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In der Tradition von Edgar Allan Poe, Paul Scheerbart und E.T.A Hoffmann verwischt Meyrinks Prosa die Grenzen zwischen Traum und Realität und zeigt, dass das Phantastische seinen Platz in der Hochliteratur verdient. In Der Golem lässt Meyrink die alte Prager Legende vom künstlich aus Lehm erschaffenen Menschen aufleben. Der Protagonist Athanasius Pernath begegnet der Gestalt im Traum und wird seitdem von Halluzinationen und Wahnvorstellungen heimgesucht...
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Seitenzahl: 528
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Gustav Meyrink
(eigentlich Gustav Meyer) kam am 19. Januar 1868 als unehelicher Sohn eines württembergischen Staatsministers in Wien zur Welt. Nach der Aufgabe eines Prager Bank- und Wechselgeschäftes lebte er ab 1905 als freier Schriftsteller in München. Meyrink gilt vor allem für seine Romane »Der Golem«, »Das grüne Gesicht« und »Der weiße Dominikaner« als absoluter Klassiker der phantastischen Literatur. Er starb 1932 in Starnberg.
Der Herausgeber
Prof. Dr. Marco Frenschkowski, geb. 1960, ist Professor für Evangelische Theologie an der Universität Leipzig (Neues Testament). Als Religionswissenschaftler hat er zahlreiche Bücher und Studien zu antiker und moderner Religion publiziert. Außerdem ist er Herausgeber von kommentierten Ausgaben klassischer phantastischer und imaginativer Literatur. Im marixverlag sind von ihm u. a. erschienen: »Heilige Schriften«, »Die Hexen«, »Mysterien des Urchristentums«; darunter zahlreiche Herausgeberschaften, u. a. zu: »Die magischen Werke« von Agrippa von Nettesheim, James Webbs »Die Flucht vor der Vernunft« und »Das Zeitalter des Irrationalen«.
»Immer einmal in der Zeit eines Menschenalters geht blitzschnell eine geistige Epidemie durch die Judenstadt, befällt die Seele der Lebenden (…) und lässt wie eine Luftspiegelung die Umrisse eines charakteristischen Wesens entstehen, das vielleicht vor Jahrhunderten hier gelebt hat und nach Form und Gestaltung dürstet«
Gustav Meyrink
Was ist Illusion, was Realität, wenn der Tod umgeht? Als im Prager Getto ein rätselhafter Mord geschieht, gerät Gemmenschneider Athanasius Pernath in einen Strudel aus Halluzination und Wirklichkeit. Treibt der Golem, von dem er träumt, nach Jahrzehnten in der Stadt wieder mordend sein Unwesen? Oder jagen ihm haltlose Gassengerüchte Angst ein und der Mörder ist einer der unnahbaren, bisweilen zwielichtigen Bewohner des Gettos? Vielen schattenhaften Verdächtigen begegnet Pernath auf seiner stolpernden Wanderung durch ein Prag irgendwo zwischen dunkler Vergangenheit und nebliger Realität. Dann gerät er selbst unter Mordverdacht.
In den Gassen Prags begegnet Gemmenschneider Athanasius Pernath dem Golem, einem Ungeheuer erschaffen aus Lehm, das alle dreiunddreißig Jahre die Stadt heimsucht. Im Prager Getto wird bald darauf ein Mord entdeckt, was von Tür zu Tür geflüsterte Gerüchte über das wiedererwachte Lehmmonster anheizt. Der Gemmenschneider balanciert auf den brüchigen Grenzpfaden zwischen Wahn und Wirklichkeit, während er unfreiwillig Komplize des Rachefeldzugs eines Studenten wird, seiner großen Liebe begegnet, und den Weg in das sagenumwobene Zimmer ohne Tür findet, die angebliche Heimstatt des Golem. Als Opfer einer Intrige gerät er schließlich selbst unter Mordverdacht. Aber dann kommt es ganz anders. Der klassische deutsche phantastische Roman über die Begegnung mit dem eigenen Ich als etwas völlig Fremdem, die Gespenster der Vergangenheit und das Prag der Zeit vor dem 1. Weltkrieg.
Mit einem biographischen Essay und Erläuterungen des Herausgebers und ausgewählten Essays Meyrinks.
Gustav Meyrink
Der Golem
Gustav Meyrink
Herausgegebenvon Marco Frenschkowski
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Alle Rechte vorbehalten
Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2014Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbHHamburg BerlinBildnachweis: akg-images GmbH, Berlin;„Der Golem, wie er in die Welt kam“(Deutschland 1920; Regie: Paul Wegener, Carl Boese;Buch: Paul Wegener, Henrik Galen).eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0442-4
www.marixverlag.de
DER GOLEM
Schlaf
Tag
Prag
Punsch
Nacht
Wach
Schnee
Spuk
Licht
Not
Angst
Trieb
Weib
List
Qual
Mai
Mond
Frei
Schluß
ESSAYS VON GUSTAV MEYRINK
HOCHSTAPLER DER MYSTIK
DAS ZAUBERDIAGRAMM
WIE ICH IN PRAG GOLD MACHEN WOLLTE
ANHANG
DER DICHTER DES GOLEM
von Bô Yin Râ
»IM SPIEGEL«
von Bô Yin Râ
GUSTAV MEYRINK UND DIE PHANTASTISCH-IMAGINATIVE LITERATUR
Nachwort von Marco Frenschkowski
Die drei Wellen der deutschen Phantastik
Eine biographische Skizze
Der Golem und das Judentum als Chiffren des Phantastischen
Gustav Meyrinks Erstveröffentlichungen in Buchform
Das Mondlicht fällt auf das Fußende meines Bettes und liegt dort wie ein großer, heller, flacher Stein.
Wenn der Vollmond in seiner Gestalt zu schrumpfen beginnt und seine rechte Seite anfängt zu verfallen – wie ein Gesicht, das dem Alter entgegengeht, zuerst an einer Wange Falten zeigt und abmagert –, dann bemächtigt sich meiner um solche Zeit des Nachts eine trübe, qualvolle Unruhe.
Ich schlafe nicht und wache nicht, und im Halbtraum mischt sich in meiner Seele Erlebtes mit Gelesenem und Gehörtem, wie Ströme von verschiedener Farbe und Klarheit zusammenfließen.
Ich hatte über das Leben des Buddha Gotama gelesen, ehe ich mich niedergelegt, und in tausend Spielarten zog der Satz, immer wieder von vorne beginnend, durch meinen Sinn:
»Eine Krähe flog zu einem Stein hin, der wie ein Stück Fett aussah, und dachte: Vielleicht ist hier etwas Wohlschmeckendes. Da nun die Krähe dort nichts Wohlschmeckendes fand, flog sie fort. Wie die Krähe, die sich dem Stein genähert, so verlassen wir – wir, die Versucher – den Asketen Gotama, da wir den Gefallen an ihm verloren haben.«
Und das Bild von dem Stein, der aussah wie ein Stück Fett, wächst ins Ungeheuerliche in meinem Hirn:
Ich schreite durch ein ausgetrocknetes Flußbett und hebe glatte Kiesel auf.
Graublaue mit eingesprengtem glitzerndem Staub, über die ich nachgrüble und nachgrüble und doch mit ihnen nichts anzufangen weiß – dann schwarze mit schwefelgelben Flecken, wie die steingewordenen Versuche eines Kindes, plumpe, gesprenkelte Molche nachzubilden.
Und ich will sie weit von mir werfen, diese Kiesel, doch immer fallen sie mir aus der Hand, und ich kann sie aus dem Bereich meiner Augen nicht bannen.
All jene Steine, die je in meinem Leben eine Rolle gespielt, tauchen auf rings um mich her.
Manche quälen sich schwerfällig ab, sich aus dem Sande ans Licht emporzuarbeiten – wie große schieferfarbene Taschenkrebse, wenn die Flut zurückkommt, und als wollten sie alles daransetzen, meine Blicke auf sich zu lenken, um mir Dinge von unendlicher Wichtigkeit zu sagen.
Andere – erschöpft – fallen kraftlos zurück in ihre Löcher und geben es auf, je zu Wort zu kommen.
Zuweilen fahre ich empor aus dem Dämmer dieser halben Träume und sehe für einen Augenblick wiederum den Mondschein auf dem gebauschten Fußende meiner Decke liegen wie einen großen, hellen, flachen Stein, um blind von neuem hinter meinem schwindenden Bewußtsein herzutappen, ruhelos nach jenem Stein suchend, der mich quält – der irgendwo verborgen im Schutte meiner Erinnerung liegen muß und aussieht wie ein Stück Fett. Eine Regenröhre muß einst neben ihm auf der Erde gemündet haben, male ich mir aus – stumpfwinklig abgebogen, die Ränder von Rost zerfressen –, und trotzig will ich mir im Geiste ein solches Bild erzwingen, um meine aufgescheuchten Gedanken zu belügen und in Schlaf zu lullen.
Es gelingt mir nicht.
Immer wieder und immer wieder mit alberner Beharrlichkeit behauptet eine eigensinnige Stimme in meinem Innern – unermüdlich wie ein Fensterladen, den der Wind in regelmäßigen Zwischenräumen an die Mauer schlagen läßt: Es sei das ganz anders; das sei gar nicht der Stein, der wie Fett aussehe.
Und es ist von der Stimme nicht loszukommen.
Wenn ich hundertmal einwende, alles das sei doch ganz nebensächlich, so schweigt sie wohl eine kleine Weile, wacht aber dann unvermerkt wieder auf und beginnt hartnäckig von neuem: Gut, gut, schon recht, es ist aber doch nicht der Stein, der wie ein Stück Fett aussieht. Langsam beginnt sich meiner ein unerträgliches Gefühl von Hilflosigkeit zu bemächtigen.
Wie es weiter gekommen ist, weiß ich nicht. Habe ich freiwillig jeden Widerstand aufgegeben, oder haben sie mich überwältigt und geknebelt, meine Gedanken?
Ich weiß nur, mein Körper liegt schlafend im Bett, und meine Sinne sind losgetrennt und nicht mehr an ihn gebunden.
Wer ist jetzt »ich«, will ich plötzlich fragen; da besinne ich mich, daß ich doch kein Organ mehr besitze, mit dem ich Fragen stellen könnte; dann fürchte ich, die dumme Stimme werde wieder aufwachen und von neuem das endlose Verhör über den Stein und das Fett beginnen. Und so wende ich mich ab.
Da stand ich plötzlich in einem düsteren Hofe und sah durch einen rötlichen Torbogen gegenüber – jenseits der engen, schmutzigen Straße – einen jüdischen Trödler an einem Gewölbe lehnen, das an den Mauerrändern mit altem Eisengerümpel, zerbrochenen Werkzeugen, verrosteten Steigbügeln und Schlittschuhen und vielerlei anderen abgestorbenen Sachen behangen war.
Und dieses Bild trug das quälend Eintönige an sich, das alle jene Eindrücke kennzeichnet, die tagtäglich so und so oft wie Hausierer die Schwelle unserer Wahrnehmung überschreiten, und rief in mir weder Neugierde noch Überraschung hervor.
Ich wurde mir bewußt, daß ich schon seit langer Zeit in dieser Umgebung zu Hause war.
Auch diese Empfindung hinterließ mir trotz ihres Gegensatzes zu dem, was ich doch vor kurzem noch wahrgenommen und wie ich hierher gelangt, keinerlei tieferen Eindruck.
Ich muß einmal von einem sonderbaren Vergleich zwischen einem Stein und einem Stück Fett gehört oder gelesen haben, drängte sich mir plötzlich der Einfall auf, als ich die ausgetretenen Stufen zu meiner Kammer emporstieg und mir über das speckige Aussehen der Steinschwellen flüchtige Gedanken machte.
Da hörte ich Schritte die oberen Treppen über mir vorauslaufen, und als ich zu meiner Tür kam, sah ich, daß es die vierzehnjährige, rothaarige Rosina des Trödlers Aaron Wassertrum gewesen war. Ich mußte dicht an ihr vorbei, und sie stand mit dem Rücken gegen das Stiegengeländer und bog sich lüstern zurück.
Ihre schmutzigen Hände hatte sie um die Eisenstange gelegt – zum Halt –, und ich sah, wie ihre nackten Unterarme bleich aus dem trüben Halbdunkel hervorleuchteten. Ich wich ihren Blicken aus.
Mich ekelte vor ihrem zudringlichen Lächeln und diesem wächsernen Schaukelpferdgesicht.
Sie muß schwammiges, weißes Fleisch haben wie der Axolotl, den ich vorhin im Salamanderkäfig bei dem Vogelhändler gesehen habe, fühlte ich.
Die Wimpern Rothaariger sind mir widerwärtig wie die eines Kaninchens.
Und ich sperrte auf und schlug rasch die Tür hinter mir zu.
Von meinem Fenster aus konnte ich den Trödler Aaron Wassertrum vor seinem Gewölbe stehen sehen.
Er lehnte am Eingang der dunklen Wölbung und zwickte mit einer Beißzange an seinen Fingernägeln herum.
War die rothaarige Rosina seine Tochter oder seine Nichte? Er hatte keine Ähnlichkeit mit ihr.
Unter den Judengesichtern, die ich Tag für Tag in der Hahnpaßgasse auftauchen sehe, kann ich deutlich verschiedene Stämme unterscheiden, die sich so wenig durch die nahe Verwandtschaft der einzelnen Individuen verwischen lassen, wie sich Öl und Wasser vermengen wird. Da darf man nicht sagen: Die dort sind Brüder oder Vater und Sohn.
Der gehört zu jenem Stamm und dieser zu einem andern, das ist alles, was sich aus den Gesichtszügen lesen läßt. Was bewiese es auch, wenn selbst Rosina dem Trödler ähnlich sähe!
Diese Stämme hegen einen heimlichen Ekel und Abscheu voreinander, der sogar die Schranken der engen Blutsverwandtschaft durchbricht – aber sie verstehen, ihn geheimzuhalten vor der Außenwelt, wie man ein gefährliches Geheimnis hütet.
Kein einziges läßt ihn durchblicken, und in dieser Übereinstimmung gleichen sie haßerfüllten Blinden, die sich an ein schmutzgetränktes Seil klammem: der eine mit beiden Fäusten, ein anderer nur widerwillig mit einem Finger, alle aber von abergläubischer Furcht besessen, daß sie dem Untergang verfallen müssen, sobald sie den gemeinsamen Halt aufgeben und sich von den übrigen trennen.
Rosina ist von jenem Stamme, dessen rothaariger Typus noch abstoßender ist als der der andern. Dessen Männer engbrüstig sind und lange Hühnerhälse haben mit vorstehendem Adamsapfel.
Alles scheint an ihnen sommersprossig, und ihr ganzes Leben leiden sie unter brünstigen Qualen, diese Männer – und kämpfen heimlich gegen ihre Gelüste einen ununterbrochenen, erfolglosen Kampf, von immerwährender, widerlicher Angst um ihre Gesundheit gefoltert.
Ich war mir nicht klar, wieso ich Rosina überhaupt in verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Trödler Wassertrum bringen konnte.
Nie habe ich sie doch in der Nähe des Alten gesehen oder bemerkt, daß sie jemals einander etwas zugerufen hätten.
Auch war sie fast immer in unserem Hofe oder drückte sich in den dunklen Winkeln und Gängen unseres Hauses herum.
Sicherlich halten sie alle meine Mitbewohner für eine nahe Verwandte oder zumindest Schutzbefohlene des Trödlers, und doch bin ich überzeugt, daß kein einziger einen Grund für solche Vermutungen anzugeben vermöchte.
Ich wollte meine Gedanken von Rosina losreißen und sah von dem offenen Fenster meiner Stube hinab auf die Hahnpaßgasse.
Als habe Aaron Wassertrum meinen Blick gefühlt, wandte er plötzlich sein Gesicht zu mir empor.
Sein starres, gräßliches Gesicht mit den runden Fischaugen und der klaffenden Oberlippe, die von einer Hasenscharte gespalten ist.
Wie eine menschliche Spinne kam er mir vor, die die feinste Berührung ihres Netzes spürt, so teilnahmslos sie sich auch stellt.
Und wovon er nur leben mag? Was denkt er, und was ist sein Vorhaben? Ich wußte es nicht.
An den Mauerrändern seines Gewölbes hängen unverändert, Tag für Tag, jahraus, jahrein dieselben toten, wertlosen Dinge.
Mit geschlossenen Augen hätte ich sie hinzeichnen können: hier die verbogene Blechtrompete ohne Klappen, das vergilbte Bild auf Papier gemalt, mit den so sonderbar zusammengestellten Soldaten.
Und vorne auf dem Boden, dicht nebeneinandergeschichtet, so daß niemand die Schwelle des Gewölbes überschreiten kann, eine Reihe runder eiserner Herdplatten. Alle diese Dinge nahmen an Zahl nie zu, nie ab, und blieb wirklich hier und da einmal ein Vorübergehender stehen und fragte nach dem Preis des einen oder andern, geriet der Trödler in heftige Erregung.
In grauenerregender Weise zog er dann seine Lippen mit der Hasenscharte empor und sprudelte gereizt irgendetwas Unverständliches in einem gurgelnden, stolpernden Baß hervor, daß dem Käufer die Lust, weiterzufragen, verging und er abgeschreckt seinen Weg fortsetzte.
Der Blick des Aaron Wassertrum war blitzschnell von meinen Augen abgeglitten und ruhte jetzt mit gespanntem Interesse an den kahlen Mauern, die vom Nebenhause an mein Fenster stoßen.
Was konnte er dort nur sehen?
Das Haus steht doch mit dem Rücken gegen die Hahnpaßgasse, und seine Fenster blicken in den Hof! Nur eines ist in die Straße gekehrt.
Zufällig schienen die Räume, die nebenan in derselben Stockhöhe wie die meinigen liegen – ich glaube, sie gehören zu einem winkligen Atelier –, in diesem Moment betreten worden zu sein, denn durch die Mauern hörte ich plötzlich eine männliche und eine weibliche Stimme miteinander reden.
Unmöglich konnte das aber der Trödler von unten aus wahrgenommen haben!
Vor meiner Tür bewegte sich jemand, und ich erriet: Es ist immer noch Rosina, die draußen im Dunkeln steht in begehrlichem Warten, daß ich sie doch vielleicht zu mir hereinrufen wolle.
Und unten, ein halbes Stockwerk tiefer, lauert der blatternarbige, halbwüchsige Loisa auf den Stiegen mit angehaltenem Atem, ob ich die Tür öffnen würde, und ich spüre förmlich den Hauch seines Hasses und seine schäumende Eifersucht bis herauf zu mir.
Er fürchtet sich, näher zu kommen und von Rosina bemerkt zu werden. Er weiß sich von ihr abhängig wie ein hungriger Wolf von seinem Wärter und möchte doch am liebsten aufspringen und besinnungslos seiner Wut die Zügel schießen lassen!
Ich setzte mich an meinen Arbeitstisch und suchte meine Pinzetten und Stichel hervor.
Aber ich konnte nichts fertigbringen, und meine Hand war nicht ruhig genug, die feinen japanischen Gravierungen auszubessern.
Das trübe, düstere Leben, das an diesem Hause hängt, läßt mein Gemüt still werden, und immer tauchen alte Bilder in mir auf.
Loisa und sein Zwillingsbruder Jaromir sind wohl kaum ein Jahr älter als Rosina.
An ihren Vater, der Hostienbäcker gewesen, konnte ich mich kaum mehr erinnern, und jetzt sorgt für sie, glaube ich, ein altes Weib.
Ich wußte nur nicht, welche es war unter den vielen, die versteckt im Hause wohnen wie Kröten in ihrem Schlupfwinkel.
Sie sorgt für die beiden Jungen, das heißt: Sie gewährt ihnen Unterkunft; dafür müssen sie ihr abliefern, was sie gelegentlich stehlen oder erbetteln.
Ob sie ihnen wohl auch zu essen gibt? Ich konnte es mir nicht denken, denn erst spät abends kommt die Alte heim.
Leichenwäscherin soll sie sein.
Loisa, Jaromir und Rosina sah ich, als sie noch Kinder waren, oft harmlos im Hof zu dritt spielen.
Die Zeit aber ist lang vorbei.
Den ganzen Tag ist Loisa jetzt hinter dem rothaarigen Judenmädel her.
Zuweilen sucht er sie lange umsonst, und wenn er sie nirgends finden kann, dann schleicht er sich vor meine Tür und wartet mit verzerrtem Gesicht, daß sie heimlich hierherkomme.
Da sehe ich ihn, wenn ich bei meiner Arbeit sitze, im Geiste draußen in dem winkligen Gange lauern, den Kopf mit dem ausgemergelten Genick horchend vorgebeugt.
Manchmal bricht dann durch die Stille plötzlich ein wilder Lärm.
Jaromir, der taubstumm ist und dessen ganzes Denken eine ununterbrochene wahnsinnige Gier nach Rosina erfüllt, irrt wie ein wildes Tier im Hause umher, und sein unartikuliertes heulendes Gebell, das er, vor Eifersucht und Argwohn halb von Sinnen, ausstößt, klingt so schauerlich, daß einem das Blut in den Adern stockt.
Er sucht die beiden, die er stets beieinander vermutet – irgendwo in einem der tausend schmutzigen Schlupfwinkel versteckt –, in blinder Raserei, immer von dem Gedanken gepeitscht, seinem Bruder auf den Fersen sein zu müssen, daß nichts mit Rosina vorgehe, von dem er nicht wisse.
Und gerade diese unaufhörliche Qual des Krüppels ist, ahnte ich, das Reizmittel, das Rosina antreibt, sich stets von neuem mit dem andern einzulassen. Wird ihre Neigung oder Bereitwilligkeit schwächer, so ersinnt Loisa immer wieder besondere Scheußlichkeiten, um Rosinas Gier von neuem zu entfachen.
Da lassen sie sich scheinbar oder wirklich von dem Taubstummen ertappen und locken den Rasenden heimtückisch hinter sich her in dunkle Gänge, wo sie aus rostigen Faßreifen, die in die Höhe schnellen, wenn man auf sie tritt, und eisernen Rechen – mit den Spitzen nach oben gekehrt – bösartige Fallen errichtet haben, in die er stürzen muß und sich blutig fällt.
Von Zeit zu Zeit denkt sich Rosina, um die Folter aufs äußerste anzuspannen, auf eigene Faust etwas Höllisches aus.
Dann ändert sie mit einem Schlage ihr Benehmen zu Jaromir und tut, als fände sie plötzlich Gefallen an ihm. Mit ihrer ewig lächelnden Miene teilt sie dem Krüppel hastig Dinge mit, die ihn in eine fast irrsinnige Erregung versetzen, und sie hat sich dazu eine geheimnisvoll scheinende, nur halbverständliche Zeichensprache ersonnen, die den Taubstummen rettungslos in ein unentwirrbares Netz von Ungewißheit und verzehrenden Hoffnungen verstricken muß.
Einmal sah ich ihn im Hofe vor ihr stehen, und sie sprach mit so heftigen Lippenbewegungen und Gestikulationen auf ihn ein, daß ich glaubte, jeden Augenblick würde er in wilder Aufregung zusammenbrechen.
Der Schweiß lief ihm übers Gesicht vor übermenschlicher Anstrengung, den Sinn der absichtlich so unklaren, hastigen Mitteilungen zu erfassen.
Und den ganzen folgenden Tag lauerte er dann fiebernd in Erwartung auf den finsteren Stiegen eines halb versunkenen Hauses, das in der Fortsetzung der engen, schmutzigen Hahnpaßgasse liegt – bis er die Zeit versäumt hatte, sich an den Ecken ein paar Kreuzer zu erbetteln.
Und als er spät abends halbtot vor Hunger und Aufregung heim wollte, hatte ihn die Pflegemutter längst ausgesperrt.
Ein fröhliches Frauenlachen drang aus dem anstoßenden Atelier durch die Mauern herüber zu mir.
Ein Lachen! – In diesen Häusern ein fröhliches Lachen? Im ganzen Getto wohnt niemand, der fröhlich lachen könnte.
Da fiel mir ein, daß mir vor einigen Tagen der alte Marionettenspieler Zwakh anvertraute, ein junger, vornehmer Herr hätte ihm das Atelier teuer abgemietet – offenbar, um mit der Erwählten seines Herzens unbelauscht zusammenkommen zu können.
Nach und nach, jede Nacht, müßten nun, damit niemand im Hause etwas merke, die kostbaren Möbel des neuen Mieters heimlich Stück für Stück hinaufgeschafft werden.
Der gutmütige Alte hatte sich vor Vergnügen die Hände gerieben, als er es mir erzählte, und sich kindlich gefreut, wie er alles so geschickt angefangen habe, keiner der Mitbewohner könne auch nur eine Ahnung von dem romantischen Liebespaar haben.
Und von drei Häusern aus sei es möglich, unauffällig in das Atelier zu gelangen. – Sogar durch eine Falltüre gäbe es einen Zugang!
Ja, wenn man die eiserne Tür des Bodenraumes aufklinke – und das sei von drüben aus sehr leicht –, könne man an meiner Kammer vorbei zu den Stiegen unseres Hauses gelangen und diese als Ausgang benützen … Wieder klingt das fröhliche Lachen herüber und läßt in mir die undeutliche Erinnerung an eine luxuriöse Wohnung und an eine adlige Familie auftauchen, zu der ich oft gerufen wurde, um an kostbaren Altertümern kleine Ausbesserungen vorzunehmen.
Plötzlich höre ich nebenan einen gellenden Schrei. Ich horche erschreckt.
Die eiserne Bodentür klirrt heftig, und im nächsten Augenblick stürzt eine Dame in mein Zimmer.
Mit aufgelöstem Haar, weiß wie die Wand, einen goldenen Brokatstoff über die bloßen Schultern geworfen. »Meister Pernath, verbergen Sie mich – um Gottes Christi willen! –, fragen Sie nicht, verbergen Sie mich hier!«
Ehe ich noch antworten konnte, wurde meine Tür abermals aufgerissen und sofort wieder zugeschlagen.
Eine Sekunde lang hatte das Gesicht des Trödlers Aaron Wassertrum wie eine scheußliche Maske hereingegrinst.
Ein runder, leuchtender Fleck taucht vor mir auf, und im Schein des Mondlichtes erkenne ich wiederum das Fußende meines Bettes.
Noch liegt der Schlaf auf mir wie ein schwerer, wolliger Mantel, und der Name Pernath steht in goldenen Buchstaben vor meiner Erinnerung.
Wo nur habe ich diesen Namen gelesen? – Athanasius Pernath?
Ich glaube, ich glaube, vor langer, langer Zeit habe ich einmal irgendwo meinen Hut verwechselt, und ich wunderte mich damals, daß er mir so genau passe, wo ich doch eine höchst eigentümliche Kopfform habe.
Und ich sah in den fremden Hut hinein – damals und – – ja, ja, dort hatte es gestanden in goldenen Papierbuchstaben auf dem weißen Futter:
ATHANASIUS PERNATH
Ich hatte mich vor dem Hut gescheut und gefürchtet, ich wußte nicht warum.
Da fährt plötzlich die Stimme, die ich vergessen hatte und die immer von mir wissen wollte, wo der Stein ist, der wie Fett ausgesehen habe, auf mich los, gleich einem Pfeil.
Schnell male ich mir das scharfe, süßlich grinsende Profil der roten Rosina aus, und es gelingt mir auf diese Weise, dem Pfeil auszuweichen, der sich sogleich in der Finsternis verliert.
Ja, das Gesicht der Rosina!
Das ist doch noch stärker als die stumpfsinnig plappernde Stimme; und gar, wo ich jetzt gleich wieder in meinem Zimmer in der Hahnpaßgasse geborgen sein werde, kann ich ganz ruhig sein.
Wenn ich mich nicht getäuscht habe in der Empfindung, daß jemand in einem gewissen, gleichbleibenden Abstand hinter mir die Treppe heraufkommt, in der Absicht, mich zu besuchen, so muß er jetzt ungefähr auf dem letzten Stiegenabsatz stehen.
Jetzt biegt er um die Ecke, wo der Archivar Schemajah Hillel seine Wohnung hat, und kommt von den ausgetretenen Steinfliesen auf den Flur des oberen Stockwerkes, der mit roten Ziegeln ausgelegt ist.
Nun tastet er sich an der Wand entlang, und jetzt, gerade jetzt, muß er, mühsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem Türschild lesen.
Und ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und blickte zum Eingang.
Da öffnete sich die Türe, und er trat ein.
Nur wenige Schritte machte er auf mich zu und nahm weder den Hut ab, noch sagte er ein Wort der Begrüßung.
So benimmt er sich, wenn er zu Hause ist, fühlte ich, und ich fand es ganz selbstverständlich, daß er so und nicht anders handelte.
Er griff in die Tasche und nahm ein Buch heraus.
Dann blätterte er lange drin herum.
Der Umschlag des Buches war aus Metall, und die Vertiefungen in Form von Rosetten und Siegeln waren mit Farbe und kleinen Steinen ausgefüllt. Endlich hatte er die Stelle gefunden, die er suchte, und deutete darauf.
Das Kapitel hieß »Ibbur«, »die Seelenschwängerung«, entzifferte ich.
Das große, in Gold und Rot ausgeführte Initial »I« nahm fast die Hälfte der ganzen Seite ein, die ich unwillkürlich überflog, und war am Rande verletzt.
Ich sollte es ausbessern.
Das Initial war nicht auf das Pergament geklebt, wie ich es bisher in alten Büchern gesehen, schien vielmehr aus zwei Platten dünnen Goldes zu bestehen, die im Mittelpunkte zusammengelötet waren und mit den Enden um die Ränder des Pergaments griffen.
Also mußte, wo der Buchstabe stand, ein Loch in das Blatt geschnitten sein?
Wenn das der Fall war, mußte auf der nächsten Seite das »I« verkehrt stehen?
Ich blätterte um und fand meine Annahme bestätigt. Unwillkürlich las ich auch diese Seite durch und die gegenüberliegende.
Und ich las weiter und weiter.
Das Buch sprach zu mir, wie der Traum spricht, klarer nur und viel deutlicher. Und es rührte mein Herz an wie eine Frage.
Worte strömten aus einem unsichtbaren Munde, wurden lebendig und kamen auf mich zu. Sie drehten sich und wandten sich vor mir wie buntgekleidete Sklavinnen, sanken dann in den Boden oder verschwanden wie schillernder Dunst in der Luft und gaben der nächsten Raum. Jede hoffte eine kleine Weile, daß ich sie erwählen würde und auf den Anblick der Kommenden verzichten.
Manche waren unter ihnen, die gingen prunkend einher wie Pfauen, in schimmernden Gewändern, und ihre Schritte waren langsam und gemessen.
Manche wie Königinnen, doch gealtert und verlebt, die Augenlider gefärbt – mit dirnenhaftem Zug um den Mund und die Runzeln mit häßlicher Schminke verdeckt.
Ich sah an ihnen vorbei und nach den kommenden, und mein Blick glitt über lange Züge grauer Gestalten mit Gesichtern, so gewöhnlich und ausdrucksarm, daß es unmöglich schien, sie dem Gedächtnis einzuprägen.
Dann brachten sie ein Weib geschleppt, das war splitternackt und riesenhaft wie ein Erzkoloß.
Eine Sekunde blieb das Weib vor mir stehen und beugte sich nieder zu mir.
Ihre Wimpern waren so lang wie mein ganzer Körper, und sie deutete stumm auf den Puls ihrer linken Hand. Der schlug wie ein Erdbeben, und ich fühlte, es war das Leben einer ganzen Welt in ihr.
Aus der Ferne raste ein Korybantenzug heran.
Ein Mann und ein Weib umschlangen sich. Ich sah sie von weitem kommen, und immer näher brauste der Zug.
Jetzt hörte ich den hallenden Gesang der Verzückten dicht vor mir, und meine Augen suchten das verschlungene Paar.
Das aber hatte sich verwandelt in eine einzige Gestalt und saß, halb männlich, halb weiblich – ein Hermaphrodit –, auf einem Throne von Perlmutter.
Und die Krone des Hermaphroditen endete in ein Brett aus rotem Holz; darein hatte der Wurm der Zerstörung geheimnisvolle Runen genagt.
In einer Staubwolke kam eilig hinterdreingetrappelt eine Herde kleiner, blinder Schafe: die Futtertiere, die der gigantische Zwitter in seinem Gefolge führte, seine Korybantenschar am Leben zu erhalten.
Zuweilen waren unter den Gestalten, die aus dem unsichtbaren Munde strömten, etliche, die kamen aus Gräbern – Tücher vor dem Gesicht.
Und blieben sie vor mir stehen, ließen sie plötzlich ihre Hüllen fallen und starrten mit Raubtieraugen hungrig auf mein Herz, daß ein eisiger Schreck mir ins Hirn fuhr und sich mein Blut zurückstaute wie ein Strom, in den Felsblöcke vom Himmel herniedergefallen sind – plötzlich und mitten in sein Bette.
Eine Frau schwebte an mir vorbei. Ich sah ihr Antlitz nicht, sie wandte es ab, und sie trug einen Mantel aus fließenden Tränen. Maskenzüge tanzten vorüber, lachten und kümmerten sich nicht um mich.
Nur ein Pierrot sieht sich nachdenklich um nach mir und kehrt zurück. Pflanzt sich vor mich hin und blickt in mein Gesicht hinein, als sei es ein Spiegel.
Er schneidet so seltsame Grimassen, hebt und bewegt seine Arme, bald zögernd, bald blitzschnell, daß sich meiner ein gespenstiger Trieb bemächtigt, ihn nachzuahmen, mit den Augen zu zwinkern wie er, mit den Achseln zu zucken und die Mundwinkel zu verziehen.
Da stoßen ihn ungeduldig nachdrängende Gestalten zur Seite, die alle vor meine Blicke wollen.
Doch keines der Wesen hat Bestand.
Gleitende Perlen sind sie, auf eine Seidenschnur gereiht, die einzelnen Töne nur einer Melodie, die dem unsichtbaren Munde entströmen.
Das war kein Buch mehr, das zu mir sprach. Das war eine Stimme. Eine Stimme, die etwas von mir wollte, was ich nicht begriff, wie sehr ich mich auch abmühte. Die mich quälte mit brennenden, unverständlichen Fragen.
Die Stimme aber, die diese sichtbaren Worte redete, war abgestorben und ohne Widerhall.
Jeder Laut, der in der Welt der Gegenwart erklingt, hat viele Echos, wie jegliches Ding einen großen Schatten hat und viele kleine Schatten, doch diese Stimme hatte keine Echos mehr – lange, lange schon sind sie wohl verweht und verklungen –
Und bis zu Ende hatte ich das Buch gelesen und hielt es noch in den Händen, da war mir, als hätte ich suchend in meinem Gehirn geblättert und nicht in einem Buche! Alles, was mir die Stimme gesagt, hatte ich, seit ich lebte, in mir getragen, nur verdeckt war es gewesen und vergessen und hatte sich vor meinem Denken versteckt gehalten bis auf den heutigen Tag.
Ich blickte auf.
Wo war der Mann, der mir das Buch gebracht hatte? Fortgegangen?!
Wird er es holen, wenn es fertig ist?
Oder sollte ich es ihm bringen?
Aber ich konnte mich nicht erinnern, daß er gesagt hätte, wo er wohne.
Ich wollte mir seine Erscheinung ins Gedächtnis zurückrufen, doch es mißlang.
Wie war er nur gekleidet gewesen? War er alt, war er jung? – und welche Farben hatten sein Haar und sein Bart gehabt?
Nichts, gar nichts mehr konnte ich mir vorstellen. – Alle Bilder, die ich mir von ihm schuf, zerrannen haltlos, noch ehe ich sie im Geiste zusammenzusetzen vermochte.
Ich schloß die Augen und preßte die Hand auf die Lider, um einen winzigen Teil nur seines Bildnisses zu erhaschen.
Nichts, nichts.
Ich stellte mich hin, mitten ins Zimmer, und blickte auf die Tür, wie ich es getan – vorhin, als er gekommen war –, und malte mir aus: Jetzt biegt er um die Ecke, jetzt schreitet er über den Ziegelsteinboden, liest jetzt draußen mein Türschild »Athanasius Pernath«, und jetzt tritt er herein. – Vergebens.
Nicht die leiseste Spur einer Erinnerung, wie seine Gestalt ausgesehen, wollte in mir erwachen.
Ich sah das Buch auf dem Tische liegen und wünschte mir im Geiste die Hand dazu, die es aus der Tasche gezogen und mir gereicht hatte.
Nicht einmal, ob sie einen Handschuh getragen, ob sie entblößt gewesen, ob jung oder runzlig, mit Ringen geschmückt oder nicht, konnte ich mich entsinnen.
Da kam mir ein seltsamer Einfall.
Wie eine Eingebung war es, der man nicht widerstehen darf.
Ich zog meinen Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus auf den Gang und die Treppen hinab. Dann kam ich langsam wieder zurück in mein Zimmer. Langsam, ganz langsam, so wie er, als er gekommen war. Und als ich die Tür öffnete, da sah ich, daß meine Kammer voll Dämmerung lag. War es denn nicht heller Tag noch gewesen, als ich soeben hinausging?
Wie lange mußte ich da gegrübelt haben, daß ich nicht bemerkte, wie spät es ist!
Und ich versuchte, den Unbekannten nachzuahmen in Gang und Mienen, und konnte mich an sie doch gar nicht erinnern.
Wie sollte es mir auch glücken, ihn nachzuahmen, wenn ich keinen Anhaltspunkt mehr hatte, wie er ausgesehen haben mochte!
Aber es kam anders. Ganz anders, als ich dachte.
Meine Haut, meine Muskeln, mein Körper erinnerten sich plötzlich, ohne es dem Gehirn zu verraten. Sie machten Bewegungen, die ich nicht wünschte und nicht beabsichtigte. Als ob meine Glieder nicht mehr mir gehörten! Mit einem Male war mein Gang tappend und fremdartig geworden, als ich ein paar Schritte im Zimmer machte. Das ist der Gang eines Menschen, der beständig im Begriffe ist, vornüber zu fallen, sagte ich mir.
Ja, ja, ja, so war sein Gang!
Ganz deutlich wußte ich: So ist er.
Ich trug ein fremdes, bartloses Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen und schaute aus schrägstehenden Augen.
Ich fühlte es und konnte mich doch nicht sehen.
Das ist nicht mein Gesicht, wollte ich entsetzt aufschreien, wollte es betasten, doch meine Hand folgte meinem Willen nicht und senkte sich in die Tasche und holte ein Buch hervor.
Ganz so, wie er es vorhin getan hatte –
Da plötzlich sitze ich wieder ohne Hut, ohne Mantel am Tische und bin ich. Ich, ich.
Athanasius Pernath.
Grausen und Entsetzen schüttelten mich, mein Herz raste zum Zerspringen, und ich fühlte: gespenstische Finger, die soeben noch in meinem Gehirn herumgetastet, haben von mir abgelassen.
Noch spürte ich im Hinterkopf die kalten Spuren ihrer Berührung.
Nun wußte ich, wie der Fremde war, und ich hätte ihn wieder in mir fühlen können – jeden Augenblick –, wenn ich nur gewollt hätte; aber sein Bild mir vorzustellen, daß ich es vor mir sehen würde Auge in Auge – das vermochte ich noch immer nicht und werde es auch nie können.
Er ist wie ein Negativ, eine unsichtbare Hohlform, erkannte ich, deren Linien ich nicht erfassen kann – in die ich selber hineinschlüpfen muß, wenn ich mir ihrer Gestalt und ihres Ausdrucks im eigenen Ich bewußt werden will –
In der Schublade meines Tisches stand eine eiserne Kassette; in diese wollte ich das Buch sperren und erst, wenn der Zustand der geistigen Krankheit von mir gewichen sein würde, wollte ich es wieder hervorholen und an die Ausbesserung des zerbrochenen Initials »I« gehen.
Und ich nahm das Buch vom Tisch.
Da war mir, als hätte ich es gar nicht angefaßt; ich griff die Kassette an: dasselbe Gefühl. Als müßte das Tastempfinden eine lange, lange Strecke voll tiefer Dunkelheit durchlaufen, ehe es in meinem Bewußtsein mündete, als seien die Dinge durch eine jahresgroße Zeitschicht von mir entfernt und gehörten einer Vergangenheit an, die längst an mir vorübergezogen!
Die Stimme, die nach mir suchend in der Finsternis kreist, um mich mit dem fettigen Stein zu quälen, ist an mir vorbeigekommen und hat mich nicht gesehen. Und ich weiß, daß sie aus dem Reiche des Schlafes stammt. Aber was ich erlebt, das war wirkliches Leben – darum konnte sie mich nicht sehen und sucht vergeblich nach mir, fühle ich.
Neben mir stand der Student Charousek, den Kragen seines dünnen, fadenscheinigen Überziehers aufgeschlagen, und ich hörte, wie ihm vor Kälte die Zähne aufeinanderschlugen.
Er kann sich den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen, sagte ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hinüber in meine Wohnung zu kommen.
Er aber lehnte ab.
»Ich danke Ihnen, Meister Pernath«, murmelte er fröstelnd, »leider habe ich nicht mehr so viel Zeit übrig; ich muß eilends in die Stadt. – Auch würden wir bis auf die Haut naß, wenn wir jetzt auf die Gasse treten wollten – schon nach wenigen Schritten! Der Platzregen will nicht schwächer werden!«
Die Wasserschauer fegten über die Dächer hin und liefen an den Gesichtern der Häuser herunter wie ein Tränenstrom.
Wenn ich den Kopf ein wenig vorbog, konnte ich da drüben im vierten Stock mein Fenster sehen, das, vom Regen überrieselt, aussah, als seien seine Scheiben aufgeweicht – undurchsichtig und höckerig geworden wie Hausenblase.
Ein gelber Schmutzbach floß die Gasse herab, und der Torbogen füllte sich mit Vorübergehenden, die alle das Nachlassen des Unwetters abwarten wollten.
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