen, der Waldboden scheint leicht zu beben.
Sie sind jetzt ganz nah, er kann sie atmen hören. Er selbst hält die Luft an, starr vor Angst. Wo sich diese verdammten Viecher wieder versteckt hätten, hört er einen der Soldaten sagen, er habe keine Lust mehr, jede Nacht in diesem verdammten Wald herumzulaufen. Ein anderer sagt, er solle das Maul halten, er könne ja Blätter fressen, wenn’s ihm nicht passe. Einer bleibt direkt vor Koffi stehen, er kann trotz der Dunkelheit die Stiefel erkennen, einen Teil der Hose. Nie hat er Clémentine von den Soldaten erzählt. Wenn sie auf seine Fallen stoßen, zerstören sie sie oder nehmen sich den Fang, er kann nichts dagegen tun.
Langsam entfernen sich die Stimmen und Schritte wieder. Er wartet ein paar Minuten, regt sich nicht. Aber dann hört er plötzlich Schreie. Er zuckt zusammen. Da schreit ein Mensch um sein Leben, er weiß es. Er wagt nicht zu atmen. Die Schreie sind zwischen den Bäumen, ganz nah. Sie gelten auch ihm: Hilf mir! Hilf mir doch! Aber Koffi rührt sich nicht, Koffi muss eins werden mit dem Wald. Er weiß, dass die Soldaten einen wie ihn aufgespürt haben, einen Jäger, aber er kann nichts sehen, alles ist dunkel.
Er verspürt leichte Übelkeit, richtet sich jetzt auf. Er weiß, dass sie noch in der Nähe sind, kann ihre Stimmen hören. Die dumpfen Schritte.
Richard
Er stand an einem der Stehtische, die im Garten verteilt worden waren, und trank sein zweites Glas. Er spürte ein angenehmes Kribbeln auf der Zunge, merkte, wie die Umgebung langsam weicher wurde, die Geräusche und Stimmen geschmeidiger und genoss das wohlige Gefühl, das der Champagner auslöste. Das Gefühl, aufgenommen worden zu sein, jetzt und hier, er war einer von ihnen.
Der Garten war weitläufig und nach irgendeinem Prinzip gestaltet, vielleicht Feng Shui; jedenfalls gab es einen Teich, in dessen Mitte ein kleines Häuschen stand, eine Art Pagode, es gab einen kleinen Bachlauf, der sich durch das Gelände schlängelte, und über diesen spannte sich ein übertrieben ausgestalteter Holzsteg, es gab riesige Findlinge, kugelig geschnittene Pflanzen, seltene Bäume, die schmalen Wege waren weiß geschottert. Zum Haus hin stieg das Gelände an, war üppig bepflanzt, Wasser rieselte über Gestein, Treppen führten auf eine Holzterrasse, in deren Mitte ein Pool eingelassen war. Er entdeckte kleine Buddhafiguren zwischen den Pflanzen, eine Gartenbank, Vogelgezwitscher war zu hören, von dem er nicht wusste, ob es echt war oder aus verborgenen Lautsprechern kam. Er und die anderen Gäste befanden sich auf einer ovalen Freifläche, die von allerlei Pflanzen und auf einer Seite vom kleinen Bach begrenzt wurde. Am Rand hatte man ein Festzelt in chinesischem Stil errichtet, daneben fachten gerade zwei Angestellte der Cateringfirma den Grill an. Alles war auf eine Art übertrieben und atemberaubend, aber nicht protzig, sondern fein und ästhetisch gestaltet.
Er sah sich um. Seine gute Stimmung hatte nur kurz angehalten, jetzt hatte ihn erneut eine fahrige Unruhe ergriffen. Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche und überlegte, ob er Frank schreiben und ihm von seinem Verdacht erzählen sollte. Aber er wollte ihm nicht das Gefühl geben, abhängig von ihm zu sein. Außerdem wollte er sich nicht lächerlich machen – auch wenn er sich beobachtet vorkam, wirkliche Anhaltspunkte hatte er keine. Es war nur so eine vage Ahnung gewesen, die er seit der Trennung von Ines schon einige Male verspürt hatte. Er machte sich gerade, sah sich um. Vorhin hatte er kurz geglaubt, unter den Servicemitarbeitern ein bekanntes Gesicht entdeckt zu haben. Wahrscheinlich eine Täuschung. Zumal er es nicht hatte zuordnen können und der Typ auch nicht wieder aufgetaucht war.
Er schlenderte bemüht locker zum nächsten Stehtisch. Besonders viel war noch nicht los, die Gäste trafen erst nach und nach ein, und immer wieder hörte er die Stimme von Marc Bretone, dem Gastgeber und Jubilar, hörte sein helles Lachen. Er kannte ihn nicht besonders gut und war einigermaßen erstaunt gewesen, als er vor ein paar Wochen die Einladung im Briefkasten gefunden hatte. Frank hatte ihn auf irgendeiner Party mit Marc bekannt gemacht, es musste letzten Sommer gewesen sein, er erinnerte sich nicht mehr. Schon damals hatte er sich gefragt, woher sich die beiden wohl kannten, und es hatte ihn länger beschäftigt, als ihm lieb war. Frank war nicht mehr der zurückhaltende, schmächtige Junge, wie er ihn aus ihrer gemeinsamen Schulzeit in Erinnerung hatte. Er war immer noch schmächtig, aber auf eine athletische Art, sein Körper war trainiert und gebräunt, seine Stimme warm und tief, was für einen Psychologen sicher von Vorteil war. Frank war außerdem – das hatte er schnell begriffen, als sie sich vor über sieben Jahren auf einem Klassentreffen zum ersten Mal wiedergesehen hatten – sehr gut vernetzt, er kannte wichtige und reiche Leute, ging auf ihre Partys, traf sich mit ihnen zum Lunch und in Hotellobbys. Und nachdem Frank die Firma gegründet und sie ihre Zusammenarbeit beschlossen hatten, nahm er ihn einfach mit zu den Partys, stellte ihn vor, machte sein Gesicht bekannt. Im ersten Moment schauten die Leute meist leicht belustigt wegen seines Namens, aber dann nickten sie anerkennend. Oberstaatsanwalt.
Eine Servicekraft kam an seinen Tisch, nahm sein fast leeres Glas und reichte ihm ein neues. Er hielt kurz inne. Es war der Typ, den er vorhin schon kurz wahrgenommen hatte. Er trug die Dienstkleidung des Caterers, weißes Hemd, schwarze Hose, und hatte sich seine Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Typ überragte ihn um einen halben Kopf. Und plötzlich war er sich sicher, dass er ihn kannte. Aber woher? Hastig nahm er einen Schluck, der Mann entfernte sich. Wieder war da dieser kurze Moment der Unsicherheit, es flackerte ihm vor den Augen, er spürte ein sanftes Ziehen in der Brust. Er machte einen kleinen Schritt zur Seite, der Rasen federte unter seinen Schuhsohlen leicht. Aber auch nach dem zweiten Schluck verschwand das mulmige Gefühl nicht. Mit seinem Blick folgte er der Servicekraft, die zurück zum Zelt ging, dort mit einem Kollegen sprach und dann hinter einer der Pflanzen verschwand.
Er merkte, wie er zu schwitzen begann. Wo blieb Frank bloß? Er war eigentlich nicht der Typ, der sich schnell in die Hosen machte, gehörte vielmehr zu denen, die die Dinge in die eigenen Hände nahmen, die alles unter Kontrolle hatten und es auch so aussehen lassen konnten, als koste sie dies kaum Mühe. Zumindest hatte er das bislang von sich geglaubt. Aber seit Ines ihm bei ihrem letzten Treffen unverhohlen damit gedroht hatte, er werde schon noch sehen, was er von seiner Arschlochhaftigkeit habe (sie hatte genau dieses Wort benutzt, Arschlochhaftigkeit), hatte sich etwas verändert. Ihre Wut hatte ihn anfangs belustigt, er war sich überlegen vorgekommen, aber nach und nach war ihm klar geworden, dass Ines tatsächlich Mittel hatte, um Frank und ihn gehörig in die Scheiße zu reiten. Er hatte mehrfach versucht, sie anzurufen, aber sie ging nicht ran, und reagierte auch auf seine Nachrichten nicht. Sie fahre ins Ausland, das war das Letzte, was sie ihm zugerufen hatte, bevor sie seine Wohnung verließ. Das war jetzt gut drei Wochen her. Aber was wusste sie schon, was konnte sie schon tun? Wem würden die Leute eher glauben? Einer gekränkten Angestellten oder ihm, dem Oberstaatsanwalt mit Reputation und besten Verbindungen? Wenn sie ihm blöd kam, würde er sie mit Verleumdungsklagen überziehen und sie so zum Schweigen bringen.
Er sah wieder auf sein Smartphone. Den ganzen Morgen hatte er darüber nachgedacht, dass sie die Sache mit dem Geld ändern mussten. Frank sollte es ihm künftig in bar geben und das Konto schnellstmöglich auflösen. Aber er sah schon Franks Grinsen vor sich, ein Grinsen, das sagte: Jetzt krieg dich wieder ein, werd mal nicht paranoid. Und wahrscheinlich hatte Frank recht, wahrscheinlich hatte Ines nur nach irgendwas gesucht, um ihn erschüttern zu können, denn wenn sie irgendwem von der Sache erzählte, wäre sie genauso dran.
Er sah zu den anderen Gästen, inzwischen waren weitere dazugekommen, der Garten füllte sich allmählich. Die meisten kannte er nicht, einige Gesichter hatte er schon einmal gesehen, man nickte sich zu. Er sah Marc Bretone, der sich langsam seinen Weg durch die Gäste bahnte, immer wieder stehen blieb und Hände schüttelte, einen kurzen Small Talk führte. Ihm folgte ein Typ, der neben Marc geradezu lächerlich klein aussah, dafür breite Schultern hatte, wahrscheinlich mal Boxer gewesen war oder irgendeinen Kampfsport machte. Er hatte ihn schon früher mit Bretone gesehen, es war Ivo Klasić, der sich um die Organisation der Security kümmerte. Ihm fiel jetzt auf, dass sich zusätzlich zum Personal vom Catering-Service auch ein paar Security-Mitarbeiter unter die Gäste gemischt hatten, er erkannte sie an ihren strengen Blicken, daran, dass sie nichts tranken und verkabelt waren. Er nahm sich zusammen und versuchte, die Gedanken an Ines abzuschütteln.
Er merkte, dass er Hunger hatte, der Duft von Gegrilltem lag in der Luft. Bretone kam jetzt direkt auf ihn zu, wollte anscheinend auch zur Bar. Er war schlicht, aber elegant gekleidet, weißes Hemd, dunkelblaues Jackett, links trug er eine Patek Philippe, wahrscheinlich das Model Nautilus, die mehr gekostet hatte, als er selbst im Jahr verdiente.
»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte er, als Marc ihn erreicht hatte, sie gaben sich die Hand.
»Danke, danke, du bist der Freund von Frank, stimmt’s? Der Staatsanwalt, oder?«
Er nickte nur und verkniff es sich, Bretone zu korrigieren, denn eigentlich legte er großen Wert darauf, dass man ihn als Oberstaatsanwalt ansprach. Als er seine Hand zurückzog, achtete er darauf, dass seine Uhr unter dem Hemd verschwand, ein Ausstellungsstück vom Wempe, mit dem er neben Bretone wie ein Schuljunge wirkte. Als Oberstaatsanwalt stand er mindestens auf einer Stufe mit ihm, und trotzdem fehlte ihm die Gelassenheit, mit der Bretone seinen Reichtum zelebrierte und genoss.
Er selbst kam aus keinem armen Haushalt. Sein Vater war ebenfalls Anwalt gewesen, er hatte sein Studium damals sogar mit Auszeichnung abgeschlossen, es am Ende dann aber doch nicht bis ganz nach oben geschafft, hatte eine kleine Kanzlei betrieben und sich um Verkehrsdelikte und Nachbarschaftsstreitereien gekümmert. Seine Mutter hatte seinem Vater dieses Versagen immer wieder vorgeworfen und sich schlussendlich von ihm getrennt, hatte ihrem Sohn eingeschärft, etwas aus sich und seinen Talenten zu machen, sie nicht so leichtfertig zu verschwenden. Und obwohl seine Eltern nicht mehr lebten, hörte er manchmal noch immer die Stimme seiner Mutter, die mit einem leisen Seufzer ihre Mittelmäßigkeit beklagte.
Er machte noch eine Anmerkung zum Garten, zur Party, aber Bretone hörte ihm schon nicht mehr zu, hatte sich von ihm abgewendet, da unter den Gästen gerade ein Gemurmel und Getuschel anhob, hier und da Applaus. Eine Frau im eng anliegenden Kostüm, die blonden Haare so zurechtgemacht, dass es beiläufig, aber trotzdem elegant wirkte, ging den schmalen Kiesweg entlang auf den Pavillon zu. Sie ging aufrecht, und er spürte einen leichten Stich in der Brust, wie er ihn manchmal beim Anblick bestimmter Menschen spürte, Menschen, von denen er instinktiv wusste, dass sie ihm überlegen waren, nicht aufgrund ihrer Stellung oder ihres Reichtums, sondern allein wegen ihres Auftretens, ihrer Ausstrahlung.
Die Frau trug einen Teller mit einer großen goldenen Haube vor sich her, sie ging auf Marc Bretone zu, und jetzt erkannte er auch sie wieder: Es war Ruth Bretone, die Frau von Marc. Er hatte sie vor einigen Monaten auf einem Event in Eschborn kennengelernt, und sie hatte in ihm ein fahriges Verlangen ausgelöst. Auch jetzt starrte er sie an, in ihr Gesicht, auf den Ansatz ihrer Brüste, die das Kostüm gekonnt zur Geltung brachte. Sie lächelte und hielt den Teller vor Marc.
»Happy Birthday«, sagte sie, und die beiden küssten sich flüchtig. Dann hob sie die Haube an und ein golden glänzendes Etwas kam zum Vorschein, das sie unter dem Applaus der Gäste zum Grill trug, während Marc zu einer kleinen Rede anhob und einzelne, besonders wichtige Gäste mit Namen begrüßte.
Er begriff, dass es sich bei dem goldenen Ding um ein großes Stück Fleisch handeln musste, um ein Steak oder Ähnliches, das mit Gold überzogen worden war. Und nach den erstaunten, fast ehrfürchtigen Reaktionen der anderen Gäste zu urteilen, war es ein ganz besonderes Stück Fleisch. Er wusste, dass Bretone Inhaber einer Eventagentur war, bekannt für ihre exklusiven Veranstaltungen. Die Agentur lebte vom Ruf, gegen entsprechende Zahlungen jede Art von Vergnügen organisieren zu können, entsprechende Gerüchte waren im Umlauf, und er musste an Kubricks Eyes Wide Shut denken, an Orgien, verkleidete Unbekannte, Drogen und Alkohol.
Marc beendete seine Ansprache, als einer der Köche ihm das goldene Steak auf einem großen Teller zurückbrachte. Er bedankte sich fürs Kommen und bat darum, beim Essen nicht zögerlich zu sein. Unter den Blicken der Gäste und den Linsen der Smartphonekameras schnitt Bretone sein goldenes Steak an und aß die ersten Bissen; es handle sich um Antilopenfleisch, verkündete er mit einem Blick zu seiner Frau Ruth, ganz frisch aus dem afrikanischen Dschungel, aus Kisangani im Kongo, da kenne er einen zuverlässigen Händler, wieder lächelte er einnehmend und nahm den sanften Applaus entgegen.
Er hatte während der kurzen Rede die ganze Zeit zu Ruth geschaut, die neben ihrem Mann stand und beständig lächelte. Sie blickte nicht in die Gesichter ihrer Gäste, sondern über sie hinweg, sie stand da wie eine Schauspielerin, groß gewachsen, eine wunderschöne Frau, die Haut glatt, die Augen glänzend, und wieder empfand er eine Art Verlegenheit und schaute zur Seite.
Er stand an einem der Tische und aß mit großem Appetit. Es gab Verschiedenes vom Grill, Straußensteak, Entrecôte vom Wagyū-Rind, japanisches Kobe-Steak, medium-rare mit Salzflocken, Salate und Pasten, die fantastisch schmeckten, obwohl er keine Ahnung hatte, was genau sie enthielten; er konnte Granatapfelkerne ausmachen, Quinoa. Er trank ein Glas Chardonnay und unterhielt sich mit einem jungen Mann, höchstens halb so alt wie er, der bei einer Bank arbeitete. Ihr Gespräch drehte sich um Boni und Prämien, um ahnungslose Politiker und die Macht des Geldes. Er gab sich alle Mühe, dem Geplauder des Mannes zu folgen, konnte aber seine leichte Verachtung nur schwer überspielen.
»Solltest du auch mal ausprobieren«, sagte der Mann gerade.
Er hatte ihm nicht zugehört und nickte nur.
»Das Restaurant heißt Nusr-Et, weißt du, da wo der Ribéry sein goldenes Steak gegessen hat.«
Er nahm einen Schluck von seinem Wein, antwortete nicht, kaute. Plötzlich entdeckte er den Service-Mitarbeiter wieder, den er zu kennen glaubte. Und jetzt war er sich endgültig sicher, dass es sich nicht um einen Zufall handelte. Er folgte ihm mit seinen Blicken, sah ihn beim Grill mit einem anderen aus dem Service zusammenstehen, beide sprachen leise miteinander, sahen in seine Richtung. Er begann wieder zu schwitzen, spürte, wie die Panik zurückkehrte, überhörte die Frage des jungen Bankiers. Woher kannte er diesen Typen?
Er fühlte sich benommen, vom Wein, von seiner Panik und den Gerüchen des gegrillten Fleischs. Das Vogelgezwitscher erschien ihm plötzlich unnatürlich laut, das Lachen der Leute dümmlich. Er nahm seinen Teller und ging zum Grill, hatte aber nicht vor, noch etwas zu essen. Der Service-Typ hatte jetzt ein Smartphone in der Hand. Machte er Fotos? Er stellte den Teller ab. Hier stimmte etwas nicht, das spürte er deutlich.
Und mit einem Mal wusste er auch, woher er den Mann kannte. Es lief ihm heiß das Rückgrat hinauf, gleichzeitig begann er zu frösteln. Es war einer dieser unverbesserlichen Linken, die er noch aus der Uni kannte, er hatte es auch mal mit Jura versucht, es aber nicht durchgezogen. Hatte dann als Journalist gearbeitet, für irgendeine linke Rechercheplattform. Und er war mit Greta Vogelsang zusammen gewesen, damals während des Studiums. Nur der Name fiel ihm nicht mehr ein. Albert? Oder Robert? Was machte der hier? War das sein Zweitjob? Oder war er wegen etwas ganz anderem hier, wegen Frank und ihm, hatte Ines ihn auf sie angesetzt?
Scheiße.
Er sah sich um. Die Security-Typen schienen nichts bemerkt zu haben. Er war sich plötzlich sicher, dass Albert, Robert oder wie auch immer er hieß, nicht wegen eines Zweitjobs hier war. Es musste ihm um etwas ganz anderes gehen. Wahrscheinlich eine verdeckte Recherche. Und auf einmal hatte er eine Idee.
Er versuchte, nicht in die Richtung des Typen zu schauen, als er zur Bar schlenderte, wo Ivo Klasić stand. Er stellte sich neben ihn, orderte ein Bier, versuchte, abgeklärt zu wirken.
»Der Typ da vom Service, irgendwas ist mit dem«, sagte er und trank von seinem Bier.
»Welcher Typ?« Klasićs Stimme war leise, gepresst.
»Der mit dem Pferdeschwanz. Ich kenne den. Der ist Journalist.«
Klasić sah ihn an, etwas erstaunt.
»Investigativ-Journalist. Der schnüffelt hier rum.«
Beide sahen zu dem Pferdeschwanz hin, der mit dem Rücken zu ihnen stand und zwei Gäste bediente. Dann sprach Klasić in sein Headset, er konnte nicht verstehen, was er sagte. Aber er sah, wie sich zwei Securitys aus der Menge lösten und langsam auf den Typen zugingen. Er hielt die Luft an. Wenn sich seine Anschuldigungen als falsch erwiesen, stünde er wie ein Trottel da. Aber sein Instinkt schien ihm recht zu geben: Als der Pferdeschwanz die beiden Securitys bemerkte, stellte er sein Tablett auf einen Tisch und ging in die entgegengesetzte Richtung davon, weiter hinein in den Garten. Ein Security schnitt ihm den Weg ab. Der Pferdeschwanz sah sich um.
Und dann begann er zu rennen.
Jedes Mal, wenn Greta Vogelsang das Büro des leitenden Oberstaatsanwalts Thomas Zöllner betrat, war sie kurz davor, ihre Schuhe auszuziehen und in Socken über den großen weichen Teppich zu gehen, der fast den gesamten Raum in Beschlag nahm. Und mit dem Verlangen, die Schuhe auszuziehen, überkamen sie auch immer gleich merkwürdige Bilder, sah sie Zöllner im Schlafanzug auf diesem Teppich liegen und Liegestützen machen, sah ihn im Schneidersitz, die Augen geschlossen, meditierend.
»Komm ruhig rein«, sagte Zöllner und stand auf.
Vogelsang ging auf ihren Vorgesetzten zu, sie reichten sich die Hand, Zöllner bat sie, Platz zu nehmen, fragte, ob sie einen Kaffee wolle. Ja, wollte sie.
Während Zöllner am Kaffeeautomaten beschäftigt war und sie darüber informierte, dass sich Pankratz etwas verspäten würde, sah sich Vogelsang um. Der kleine Holzelefant, der auf Zöllners Schreibtisch stand, war das letzte Mal noch nicht da gewesen, wahrscheinlich ein Mitbringsel aus dem Urlaub. Sie hatten am Telefon schon den üblichen Ferien-Small-Talk hinter sich gebracht; Zöllner war drei Wochen in Sri Lanka gewesen, Rundreise, nach seiner eigenen Aussage allein, aber Vogelsang war sich ziemlich sicher, dass es in Zöllners Leben wieder eine neue Frau gab, jemanden, für den er sich rasierte, Aftershave auftrug, die Fingernägel tadellos hielt.
Zöllner trat wieder hinter seinen Schreibtisch, reichte ihr die Tasse.
»Und bei dir alles in Ordnung?«, fragte er.
»Alles bestens«, log Vogelsang und versuchte nicht an ihre Mutter zu denken, die ihren Vater und sie fast nur noch beschimpfte, nicht an Mika, nach dem sie sich sehnte, nicht an die Unbeschwertheit der letzten Sommertage im August, die ihrer Beziehung seitdem etwas abhandengekommen war, jeder machte sein Ding, Job, Essen, Schlafen, gemeinsame Ausflüge hatten sie in letzter Zeit kaum noch unternommen.
Zöllner schien ihr Zögern zu bemerken, aber dann rettete Vogelsang das Klopfen. Pankratz betrat das Büro, man gab sich die Hand, er nahm Platz und wurde von Zöllner ebenfalls mit einem Kaffee versorgt. Alexander Pankratz arbeitete als Oberstaatsanwalt bei der Eingreifreserve, eine Abteilung, die flexibel und zielgerichtet einzelne Ermittlungsverfahren an sich ziehen und bearbeiten konnte, und beschäftigte sich schon seit Jahren mit komplexen Verfahren zu den Themen Steuerhinterziehung, Betrug und Korruption. Er dankte Vogelsang und Zöllner für den Termin, dann wandte er sich an Vogelsang.
»Du bist wahrscheinlich noch nicht informiert?«
»Ich weiß nur, dass es um Wassermann-Schlotz geht, dass gegen ihn intern ermittelt werden soll.«
Pankratz nickte, sah zu Zöllner.
»Die ganze Sache ist etwas heikel und, na ja, wie soll ich das sagen, wir sehen nicht gerade gut dabei aus. Deshalb muss alles, was wir dazu besprechen, unter uns bleiben, kein Wort zu irgendjemandem aus dem Haus, nicht mal eine Andeutung. Wenn da irgendwas durchsickert, ist die Sache gelaufen.«
Er nahm einen Schluck Kaffee, presste die Lippen zusammen. Sie hatte nie direkt mit Pankratz zusammengearbeitet, allerdings war allgemein bekannt, dass er nach Höherem strebte, einige sahen ihn schon die Leitung der Generalstaatsanwaltschaft übernehmen. Vogelsang war sich nicht sicher, ob er gerade maßlos übertrieb oder ob die Sache wirklich so brenzlig war. Wegen Wassermann-Schlotz?
»Was ist denn genau los?«, fragte sie.
Pankratz machte sich gerade, stellte die Tasse auf den Schreibtisch.
»Ich habe vor einigen Wochen eine Anzeige auf meinen Schreibtisch bekommen, von Ines B., der ehemaligen Lebensgefährtin von Richard. Und die hat es in sich: Sie beschuldigt Richard der Korruption und des Betrugs. Ines B. hat uns Kontoauszüge vorgelegt, fingierte Rechnungen. Richard soll zusammen mit einem Freund, einem Rechtspsychologen, über Jahre hinweg überteuerte Gutachten erstellt und dabei ordentlich abkassiert haben. Auf Anraten von Richard hat dieser Freund nur für diese Aufträge sogar eine eigene Firma gegründet, in der Ines B. angestellt war. Laut ihrer Aussage lief es wohl so ab, dass die Verfahren nach der Prüfung durch den Gutachter, Richards Freund Frank Demand, von Richard meist wieder eingestellt wurden, die Gutachten wurden aber natürlich bezahlt. Die haben in ihren Rechnungen jeden kleinen Furz berechnet, und das Land hat alles immer anstandslos beglichen.«
Pankratz lehnte sich zurück.
Vogelsang murmelte ein leises »Scheiße«, auch Zöllner schüttelte leicht den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, was er da gerade gehört hatte.
»Wir haben alles da«, fuhr Pankratz fort, »Kontoauszüge, die Daten einer Debitkarte, mit der Richard immer das Geld abgehoben hat. Das Konto diente wohl nur dazu, um Richard zu bezahlen. Wir müssen es ihm jetzt nur noch nachweisen.«
»Und du sagst, das läuft schon seit Jahren so?« Vogelsang beugte sich etwas nach vorn.
»Wie lange genau, kann ich nicht sagen, aber mehr als fünf Jahre auf jeden Fall, nach den Auszügen zu urteilen.«
»Scheiße.« Vogelsang stand auf, ging ein paar Schritte. »Hat da niemand Verdacht geschöpft? Ich meine, wozu haben wir eine Revisionsabteilung, das muss doch irgendwem aufgefallen sein.«
Pankratz zuckte nur mit den Schultern, Zöllner schwieg.
»Wie gesagt, wir sehen dabei nicht gut aus. Und ihr kennt ja Richard, seine eloquente Art, sein selbstbewusstes Auftreten. Der hat vermutlich geglaubt, ihm könne niemand was.«
»Und wie machen wir jetzt weiter?«
»Ines B. ist im Moment nicht auffindbar«, sagte Zöllner. »An ihrem Wohnort ist niemand, sie hat keine Nachrichten hinterlassen. Laut ihrer Aussage hat Richard vor ein paar Wochen die Beziehung beendet.«
»Das wird ja immer besser«, sagte Vogelsang. »Glaubt ihr, dass sie sich an ihm rächen will? Setzt sie Richard unter Druck?«
»Möglich.«
»Wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben«, sagte Pankratz. »Wir haben die Kontodaten, außerdem Zugriff auf Richards Mobilnummern. Ich schlage die Überwachung seines Telefons vor. So erreichen wir mit etwas Glück zwei Dinge: Vielleicht spricht Richard am Telefon mit Demand und wir erfahren weitere Details zu ihren Geschäften. Und zum anderen könnten wir ein Bewegungsprofil erstellen und herausfinden, wo und wie oft er Geld abhebt, Zugriff auf das Konto haben wir ja.«
Pankratz sah in ernste Gesichter. Eine TKÜ gegen einen Oberstaatsanwalt war eine äußerst heikle Sache.
»Er darf unter keinen Umständen Verdacht schöpfen«, sagte Zöllner.
»Nichts darüber verlässt diesen Raum«, sagte Pankratz. »Wir müssen uns absolut vertrauen.«
Zöllner sah Vogelsang an. Sie nickte, obwohl sie kein gutes Gefühl bei der Sache hatte. Aber anders würden sie nicht an Wassermann-Schlotz rankommen, er war nicht ohne Grund überall beliebt und angesehen.
»So machen wir es«, sagte Zöllner und stand ebenfalls auf, trat ans Fenster und sah hinunter in den Hof. »Eine andere Möglichkeit sehe ich im Moment nicht.«
Einige Augenblicke schwiegen alle.
»Ich verstehe einfach nicht, was mit Leuten wie Wassermann-Schlotz los ist«, sagte Vogelsang dann, »dass es immer noch mehr sein muss, mehr Geld, mehr Ansehen. Und dann dieses Selbstbewusstsein, dass ihnen niemand was kann, dass sie über den Dingen stehen, schalten und walten können, wie sie wollen.«
»Manche kriegen den Hals eben nicht voll«, sagte Pankratz. »Und ehrlich gesagt halte ich Richard auch für den Typ dafür. Der wollte schon immer nach ganz oben. Habt ihr mal sein Büro gesehen? Feinste Designermöbel, teure Kunst an den Wänden. Und jedes Jahr einen neuen Leasingwagen. Ich bin nicht überrascht, am ehesten noch davon, wie sicher er sich bei alldem gefühlt haben muss.«
Vogelsang lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf.
»Wenn es ihm um Geld und Status geht, hätte er in eine Wirtschaftskanzlei gehen sollen, nicht zur Staatsanwaltschaft.«
Sie vereinbarten ein zeitnahes Treffen in Pankratz’ Büro, dann verabschiedeten sie sich voneinander. Pankratz begleitete Vogelsang noch bis zum Aufzug, nickte ihr zu und verschwand dann in einem Gang. Vogelsang blieb einige Augenblicke vor dem Aufzug stehen, schloss kurz die Augen. Sie sah Wassermann-Schlotz vor sich, sein joviales Lächeln, sein überlegen wirkender Blick. Schon im Studium war er so aufgetreten, immer einen Tick drüber, eine Spur zu laut, und sie erinnerte sich, wie sie dieses Auftreten zuerst erstaunt, dann verwirrt und zuletzt nur noch abgestoßen hatte. Das Problem dabei war: Wassermann-Schlotz hatte wirklich was drauf, er markierte nicht nur. Er gehörte zu den fähigsten Leuten in der Staatsanwaltschaft und war nicht umsonst zum Oberstaatsanwalt berufen worden. Über Jahre hatte er eine Ermittlungsgruppe für sexualisierte Gewalt geleitet und dabei mit Hartnäckigkeit und Unnachgiebigkeit geglänzt, scheinbar aussichtslose Fälle hatte er in akribischer Kleinstarbeit aufgedröselt und schlussendlich bis zur Anklage gebracht. In der Behörde galt er als nahezu unangreifbar, integer, ja, als Lichtgestalt. Trotzdem war Vogelsang über sein »Nebengeschäft« nicht erstaunt, denn sie war eine der wenigen, die Wassermann-Schlotz noch von früher kannten.
Während der Fahrt nach unten summte ihr der Kopf. Ganz schön viel für einen Montagvormittag.
Sie hatte ihre Zimmer-Calla in letzter Zeit etwas vernachlässigt, füllte jetzt ein Glas mit Wasser und goss die Pflanze damit, sprach leise mit ihr, was für ein schönes Wesen sie doch sei, und dabei lächelte Vogelsang, sie musste sich ja wie eine Verrückte anhören. Sie blieb am Fenster stehen und sah hinunter auf die belebte Straße. Sie hatte gehofft, dass es in nächster Zeit etwas ruhiger werden würde, dass sie endlich die nötige Kraft finden würde, um sich um ihre Mutter und ihren Vater zu kümmern, aber da war jetzt die Sache mit Wassermann-Schlotz, die sie sicherlich mehr in Beschlag nehmen würde, als ihr lieb war.
In der Küche traf Vogelsang auf Rafik. Er war gerade dabei, sich einen Tee zu kochen, und fragte, ob sie auch einen wolle. Vogelsang nickte. Rafik Atashi war Referendar, ein junger, ehrgeiziger Mann mit herzlichem Lachen, einer, der sich schon jetzt traute, unbequeme Fragen zu stellen, der früh gelernt hatte, seinen eigenen Kopf zu benutzen und sich zu behaupten. Vogelsang mochte ihn, weil er sie manchmal an sie selbst erinnerte, an ihr jüngeres Ich, und sie hatte sich vorgenommen, ihn nach Kräften zu unterstützen. Seit sie die Leitung der kleinen Abteilung für Umweltverbrechen übernommen hatte, hatte sie neben Rafik auch Sonja Wilms zu sich ins Team geholt, eine noch junge Staatsanwältin, gemeinsam mit dem erfahrenen Kollegen Abel bildeten sie ein schlagkräftiges Team.
Rafik reichte Vogelsang die Tasse und fragte, ob alles okay sei. Sie musste ziemlich abwesend wirken.
»Ja«, sagte sie und nippte vorsichtig an ihrem Tee, »und nein. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.«
»Kann ich dir irgendwie helfen?« Rafik hatte sich an den kleinen Tisch gesetzt, Vogelsang blieb stehen.
»Danke, aber im Moment nicht.«
Sie konnte weder Rafik noch sonst jemandem aus dem Team von der Sache mit Wassermann-Schlotz erzählen, das war klar. Von den Ermittlungen gegen den Kollegen durfte nichts durchsickern, auch wenn es ihr eigentlich auf der Zunge brannte. Nicht dass sie tratschen wollte – aber sie hätte gerne die Einschätzung der anderen gehört.
Sie versuchte zu lächeln.
»Wenn du was brauchst, sag Bescheid«, sagte er.
»Werde ich tun.«
Vogelsang bedankte sich für den Tee und ging in ihr Büro zurück. Dort wartete jede Menge Arbeit auf sie, die Zuträge der letzten Tage, und dann die Sache mit den Glasaalen, die sie noch immer beschäftigte. Der Fall zog sich, gegen die verhafteten Schmuggler war Anklage erhoben worden, in einer ersten Verhandlung hatte Vogelsang die vom Zoll gesammelten Beweise präsentiert, die Sache war klar, es würde nicht bei einer Geldstrafe bleiben.
Sie setzte sich an den Schreibtisch, gewillt, die Sache mit Wassermann-Schlotz erst einmal beiseitezuschieben und sich auf ihre alltägliche Arbeit zu konzentrieren. Doch sie merkte bald, wie abgelenkt sie war. Obwohl sie es nicht wollte, war sie wütend. Was zur Hölle hatte Wassermann-Schlotz geglaubt? Dass das hier ein Selbstbedienungsladen war, aus dem er sich nehmen konnte, was er wollte? Sie rollte ein Stück vom Tisch weg und streckte die Beine aus. Und wenn er nur die Spitze des Eisbergs war? Wenn hier auch andere Kollegen die Hand aufhielten? Sie war damals mit dem festen Vorsatz in den Staatsdienst getreten, eine Art Gegengewicht zu bilden, das System nicht allein den Konservativen und Hardlinern zu überlassen. Immer öfter aber musste sie sich eingestehen, dass sie auf verlorenem Posten stand, dass um sie alles so lief, wie es immer gelaufen war, und es überhaupt keine Rolle zu spielen schien, ob sie hier tatsächlich so etwas wie ein Gegengewicht bildete oder nicht.
Sie rollte zurück an den Tisch. Aber vielleicht war das jetzt so ein Moment, in dem sich die Sache drehen würde; ein Moment, in dem klar werden würde, dass sie eben nicht in der Minderheit war, dass sie durchaus Verbündete hatte. Sie würde nichts überstürzen, akribisch und gewissenhaft vorgehen, und sie würde alles daransetzen, Wassermann-Schlotz weiter in die Enge zu treiben.
Die Tage wurden schon merklich kühler, das Wetter war unbeständig. Der Herbst kündigte sich mit tief hängenden Wolken über dem Taunus und leichtem Nieselregen an. Aber Vogelsang war das gerade recht. Sie folgte dem Radweg entlang des Sachsenhäusener Ufers in Richtung Westen, nach Niederrad und Schwanheim. Sie hatte sich ihre dünnen Handschuhe schon wieder ausgezogen, richtete sich auf und schnäuzte sich die Nase. Sie mochte den Herbst, den Wind, der die Wellen des Mains kräuselte, den Fluss manchmal sogar richtig in Bewegung brachte; sie mochte es, dass die Zahl der Radfahrer abnahm und bloß noch die unterwegs waren, die das nicht nur zum Vergnügen machten. Man war unter sich, kannte einander vom Sehen und nickte sich hin und wieder wissend zu.