Des deutschen Spießers Wunderhorn - Gustav Meyrink - E-Book

Des deutschen Spießers Wunderhorn E-Book

Gustav Meyrink

4,9

Beschreibung

"Was muss man nicht alles tun, wenn man nun schon einmal unter Orang-Utans leben muss?" Meyrink, Des deutschen Spießers Wunderhorn Mit beißender Ironie widmet sich Gustav Meyrink in der Novellensammlung "Des deutschen Spießers Wunderhorn" den Auswüchsen der Gesellschaft seiner Zeit. Seine Kritik an unterschiedlichsten sozialen Schichten macht deutlich, dass sich seine Genialität nicht nur im Genre des Phantastischen und des Übersinnlichen bewegt. Zwar trifft der Leser auch im "Wunderhorn" auf beide Elemente, die Meyrink späterhin am meisten ausmachen, doch soll er hier weniger den Schatten und den Nebel fremder Realitäten fürchten und erleben, sondern vielmehr die Absurditäten des Menschseins. Wie bereits im "Golem", dem ersten Band unserer kommentierten Meyrink-Ausgabe, ist auch in "Des deutschen Spießers Wunderhorn" häufig die Stadt Prag Schauplatz des oft absurden, hin und wieder unheimlich-übersinnlich anmutenden Geschehens seiner aus Parodien, Satiren und Kurzgeschichten bestehenden Novellensammlung. Meyrink zeigt sich hier deutlich lebensnah und doch gleichzeitig über der Lebenswelt schwebend, deren dunkle Ecken und Nischen aufdeckend und verlachend, während die eine Hand doch mahnend den Zeigefinger hebt. Denn der Spießer jeglicher sozialer Schichten betrügt sich selbst, indem er mehr den Schein als das Sein lebt, was auf Dauer nicht gut gehen kann.

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Gustav Meyrink

(eigentlich Gustav Meyer) kam am 19. Januar 1868 als unehelicher Sohn eines württembergischen Staatsministers in Wien zur Welt. Nach der Aufgabe seiner geschäftsführenden Tätigkeit in einem Prager Bank- und Wechselgeschäft lebte er ab 1905 als freier Schriftsteller in München. Meyrink gilt vor allem für seine Romane »Der Golem«, »Das grüne Gesicht« und »Der weiße Dominikaner« als absoluter Klassiker der phantastischen Literatur. Er starb 1932 in Starnberg.

Prof. Dr. Marco Frenschkowski, geb. 1960, ist Professor für Evangelische Theologie an der Universität Leipzig (Neues Testament). Als Religionswissenschaftler hat er zahlreiche Bücher und Studien zu antiker und moderner Religion publiziert. Außerdem ist er Herausgeber von kommentierten Ausgaben klassischer phantastischer und imaginativer Literatur. Im marixverlag sind von ihm u. a. erschienen: »Heilige Schriften«, »Die Hexen«, »Mysterien des Urchristentums«; dazu zahlreiche Herausgeberschaften, u. a. zu: »Die magischen Werke« von Agrippa von Nettesheim, James Webbs »Die Flucht vor der Vernunft« und »Das Zeitalter des Irrationalen«.

Zum Buch

»Was muss man nicht alles tun, wenn man nun schon einmal unter Orang-Utans leben muss?«

Meyrink,Des deutschen Spießers Wunderhorn

Mit beißender Ironie widmet sich Gustav Meyrink in der Novellensammlung »Des deutschen Spießers Wunderhorn« den Auswüchsen der Gesellschaft seiner Zeit. Seine Kritik an unterschiedlichsten sozialen Schichten macht deutlich, dass sich seine Genialität nicht nur im Genre des Phantastischen und des Übersinnlichen bewegt. Zwar trifft der Leser auch im »Wunderhorn« auf beide Elemente, die Meyrink späterhin am meisten ausmachen, doch soll er hier weniger den Schatten und den Nebel fremder Realitäten fürchten und erleben, sondern vielmehr die Absurditäten des Menschseins.

Wie bereits im »Golem«, dem ersten Band unserer kommentierten Meyrink-Ausgabe, ist auch in »Des deutschen Spießers Wunderhorn« häufig die Stadt Prag Schauplatz des oft absurden, hin und wieder unheimlich-übersinnlich anmutenden Geschehens seiner aus Parodien, Satiren und Kurzgeschichten bestehenden Novellensammlung. Meyrink zeigt sich hier deutlich lebensnah und doch gleichzeitig über der Lebenswelt schwebend, deren dunkle Ecken und Nischen aufdeckend und verlachend, während die eine Hand doch mahnend den Zeigefinger hebt. Denn der Spießer jeglicher sozialer Schichten betrügt sich selbst, indem er mehr den Schein als das Sein lebt, was auf Dauer nicht gut gehen kann.

Gustav Meyrink

Des deutschen Spießers Wunderhorn

Gustav Meyrink

Des deutschen SpießersWunderhorn

Herausgegebenvon Marco Frenschkowski

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

Gesammelte Werke

Band 2

© by marixverlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2014

Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014

Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH

Hamburg Berlin

Bildnachweis: Filmstill »Der Untertan« © by akg-images GmbH, Berlin

eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0469-1

www.verlagshaus-roemerweg.de/Marix/

»Ich gebe lieber ganz offen zu,daß ich ein verkommener Mensch bin,der kein Interesse an den Dingen hat,die die Nation mit Stolz erfüllen.«

»Wahrhaftiglich, ohne Betrug und gewiß, ich sage dir:so wie es unten ist, ist es auch oben.«

INHALT

DAS AUTOMOBIL

DAS DICKE WASSER

DER OPAL

DAS GEHEIMNIS DES SCHLOSSES HATHAWAY

DAS WILDSCHWEIN VERONIKA

IZZI PIZZI

DIE ERSTÜRMUNG VON SERAJEWO

BAL MACABRE

HONY SOIT QUI MAL Y PENSE

BLAMOL

DER SATURNRING

DAS GEHIRN

DER BUDDHA IST MEINE ZUFLUCHT

DIE WEISHEIT DES BRAHMANEN

DAS WACHSFIGURENKABINETT

SCHÖPSOGLOBIN

BOLOGNESER TRÄNEN

DER MANN AUF DER FLASCHE

WOZU DIENT EIGENTLICH WEISSER HUNDEDRECK?

TSCHITRAKARNA, DAS VORNEHME KAMEL

DIE URNE VON ST. GINGOLPH

DR. LEDERER

DAS PRÄPARAT

DAS BUCH HIOPP

COAGULUM

»DAS GANZE SEIN IST FLAMMEND LEID«

DER TOD DES SELCHERS SCHMEL

HILLIGENLEI

»KRANK«

DAS VERDUNSTETE GEHIRN

TUT SICH – MACHT SICH – PRINZESS

DAS FIEBER

DER HEISSE SOLDAT

DIE PFLANZEN DES DR. CINDERELLA

MONTREUX

PRAG

DER ALBINO

DAS – ALLERDINGS

CHIMÄRE

DIE GESCHICHTE VOM LÖWEN ALOIS

OHRENSAUSEN

DER VIOLETTE TOD

PETROLEUM, PETROLEUM

DIE KÖNIGIN UNTER DEN BREGEN

DER WAHRHEITSTROPFEN

BOCKSÄURE

DIE SCHWARZE KUGEL

DER SCHRECKEN

DER FLUCH DER KRÖTE – FLUCH DER KRÖTE

DER UNTERGANG

JÖRN UHL

EINE SUGGESTION

G. M.

HINTER DER WIRKLICHKEIT: SATIRE UND MYSTIK BEI GUSTAV MEYRINK

NACHWORT VON MARCO FRENSCHKOWSKI

DAS AUTOMOBIL

»Sie erinnern sich meiner wohl gar nicht mehr, Herr Professor?! Zimt ist mein Name, Tarquinius Zimt; vor wenigen Jahren noch war ich Ihr Schüler in Physik und Mathematik –«

Der Gelehrte drehte die Visitenkarte unschlüssig hin und her und heuchelte verlegen eine Miene des Wiedererkennens.

»– und da ich gerade durch Greifswald komme, wollte ich die Gelegenheit, Ihnen einen Besuch abstatten zu können, nicht versäumen –«

(Einige Minuten verstrichen in peinlichem Stillschweigen.) »– – ehüm – – – nicht versäumen …«

Mißbilligend musterte der Professor den Lederanzug des jungen Mannes. »Sie sind wohl Walfischfänger?« fragte er mit leisem Spott und tippte seinem Besuch auf den Ärmel. »Nein, Automobilist; ich selbst habe die bekannte Automobilmarke ›Zimt‹ – – –«

»Also Schauspieler!« unterbrach ungeduldig der Gelehrte; »aber weshalb haben Sie da früher Physik und Mathematik studiert? Wohl umgesattelt, junger Freund, umgesattelt!? Nun sehen Sie!«

»Aber keineswegs, Herr Professor, keineswegs. Im Gegenteil. Sozusagen im Gegenteil! Ich bin Konstrukteur von Automobilen, – – von Motoren, – von Benzinmotoren, – Ingenieur – –!«

»Ah, Sie stellen die Phantasiebilder für die Kinematographen zusammen, ich verstehe. Aber das kann man doch nicht Ingenieur nennen!«

»Nein, nein, ich baue selber Automobile. Oder Kraftfahrzeuge, wenn Ihnen dieses Wort lieber ist. Wir verkaufen jährlich bereits – – –«

»Ich darf beide Namen, mein lieber Herr Zimt, Automobil und Kraftfahrzeug, nicht gelten lassen, denn weder kann so eine Maschine sich vom Fleck fortbewegen – diese Bedeutung soll doch wohl im Worte Automobil liegen –, noch ist aus demselben Grunde der Ausdruck Fahrzeug zulässig«, sagte der Gelehrte.

»Wie meinen Sie das: ›kann sich nicht vom Fleck fortbewegen‹? Vielleicht nur noch zehn Jahre, und wir werden überhaupt kein anderes Landfuhrwerk mehr bentzen. Fabrik um Fabrik wächst aus dem Boden, und wenn es auch vielleicht in Greifswald noch kein Automobil gibt, so – – –«

»Sie sind ein Phantast, junger Mann, und verlieren den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen! Frönen Sie wohl gar dem Spiritismus? In der Tat wohl das bedauerlichste Zeichen unserer Zeit, immer wieder das Gespenst des Perpetuum mobile unerfreulicherweise sein häßliches Haupt erheben sehen zu müssen. Rein als ob die Lehrsätze der Physik gar nicht existierten. Traurig, fürwahr sehr traurig! Und auch Sie, obschon noch vor wenigen Jahren mein Schüler, konnten den klaren, besonnenen Weg unserer Wissenschaft verleugnen, um den schwülen Fieberphantasien roher, gedankenloser Empirie nachzujagen! Nun ja, mag wohl das heutige Treiben der Großstadt erschlaffend auf die Denkkraft unserer Jugend wirken, aber bis zum krassen Aberglauben, bis zur Wahnidee, man könnte mittels Benzinmotoren einen Wagen von der Stelle bewegen, ist denn doch ein gewaltiger Schritt. So sollte man wenigstens glauben!« Und erregt putzte der Gelehrte seine Brillengläser.

Tarquinius Zimt war fassungslos.

»Aber um Gottes willen! Herr Professor! Sie werden doch nicht die Existenz der Motorwagen leugnen wollen. Heute, wo bereits viele Tausende im Verkehr sind! Wo jeder Monat eine Neuerung brachte. Ich selber bin doch mit meinem Automobil, einem fünfzigpferdekräftigen ›Zimt‹, den ich selber konstruiert und gebaut habe, von Florenz hierher gefahren! – Wenn Sie einen Blick aus dem Fenster werfen wollen, können Sie es vor dem Haustor stehen sehen. Um Gottes willen! Ich sage nur: um Gottes willen!«

»Junger Freund, omnia mea mecum porto, wie der Lateiner so trefflich sagt. Ich sehe keinen zureichenden Grund, aus dem Fenster zu blicken; und weshalb auch – trage ich doch den alles umfassenden mathematischen Verstand stets in mir. – Dem schwankenden Boden der Sinneswahrnehmung sich anvertrauen? Sagt mir nicht mehr – mehr, als die Sinne je vermögen – die schlichte Formel, die jedes unmündige Schulkind begreift, – gewiß sind Sie ihrer noch aus der Studienzeit froh eingedenk! – die Formel:

und so weiter! Nun sehen Sie!«

»Das hilft nun aber alles nichts«, antwortete gereizt der Ingenieur, »denn ich selber bin mit meinem Automobil von Florenz bis Greifswald – bis vor Ihr Haus gefahren!«

»– und wenn selbst die zitierte Formel nicht wäre«, fuhr der Gelehrte unbeirrt fort, »deren Ergebnis hinsichtlich des sogenannten zylindrischen Zapfens gewiß das noch günstigst zulässige ist, indem die mit der Verminderung des Umschlingungsbogens der Lagerschale verknüpfte Steigerung der Flächenpressung nicht auf eine Erhöhung von µ hinwirkt und, insoweit sie überhaupt zulässig erscheint,

den Aufwand zur Überwindung der Reibung bei

verringert, gäbe es noch eine Reihe wirksamer Einwürfe, deren jeder einzelne die reine Möglichkeit denkbaren Gelingens – –«

»Aber um Gottes willen, Herr Professor – –«

»Pardon! – – – die reine Möglichkeit denkbaren Gelingens in überaus in die Augen springender Weise entkräften müßte. Wie könnte es, um laienhaft zu sprechen, beispielsweise in den Bereich mechanischer Möglichkeiten verlegt werden, der durch die schnell aufeinanderfolgenden Benzingasgemischexplosionen in den Zylindern a, b, c, d stets anwachsenden beträchtlichen Erhitzung und hierdurch resultierenden Ausdehnung und wiederum hieraus sich ergebenden Anpressung an die Zylinderwände bis zur Unbeweglichkeit des metallischen Kolbenmaterials anders als durch immerwährende großmengige Zufuhr behufs ausreichender Kühlung stets neu zu beschaffenden Wasserquantitäten, was wiederum angesichts des verkehrten Verhältnisses des Gewichtes zum Krafteffekte des Motors das Resultat des Versuches im negativen Sinne klar zutage treten läßt, vorzubeugen? – Fassen wir ferner – – –«

»Ich bin von Florenz bis Greifswald gefahren –«, warf verbissen der andere ein.

»– – fassen wir ferner unter Zugrundelegung der Formel:

ins Auge, daß durch Erzitterungen und sonstige der Ruhe des Ganges nachteilige Schwingungen infolge ihrer eigenartigen zur Wachrufung von Massenkräften unliebsame Veranlassung gebende Bewegungen von Maschinenteilen, in diesen, seien sie auch elastisch, fortgesetzt Formveränderungen vor sich gehen müssen, so ergibt sich – – –«

»Ich bin aber dennoch von Florenz bis Greifswald gefahren!«

»– – – Formveränderungen vor sich gehen müssen, so ergibt sich – – –«

»Ich – bin – aber – von – Florenz bis Greifswald ge–fah–ren!«

Der Gelehrte warf einen verweisenden Blick über seine Brille auf den Sprecher. »Es könnte mich nichts hindern – gestützt auf zwingende mathematische Formeln – meinem Zweifel an Ihren Aussagen mit direkten Worten Ausdruck zu verleihen, doch ziehe ich es vor, nach Art der alten Griechen lieber alles Verletzende zu vermeiden, und will bloß, wie schon Parmenides, hervorheben, daß es dem Weisen nicht zukommt, seinen eigenen Sinnen, geschweige denn denen eines Fremden irgendwelche Beweiskraft einzuräumen.«

Tarquinius Zimt dachte einen Augenblick nach, dann griff er in die Tasche und reichte dem Professor schweigend einige Photographien.

Dieser betrachtete sie nur flüchtig und sagte:

»Nun, und Sie glauben, junger Freund, durch derlei Lichtbilder von scheinbar in Fahrt befindlichen Automobilen die Gesetze der Mechanik in Mißkredit bringen zu können!? – Ich erinnere nur der Ähnlichkeit der Fälle wegen an die Abbildungen animistischer Phänomene durch Crookes, Lombroso, Ochorowicz, Mendelejeff! Wie genau versteht man heutzutage solche Photographien durch allerlei Kunstgriffe hinsichtlich des wahren Tatbestandes täuschend zu gestalten. Im übrigen, wußte nicht schon Heraklit, daß nach den Gesetzen der Logik ein abgeschossener Pfeil auf jedem mathematischen Punkte seiner Flugbahn sich in vollkommener Ruhe befindet? Nun, sehen Sie! Und mehr als das – im übertragenen Sinne – können auch im besten Falle Ihre Lichtbilder nicht beweisen.«

In den Augen des Ingenieurs glomm eine tückische Freude. »Gewiß werden Sie mir als Ihrem ehemaligen, Sie so sehr bewundernden Schüler, hochgeehrter Herr Professor, die Bitte aber nicht abschlagen«, sagte er mit heuchlerischer Miene, »mein vor Ihrem Hause stehendes Automobil wenigstens anzusehen?«

Der Gelehrte nickte gütig, und beide begaben sich auf die Straße.

Eine Menge Menschen umstand den Wagen.

Tarquinius Zimt zwinkerte seinem Chauffeur zu. »Ignaz! Der Herr Professor möchte unser Automobil besichtigen, zeigen Sie doch mal die Maschine.«

Der Mechaniker, in der Meinung, es handle sich um einen Verkauf des Wagens, begann eine Lobeshymne:

»Hundertfünfzig Kilometer können wir mit unserem ›Zimt‹ machen, und von Florenz bis her haben wir nicht einen einzigen Defekt gehabt. Wir fahren – –«

»Lassen Sie das nur, guter Mann«, wehrte der Professor überlegen lächelnd ab.

Der Chauffeur klappte die Haube des Motors auf, daß die Maschine frei lag, und erklärte die Bestandteile.

»Wie bringen Sie, Herr Professor«, fragte Tarquinius Zimt mit verhaltenem Spott, »eigentlich die Tatsache, daß heute von den Fabriken Daimler, Benz, Dürkopp, Opel, Brasier, Panhard, Fiat und so weiter und so weiter Tausende solcher Wagen gebaut werden, mit Ihrer Behauptung, die Maschinen könnten unmöglich funktionieren, in Einklang? Übrigens, Ignaz, lassen Sie den Motor angehen!«

»In Einklang? Junger Freund, ich bin lediglich Fachgelehrter, und so interessant die Lösung dieser Frage einem Psychologen dünken mag, so wenig, ich muß es gestehen, liegt es mir zu wissen am Herzen, aus welchen Gründen wohl diese Fabriken solch anscheinend müßiger Beschäftigung frönen mögen.«

Das Schwirren des leerlaufenden Motors unterbrach die Rede des Professors. Die Menschenmenge wich einen Schritt zurück.

Tarquinius Zimt grinste. »Also Sie glauben noch immer nicht, daß der Wagen fahren wird, Herr Professor? Ich brauche nur diesen Hebel anzuziehen, die Kuppelung setzt ein, und das Automobil saust mit hundertfünfzig Kilometer Geschwindigkeit dahin.« –

Der Gelehrte lächelte mild. »Oh, Sie jugendlicher Schwärmer! Nichts dergleichen kann sich ereignen. Unter dem Drucke der Explosion – die Festigkeit der Kuppelung vorausgesetzt – werden vielmehr augenblicklich die Zylinder a, b und d springen. Mutmaßlich bleibt hingegen der Zylinder c unversehrt nach der Formel – nach der Formel – wie lautet sie doch nur! – nach der Formel – – –«

»Los«, jauchzte Zimt, »los! Fahren Sie los, Ignaz!«

Der Chauffeur zog den Hebel an.

Da! – Ein lauter, dreifacher Knall – und die Maschine steht still!

Tumult!

Ignaz springt aus dem Wagen. Lange Untersuchung. Da! die Zylinder eins, zwei und vier sind geborsten! Geborsten in einer Weise, wie niemals Zylinder, und wenn Nitroglyzerin in ihnen gewesen wäre, bersten können.

Mit glanzlosem Blick starrt der Professor ins Weite, seine Lippen bewegen sich murmelnd: »Warten Sie, nach der Formel – – nach der Formel – –«

Zimt faßt ihn am Arm und schüttelt ihn, – er weint fast vor Wut. »Es ist unerhört, unglaublich; seit es ein Automobil gibt, ist so etwas noch nicht vorgekommen. Es ist hirnverbrannt. Zum Verstandverlieren. Ich telegraphiere sofort um Ersatzzylinder. – Das geht so nicht, Sie müssen sich mit eigenen Augen hier überzeugen, Sie müssen!«

Ärgerlich reißt sich der Gelehrte los: »Junger Mann, das geht zu weit, Sie vergessen sich. – Glauben Sie wirklich, ich hätte Zeit übrig, Ihren kindischen Versuchen ein zweitesmal beizuwohnen! Sind Sie denn noch immer nicht überzeugt? Danken Sie lieber Ihrem Schöpfer, daß es nicht ärger ausfiel; Maschinen lassen nicht mit sich spaßen. Nun sehen Sie! –«

Und er eilt ins Haus.

Noch einmal dreht er sich im Tor um, erhebt abweisend den Finger und ruft zürnend zurück:

»Sunt pueri pueri pueri puerilia tractant.«

Erstveröffentlichung: Simplicissimus 12. Jg. Nr. 11, »Autonummer« vom 10. 6. 1907, S. 165 u. 179. Eine Satire aus den ersten Tagen des Automobils. Meyrink selbst hatte sich ja Anfang des 20. Jhdts. als Verkäufer von Automobilen in Prag versucht. Nebenbei werden allerlei reale Persönlichkeiten der entstehenden Parapsychologie in der Erzählung vorgestellt. Die Satire richtet sich wie oft bei Meyrink gegen ein totes Autoritätswissen, das durch Erfahrung widerlegt werden könnte – mit einer humoristischen Wendung. Das lateinische Schlusszitat ist ein Sprichwort unklarer Herkunft: »Knaben sind Knaben, und Knaben treiben (eben) Knabenhaftes (Kindereien)«.

DAS DICKE WASSER

Im Ruderklub »Clia« herrschte brausender Jubel. Rudi, genannt der Sulzfisch, der zweite »Bug«, hatte sich überreden lassen und sein Mitwirken zugesagt. – Nun war der »Achter« komplett. – Gott sei Dank. –

Und Pepi Staudacher, der berühmte Steuermann, hielt eine schwungvolle Rede über das Geheimnis des englischen Schlages und toastierte auf den blauen Donaustrand und den alten Stefansturm (duliö, duliö). Dann schritt er feierlich von einem Ruderer zum andern, jedem das Trainingsehrenwort – vorerst das kleine – abzunehmen.

Was da alles verboten wurde, es war zum Staunen! Staudacher, für den als Steuermann all dies keinerlei Geltung hatte, wußte es auswendig: »Erstens nicht rauchen, zweitens nicht trinken, drittens keinen Kaffee, viertens keinen Pfeffer, fünftens kein Salz, sechstens – – siebtens – – – achtens – – –, und vor allem keine Liebe, – hören Sie, – keine Liebe! – weder praktische noch theoretische –!« Die anwesenden Klubjungfrauen sanken um einen halben Kopf zusammen, weil sie die Beine ausstrecken mußten, um ihren Freundinnen vis-a-vis bedeutungsvolle Fußtritte unter dem Tisch zu versetzen.

Der schöne Rudi schwellte die Heldenbrust und stieß drei schwere Seufzer aus, die anderen schrien wild nach Bier, der kommenden schrecklichen Tage gedenkend. –

»Eine Stunde noch, meine Herren, heute ausnahmsweise, dann ins Bett, und von morgen an schläft die Mannschaft im Bootshause.«

»Mhm«, brummte bestätigend der Schlagmann, trank aus und ging. »Ja, ja, der nimmt’s ernst«, sagten alle bewundernd. –

Spät in der Nacht traf ihn die heimkehrende Mannschaft zwar Arm in Arm mit einer auffallend gekleideten Dame in der Bretzelgasse, aber es konnte ja gerade so gut seine Schwester sein. – Wer kann denn in der Dunkelheit eine anständige Dame von einer Infektioneuse unterscheiden!

Der »Achter« kam dahergesaust, die Rollsitze schnarchten, die schweren Ruderschläge dröhnten über das grüne, klare Wasser.

»Jetzt kommt der Endspurt, da schauen S’, da schauen S’!« »Eins, zwei, drei, vier, fünf – aha – ein vierundvierziger!«

Staudachers Kommandogeheul ertönte: »Achtung, stop. Achter, Sechser: zum Streichen! Einser, Dreier: fort. – Ha – alt!«

Die Mannschaft stieg aus, keuchend, schweißbedeckt. –

»Da schauen S’ den Nummer drei, die Pratzen! Wie junge Reisetaschen, was? Überhaupt die Steuerbordseiten is gut beisamm’. – Der beste Mann im Boot ist halt doch Nummer sieben. – Ja, ja, unser Siebener. Gelt, Wastl, ha, ha.« »No, und die Haxn von Nummer acht san gar nix, was?« »Wissen S’, wievüll mür heut g’fahrn san, Herr von Borgenheld?« wandte sich Sebastian Kurzweil, der zweite Schlagmann an den Vizeobmann, der verständnislos dem Herausheben des vierzehn Meter langen, einem Haifisch gleichenden Achtriemers zusah.

»Dreimal«, riet der Vizeobmann.

»Wie vüll, sag’ ich«, brüllte Kurzweil.

»Fünfmal«, stotterte erschreckt Herr von Borgenheld. »Himmelsakra!« – der Ruderer schüttelte den Arm.

»Er meint: – ›wie lang‹«, warf ein Junior ein, der schüchtern dabei stand und einen schmutzigen Fetzen in der Hand hielt.

»Ach so! – Fünf Kilometer!«

Die Mannschaft machte Miene, sich auf Herrn von Borgenheld zu stürzen. Sie hätten ihn zerrissen, da rief sie eine Serie rätselhafter Kommandos wieder an das Boot: »Mann an Rigger, – aufff – auf mich (prschsch – da lief das Wasser aus dem umgewendeten Boot) – schwen–ken, – fort!« – Und acht rot-weiß und spärlich bekleidete Gestalten, ohne Strümpfe und mit phantastischem Schuhwerk hantierten an dem Boot herum und schleppten es mit tiefem Ernst in den Schuppen. –

»No, raten Sie jetzt!« und der Steuermann schwenkte eine silberne Taschenuhr an einem roten Strick hin und her. »Also wie viel?« – Der Vizeobmann mochte aber nicht mehr. Staudacher zündete sich eine Virginia an, denn ein echter Steuermann muß gewissenhaft alles tun, was gesundheitsschädlich ist, um leichter zu werden.

»Also raten Sie, Herr Dr. Hecht!«

»Füglich – äh – füglich – soll man die ›Zeit‹, geheim halten«, näselte dieser fachgewandt und zwinkerte nervös mit den Augenlidern.

»No, dann schauen Sie selbst«, sagte Staudacher. Alle beugten sich vor.

»5 Minuten 32 Sekunden«, kreischte der Junior und schwenkte den schmutzigen Fetzen über dem Kopf.

»Jawohl 5 : 32! – Wissen Sie, was das heißt, meine Herren, 5 : 32 für 2000 Meter, – stehendes Wasser, ich bitte!«

»Fünfi zwoaradreiß’g, fünfi zwoaradreiß’g«, brüllte Kurzweil, der jetzt splitternackt auf der Terrasse des Bootshauses stand, wie ein Stier herunter.

Eine wilde Begeisterung ergriff alle Mitglieder.

5 : 32!! –

Sogar der Obmann Schön machte einen dicken Hals und meinte, daß man selbst seinerzeit in Zürich, im Seeklub, keine bessere Zeit gefahren sei.

»Jawohl, 5 : 32! Und kennen Sie auch den Hamburger Rekord im Training?« fuhr Staudacher fort. – – »6 Minuten 2 Sekunden!! bei Windstille, – – mir hat es ein Freund telegraphiert. – – 6 : 2! – – –! und wissen Sie auch, was 30 Sekunden Differenz sind? 11 Längen – klare Längen, – jawohl!«

»Sie, Ihre Zeit kann absolut nich stimm’«, wandte sich ein Berliner Ruderer, der als Gast zugegen war, an Staudacher, »sehen Se mal, der englische Professionalrekord is 5 : 55, da wären Sie ja um 23 Sekunden besser. Nu, hören Se mal! – Überhaupt die Wiener ›Zeiten‹ sind verflucht verdächtig, – vielleicht jehen Ihre Stoppuhren falsch!«

»Schauen S’, daß S’ weiter kommen, Sö – fünfifünfafufz’g Sö, – setzen S’ ös in d’ Lotterie dö fünfifünfafufz’g. Haben S’ überhaupt an Idee – bereits – – was mür Weana für a Kraft hab’n«, höhnte Kurzweil von der Terrasse, dann hob er die Arme und brüllte, wie weiland Ares im trojanischen Krieg, daß es durch die Erlenwäldchen an den Ufern des Donaukanals gellte.

»Hören Se doch nu endlich mit dem Jebrülle auf – Sie da oben, – oder wollen Se vielleicht ’n dreibänd’ges Buch über planloses Jeschrei herausjeben!« rief der Berliner ärgerlich.

»Pst, pst – nur keinen Streit«, besänftigte Staudacher. – »Übrigens, meine Herren, – ich nehme heute schon die Glückwünsche zu unserem künftigen großen Siege in Hamburg entgegen. – Meine Herren, auf diesen Sieg –, meine Herren – hipp – hipp – –«

Die harmonischen Töne einer Drehorgel schnitten ihm die Worte ab – einen Augenblick Totenstille, dann rhythmisches Trampeln im Ankleideraum der Mannschaft, und alle stimmten begeistert mit ein in das Lied:

»Dös is wos für’n Weana,

Für a wean’risches Bluat,

Wos a wean’rischer Walzer

An ’m Weana all’s tuat …«

Der Ausschuß des Klubs war auf dem Bahnhof versammelt und wartete auf die aus Hamburg heimkehrende Mannschaft in größter Erregung, denn in den Morgenblättern war ein schreckliches Telegramm abgedruckt gewesen:

»Sehen Se wohl, was hab ich jesagt«, höhnte der Berliner, der schon eine Stunde auf dem Perron wartete, »jerade ne janze Minute schlechtere Zeit als anjeblich hier im Training.«

»Ja, es ist schrecklich fatal«, lispelte der Obmann, »und wir haben schon gestern Einladungen zum Siegesfest verschickt und das Bootshaus beflaggt und mit Reisig geschmückt.«

»Es muß rein etwas passiert sein«, meinte zögernd ein alter Herr, – dann schrien plötzlich alle durcheinander: »Der Nummer zwei is Schuld – –, der Sulzfisch, der zieht ja nicht einmal das Gewicht seiner Kappe, – der ganze Kerl ist schwabberig wie Hektographenmasse.«

»Was denn Nummer zwei! Die ganze Backbordseite ist keinen Schuß Pulver wert.«

»Überhaupt, der ›Einsatz‹ fehlt. Catch the water! – verstehen Sie mich, – verstehen Sie englisch? Catch the water. Schauen Sie her, so! catch, catch, catch!«

»Meine Herren, meine Herren, was nutzt das alles: catch, catch, catch, wenn man ›Swivels‹ hat, wie wollen Sie da ›einsetzen‹. Hab’ ich nicht immer gesagt: feste Dollen, was, Herr von Schwamm? – Ja, feste Dollen, haha, zu meiner Zeit: rum – bum – rum bum –«

»Hätt’ alles nicht g’schadt, aber natürlich knapp vorm Training bei der Nacht mit Weibern rumlaufen, daran liegt’s. Haben S’ damals unsern ›Stroke‹ g’segn in der Bretzelgass’n? Wissen S’, wer die Frauensperson war? Die blonde Sportmirzl, wann Sö’s no nöt kenna!«

Ein gellender Pfiff. Der Zug fährt ein.

Aus verschiedenen Coupés steigen die »Clianesen« aus.

Ärgerliche Gesichter, müde, abgespannte Mienen: – – –

»Träger! Träger! – Himmel Sakra, sind denn keine Träger da!«

»Erzählt’s doch, was ist denn g’schehn? Letzte, immer Letzte?«

»Der ›Sulzfisch‹«, murmelte Kurzweil ingrimmig.

Der schöne Rudi hat es gehört und tritt mit geschwellter Heldenbrust an ihn heran: »Mein Herr, ich bin Reserveleutnant im Artillerieregiment Nr. 23, verstehen Sie mich?« Und er zwinkert mit entzündeten Lidern, und sein Gesicht ist klebrig und rußgeschwärzt, als ob er auf einem Stempelkissen geschlafen hätte.

»Ruhe, meine Herren, Ruhe!« Staudacher ist es, der eine Flasche in der Hand hält.

»Erzählen, Staudacher, erzählen!« – Alles umdrängt ihn. Der kleine Steuermann hebt die Flasche in die Höhe: »Hier ist des Rätsels Lösung, – wissen Sie, was da drin ist? – Alsterwasser, Hamburger Alsterwasser! – – Und da drin soll unsereins rudern, wo wir an unser dünnes klares ›Kaiserwasser‹ gewöhnt sind, – net wahr, Kurzweil? Wissen S’, daß dieses Alsterwasser bereits um ein Fünftel dicker ist als wie das unsrige!? – (ja, wirklich, m’r siecht’s) – Ich hab’s selbst mit dem Aräometer g’messen, und unsere Zeit ist trotzdem nur um ein Sechstel schlechter! – Nur um ein Sechstel – meine Herren! – Hä? Habn S’ an Idee, wie wir hier g’wonnen hätten! – Da wären die Hamburger gar net mit’kommen.«

Alle waren voll Bewunderung: »Nein, wirklich, alles was recht ist, unser Staudacher ist ein findiger Kopf, so einen sollen S’ uns zeigen, die, die … die deutschen Brüder aus dem ›Reich‹ – –«

»Ja, ja! – ’s gibt nur a Kaiserstadt, ’s gibt nur a Wean!«

Erstveröffentlichung: Simplicissimus 8. Jg. Nr. 14, »Sportnummer« vom 6. 7. 1903, S. 107. Meyrink war leidenschaftlicher Ruderer, schon in Prag und noch in höherem Alter am Starnberger See: hier nimmt er das Milieu der Ruder- und Sportvereine auf die Schippe, mit ihren Konkurrenzen, ihrer Schönrednerei und Wichtigtuerei. Wiener Umgangsformen und Sprache sind Nebenziele der Satire.

DER OPAL

Der Opal, den Miß Hunt am Finger trug, fand allgemeine Bewunderung.

»Ich habe ihn von meinem Vater geerbt, der lange in Bengalen diente, und er stammt aus dem Besitze eines Brahmanen«, sagte sie und strich mit den Fingerspitzen über den großen schimmernden Stein. »Solches Feuer sieht man nur an indischen Juwelen. – Liegt es am Schliff oder an der Beleuchtung, ich weiß es nicht, aber manchmal kommt es mir vor, als ob der Glanz etwas Bewegliches, Ruheloses an sich hätte, wie ein lebendiges Auge.«

»Wie ein lebendiges Auge«, wiederholte nachdenklich Mr. Hargrave Jennings.

»Finden Sie etwas daran, Mr. Jennings?«

Man sprach von Konzerten, von Bällen und Theater, – von allem Möglichen, aber immer wieder kam die Rede auf indische Opale.

»Ich könnte Ihnen etwas über diese Steine, über diese sogenannten Steine mitteilen«, sagte schließlich Mr. Jennings, »aber ich fürchte, Miß Hunt dürfte dadurch der Besitz ihres Ringes für immer verleidet sein. Wenn Sie übrigens einen Augenblick warten, will ich das Manuskript in meinen Schriften suchen.«

Die Gesellschaft war sehr gespannt.

»Also hören Sie, bitte. (Was ich Ihnen hier vorlese, ist ein Stück aus den Reisenotizen meines Bruders, – wir haben damals beschlossen, nicht zu veröffentlichen, was wir gemeinsam erlebten.)

Also: Bei Mahawalipur stößt das Dschungel in einem schmalen Streifen bis hart ans Meer. Kanalartige Wasserstraßen, von der Regierung angelegt, durchziehen das Land von Madras fast bis Tritschinopolis, dennoch ist das Innere unerforscht und einer Wildnis gleich, undurchdringlich, ein Fieberherd.

Unsere Expedition war eben eingetroffen, und die dunkelhäutigen tamulischen Diener luden die zahlreichen Zelte, Kisten und Koffer aus den Booten, um sie von Eingeborenen durch die dichten Reisfelder, aus denen nur hie und da Gruppen von Palmyrapalmen wie Inseln in einem wogenden hellgrünen See emporragen, in die Felsenstadt Mahawalipur schaffen zu lassen.

Oberst Stuart, mein Bruder Hargrave und ich nahmen sofort Besitz von einem der kleinen Tempel, die, aus einem einzigen Felsen herausgehauen, eigentlich herausgeschnitzt, wahre Wunderwerke altdrawidischer Baukunst darstellen. Die Früchte beispielloser Arbeit indischer Frommer, mögen sie jahrhundertelang den Hymnen der begeisterten Jünger des großen Erlösers gelauscht haben, – jetzt dienen sie brahminischem Shivakult, wie auch die sieben aus dem Felsrücken gemeißelten heiligen Pagoden mit den hohen Säulenhallen.

Aus der Ebene stiegen trübe Nebel, schwebten über den Reisfeldern und Wiesen und lösten die Konturen heimziehender Bukkelochsen vor den rohgezimmerten indischen Karren in regenbogenartigen Dunst auf. Ein Gemisch von Licht und geheimnisvoller Dämmerung, das sich schwer um die Sinne legt und wie Zauberdunst von Jasmin und Holunderdolden die Seele in Träume wiegt.

In der Schlucht vor dem Aufgang zu den Felsen lagerten unsere Mahratten-Sepoys in ihren wilden malerischen Kostümen und den rot und blauen Turbans, und wie ein brausender Lobgesang des Meeres an Shiva, den Allzerstörer, dröhnten und hallten die Wogenschläge aus den offenen Höhlengängen der Pagoden, die sich vereinzelt längs des Gestades hinziehen.

Lauter und grollender schwollen die Töne der Wellen zu uns empor, wie der Tag hinter den Hügeln versank und Nachtwind sich in den alten Hallen fing.

Die Diener hatten Fackeln in unseren Tempel gebracht und sich in das Dorf zu ihren Landsleuten begeben. Wir leuchteten in alle Nischen und Winkel. Viele dunkle Gänge zogen durch die Felswände, und phantastische Götterstatuen in tanzender Stellung, die Handflächen vorgestreckt mit geheimnisvoller Fingerhaltung, deckten mit ihren Schatten die Eingänge wie Hüter der Schwelle.

Wie wenige wissen, daß alle diese bizarren Figuren, ihre Anordnung und Stellung zueinander, die Zahl und Höhe der Säulen und Lingams Mysterien von unerhörter Tiefe andeuten, von denen wir Abendländer kaum eine Vorstellung haben.

Hargrave zeigte uns ein Ornament an einem Sockel, einen Stab mit vierundzwanzig Knoten, an dem links und rechts Schnüre herabhingen, die sich unten teilten: Ein Symbol, das Rückenmark des Menschen darstellend, und in Bildern daneben Erklärungen der Ekstasen und übersinnlichen Zustände, deren der Yogi auf dem Wege zu den Wunderkräften teilhaftig wird, wenn er Gedanken und Gefühl auf die betreffenden Rückenmarksabschnitte konzentriert. –

›Dies da Pingala, großer Sonnenstrom‹, radebrechte bestätigend Akhil Rao, unser Dolmetsch.

Da faßte Oberst Stuart meinen Arm: ›Ruhig – – – hören Sie nichts?‹

Wir horchten gespannt in der Richtung des Ganges, der, von der kolossalen Statue der Göttin Kala Bhairab verborgen, sich in die Finsternis zog.

Die Fackeln knisterten – sonst Totenstille.

Eine lauernde Stille, die das Haar sträubt, wo die Seele bebt und fühlt, daß etwas geheimnisvoll Grauenhaftes blitzartig ins Leben bricht, wie eine Explosion, und nun unabwendbar eine Folge todbringender Dinge aus dem Dunkel des Unbekannten, aus Ekken und Nischen emporschnellen muß.

In solchen Sekunden ringt sich stöhnende Angst aus dem rhythmischen Hämmern des Herzens – wortähnlich, wie das gurgelnde, schauerliche Lallen der Taubstummen: Ugg – ger, – Ugg – ger, – Ugg – ger.

Wir horchten vergebens – kein Geräusch mehr.

›Es klang wie ein Schrei tief in der Erde‹, flüsterte der Oberst.

Mir schien es, als ob das Steinbild der Kala Bhairab, des Choleradämons, sich bewegte: Unter dem zuckenden Lichte der Fackeln schwankten die sechs Arme des Ungeheuers, und die schwarz und weiß bemalten Augen flackerten wie der Blick eines Irrsinnigen.

›Gehen wir ins Freie, zum Tempeleingang‹, schlug Hargrave vor, ›es ist ein scheußlicher Ort hier.‹ –

Die Felsenstadt lag im grünen Lichte wie eine steingewordene Beschwörungsformel.

In breiten Streifen durchglitzerte der Mondschein das Meer, einem riesigen, weißglühenden Schwerte gleich, dessen Spitze sich in der Ferne verlor.

Wir legten uns auf die Plattform zur Ruhe – es war windstill und in den Nischen weicher Sand.

Doch es kam kein rechter Schlaf.

Der Mond stieg höher, und die Schatten der Pagoden und steinernen Elefanten schrumpften auf dem weißen Felsboden zu krötenähnlichen phantastischen Flächen zusammen. ›Vor den Raubzügen der Moguln sollen alle diese Götterstatuen von Juwelen gestrotzt haben – Halsketten aus Smaragden, die Augen aus Onix und Opal‹, sagte plötzlich Oberst Stuart halblaut zu mir, ungewiß ob ich schliefe. – Ich gab keine Antwort.

Plötzlich fuhren wir alle entsetzt empor. Ein gräßlicher Schrei drang aus dem Tempel – ein kurzes, dreifaches Aufbrüllen oder Auflachen mit einem Echo wie von zerschellendem Glas und Metall.

Mein Bruder riß ein brennendes Scheit von der Wand, und wir drängten uns den Gang hinab in das Dunkel.

Wir waren vier, was war da zu fürchten.

Bald warf Hargrave die Fackel fort, denn der Gang mündete in eine künstliche Schlucht ohne Deckenwölbung, die, von grellem Mondlicht beschienen, in eine Grotte führte. Feuerschein drang hinter den Säulen hervor, und von den Schatten gedeckt schlichen wir näher.

Flammen loderten von einem niedrigen Opferstein, und in ihrem Lichtkreis bewegte sich taumelnd ein Fakir, behängt mit den grellbunten Fetzen und Knochenketten der bengalischen Dhurgaanbeter.

Er war in einer Beschwörung begriffen und warf unter schluchzendem Winseln den Kopf nach Art der tanzenden Derwische mit rasender Schnelle nach rechts und links, dann wieder in den Nacken, daß seine weißen Zähne im Lichte blitzten.

Zwei menschliche Körper mit abgeschnittenen Köpfen lagen zu seinen Füßen, und wir erkannten sehr bald an den Kleidungsstücken die Leichen zweier unserer Sepoys. Es mußte ihr Todesschrei gewesen sein, der so gräßlich zu uns emporgeklungen.

Oberst Stuart und der Dolmetsch warfen sich auf den Fakir, wurden aber von ihm im selben Augenblick an die Wand geschleudert.

Die Kraft, die in dieser abgemergelten Asketengestalt wohnte, schien unbegreiflich, und ehe wir noch zuspringen konnten, hatte der Fliehende bereits den Eingang der Grotte gewonnen.

Hinter dem Opferstein fanden wir die abgeschnittenen Köpfe der beiden Mahratten.«

Mr. Hargrave Jennings faltete das Manuskript zusammen: »Es fehlt ein Blatt hier, ich werde Ihnen die Geschichte selber zu Ende erzählen:

Der Ausdruck in den Gesichtern der Toten war unbeschreiblich. Mir stockt heute noch der Herzschlag, wenn ich mir das Grauen zurückrufe, das uns damals alle befiel. Furcht kann man es nicht gut nennen, was sich da in den Zügen der Ermordeten ausdrückte, – ein verzerrtes, irrsinniges Lachen schien es. – Die Lippen, die Nasenflügel emporgezogen, – der Mund weit offen und die Augen, – die Augen, – es war fürchterlich; stellen Sie sich vor, die Augen – hervorgequollen – zeigten weder Iris noch Pupille und leuchteten und funkelten in einem Glanze wie der Stein hier an Miß Hunts Ring.

Und wie wir sie dann untersuchten, zeigte es sich, daß sie wirkliche Opale geworden waren.

Auch die spätere chemische Analyse ergab nichts anderes. Auf welche Weise die Augäpfel hatten zu Opalen werden können, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Ein hoher Brahmane, den ich einmal fragte, behauptete, es geschähe durch sogenannte Tantriks (Wortzauber), – und der Prozeß gehe blitzschnell, und zwar vom Gehirn aus vor sich; doch wer vermag das zu glauben! Er setzte damals noch hinzu, daß alle indischen Opale gleichen Ursprungs seien, und daß sie jedem, der sie trüge, Unglück brächten, da sie einzig und allein Opfergaben für die Göttin Dhurga, die Vernichterin alles organischen Lebens, bleiben müßten.«

Die Zuhörer standen ganz unter dem Eindruck der Erzählung und sprachen kein Wort.

Miß Hunt spielte mit dem Ring.

»Glauben Sie, daß Opale wirklich deswegen Unglück bringen, Mr. Jennings?« sagte sie endlich. »Wenn Sie es glauben, bitte, vernichten Sie den Stein!«

Mr. Jennings nahm ein spitzes Eisenstück, das als Briefbeschwerer auf dem Tische lag, und hämmerte leise auf den Opal, bis er in muschelige, schimmernde Splitter zerfiel.

Erstveröffentlichung: Simplicissimus 8. Jg. Nr. 27 vom 29. 9. 1903, S. 210 f. Okkultismussatire mit Elementen der Abenteuergeschichte. Hargrave Jennings (1817–1890) war ein britischer Freimaurer und Historiker der Rosenkreuzer, der zu seiner Zeit u. a. durch Thesen über »phallische Kulte« in der Religionsgeschichte berüchtigt wurde, und der mit seinem Interesse an Indien der Theosophie vorgearbeitet hat. Bevor Arthur Edward Waite ab etwa den 1890er Jahren seine sehr viel stärker am Faktischen orientierten Bücher über die Rosenkreuzer und ähnliche Fiktionen schrieb, wurde Jennings in okkulten Kreisen zu diesem Thema viel gelesen; man beachte den spöttischen Ton Meyrinks, der ja kein unkritischer Rezipient dieser Literatur war. Der Autor baut gerne reale Figuren in seine (vollständig fiktionalen) Erzählungen ein: so hier Jennings. Mahawalipur ist Mahabalipuram (Mamallapuram) in Tamil Nadu, Stätte berühmter südindischer Tempel an der Küste des Indischen Ozeans. Aus dem Okkultismus stammen Schlagwörter der Erzählung wie der »Hüter der Schwelle«, aus dem indischen Yoga stammt die Chakra-Lehre, die damals gerade erst in Europa bekannt wurde, und die Meyrink hier noch erklären muss, weil sie eben noch nicht zum allgemeinen Bildungsgut gehörte. Indien als Land der »Geheimnisse« hat damit in der Abenteuerliteratur eine Rolle eingenommen, die vor ihm in der Literatur vor allem Ägypten innehatte. Man wird für manche Züge der Geschichte an Rudyard Kipling erinnern dürfen, aus dessen Werk Meyrink für den Paul List Verlag in Leipzig später einige Erzählungen übersetzt hat. Kala Bhairab, als Göttin bezeichnet, ist eigentlich eine männliche Gestalt. Meyrink meint aber ohne Frage eine Gestalt der Durga, der düsteren Gemahlin Shivas. Bhairava heißen die zerstörerischen Formen Shivas, als deren weibliches Gegenstück oft Kali (»die Schwarze«) verehrt wird, unter welchem Namen sie meist in Europa bekannt ist. Die kuriose Edelsteinmythologie der Erzählung lehnt sich an den bekannten Aberglauben an, ein Opal brächte Unglück. Was man zu Meyrinks Zeit über diese Dinge erzählte, ist gesammelt in: George Frederick Kunz, The Curious Lore of Precious Stones. Philadelphia 1913 (diverse Reprints), mit reichem Material zu Opalsuperstitionen.

DAS GEHEIMNIS DES SCHLOSSES HATHAWAY

Ezechiel von Marx war der beste Somnambule, den ich in meinem Leben gesehen habe.

Oft mitten in einem Gespräch konnte er in Trance fallen und dann Geschehnisse erzählen, die sich an weit entfernten Orten zutrugen oder gar erst nach Tagen und Wochen abspielten.

Und alles stimmte mit einer Präzision, die einem Swedenborg Ehre gemacht hätte.

Wie nun diese Trance bei Marx absichtlich und beliebig herbeiführen?!

Alles mögliche hatten wir bei unserm letzten Beisammensein versucht – meine sechs Freunde und ich –, hatten den ganzen Abend experimentiert, magnetische Striche angewandt, Rauch von Lorbeer usw. usw., – aber alles schlug fehl, Ezechiel von Marx in Hochschlaf zu bringen. »Blödsinn«, sagte endlich Mr. Dowd Galagher, ein Schotte. »Sie sehen doch, es geht nicht. Ich werde Ihnen lieber etwas erzählen, etwas so Sonderbares, daß man Tage und Nächte vergrübeln könnte, dem Rätsel, dem Unerklärlichen darin auf die Spur zu kommen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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