Der Graf von Monte Christo. Band 2 - Alexandre Dumas - E-Book

Der Graf von Monte Christo. Band 2 E-Book

Dumas Alexandre

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Beschreibung

Der junge Edmond Dantès ist glücklich verlobt mit der schönen Mercedes, und ihm wird vom Reeder Morell die Position des Kapitäns eines Segelschiffs in Aussicht gestellt. Alle seine Wünsche scheinen sich zu erfüllen. Doch er wird vom höchsten Glück in den tiefsten Abgrund geschleudert, als es zu einem hinterhältigen Komplott gegen ihn kommt. Jeder der Verschwörer hat einen anderen Grund, Dantès aus dem Weg räumen zu wollen. Durch einen schnellen und willkürlichen Prozess wird er zu Einzelhaft im Inselgefängnis Château d´If veruteilt. Alles scheint verloren. Doch im Kerker lernt er durch Zufall den alten Geistlichen und Mitgefangenen Abbé Faria kennen, der zu seinem Lehrmeister wird und ihm das Versteck eines enormen Schatzes verrät. Schließlich, nach vierzehn Jahren unverschuldeter Kerkerhaft, gelingt es Dantès, durch Glück und eigene Entschlossenheit, von der Gefängnisinsel zu flüchten. Einige Monate später erscheint in der französischen Gesellschaft ein mysteriöser Graf von sagenhaftem Reichtum, der schnell ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gerät. Hinter seiner undurchsichtigen Fassade verfolgt dieser jedoch nur ein Ziel: Vergeltung zu üben an den Schuldtragenden, die einst Edmond Dantès um sein Glück brachten. Er ist die Hand Gottes, die gekommen ist, um Rechenschaft zu fordern… Der mehrfach verfilmte Abenteuer-Klassiker liegt hier in einer fünfbändigen und reichhaltig illustrierten Neuausgabe in der ungekürzten Übertragung von August Zoller vor. Dieses ist der zweite Band.

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Alexandre Dumas

 

 

Der Graf von Monte Christo

 

 

 

Roman

in fünf Bänden

 

 

 

 

Überarbeitete und illustrierte Neuausgabe

der ungekürzten Übertragung

aus dem Französischen

von August Zoller

 

 

 

Band 2

DER GRAF VON MONTE CHRISTO wurde im französischen Original Le Comte de Monte-Cristo zuerst veröffentlicht zwischen 1844 und 1846 in der Zeitschrift Le Journal des débats.

 

 

Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von: apebook

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

1. Auflage 2023

 

V 1.1

 

Anmerkungen zur Transkription: Der Text der vorliegenden ungekürzten Ausgabe ist die Übersetzung von August Zoller (1773-1858) der deutschen Ausgabe aus dem Jahr 1846.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Band 2 

ISBN 978-3-96130-570-4

Buchherstellung & Gestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

Alle Rechte vorbehalten.

© apebook 2023

 

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Die fünf Bände der Reihe

Der Graf von Monte Christo

im Überblick

 

 

 

BAND 1 | BAND 2 | BAND 3 | BAND 4 | BAND 5

 

 

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Möchtest du anschließend wissen, wie die Geschichte des Grafen von Monte Christo weitergeht? - Dann lies die Fortsetzung:

 

 

Dumas Le Prince

 

Die Totenhand

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Der Graf von Monte Christo. Band 2

Impressum

Der Graf von Monte Christo. Band 2

 Zweiter Band.

I. Die Register der Gefängnisse.

II. Das Haue Morrel.

III. Der fünfte September.

IV. Simbad der Seefahrer.

V. Erwachen.

VI. Römische Banditen.

VII. Erscheinungen.

VIII. Die Mazzolata.

IX. Der Karneval in Rom.

X. Die Katakomben von San Sebastian.

XI. Das Rendezvous.

XII. Der Gast.

XIII. Das Frühstück.

XIV. Die Vorstellung.

XV. Herr Bertuccio.

XVI. Das Haus in Auteuil.

XVII. Die Vendetta.

XVIII. Der Blutregen.

XIX. Der unbegrenzte Kredit.

XX. Das Apfelschimmel-Gespann.

Anmerkungen

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Zu guter Letzt

Monte Christo besucht Albert de Morcerf

 Zweiter Band.

 

 

Sindbad der Seefahrer unterhält sich mit Franz D'Epinay

 

I. Die Register der Gefängnisse.

Einen Tag, nachdem die von uns erzählte Szene auf der Straße von Bellegarde nach Beaucaire vorgefallen war, erschien ein Mann von dreißig bis zwei und dreißig Jahren in blauem Frack, Rankinbeinkleidern und weißer Weste, mit britischer Tournure und britischem Accent, bei dem Maire von Marseille und sprach:

»Mein Herr, ich bin der erste Commis des Hauses Thomson und French in Rom; wir stehen seit zehn Jahren in Verbindung mit dem Hause Morrel und Sohn in Marseille, haben uns hierbei auf etwa hunderttausend Franken eingelassen, und sind nicht ganz ohne Unruhe da man behauptet, dieses Haus sei seinem Ruin nahe. Ich komme daher ausdrücklich von Rom, um mir von Ihnen Auskunft über Morrel und Sohn zu erbitten.«

»Mein Herr«, antwortete der Maire, »ich weiß bestimmt, daß seit Vier bis fünf Jahren das Unglück Herrn Morrel zu Verfolgen scheint: er hat hinter einander vier Schiffe verloren und drei Bankrotte erlitten; aber obgleich ich selbst sein Gläubiger für ein Dutzend tausend Franken bin, geziemt es mir doch nicht, irgend eine Auskunft über den Zustand seines Vermögens zu geben. Fragen Sie mich als Maire, was ich von Herrn Morrel denke, so antworte ich Ihnen, er sei ein streng rechtlicher Mann und habe bis jetzt alle seine Verbindlichkeiten äußerst pünktlich erfüllt. Das ist Alles, was ich Ihnen sagen kann, mein Herr. Wollen Sie mehr wissen, so wenden Sie sich an Herrn von Boville, Inspektor der Gefängnisse, Rue de Noailles Nro. 15; er hat, so viel ich weiß, zweimal hunderttausend Franken bei dem Hause Morrel angelegt, und wenn wirklich etwas zu fürchten wäre, so würden Sie ihn, da diese Summe beträchtlicher ist, als die meinige, wahrscheinlich über diesen Punkt besser unterrichtet finden, als ich es bin.«

Der Engländer schien diese Zartheit zu würdigen, grüßte, verließ den Maire, und wanderte mit dem den Söhnen Großbritanniens eigentümlichen Gange nach der bezeichneten Straße. Herr von Boville war in seinem Kabinett: als ihn der Engländer erblickte, machte er eine Bewegung des Erstaunens, welche anzudeuten schien, daß er nicht zum ersten Male diesem Manne gegenüber stand. Herr von Boville aber war so verzweiflungsvoll, daß, gleichsam Verfehlungen von dem Gedanken, der ihn in diesem Augenblick beschäftigte, die Fähigkeiten seines Geistes weder seinem Gedächtnis, noch seiner Einbildungskraft Muße ließen, sich in die Vergangenheit zu verirren. Der Engländer legte ihm mit dem Phlegma seiner Nation beinahe in denselben Ausdrücken dieselbe Frage vor, die er dem Maire von Marseille vorgelegt hatte.

»Oh! mein Herr«, rief Herr von Boville, »Ihre Befürchtungen sind leider nur zu sehr gegründet, und Sie sehen einen verzweifelnden Mann in mir. Ich hatte zwei mal hunderttausend Franken bei dem Hause Morrel angelegt: diese zwei mal hunderttausend Franken waren die Mitgift meiner Tochter, welche ich in vierzehn Tagen zu verheiraten gedachte: diese zweimal hunderttausend Franken waren rückzahlbar, hunderttausend am 15. dieses Monats, hunderttausend am 15. des nächsten. Ich hatte Herrn Morrel von meinem Wunsche, daß diese Zahlung pünktlich stattfinden möchte, benachrichtigt, und nun ist er vor kaum einer halben Stunde zu mir gekommen. um mir zu sagen, wenn sein Schiff die Pharao bis am 15. nicht einliefe, wäre er außer Stands, seine Verbindlichkeit zu erfüllen.«

»Aber das gleicht ganz einer Zahlungsfristverlängerung«, sagte der Engländer.

»Sagen Sie, es gleiche einem Bankrotte«, rief Herr von Boville außer sich.

Der Engländer schien einen Augenblick nachzudenken, und sprach sodann:

»Also flößt Ihnen diese Schuldforderung Angst ein?«

»Das heißt, ich betrachte sie als verloren.«

»Wohl, ich kaufe sie Ihnen ab.«

»Sie?«

»Ja, ich.«

»Aber ohne Zweifel zu einem ungeheuren Rabatt?«

»Nein, um zweimal hunderttausend Franken: unser Haus«, fügte der Engländer lachend bei, »macht keine solche Geschäfte.«

»Und Sie bezahlen?«

»Baar.«

Der Engländer zog aus seiner Tasche ein Päckchen Bankbilletts, die das Doppelte der Summe betragen mochten, welche Herr von Boville zu verlieren befürchtete. Ein Blitz der Freude zog über das Gesicht von Herrn von Boville hin, doch er suchte sich zu bemeistern und sprach:

»Mein Herr, ich muß Sie davon in Kenntnis setzen, daß Sie aller Wahrscheinlichkeit noch nicht sechs Prozent von dieser Summe bekommen werden.«

»Das geht mich nichts an«, erwiderte der Engländer, »das geht das Haus Thomson und French an, in dessen Namen ich handle. Es liegt vielleicht in seinem Interesse, ein rivales Haus zu Grunde zu richten. Ich weiß nur, daß ich bereit bin, Ihnen diese Summe gegen Übertragung zu bezahlen, wobei ich mir indessen einen Mäklerlohn erbitten werde.«

»Das ist nicht mehr als billig!« rief Herr von Boville. »Die Kommission beträgt gewöhnlich anderthalbe wollen Sie zwei? wollen Sie drei? wollen Sie fünf? wollen Sie noch mehr? sprechen Sie!«

»Mein Herr«, antwortete der Engländer lachend, ich bin wie mein Haus, ich mache keine solche Geschäfte; mein Mäklerlohn ist ganz anderer Natur.«

»Reden Sie, mein Herr, ich höre.«

»Sie sind Inspektor der Gefängnisse?«

»Seit vierzehn Jahren.«

»Sie halten Eintritts- und Abgangs-Register?«

»Allerdings.«

»Diesen Registern müssen Noten bezüglich auf die Gefangenen beigefügt sein?«

»Jeder Gefangene hat seinen Fascikel.«

»Nun wohl, ich bin in Rom von einem armen Teufel von Abbé erzogen worden, welcher plötzlich von dort verschwunden ist. Seitdem habe ich erfahren, daß man ihn in dem Castell If gefangen gehalten, und ich möchte wohl gern etwas Näheres über seinen Tod wissen.«

»Wie hieß er?«

»Abbé Faria.«

»Oh! ich erinnere mich seiner ganz genau«, rief Herr von Boville, »er war ein Narr.«

»Man sagte es.«

»Oh! er war es ganz gewiss.«

»Es ist möglich; was war seine Narrheit?«

»Er behauptete Kenntnis von einem unermeßlichen Schatze zu haben, und bot der Regierung tolle Summen, wenn man ihn in Freiheit setzen wollte.«

»Armer Teufel! Und er ist tot?«

»Ja, mein Herr, er starb ungefähr vor fünf oder sechs Monaten, im vergangenen Februar.«

»Sie haben ein glückliches Gedächtnis, mein Herr, daß Sie sich so der einzelnen Umstände erinnern.«

»Ich erinnere mich dieser Geschichte, weil der Tod des armen Teufels von einem seltsamen Ereignis begleitet war.«

»Dürfte man dieses Ereignis erfahren?« fragte der Engländer mit einem Ausdrücke von Neugierde, welchen auf seinem phlegmatischen Gesichte zu finden, ein tiefer Beobachter erstaunt gewesen wäre.

»Oh! mein Gott, ja, mein Herr; das Gefängnis des Abbé war ungefähr fünf und vierzig bis fünfzig Fuß von dem eines ehemaligen bonapartistischen Agenten entfernt, eines sehr entschlossenen und gefährlichen Menschen von der Zahl derjenigen, welche am meisten zu der Rückkehr des Usurpators im Jahre 1815 beigetragen haben.«

»Wirklich!« sagte der Engländer.

»Ja, ich hatte selbst Gelegenheit, diesen Menschen im Jahre 1816 oder 1817 zu sehen; man stieg in seinen Kerker nur mit einem Piquet Soldaten hinab; er machte einen tiefen Eindruck auf mich, und ich werde sein Gesicht nie vergessen.«

Monte Christo und M. de Boville

Der Engländer lächelte unmerklich.

»Und Sie sagen«, versetzte er, »die zwei Kerker . . . «

»Waren durch eine Entfernung von fünfzig Fuß getrennt, aber es scheint, dieser Edmond Dantes . . . «

»Der gefährliche Mensch hieß . . . «

»Edmond Dantes. Ja, mein Herr, es scheint dieser Edmond Dantes hatte sich Werkzeug verschafft oder verfertigt, denn man fand einen Gang, durch welchen die Gefangenen mit einander in Verbindung standen.«

»Dieser Gang war ohne Zweifel in der Absicht zu entweichen gemacht worden?«

»Allerdings; aber zum Unglück für die Gefangenen wurde der Abbé, von der Starrsucht befallen und starb.«

»Ich begreife, das mußte die Entweichungspläne kurz abschneiden.«

»Für den Toten, ja«, antwortete Herr von Boville, »für den Lebenden nicht; dieser Dantes sah im Gegenteil darin ein Mittel, seine Flucht zu beschleunigen; er dachte ohne Zweifel, die im Castell If gestorbenen Gefangenen würden in einem gewöhnlichen Friedhofe begraben, trug den Hingeschiedenen in seine Zelle, nahm seinen Platz in dem Sacke ein, in welchen man jenen genäht hatte, und erwartete den Augenblick des Begräbnisses.«

»Das war ein gewagtes Mittel, woraus sich auf einigen Mut schließen ließ«, bemerkte der Engländer.

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, mein Herr, daß es ein sehr gefährlicher Mensch war, zum Glück befreite er die Regierung selbst von der Furcht, die sie seinetwegen hegte.«

»Wie dies?«

»Sie begreifen nicht?«

»Nein.«

»Das Castell If hat keinen Friedhof; man wirft die Toten ganz einfach in das Meer, nachdem man ihnen zuvor eine Kugel von sechs und dreißig Pfund an die Füße gebunden hat.«

»Nun?« fragte der Engländer, als ob er schwer begriffe.

»Man befestigte ihm die Kugel von sechs und dreißig Pfund an die Füße und warf ihn in das Meer.«

»Ja der Tat!« rief der Engländer.

»Ja, mein Herr«, fuhr der Inspektor fort. »Sie können sich denken, wie groß das Erstaunen des Flüchtlings gewesen sein muß, als er fühlte, daß man ihn von dem Felsen herabstürzte. Ich hätte sein Gesicht in diesem Augenblick sehen mögen.«

»Das wäre schwierig gewesen.«

»Gleich viel«, sagte Herr von Boville, den die Gewißheit, seine zweimal hunderttausend Franken wieder zu erhalten, in gute Laune versetzte; »gleichviel, ich stelle es mir vor.«

Und er brach in ein Gelächter aus.

»Und ich auch«, sagte der Engländer.

Und er fing an, ebenfalls zu lachen, aber wie die Engländer lachen, mit dem Ende der Zähne.

»Der Flüchtling ist also ertrunken?« fuhr der Engländer fort, welcher zuerst wieder seine Kaltblütigkeit gewann.

»Ganz und gar.«

»Somit wurde der Gouverneur des Castells zugleich von dem Wütenden und von dem Narren befreit?«

»Gewiß.«

»Es mußte doch eine Art von Protokoll über dieses Ereignis aufgenommen werden?« fragte der Engländer.«

»Ja, ja, ein Sterbeprotokoll. Sie begreifen, für die Verwandten von Dantes, wenn er hat, konnte es von Interesse sein, sich zu versichern, ob er gestorben wäre oder noch lebte.«

»Folglich können Sie nun ruhig sein., wenn sie von ihm erben. Er ist tot, sehr tot?«

»Oh mein Gott, ja. Man wird ihnen einen Schein ausstellen, wenn sie es haben wollen.«

»Es sei so«, sprach der Engländer. »Doch um auf die Register zurückzukommen . . . «

»Richtig . . . Diese Geschichte hat uns davon entfernt. Verzeihen Sie.«

»Was soll ich verzeihen? Die Geschichte? Keines Weges; sie war mir sehr interessant.«

»Sie ist es in der Tat, Mein Herr, Sie wünschen also Alles zu sehen, was sich auf den armen Abbé bezieht, der die Sanftmut selbst war, nicht so?«

»Es würde mir Vergnügen machen.«

»Gehen Sie in mein Kabinett, und ich will es Ihnen zeigen.«

Beide gingen in das Kabinett von Herrn von Boville.

Alles war hier in vollkommener Ordnung: jedes Register bei seiner Nummer, jeder Fascikel in seinem Fach. Der Inspektor hieß den Engländer in seinen Lehnstuhl sitzen, legte ihm das Register und die Akten bezüglich auf Castell If vor, und ließ ihm volle Muße darin zu blättern, während er selbst in einem Winkel sitzend seine Zeitung las.

Der Engländer fand leicht die Akten, welche sich auf den Abbé Faria bezogen, doch es scheint, die Geschichte, die ihm Herr von Boville erzählt, hatte ihn lebhaft interessiert, denn nachdem er von den ersten Stücken Kenntnis genommen, fuhr er fort, zu blättern, bis er zu dem Fascikel von Edmond Dantes gekommen war. Hier fand er wieder Alles an seinem Platz, Denunziation, Verhör, Bittschrift von Herrn Morrel, Randglosse von Herrn von Villefort. Er faltete ganz sachte die Denunziation zusammen, steckte sie in seine Tasche, las das Verhör und sah, daß der Name Noirtier nicht darin ausgesprochen war, durchlief dann auch noch das Gesuch vom 10. Februar 1815, worin Herr Morrel nach dem Rate des Substituten, in einer vortrefflichen Absicht, weil Napoleon noch regierte, die Dienste übertrieb, welche Dantes der kaiserlichen Sache geleistet hatte. Dienste, die das Zertifikat von Villefort unbestreitbar machte. Nun begriff er Alles. Das von Villefort aufbewahrte Gesuch war unter der zweiten Restauration eine furchtbare Waffe in den Händen des Staatsanwaltes geworden. Er wunderte sich daher nicht mehr über folgende Note, welche er als Randglosse neben seinen Namen gesetzt fand:

Edmond Dantes

Wütender Bonapartist, hat tätigen Anteil an der Rückkehr von der Insel Elba genommen. Im geheimsten Gewahrsam und unter der strengsten Aufsicht zu halten.

Unter diesen Zeilen stand von einer andern Handschrift:

»In Betracht obiger Note, nichts zu machen.«

Die Handschrift der Randglosse mit der des Zertifikats vergleichend, das unten an das Gesuch von Morrel gesetzt war, bekam er Dantes Gewißheit, daß Randglosse und Zertifikat von einer Hand, nämlich von der von Villefort herrührten.

Was die begleitende Note betrifft, so begriff der Engländer, daß sie von irgend einem Inspektor eingezeichnet worden war, der ein vorübergehendes Interesse an der Lage von Dantes genommen, durch die erwähnte Bemerkung aber sich in die Unmöglichkeit versetzt gesehen hatte, seiner Teilnahme eine Folge zu geben.

Aus Diskretion, und um den Zögling des Abbé Faria in seinen Nachforschungen nicht zu beengen, hatte sich der Inspektor, wie gesagt, entfernt und las im Drapeau blanc. Er sah also nicht, wie der Engländer die von Danglars in der Sommerlaube der Reserve geschriebene und mit dem Stempel von Marseille den 27. Februar versehene Denunziation zusammenlegte und einsteckte. Hatte er es aber auch gesehen, so würde er sicherlich zu wenig Gewicht auf dieses Papier und zu viel auf seine zweimal hunderttausend Franken gelegt haben, um sich dem zu widersetzen, was der Engländer tat, so ordnungswidrig es auch war.

»Ich danke.« sagte dieser, indem er das Register geräuschvoll schloß. »Ich weiß, was ich wissen wollte, und nun ist an mir, mein Versprechen zu halten; machen Sie mir eine einfache Abtretung Ihrer Schuldforderung; bescheinigen Sie in dieser Abtretung den Empfang des Betrage, und ich bezahle Ihnen die Summe.«

Und er überließ seinen Platz am Schreibtische Herrn von Boville, der sich ohne Umstände setzte und eiligst die verlangte Abtretung schrieb, während der Engländer rauf einem Tischchen die Bankbilletts aufzählte.

 

II. Das Haue Morrel.

Wer, mit dem Innern des Hausen Morrel vertraut, Marseille ein paar Jahre zuvor verlassen hätte und zu der Zeit, zu der wir nunmehr gelangt sind, zurückgekehrt wäre, würde eine große Veränderung darin gefunden haben. Statt des lebendigen, behaglichen, glücklichen Anblicks den ein auf dem Pfade der Wohlfahrt begriffenes Haus gleichsam ausströmt, statt der freudigen, hinter den Fenstervorhängen erscheinenden Gesichter; statt der geschäftigen, mit der Feder hinter dem Ohr in den Gängen umherlaufenden Commis; statt des mit Ballen gefüllten, von dem Geschrei und Gelächter der Faktoren wiederhallenden Hofes, hätte er etwas Trauriges, Totes in diesen öden Gängen und diesem leeren Hofe wahrgenommen. Von den zahlreichen Handlungsdienern, welche einst die Bureau bevölkerten, waren nur zwei geblieben; der eine war ein junger Mann von drei bis vierundzwanzig Jahren, Namens Emmanuel Raymond, welcher, verliebt in die Tochter von Herrn Morrel, in dem Hause verharrte, was auch seine Eltern tun mochten, um ihn daraus zu entfernen; der andere war ein alter, einäugiger Kassengehilfe, genannt Cocles, ein Spottnamen, den ihm die jungen Leute gegeben halten, welche einst den so gewaltig summenden, nun aber beinahe unbewohnten Bienenstock belebten; dieser Spottname hatte allmählich seinen wahren Namen so vollkommen ersetzt, daß er sich ohne Zweifel nicht einmal umgewendet haben würde, hätte man ihn bei dem letzteren gerufen.

Cocles war im Dienste von Herrn Morrel geblieben, und er hatte sich eine sonderbare Veränderung in der Lage des braven Mannes bewerkstelligt; er war zugleich zum Grade einen Kassiers avanciert und zum Range eines Bedienten herabgesunken. Darum war es nicht minder derselbe Cocles, gut, geduldig, ergeben, aber unbeugsam im Punkte der Arithmetik, dem einzigen Punkte, worin er der ganzen Welt, selbst Herrn Morrel, die Spitze geboten hättet seine pythagoreische Tabelle konnte er an den Fingern hersagen, wie man sie auch drehen und auf welche Weise man ihn in einen Irrtum zu versetzen suchen mochte.

Mitten unter der allgemeinen Traurigkeit, welche sich des Hauses Morrel bemächtigt hatte, war Cocles allein unempfindlich geblieben. Man täusche sich übrigens nicht, diese Unempfindlichkeit rührte nicht von einem Mangel an Zuneigung, sondern im Gegenteil von einer unerschütterlichen Überzeugung her. Wie die Ratten der Sage nach allmählich ein Schiff verlassen, das zum Voraus vom Schicksal im Meere unterzugehen bestimmt ist, so daß diese selbstsüchtigen Gäste in dem Augenblick, wo es die Anker lichtet, völlig ausgewandert sind, ebenso hatte die Menge von Commis und Angestellten aller Art, welche ihren Unterhalt von dem Hause Morrel bezogen, allmählich Bureau und Magazine im Stich gelassen; Cocles sah sie insgesamt weggehen, ohne sich über die Ursache ihren Abgangs Rechenschaft zu geben. Alles lief bei Cocles auf eine Ziffernfrage hinaus, und seit den zwanzig Jahren, die er in dem Hause Morrel war, hatte er die Zahlungen bei offenem Bureau mit solcher Regelmäßigkeit stattfinden sehen, daß er eben so wenig zugab, diese Regelmäßigkeit könnte aufhören und die Zahlungen dürften eingestellt werden, als ein Müller, der eine von dem Wasser eines reichen Flusses gespeiste Mühle besitzt, zugibt, dieser Fluß könnte zu laufen aufhören. Bin jetzt hatte sich wirklich nichts gegen die Überzeugung von Cocles erhoben. Der letzte Monatsschluß war mit der strengsten Pünktlichkeit durchgeführt worden. Cocles hatte einen Irrtum von siebzig Centimes, welcher zum Nachteil von Herrn Morrel begangen worden war, entdeckt und an demselben Tag den Mehrbetrag von vierzehn Sous seinem Prinzipal überbracht, welcher diese mit einem schwermütigen Lächeln nahm, in eine beinahe leere Schublade fallen ließ, und zu dem Arithmeticer sagte:

»Gut, Cocles, Sie sind die Perle der Kassiere.« Cocles entfernte sieh äußerst zufrieden, denn ein Lob von Herrn Morrel, dieser Perle der ehrlichen Leute von Marseille, schmeichelte Cocles mehr als ein Geschenk von fünfzig Talern. Aber seit diesem so glücklich durch geführten Monatsschluß hatte Herr Morrel grausame Stunden durchgemacht; um gegen diesen Monatsschluß Stand zu halten, hatte er alle seine Mittel zusammengerafft und war selbst, aus Furcht, das Gerücht von seiner Not könnte sich in Marseille verbreiten, wenn man ihn so zum Äußersten greifen sehen würde, auf die Messe von Beaucaire gereist, um einige Juwelen, welche seiner Frau und seiner Tochter gehörten, und einen Teil von seinem Silberzeug zu verkaufen. Mittelst dieses Opfers war diesmal noch Alles zur größten Ehre des Hauses Morrel vorübergegangen. Die Kasse aber blieb völlig leer. Erschreckt durch umlaufende Gerüchte zog sich der Kredit mit seiner gewöhnlichen Selbstsucht zurück, und um gegen die hunderttausend Franken, welche am 15ten laufenden Monats zurückzubezahlen waren, und gegen die hunderttausend, welche am 15ten des folgenden verfielen, Stand zu halten, hatte Herr Morrel in Wirklichkeit nichts mehr, als die Hoffnung auf die Rückkehr der Pharao, von deren Abgang ein Schiff, das mit ihr die Anker gelichtet, Kunde gegeben hatte. Dieses Schiff, welches wie die Pharao von Calcutta kam, war aber bereits seit vierzehn Tagen im Hafen eingelaufen, während man von der Pharao keine Nachricht hatte.

So standen die Dinge, als der Abgesandte des Hauses Thomson und French in Rom am andern Tage, nachdem er die von uns mitgeteilte wichtige Angelegenheit mit Herrn von Boville abgemacht hatte, sich bei Herrn Morrel einfand. Emmanuel empfing ihn. Der junge Mann, den jeder neue Besuch erschreckte, denn jedes neue Gesicht kündigte einen neuen Gläubiger an, welcher in seiner Ungeduld herbeikam, um den Chef des Hauses auszuforschen, der junge Mann, sagen wir, wollte seinem Herrn das Ärgerliche dieses Besuches ersparen; er befragte den Eintretenden, dieser aber erklärte ihm, er hätte nichts mit Herrn Emmanuel zu tun, sondern müßte mit Herrn Morrel persönlich sprechen.

Emmanuel rief seufzend Cocles und befahl ihm, den Fremden zu Herrn Morrel zu führen. Cocles ging voraus und der Fremde folgte. Auf der Treppe begegnete man einem hübschen jungen Mädchen, das den Fremden voll Unruhe anschaute. Cocles bemerkte diesen Gesichtsausdruck nicht, der jedoch dem Fremden keines Wegs entgangen zu sein schien.

»Herr Morrel ist in seinem Kabinett, nicht wahr, Fräulein Julie?« fragte der Kassier.

»Ja, ich glaube wenigstens«, antwortete das Mädchen zögernd; »sehen Sie zuerst nach, Cocles, und wenn mein Vater dort ist, melden Sie den Herrn.«

»Es wäre unnütz, mich zu melden«, erwiderte der Engländer, »Herr Morrel kennt meinen Namen nicht. Dieser brave Mann mag ihm nur sagen, ich sei der erste Commis der Herren Thomson und French in Rom, mit denen das Haus Ihres Herrn Vaters in Verbindung steht.«

Das Mädchen erbleichte und ging vollends die Treppe hinab, und der Fremdling ging vollends hinauf. Julie, wie sie der Kassier genannt hatte, trat in das Bureau, wo sich Emmanuel aufhielt, und Cocles öffnete mit Hilfe eines Schlüssels, dessen Besitzer er war, eine Türe in der Ecke des Ruheplatzes, im zweiten Stocke, führte den Fremden in ein Vorzimmer, öffnete eine zweite Türe, die er wieder hinter sich schloß, und erschien sodann, nachdem er den Abgesandten des Hauses Thomson und French einen Augenblick allein gelassen hatte. abermals und bedeutete ihm durch ein Zeichen, er könnte eintreten. Der Fremde fand Herrn Morrel an seinem Schreibtische sitzend und erbleichend vor den furchtbaren Kolonnen, in denen sein Passivum eingetragen war. Als Herr Morrel den Fremden erblickte, stand er auf und schob einen Stuhl vor; sobald er sah, daß der Fremde sich gesetzt hatte, setzte er sich ebenfalls wieder.

Vierzehn Jahre hatten eine gewaltige Veränderung bei dem würdigen Handelsherrn hervorgebracht, welcher, am Anfang dieser Geschichte sechsunddreißig Jahre alt. nun das fünfzigste erreichen auf dem Punkte stand. Seine Haare hatten sich gebleicht, seine Stirne war unter sorgenvollen Runzeln ausgehöhlt; sein einst so fester, bestimmter Blick war unbestimmt, unentschlossen geworden, und schien bange zu haben, er könnte genötigt werden, auf einem Gedanken oder auf einem Menschen zu haften. Der Engländer schaute ihn mit einem Gefühle der Neugierde an, das offenbar mit Teilnahme gemischt war.

»Mein Herr«, sagte Morrel, dessen Unbehaglichkeit dieses Anschauen zu verdoppeln schien, »Sie wünschten mich zu sprechen?«

»Ja, mein Herr; Sie wissen, in wessen Namen ich komme?«

»Im Namen des Hauses Thomson und French, wenigstens wie mir mein Kassier gesagt hat.«

»Er sagte Ihnen die Wahrheit. Das Haus Thomson und French soll im Laufe dieses Monats und des nächsten in Frankreich drei bis viermal hunderttausend Franken bezahlen, und hat, vertraut mit Ihrer strengen Pünktlichkeit. alle Pariere aufgekauft, welche es mit Ihrer Unterschrift finden konnte, wobei mir der Auftrag geworden ist, nach Maßgabe des Verfalls die Gelder bei Ihnen zu erheben und sodann zu verwenden.«

Morrel stieß einen tiefen Seufzer aus, fuhr mit der Hand über seine schweißbedeckte Stirne und erwiderte:

»Sie haben also von mir unterzeichnete Tratten?«

»Ja, mein Herr, für eine beträchtliche Summe.«

»Für welche Summe?« fragte Herr Morrel mit einer Stimme, welcher er Sicherheit zu verleihen strebte.

»Einmal«, sagte der Engländer, ein Päckchen aus der Tasche ziehend, »einmal habe ich hier eine Abtretung von zweimal hunderttausend Franken, ausgestellt an unser Haus von Herrn von Boville, Inspektor der Gefängnisse. Erkennen Sie an, daß Sie Herrn von Boville diese Summe schuldig sind?«

»Ja, mein Herr, er hat sie zu vier und einem halben Prozent vor bald fünf Jahren bei mir angelegt.«

»Und Sie haben den Betrag zurückzubezahlen?«

»Hälftig am fünfzehnten dieses, hälftig am fünfzehnten des nächsten Monats.«

»So ist es; dann habe ich hier zweiunddreißig tausend fünfhundert Ende dieses; es sind von Ihnen unterzeichnete und von Dritten an unser Haus übertragene Tratten.«

»Ich erkenne sie an«, sagte Herr Morrel, dem beidem Gedanken, daß er zum ersten Male in seinem Leben vielleicht seiner Unterschrift nicht entsprechen könnte, die Schamröte in das Gesicht stieg. »Ist das Alles?«

»Ich habe noch auf Ende nächsten Monats diese Pariere, welche das Haus Pascale und das Haus Wild und Turner in Marseille an uns verkauften, etwa fünfundfünfzig tausend Franken, im Ganzen zweimal hundert siebenundachtzig tausend fünfhundert Franken.«

Es läßt sich nicht beschreiben, was der unglückliche Morrel während dieser Aufzählung litt.

»Zweimal hundert siebenundachtzig tausend fünfhundert Franken«, wiederholte er maschinenmäßig.

»Ja, mein Herr«, sprach der Engländer. »Ich kann Ihnen nun nicht verbergen«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort, »daß, während man Ihre bis jetzt vorwurfsfreie Redlichkeit zu schützen weiß, in Marseille das Gerücht geht, Sie seien nicht im Stande, Ihre Angelegenheiten durchzuführen.«

Bei dieser beinahe rohen Eröffnung erbleichte Herr Morrel furchtbar.

»Mein Herr«, sagte er, »bis jetzt, und es sind mehr als zwanzig Jahre, seitdem ich das Haus aus den Händen meines Vaters übernommen habe, der es selbst fünfunddreißig Jahr führte, bin jetzt ist kein von Morrel und Sohn unterzeichnetes Papier an der Kasse präsentiert worden, ohne daß wir Zahlung dafür geleistet hatten.«

»Ja, ich weiß dies; doch sprechen Sie offenherzig, wie ein Ehrenmann zum andern: werden Sie diese Papiere mit derselben Pünktlichkeit bezahlen?«

Morrel bebte und schaute denjenigen an, welcher mit größerer Sicherheit zu ihm sprach, als er es bis dahin getan hatte.

»Auf so offenherzig gestellte Fragen«, antwortete er, »muß ich eine offenherzige Antwort geben. Ja, mein Herr, ich bezahle, wenn mein Schiff, wie ich hoffe, glücklich im Hafen einläuft, denn seine Ankunft wird mir den Kredit wiedergeben, den mir schnell auseinander folgende Unglücksfälle, deren Opfer ich gewesen bin, geraubt haben: bliebe aber die Pharao, die letzte Quelle, auf die ich zähle, aus . . . «

Die Tränen traten dem armen Reeder in die Augen.

»Nun?« fragte der Engländer, »bliebe diese letzte Quelle aus?«

»Es ist grausam zu sagen . . . doch, bereits an das Unglück gewöhnt, muß ich mich auch an die Schmach gewöhnen . . . nun! ich glaube, daß ich genötigt wäre, meine Zahlungen einzustellen.«

»Haben Sie keine Freunde, welche Sie unter diesen Umständen unterstützen könnten?« fragte der Engländer.

Herr Morrel lächelte traurig und erwiderte:

»In den Geschäften hat man keine Freunde, wie Sie wissen, sondern nur Korrespondenten.«

»Das ist wahr«, murmelte der Engländer.

»Sie nähren also keine Hoffnung mehr.«

»Eine einzige.«

»Die letzte?«

»Die letzte.«

»Und wenn diese Hoffnung sich nicht verwirklicht?«

»Bin ich zu Grunde gerichtet, mein Herr, völlig zu Grunde gerichtet.«

»Als ich zu Ihnen kam, lief ein Schiff im Hasen ein.«

»Ich weiß es. Ein junger Mann, der mir im Unglück treu geblieben ist, bringt einen Teil seiner Zeit auf einem Belvedere oben auf dem Hause zu, in der Hoffnung, mir zuerst eine gute Nachricht mitteilen zu können. Von ihm habe ich die Ankunft dieses Schiffes erfahren.«

»Ist es nicht das Ihrige?«

»Nein, es ist ein bordolesiscben Schiff, die Gironde; es kommt ebenfalls von Indien, ist aber nicht dasjenige, welches ich erwarte.«

»Vielleicht hat es Kenntnis von der Pharao und bringt Ihnen Kunde.«

»Sol! ich es Ihnen sagen, mein Herr, ich fürchte beinahe eben so sehr. Nachricht von meinem Dreimaster zu erhalten, als in Ungewissheit zu bleiben. Die Ungewissheit ist noch Hoffnung.«

Dann fügte Herr Morrel mit dumpfem Tone bei:

»Dieses Zögern ist nicht natürlich, die Pharao ist am 5. Februar von Calcutta abgegangen und sollte seit mehr als einem Monat hier sein.«

»Was ist das?« fragte der Engländer horchend; »in an soll diesen Geräusch bedeuten?«

»Ah, mein Gott! mein Gott!« rief Morrel erbleichend, »was gibt es wieder?«

Es entstand wirklich ein gewaltigen Geräusch auf der Treppe, man ging ab und zu, man hörte sogar einen Schrei des Schmerzes Morrel stand auf, um die Türe zu öffnen, doch es gebrach ihm an Kraft, und er fiel in seinen Stuhl zurück.

Die zwei Männer blieben einander gegenüber Morrel an allen Gliedern zitternd, der Engländer ihn mit einem Ausdrucke tiefen Mitleids anschauend. Der Lärmen hörte auf, aber es schien dennoch, als ob Morrel etwas erwartete: dieser Lärmen hatte eine Ursache und mußte eine Folge haben. Es kam dem Fremden vor, als stiege man sachte die Treppe herauf, und als ob die Tritte, welche von mehren Personen herrührten, auf dem Ruheplatz anhielten. Ein Schlüssel wurde in das Schloß der ersten Türe gesteckt, und man hörte diese auf ihren Angeln knarren

»Nur zwei Personen haben den Schlüssel zu dieser Türe«, murmelte Morrel: »Cocles und Julie.«

Zu gleicher Zeit öffnete sich die Türe, und man sah das Mädchen bleich und die Wangen in Tränen gebadet erscheinen. Morrel stand zitternd auf und stützte sich auf den Arm seines Lehnstuhles, denn er hätte sich nicht aufrecht zu halten vermocht. Seine Stimme wollte fragen, aber er hatte keinen Ton mehr.

»Oh, mein Vater!« sagte das Mädchen. die Hände faltend, »verzeihen Sie Ihrem Kinde, das es Ihnen eine schlimme Botschaft bringt.«

Morrel wurde furchtbar bleich; Julie warf sich in seine Arme.

»Oh, mein Vater! mein Vater!« rief sie, »Mut gefaßt!«

»Die Pharao ist also zu Grunde gegangen?« fragte Morrel mit zusammengeschnürter Stimme.

Das Mädchen antwortete nicht, sondern machte nur ein bejahenden Zeichen mit seinem an die Brust des Vaters angelehnten Kopfe.

»Und die Mannschaft?« fragte Morrel.

»Gerettet«, antwortete das Mädchen, »gerettet durch das bordolesische Schiff, das so eben in den Hafen eingelaufen ist.«

Morrel hob seine beiden Hände mit einem Ausdruck voll Resignation und erhabener Dankbarkeit zum Himmel empor und sprach:

»Ich danke, mein Gott, ich danke; wenigstens schlägst Du nur mich allein.«

So phlegmatisch der Engländer war, so befruchtete doch eine Träne sein Augenlid.

»Tretet ein«, sagte Herr Morrel, »denn ich vermute, Ihr seid Alle vor der Türe.«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als wirklich Madame Morrel schluchzend eintrat; Emmanuel folgte ihr; im Vorzimmer sah man die rauen Gesichter von sieben bin acht halb nackten Matrosen. Beim Anblick dieser Menschen bebte der Engländer, er machte einen Schritt, als wollte er auf sie zugehen, aber er bemeisterte sich und drückte sich im Gegenteil in den entferntesten, dunkelsten Winkel den Kabinetts. Madame Morrel setzte sich in den Lehnstuhl und nahm eine von den Händen ihren Gatten in die ihrigen, während Julie an die Brust ihres Vaters gelehnt, stehen blieb. Emmanuel stand mitten im Zimmer und schien als Band zwischen der Gruppe der Familie Morrel und den Matrosen an der Türe zu dienen.

»Wie hat sich das zugetragen?« fragte Herr Morrel.

»Tretet näher Penelon«, sagte der junge Mann, »und erzählt das Ereignis.«

Ein alter, von der Sonne den Äquators bronzierter Matrose trat, zwischen seinen Händen den Überrest einen Hutes hin- und herdrehend, vor und sagte

»Guten Morgen, Herr Morrel«, als ob er Marseille am Tage vorher verlassen hätte und von Aix oder Toulon käme.

»Guten Morgen, mein Freund«, erwiderte Herr Morrel, der sich einen Lächelns unter seinen Tränen nicht enthalten konnte: »aber wo ist der Kapitän?«

»Was den Kapitän betrifft, Herr Morrel, er ist krank in Palma geblieben; doch wenn es Gott gefällt, wird es nichts sein, nur Sie sehen ihn in einigen Tagen so wohl und gesunde, als wir Beide sind, ankommen.«

»Gut . . . nun sprecht, Penelon.«

Penelon ließ seinen Kautabak aus der linken Backe in die rechte übergehen, hielt die Hand vor seinen Mund, schleuderte in das Vorzimmer einen Guß schwärzlichen Speichels, rückte den Fuß vor und sprach, sich auf seinen Hüften wiegend:

»Herr Morrel, wir waren so etwas zwischen dem Cap Blanc und dem Cap Bogador, und liefen mit einem guten Süd-Süd-West, nachdem wir nun acht Tage lang mit der Windstille abgemühte hatten, als sich der Kapitän Goumard mir näherte (ich muß Ihnen bemerken, daß ich am Steuerruder war), und zu mir sagte: ›Vater Penelon,‹ sagte er, ›was denkst Du von den Wolken, die sich dort am Horizont erheben?‹ Ich betrachtete sie mir gerade in diesem Augenblick. ›Was ich davon denke, Kapitän? ich denke, sie steigen ein wenig schneller, als es sich gebührt, und sind schwärzer, als es Wolken zusteht, welche keine schlimme Absicht haben.‹ — ›Das ist auch meine Meinung,‹ sagte der Kapitän, ›ich will immerhin Vorsichtsmaßregeln treffen.Wir haben zu viele Siegel für den Wind, der sogleich kommen wird . . . Holla! He! bindet die Bramsegel ein und holt den fliegenden Klüver an.‹

Es war die höchste Zeit. der Befehl war nicht sobald ausgeführt, als wir den Wind auf den Fersen hatten und das Schiff sich auf die Seite legte. ›Gut!‹ sagte der Kapitän, ›wir haben noch zu viel Tuch außen: geit das große Segel auf!‹ Fünf Minuten nachher war das große Segel gegeit und wir liefen mit der Focke, dem Marnsegel und den Toppsegeln. ›Nun, Vater Penelon«, sagte der Kapitän zu mir, ›was hast Du denn mit dem Kopfe zu schütteln.‹ — Was ich habe? an Ihrer Stelle würde ich nicht auf so schönem Wege bleiben.‹ ›Ich glaube, Du hast Recht, Alter, wir werden einen Windstoß bekommen.‹ — ›Ah, den Teufel, Kapitän!‹ antwortete ich, ›weh uns, was sich da unten braut, für einen Windstoß abkaufte, würde etwas dabei gewinnen; es ist ein guter schöner Sturm, oder ich verstehe mich nicht darauf.‹ Das heißt, man sah den Wind kommen, wie man den Staub in Mondredon ankommen sieht; zum Glücke hatte er es mit einem Manne zu tun, der ihn kannte. ›Nehmt zwei Ringe in den Marssegeln ein‹,rief der Kapitän, ›laßt die Boleinen laufen, braßt an, streicht die Marnsegel ein, zieht die Takel auf die Rahen herunter!‹«

»Das war in jener Gegend nicht genug«, sagte der Engländer; »ich hätte vier Ringe genommen und mich der Focke entledigt.«

Diese feste, sonore, unerwartete Stimme machte Jedermann beben. Penelon hielt seine Hand über die Augen und schaute denjenigen an, welcher mit so viel Sicherheit das Mauoeuvre seinen Kapitän beurteilte.

»Wir taten noch etwas Besseres«, sagte er mit einer gewissen Achtung, »denn wir geiten die ganze Brigantine und legten den Helmstock nach dem Winde, um vor dem Sturm zu laufen. Zehn Minuten nachher geiten wir die Marnsegel auf und trieben vor Topp und Tafel.«

Der Engländer schüttelte den Kopf und sprach:

»Das Schiff war zu alt, um dies zu wagen.«

»Das ist es gerade, was unser Verderben herbeiführte. Nachdem wir zwölf Stunden lang hin- und hergeworfen worden waren, zeigte sich ein Leck. ›Penelon,‹ sagte der Kapitän zu mir, ›ich glaube, wir sinken, mein Alter; gib mir das Steuerruder und steige in den Raum hinab.‹ Ich gebe ihm das Steuerruder und gehe hinab; es hatte bereits drei Fuß Wasser. Ich steige wieder hinauf und rufe: ›Zu den Puinpen! Zu den Pumpen!‹ Ah! ja wohl; es war zu spät. Man ging an die Arbeit; aber ich glaube, je mehr wir herauszogen, desto mehr kam hinein. Ho! Nach einer vierstündigen Arbeit . . . sinken wir, so wollen wir sinken lassen, man stirbt nur einmal. ›Ah! Meister Penelon,‹ spricht der Kapitän, ›Ihr gebt ein solches Beispiel? wohl, wartet, wartet!‹ Er holt ein Paar Pistolen aus der Kajüte und ruft zurückkehrend: ›Dem Ersten, der die Pumpe verläßt, zerschmettere ich die Hirnschale!‹«

»Schön«, sagte der Engländer.

»Nichts verleiht so viel Mut, als gute Gründe«, fuhr der Matrose fort; »überdies hatte sich das Wetter mittlerweile aufgehellt und der Wind sich gelegt; nichtsdestoweniger stieg das Wasser fortwährend, nicht um viel, vielleicht um zwei Zell in der Stunde, aber es stieg; zwei Zoll in der Stunde, sehen Sie, das sieht aus wie nichts, aber in zwölf Stunden macht es nicht weniger als vierundzwanzig Zoll, und vierundzwanzig geben zwei Fuß. Zwei Fuß und drei, die wir schon hatten, das machte uns fünf. Wenn aber ein Schiff fünf Fuß Wasser im Bauche hat, so kann es für wassersüchtig angesehen werden. ›Gut,‹ sagte der Kapitän, ›es ist genug so, und Herr Morrel kann uns keinen Vorwurf machen; wir haben getan, was wir tun konnten, um das Schiff zu retten; nun müssen wir die Mannschaft zu retten suchen. An die Schaluppe, Kinder, so geschwind als immer möglich!‹«

»Hören Sie, Herr Morrel, »fuhr Penelon fort, »wir liebten die Pharao ungemein; aber wie sehr auch der Seefahrer sein Schiff lieben mag, so liebt er doch noch mehr seine Haut. Wir ließen es uns auch nicht zweimal sagen: dabei war es, als spräche das Schiff zu uns: ›Geht doch! geht doch!‹ und sie log nicht, die arme Pharaon, wir fühlten sie buchstäblich unter unseren Füßen in die Tiefe sinken. So viel ist gewiss, daß in einem Nu die Schaluppe in der See war und wir uns alle Acht darin befanden. Der Kapitän stieg zuletzt hinab, oder Vielmehr nein, er stieg nicht hinab, denn er wollte das Schiff nicht verlassen; ich faßte ihn mit dem Arme um den Leib, warf ihn den Kameraden zu und sprang dann ebenfalls. Es war die höchste Zeit. Kaum hatte ich den Sprung gemacht, als das Verdeck mit einem Geräusche zersprang, daß man es hätte für die Lage eines Schusses von achtundvierzig Kanonen halten sollen. Zehn Minuten nachher tauchte es mit dem Vorderteile unter, dann mit dem Hinterteile, dann drehte es steh um sich selbst, wie ein Hund, der seinem Schweife nachläuft, und endlich eine gute Nacht der Gesellschaft, brrrrrn! . . . Alles war abgetan, keine Pharao mehr!«

»Wir brachten drei Tage zu, ohne zu essen und zu trinken, und sprachen schon davon, das Loos zu ziehen, wer den Anderen zur Nahrung dienen sollte, als wir die Gironde gewahrten; wir machten ihr Signale, sie sah uns, segelte auf uns zu schickte uns ihre Schaluppe und nahm uns auf. So hat sich die Sache ereignet, auf Ehrenwort, Herr Morrel, auf Seemannswort! Nicht wahr, Ihr Leute?«

Ein allgemeines Gemurmel der Beistimmung deutete an, daß der Erzähler alle Stimmen durch die Wahrheit der Hauptsache und durch das Pittoreske der einzelnen Umstände vereinigt hatte.

»Gut, mein Freund«, sagte Herr Morrel, »Ihr seid brave Leute, und ich wußte zum Voraus, daß bei dem Unglück, das mir begegnet ist, niemand Anderes die Schuld hatte, als mein Verhängnis. Es ist der Wille Gottes, und nicht der Fehler der Menschen. Verehren wir den Willen Gottes. Nun sagt, wie viel Sold ist man Euch schuldig?«

»Ah! bah . . . sprechen wir nicht davon, Herr Morrel.«

»Im Gegenteil. sprechen wir davon«, erwiderte mit einem traurigen Lächeln der Reeder.

»Nun wohl, man ist uns drei Monate schuldig.«

»Cocles, bezahlen Sie jedem von diesen braven Leuten zweihundert Franken. In einer andern Epoche, meine Freunde«, fuhr Herr Morrel fort, »hätte ich beigefügt: Geben Sie jedem zweihundert Franken als außerordentliches Geschenk, aber die Zeiten sind ungünstig, meine Freunde, und das wenige Geld, das mir übrig bleibt, ist nicht mehr mein Eigentum; entschuldigt mich also und liebt mich darum nicht minder.«

Penelon machte eine Grimasse der Rührung, wandte sich gegen seine Gefährten um, sprach einige Worte, mit ihnen, kam dann zurück und sagte, nachdem er seinen Kautabak in die andere Seite des Mundes übergearbeitet und einen zweiten Guß Speichel, welcher das Pendant zu dem ersten werden sollte, in das Vorzimmer geschleudert hatte.

»Was das betrifft, Herr Morrel, was das betrifft . . . «

»Was denn?«

»Das Geld.«

»Nun?«

»Nun, Herr Morrel, die Kameraden meinen, sie hätten für diesen Augenblick mit fünfzig Franken jeder genug, und sie könnten mit dem Reste warten.«

»Ich danke, meine Freunde«, rief Herr Morrel, tief erschüttert; »Ihr seid brave Leute; aber nehmt nur, nehmt, und wenn Ihr einen guten Dienst findet, tretet ein, Ihr seid frei.«

Diese letzten Worte brachten eine wunderbare Wirkung auf die Matrosen hervor; sie schauten einander mit bestürzter Miene an. Penelon, dem es an Atem fehlte, hätte beinahe seinen Kautabak verschluckt; zum Glück fuhr er zu rechter Zeit mit der Hand an seine Zunge.

»Wie, Herr Morrel!« sagte er mit einer zusammengepreßten Stimme, »wie! Sie schicken uns weg, Sie sind also unzufrieden mit uns?«

»Nein, meine Kinder«, erwiderte der Reeder, »nein, ich bin nicht unzufrieden mit Euch, im Gegenteil; nein, ich schicke Euch nicht weg. Aber was wollt Ihr, ich habe kein Schiff mehr, und bedarf folglich auch keiner Matrosen.«

»Wie! Sie haben keine Schiffe mehr?« rief Penelon; »wohl, Sie lassen andere bauen, und wir warten.«

»Ich habe kein Geld mehr, um Schiffe bauen zulassen, Penelon«, entgegnete Herr Morrel traurig lächelnd; »ich kann also Euer Anerbieten nicht annehmen, so freundlich es auch ist.«

»Wohl, wenn Sie kein Geld haben, so müssen Sie uns nicht bezahlen, wir machen es, wie es die arme Pharao gemacht hat, und treiben vor Topp und Tafel.«

»Genug, genug, meine Freunde«, erwiderte Herr Morrel, dem vor Rührung die Sprache beinahe versagte. »Wir werden uns in besseren Zeiten wiederfinden. Emmanuel«, fügte der Reeder bei, »begleiten Sie diese braven Leute und seien Sie dafür besorgt, daß meine Wünsche erfüllt werden.«

»Also wenigstens auf Wiedersehen, nicht wahr Herr Morrel?« versetzte Penelon.

»Ja, meine Freunde, ich hoffe wenigstens; geht.«

Auf ein Zeichen seiner Hand marschierte Cocles voran. Die Matrosen folgten dem Kassier und Emmanuel folgte den Matrosen.

»Nun laßt mich einen Augenblick allein«, sagte der Reeder zu seiner Frau und zu seiner Tochter, »ich habe mit diesem Herrn zu sprechen.«

Und er bezeichnete mit den Augen den Bevollmächtigten des Hauses Thomson und French, welcher unbeweglich in seiner Ecke während dieser Szene stehen geblieben war, an der er nur mit den von uns erwähnten paar Worten Teil genommen hatte. Die Frauen schauten den Fremden an, den sie völlig vergessen hatten, und entfernten sich sodann; aber während sich die Tochter zurückzog, warf sie auf diesen Mann einen erhabenen Blick inständiger Bitte, den er mit einem Lächeln erwiderte, welches auf diesem eisigen Gesichte hervortreten zu sehen, ein kalter Beobachter erstaunt sein würde. Die zwei Männer blieben allein.

»Nun, mein Herr«, sagte Morrel, »Sie haben Alles gesehen, Alles gehört, und ich habe Ihnen nichts mehr mitzuteilen.«

»Ich habe gesehen, mein Herr«, erwiderte der Engländer, »daß Ihnen ein neues Unglück, so unverdient als die anderen, widerfahren ist, und das hat mich in meinem Wunsche, Ihnen angenehm zu sein. Bestärkt.«

»Oh! mein Herr . . . «

»Ich bin einer von Ihren Hauptgläubigern, nicht wahr?«

»Sie sind wenigstens derjenige, welcher die kurzsichtigsten Wechsel von mir in Händen hat.«

»Sie wünschen eine Fristverlängerung, um mich zu bezahlen?«

»Eine Fristverlängerung könnte mir die Ehre und folglich das Leben retten.«

»Wie viel verlangen Sie?«

»Zwei Monate«, sagte Morrel zögernd.

»Gut«, sprach der Fremde, »ich gebe Ihnen drei.«

»Doch glauben Sie, daß das Haus Thomson und French . . . ?«

»Seien Sie unbesorgt, ich nehme Alles auf mich,  . . . Wir haben heute den 5. Juni?«

»Ja.«

»Nun, erneuern Sie mir alle diese Papiere auf den 5. September, und am 5. September um elf Uhr Morgens (die Pendeluhr bezeichnete gerade in diesem Augenblick die elfte Stunde), werde ich mich bei Ihnen einfinden.«

»Ich werde Sie erwarten, mein Herr, und Sie sollen Bezahlung erhalten, oder ich bin tot.«

Diese letzten Worte sprach Morrel so leise, dass sie der Fremde nicht hören konnte. Die Papiere wurden erneuert, man zerriß die alten, und der arme Reeder hatte wenigstens drei Monate vor sich, um seine letzten Mittel aufzubieten. Der Engländer empfing seinen Dank mit dem seiner Nation eigentümlichen Phlegma und nahm von Morrel Abschied, der ihn unter Segnungen bis an die Türe zurückführte. Auf der Treppe traf er Julie; das Mädchen tat, als ob es hinabginge, aber es wartete auf ihn.

»O! mein Herr . . . « rief Julie, die Hände faltend.

»Mein Fräulein«, sagte der Fremde, »Sie werden eines Tages einen Brief, unterzeichnet . . . Simbad der Seefahrer . . .  bekommen. Thun Sie Punkt für Punkt, was der Brief sagt, so seltsam Ihnen auch die Aufforderung erscheinen mag.«

»Gut, mein Herr«, erwiderte Julie.

»Versprechen Sie es mir?«

»Ich schwöre es Ihnen.«

»Leben Sie wohl, mein Fräulein; bleiben Sie stets ein gutes, frommes Mädchen, und ich hoffe, Gott wird Sie dadurch belohnen, daß er Ihnen Herrn Emmanuel zum Gatten gibt.«

Julie stieß einen leichten Schrei aus, wurde rot wie eine Kirsche, und hielt sich am Geländer, um nicht zu fallen. Der Engländer entfernte sich mit einer Gebärde des Abschiedes. Im Hofe begegnete er Penelon; dieser hatte eine Rolle von hundert Franken in jeder Hand, und schien sich nicht entschließen zu können, das Geld fortzutragen.

»Kommt, mein Freund«, sagte der Engländer zu ihm, »ich habe mit Euch zu sprechen.«

 

III. Der fünfte September.

Die von dem Mandatar des Hausen Thomson und French in dem Augenblick, wo es Morrel am wenigsten erwartete, bewilligte Frist glaubte der arme Reeder als eine von jenen Wiederscheinungen des Glückes betrachten zu dürfen, welche dem Menschen verkündigen, das Schicksal sei endlich müde geworden, auf sein Verderben los zuarbeiten. An demselben Tage erzählte er das, was ihm begegnet war, seiner Tochter, seiner Frau und Emmanuel, und es kehrte ein wenig Hoffnung, wenn nicht Ruhe, in die Familie zurück. Leider aber hatte es Morrel nicht allein mit dem Hause Thomson und French zu tun, das sich so nachsichtig gegen ihn zeigte. Im Handel hat man, wie er selbst sagte, Korrespondenten und keine Freunde. Bei schärferer Überlegung konnte er sogar das edelmütige Benehmen der Herren Thomson und French gegen Ihn gar nicht begreifen, und er erklärte sich dasselbe nur durch folgende selbstsüchtige Betrachtung, welche dieses Haue angestellt haben dürfte: Besser einen Mann unterstützen, der uns beinahe dreimal hunderttausend Franken schuldig ist, und diese dreimal hunderttausend Franken nach Verlauf von drei Monaten haben, als seinen Untergang beschleunigen und sechs bis sieben Prozent vom Kapital bekommen.

Zum Unglück stellten, sei es aus Haß, sei es aus Verwendung, nicht alle Korrespondenten von Morrel dieselben Betrachtungen an, und einige machten sogar den entgegengesetzten Schluß. Die von Morrel unterzeichneten Tratten wurden daher mit ängstlicher Strenge an der Kasse präsentiert, aber von Cocles, in Folge der von dem Engländer bewilligten Frist, ohne Verzug bezahlt; Cocles verharrte fortwährend in seiner prophetischen Ruhe. Herr Morrel allein sah mit Schrecken, das er, wenn er am 15. die hunderttausend Franken von Herrn von Boville, und am 30. die zweiunddreißig tausend fünfhundert Franken, für welche er, wie für die Schuldforderung des Inspektors der Gefängnisse, eine Frist erhalten, hätte bezahlen müssen, schon am Ende dieses Monats ein verlorener Mann gewesen wäre.

Der ganze Handelsstand in Marseille war der Meinung, nach den Unglücksfällen, welche Herrn Morrel hintereinander getroffen, könnte dieser sich nicht halten. Man staunte daher nicht wenig, als man sah, daß sein Monatsschluß sich mit der gewöhnlichen Pünktlichkeit bewerkstelligte. Doch das Vertrauen kehrte darum nicht in die Geister zurück, und man verschob einstimmig auf das Ende des nächsten Monats die Insolvenzerklärung des unglücklichen Reeders.

Der ganze Monat verging in unerhörten Anstrengungen von Seiten Morrels, um alle seine Mittel aufzubieten. Früher wurde sein Papier, auf welches Datum es auch ausgestellt sein mochte, mit Vertrauen angenommen, und sogar gesucht. Morrel wollte Papier auf neunzig Tage negociren, und fand alle Bauten geschlossen. Zum Glück hatte Morrel selbst einige Heimzahlungen zu erwarten, auf welche er rechnen konnte, und die erwarteten Gelder gingen auch wirklich ein; Morrel fand sich dadurch abermals in den Stand gesetzt, seinen Verbindlichkeiten zu entsprechen, als das Ende des Juli erschien.

Den Mandatar des Hauses Thomson und French hatte man übrigens nicht mehr in Marseille gesehen, Er war am ersten oder zweiten Tage nach seinem Besuche bei Herrn Morrel verschwunden, und da er in Marseille nur mit dem Maire, dem Inspektor der Gefängnisse und Herrn Morrel verkehrt hatte, so ließ seine Anwesenheit keine andere Spur zurück, als die verschiedenen Erinnerungen, welche diese drei Personen von ihm bewahrten. Die Matrosen der Pharao hatten, wie es scheint, irgend ein Unterkommen gefunden, denn sie waren ebenfalls verschwunden,

Von der Unpäßlichkeit, die ihn in Palma zurückgehalten, wiedergenesen, kehrte der Kapitän Gaumard ebenfalls zurück. Er zögerte, sich bei Morrel zu zeigen, aber dieser erfuhr seine Ankunft und suchte ihn selbst auf. Der würdige Reeder kannte vorher schon, durch die Erzählung von Penelon, das mutige Benehmen des Kapitäns während des unglücklichen Ereignisses, und er war es nun, der den Seemann zu trösten suchte. Er brachte ihm den Betrag seines Soldes, den der Kapitän Gaumard nicht zu erheben gewagt hätte.

Als Herr Morrel die Treppe hinabging, begegnete er Penelon, welcher gerade heraufstieg. Penelon hatte, wie es schien, sein Geld gut angewendet, denn er war ganz neu gekleidet. Seinen Reeder erblickend, wurde der würdige Rudergänger sehr verlegen; er drückte sich in die entfernteste Ecke des Ruheplatzes, schob abwechselnd seinen Kautaback von der Rechten zur Linken und von der Linken zur Rechten, wälzte seine Augen ganz verwirrt in ihren Höhlen umher und erwiderte nur mit einer schüchternen Berührung den Händedruck, den ihm Herr Morrel mit seiner gewöhnlichen Herzlichkeit bot. Herr Morrel schrieb die Verlegenheit von Penelon seiner eleganten Toilette zu: der brave Mann hatte sich offenbar nicht auf seine Rechnung einen solchen Luxus erlaubt; er war also ohne Zweifel bereits an Bord eines anderen Schiffes angeworben und schämte sich, daß er nicht, wenn man so sagen darf, länger Trauer um die Pharao getragen hatte. Vielleicht kam er sogar, um Kapitän Gaumard sein Glück mitzuteilen und ihm Anerbietungen im Auftrage seines neuen Herrn zu machen.

»Brave Leute!« sprach Herr Morrel sich entfernend, »möchte Euer neuer Herr Euch lieben, wie ich Euch liebte, und glücklicher sein, als ich bin!«

Der August verlief in beständig erneuerten Versuchen von Herrn Morrel, seinen alten Kredit wieder zu heben und sich einen neuen zu eröffnen. Am 20.August wußte man in Marseille, daß er einen Platz auf der Mallepost genommen hatte, und man sagte sich jetzt, am Ende dieses Monates müßte die Insolvenzerklärung stattfinden, und Morrel wäre vorher schon abgereist, um nicht diesem grausamen, ohne Zweifel seinem ersten Commis Emmanuel oder seinem Kassier Cocles übertragenen Akte beizuwohnen. Als aber der 31. kam, öffnete sich die Kasse wie gewöhnlich gegen alle Voraussicht. Cocles erschien hinter dem Gitter, ruhig wie der Gerechte von Horaz, untersuchte mit derselben Aufmerksamkeit das Papier, welches man ihm präsentierte, und bezahlte die Tratten von der ersten bis zur letzten mit gleicher Pünktlichkeit. Man begriff dies durchaus nicht und verschob mit der den Propheten schlimmer Kunde eigentümlichen Hartnäckigkeit den Bankrott auf das Ende des September.

Am 1. kam Herr Morrel zurück, er wurde von seiner ganzen Familie mit der größten Bangigkeit erwartet; auf dieser Reife beruhte die letzte Hoffnung auf ein Rettungsmittel. Morrel hatte an Danglars gedacht, der heute ein Millionär und ihm einst verpflichtet war; denn auf die Empfehlung von Morrel war Danglars in den Dienst des spanischen Bankier getreten, bei welchem er sein ungeheures Vermögen zu erwerben angefangen hatte. Heute hatte Danglars, wie man sagte, selbst sechs bis acht Millionen und einen unbegrenzten Kredit. Danglars konnte Morrel retten, ohne einen Taler aus der Tasche zu ziehen; er durfte sich nur für ein Anlehen verbürgen, und Morrel war gerettet. Morrel dachte seit geraumer Zeit an Danglars: aber es gibt ein instinktartiges Widerstreben, das man nicht zu bemeistern vermag: Morrel zögerte so lange als möglich, zu diesem letzten Mittel seine Zuflucht zu nehmen. Und er hatte Recht, denn er kam gelähmt unter der Demütigung einer abschlägigen Antwort zurück.

Er stieß bei seiner Ankunft keine Klage aus, brachte keine Anschuldigung vor; er umarmte nur weinend seine Frau und seine Tochter, reichte Emmanuel freundschaftlich die Hand, verlangte nach Cocles und schloß sich mit diesem in sein Kabinett im zweiten Stocke ein.

»Diesmal«, sagten die zwei Frauen zu Emmanuel, »diesmal sind wir verloren.«

In einer kurzen Beratung, welche sie unter sich pflogen, wurde sodann beschlossen, daß Julie an ihren Bruders der in Nimes in Garnison lag, schreiben und ihn auffordern sollte, sogleich zu kommen. Die armen Frauen fühlten, daß sie aller ihrer Kräfte bedürften, um den Schlag zu ertragen, der sie bedrohte. Überdies übte Maximilian Morrel, obgleich erst zweiundzwanzig Jahre alt, doch bereits einen großen Einfluß auf seinen Vater aus.

Es war ein fester, rechtschaffener junger Mann. Als es sich darum handelte, eine Laufbahn zu wählen, wollte ihm sein Vater nicht zum Voraus seine Zukunft bestimmen, und fragte die Geschmacksrichtung des jungen Maximilian um Rat. Dieser erklärte sich für die militärische Laufbahn, machte vortreffliche Studien und trat mittelst einer Prüfung in die polytechnische Schule ein, welche er, zum Unterlieutenant im 53sten Linien-Regiment ernannt, wieder verließ. Im Regiment bezeichnete man Maximilian Morrel als strengen Beobachter, nicht nur aller dem Soldaten auferlegten Verbindlichkeiten, sondern auch aller dem Manne obliegenden Pflichten, und man nannte ihn nur den Stoiker. Es versteht sich, daß viele von denjenigen, welche ihm diesen Beinamen gaben, denselben wiederholten, weil sie ihn gehört hatten, und nicht einmal wußten, was er bedeutete. Dies war der junge Mann, den seine Mutter und seine Schwester herbeiriefen, um sie in den ernsten Umständen, in denen sie sich befinden sollten, zu unterstützen.

Sie täuschten sich nicht über das Mißliche ihrer Lage, denn einen Augenblick nachdem Herr Morrel mit Cocles in sein Kabinett gegangen war, sah Julie den letzteren bleich, zitternd und mit völlig verstörtem Gesichte wieder herauskommen. Sie wollte ihn fragen, als er an ihr vorüberging, doch der brave Mann lief mit einer bei ihm ungewöhnlichen Eile unaufhaltsam die Treppe hinab und rief ihr nur, die Hand zum Himmel erhebend zu:

»Oh, mein Fräuleins welch ein furchtbares Unglück; wer hätte das je gedacht!«

Eine Minute nachher sah ihn Julie mit ein paar dicken Handlungsbüchern, einem Portefeuille und einem Sacke Geld wieder hinaufgehen. Morrel untersuchte die Bücher, öffnete das Portefeuille und zählte das Geld. Alle baren Mittel beliefen sich auf sechs bis achttausend Franken, die Einnahmen bis zum 5ten auf vier bis fünftausend Franken, was also im höchsten Fall einen Aktivstand von vierzehn tausend Franken bildete, womit einer Tratte von zweimal hundert siebenundachtzig tausend fünfhundert Franken entsprochen werden sollte. Eine solche Abschlagszahlung anzubieten, war nicht möglich.

Als jedoch Herr Morrel zum Mittagessen herabkam, schien er ziemlich ruhig. Diese Ruhe erschreckte die zwei Frauen mehr, als es die tiefste Niedergeschlagenheit hätte tun können. Nach dem Mittagsbrote pflegte Morrel auszugehen, im Kreise der Phocäer seinen Kaffee zutrinken und den Semaphore zu lesen; an diesem Tage blieb er zu Hause und ging wieder in sein Bureau hinauf.

Coeles schien ganz stumpfsinnig; er hielt sich einen Teil des Tages, auf einem Steine sitzend und mit bloßem Kopfe bei dreißig Graden Wärme, im Hofe auf.

Emmanuel suchte die Frauen zu trösten; aber es mangelte ihm an Beredsamkeit. Der junge Mann war zu sehr in die Angelegenheiten des Hauses eingeweiht, um nicht zu fühlen, daß eine große Katastrophe der Familie Morrel bevorstand. Es kam die Nacht: die Frauen wachten in der Hoffnung, Morrel würde von seinem Kabinett herabgehend bei ihnen eintreten, doch sie hörten, wie er ohne Zweifel aus Furcht, man könnte ihn rufen, seine Tritte dämpfend, an ihrer Türe vorüber schlich. Sie horchten: er kehrte in sein Zimmer zurück und schloß die Türe von innen.

Madame Morrel hieß ihre Tochter schlafen gehen; eine halbe Stunde, nachdem sich Julie entfernt hatte, stand sie auf, zog ihre Schuhe aus und schlüpfte in den Gang, um zu sehen, was ihr Gatte machte. Im Gang erblickte sie einen Schatten, der sich zurückzog. Sie erkannte Julie, welche selbst unruhig, ihrer Mutter zuvorgekommen war. Julie ging auf Madame Morrel zu und sagte:

»Er schreibt.«

Die zwei Frauen hatten sich erraten, ohne sich zu sprechen.

Madame Morrel neigte sich zum Schlüsselloche herab. Morrel schrieb wirklich; aber was ihre Tochter nicht bemerkt hatte, das bemerkte Madame Morrel: ihr Gatte schrieb auf gestempeltes Papier. Es kam ihr der furchtbare Gedanke, er mache sein Testament; sie bebte an allen Gliedern und hatte dennoch die Kraft, nichts zusagen.

Am andern Tage erschien Herr Morrel ganz ruhig; er hielt sich wie gewöhnlich in seinem Bureau auf, kam wie gewöhnlich zum Frühstück herab; nur ließ er nachdem Mittagsbrote seine Tochter zu sich sitzen, nahm den Kopf des Kindes in seinen Arm und hielt ihn lange an seine Brust. Am Abend sagte Julie zu ihrer Mutter, sie habe, obgleich ihr Vater scheinbar ruhig gewesen, doch sein Herz heftig schlagen gefühlt. Die zwei nächsten Tage gingen ungefähr auf dieselbe Weise hin. Am 4. September Abends forderte Herr Morrel von seiner Tochter den Schlüssel seines Kabinetts zurück. Julie bebte bei dieser Forderung, welche ihr Unglück weissagend vorkam. Warum forderte ihr der Vater diesen Schlüssel ab, den, sie immer gehabt hatte, und den man ihr in ihrer Kindheit nur abnahm, wenn man sie bestrafen wollte. Sie schaute Herrn Morrel an und sagte:

»Was habe ich denn Schlimmen getan, mein Vater daß Sie mir diesen Schlüssel wieder abnehmen?«

»Nichts, mein Kind«, antwortete der unglückliche Morrel, dem bei dieser einfachen Frage die Tränen in die Augen traten: »nichts, ich brauche ihn nur.«

Julie stellte sich, als suchte sie diesen Schlüssel, sprach: »Ich werde ihn in meinem Zimmer gelassen haben«, und ging hinaus, aber statt sich in ihr Zimmer zu begeben, eilte sie hinab, um Emmanuel um Rat zu fragen.

»Geben Sie ihm den Schlüssel nicht«, sprach dieser, »und verlassen Sie ihn morgen früh, wenn es möglich ist, keinen Augenblick.«

Sie suchte Emanuel auszuforschen, doch dieser wußte nicht mehr, oder wollte nicht mehr wissen.

Die ganze Nacht vom 4. auf den 5. horchte Madame Morrel, ihr Ohr fester an das Täfelwerk haltend; bis drei Uhr Morgens hörte sie ihren Gatten in großer Aufregung im Zimmer umhergehen; erst um drei Uhr warf er sich auf sein Bett. Die zwei Frauen brachten die Nacht beisammen zu. Seit dem Vorhergehenden Abend erwarteten sie Maximilian. Um acht Uhr trat Herr Morrel in ihr Zimmer: er war ruhig, aber die Aufregung der Nacht zeigte sich auf seinem bleichen, verstörten Gesicht. Die Frauen es wagten nicht, ihn zu fragen, ob er gut geschlafen. Morrel war freundlicher gegen seine Frau und väterlicher gegen seine Tochter, als er es je gewesen; er konnte nicht satt werden, das arme Kind anzuschauen und zu küssen.

Julie erinnerte sich dessen, was ihr Emmanuel zu tun empfohlen hatte, und wollte ihrem Vater folgen, als er sich entfernte; er stieß sie jedoch sanft zurück und sagte:

»Bleib, bei Deiner Mutter.«

Julie drang in ihn, doch er sprach:

»Ich will es.«

Es war das erste Mal, daß Morrel zu seiner Tochter sprach: »Ich will es.« aber er sagte dies mit einem väterlich sanften Ausdruck, daß Julie keinen Schritt zu tun wagte. Sie blieb stumm und unbeweglich an ihrem Platze stehen. Eine Minute nachher öffnete sich die Türe, und sie fühlte zwei Arme, die sie umschlangen, und einen Mund, der sich auf ihre Stirne preßte. Sie schlug die Augen auf und stieß einen Freudenschrei aus.

»Maximilian! mein Bruder!« rief sie.

Bei diesem Rufe lief Madame Morrel herbei und warf sich in die Arme ihres Sohnes.

»Meine Mutter!« sprach der junge Mann, und schaute dabei abwechselnd Madame Morrel und ihre Tochter an; »was gibt es denn? was geht denn vor? Euer Brief hat mich erschreckt, und ich eile herbei!«

»Julie«, sagte Madame Morrel, ihrem Sohne ein Zeichen machend, »benachrichtige Deinen Vater, daß Maximilian angekommen ist.«

Julie eilte hinaus, aber auf der ersten Stufe der Treppe begegnete sie einem Manne, welcher einen Brief in der Hand hielt.

»Sind Sie nicht Fräulein Julie Morrel?« fragte dieser Mann mit sehr stark italienischem Accent.

»Ja, mein Herr«, stammelte Julie; »doch was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht.«

»Lesen Sie diesen Brief«, antwortete der Mann und reichte ihr das Billett.

Julie zögerte.

»Es handelt sich um die Wohlfahrt Ihres Vaters«, sprach der Bote.