Der Graf von Monte Christo. Band 5 - Alexandre Dumas - E-Book

Der Graf von Monte Christo. Band 5 E-Book

Dumas Alexandre

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Beschreibung

Der junge Edmond Dantès ist glücklich verlobt mit der schönen Mercedes, und ihm wird vom Reeder Morell die Position des Kapitäns eines Segelschiffs in Aussicht gestellt. Alle seine Wünsche scheinen sich zu erfüllen. Doch er wird vom höchsten Glück in den tiefsten Abgrund geschleudert, als es zu einem hinterhältigen Komplott gegen ihn kommt. Jeder der Verschwörer hat einen anderen Grund, Dantès aus dem Weg räumen zu wollen. Durch einen schnellen und willkürlichen Prozess wird er zu Einzelhaft im Inselgefängnis Château d´If veruteilt. Alles scheint verloren. Doch im Kerker lernt er durch Zufall den alten Geistlichen und Mitgefangenen Abbé Faria kennen, der zu seinem Lehrmeister wird und ihm das Versteck eines enormen Schatzes verrät. Schließlich, nach vierzehn Jahren unverschuldeter Kerkerhaft, gelingt es Dantès, durch Glück und eigene Entschlossenheit, von der Gefängnisinsel zu flüchten. Einige Monate später erscheint in der französischen Gesellschaft ein mysteriöser Graf von sagenhaftem Reichtum, der schnell ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gerät. Hinter seiner undurchsichtigen Fassade verfolgt dieser jedoch nur ein Ziel: Vergeltung zu üben an den Schuldtragenden, die einst Edmond Dantès um sein Glück brachten. Er ist die Hand Gottes, die gekommen ist, um Rechenschaft zu fordern… Der mehrfach verfilmte Abenteuer-Klassiker liegt hier in einer fünfbändigen und reichhaltig illustrierten Neuausgabe in der ungekürzten Übertragung von August Zoller vor. Dieses ist der fünfte Band.

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Seitenzahl: 435

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Alexandre Dumas

 

 

Der Graf von Monte Christo

 

 

 

Roman

in fünf Bänden

 

 

 

 

Überarbeitete und illustrierte Neuausgabe

der ungekürzten Übertragung

aus dem Französischen

von August Zoller

 

 

 

Band 5

 

 

DER GRAF VON MONTE CHRISTO wurde im französischen Original Le Comte de Monte-Cristo zuerst veröffentlicht zwischen 1844 und 1846 in der Zeitschrift Le Journal des débats.

 

 

Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von: apebook

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

1. Auflage 2023

 

V 1.1

 

Anmerkungen zur Transkription: Der Text der vorliegenden ungekürzten Ausgabe ist die Übersetzung von August Zoller (1773-1858) der deutschen Ausgabe aus dem Jahr 1846.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 Band 5

ISBN 978-3-96130-573-5

Buchherstellung & Gestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

Alle Rechte vorbehalten.

© apebook 2023

 

Books made in Germany with

 

 

 

 

Die fünf Bände der Reihe

Der Graf von Monte Christo

im Überblick

 

 

 

BAND 1 | BAND 2 | BAND 3 | BAND 4 | BAND 5

 

 

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Möchtest du anschließend wissen, wie die Geschichte des Grafen von Monte Christo weitergeht? - Dann lies die Fortsetzung:

 

 

Dumas Le Prince

 

Die Totenhand

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Der Graf von Monte Christo. Band 5

Impressum

Der Graf von Monte Christo. Band 5

Fünfter Band

I. Der Vertrag.

II. Die Straße nach Belgien.

III. Das Wirtshaus zur Glocke und Flasche.

IV. Das Gesetz.

V. Die Erscheinung.

VI. Locusta.

VII. Valentine.

VIII. Maximilian.

IX. Die Unterschrift Danglars.

X. Der Kirchhof des Pére la Chaise.

XI. Die Teilung.

XII. Der Löwengraben.

XIII. Der Richter.

XIV. Die Assisen.

XV. Die Anklageakte.

XVI. Sühnung.

XVII. Die Abreise.

XVIII. Das Haus der Allées de Meillan.

XIX. Die Vergangenheit.

XX. Peppino.

XXI. Die Karte von Luigi Vampa.

XXII. Die Vergebung.

XXIII. Der fünfte Oktober.

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Zu guter Letzt

Schweig! mein Kind! ich habe gesagt, Gift und Tod

Fünfter Band

 

Siehe! Du bist gut gerächt!

 

I. Der Vertrag.

Drei Tage nach der von uns erzählten Szene gegen fünf Uhr Abends zu der für die Unterzeichnung des Vertrages zwischen Fräulein Eugenie Danglars und Andrea Cavalcanti, für welchen der Bankier hartnäckig den Prinzentitel beibehielt, bestimmten Stunde, als ein frischer Wind die Blätter im Garten vor dem Hause des Grafen von Monte Christo zittern machte, in dem Augenblick, wo dieser auszufahren sich anschickte, und während seine Pferde, von der Hand des bereits seit einer Viertelstunde auf dem Bocke sitzenden Kutschers zurückgehalten, mit den Füßen stampften, drehte sich der elegante Phaëton, dessen Bekanntschaft wir wiederholt und namentlich bei der Soirée in Auteuil gemacht haben, rasch um die Ecke der Einfahrt und schleuderte gleichsam, mehr als er ihn absetzte, auf die Stufen der Freitreppe Herrn Andrea Cavalcanti, der so strahlend, so vergoldet erschien, als ob er im Begriffe gewesen wäre, eine Prinzessin zu heiraten.

Er erkundigte sich nach der Gesundheit des Grafen mit der ihm eigentümlichen Vertraulichkeit und traf, leicht den ersten Stock hinaufsteigend, den Grafen selbst oben auf der Treppe.

Bei dem Anblick des jungen Mannes blieb der Graf stille stehen. Andrea Cavalcanti war einmal im Wurfe, und wenn er geworfen war, hielt ihn nichts mehr zurück.

»Ei! guten Morgen, lieber Herr von Monte Christo!« sagte er zu dem Grafen.

»Ah! Herr Andrea!« erwiderte dieser mit seinem halb spöttischen Tone; »wie befinden Sie sich?«

»Vortrefflich, wie Sie sehen. Ich habe über tausenderlei Dinge mit Ihnen zu sprechen: doch vor Allem, kommen Sie zurück, oder wollten Sie ausfahren?«

»Ich wollte ausfahren.«

»Um Sie nicht auszuhalten, steige ich, wenn Sie erlauben. in Ihre Caleche. und Tom führt meinen Phaëton im Schlepptau nach.«

»Nein«, sagte mit einem unmerklichen Lächeln der Verachtung Monte Christo, der nicht gern öffentlich in Gesellschaft des jungen Mannes sein wollte; »nein, ich ziehe es vor, Ihnen hier Audienz zu geben; man plaudert besser in einem Zimmer und hat nicht einen Kutscher, der die Worte aufschnappt.«

Der Graf kehrte in einen zu dem ersten Stocke gehörenden Salon zurück, setzte sich und hieß, seine Beine über einander kreuzend, durch ein Zeichen den jungen Mann sich ebenfalls setzen.

Andrea nahm seine lachendste Miene an und sprach:

»Sie wissen, lieber Graf, daß die Zeremonie diesen Abend stattfindet?«

»Ah! wirklich?«

»Wie! ist das eine Neuigkeit, die ich Ihnen mitteile? Waren Sie von dieser Feierlichkeit bei Herrn Danglars nicht unterrichtet?«

»Doch wohl; ich bekam gestern einen Brief von ihm, glaube aber nicht, daß die Stunde darin genannt war.«

»Es ist möglich, der Schwiegervater wird darauf gerechnet haben, man wisse sie allgemein.«

»Sie lind nun also glücklich, Herr Cavalcanti? Sie schließen eine der entsprechendsten, wünschenswertesten Verbindungen; auch ist Fräulein Danglars sehr hübsch.«

»Ja wohl«, sprach Cavalcanti mit äußerst bescheidenem Ton.

»Sie ist besonders sehr reich, wenigstens wie ich glaube?«

»Sehr reich, glauben Sie?« wiederholte der junge Mann.

»Allerdings: man sagt, Herr Danglars verberge wenigstens die Hälfte seines Vermögens.«

»Und er gesteht fünfzehn bis zwanzig Millionen zu!« rief Andrea mit einem vor Freude funkelnden Blicke.

»Abgesehen davon«, sagte Monte Christo bei, »abgesehen davon, daß er im Begriffe ist, sich in eine, in den Vereinigten Staaten und in England bereits etwas verbrauchte, in Frankreich aber ganz neue Art der Spekulation einzulassen.«

»Ja, ja, ich weiß, wovon Sie sprechen, nicht wahr von der Eisenbahn, für welche er so eben die Concession erhalten hat?«

»Ganz richtig! er wird dabei, das ist die allgemeine Meinung, wenigstens zehn Millionen gewinnen.«

»Zehn Millionen! Sie glauben? Das ist herrlich!« sprach Cavalcanti, der sich bei diesem metallischen Klange goldener Worte berauschte.

»Abgesehen ferner davon«, fuhr Monte Christo fort, »daß dieses ganze Vermögen Ihnen zufließen wird, und zwar mit Recht, insofern Fräulein Danglars die einzige Tochter ist. Überdies kommt Ihr eigenes Vermögen, Ihr Vater hat mir dies wenigstens gesagt, dem Ihrer Braut beinahe gleich. Doch lassen wir ein wenig die Geldsache. Wissen Sie, Herr Andrea, daß Sie diese Angelegenheit geschickt durchgeführt haben?«

»Nicht schlecht, nicht schlecht«, sagte der junge Mann, »ich war für die Diplomatie geboren.«

»Wohl, man wird Sie in der Diplomatie ausnehmen; Sie wissen, die Diplomatie lernt sich nicht, es ist Sache des Instinktes . . . Das Herz ist also gefangen?«

»In der Tat, ich befürchte es«, antwortete Andrea in dem Tone, in welchem er aus dem Théâtre-Francais Dorance oder Valére hatte Alceste antworten hören.«

»Liebt man Sie ein wenig?«

»Es muß wohl so sein, da man mich heiratet«, erwiderte Andrea mit einem siegreichen Lächeln. »Doch vergessen wir einen wichtigen Punkt nicht«,

»Welchen?«

»Ich bin sonderbar in dem Allem unterstützt worden.«

»Bah!«

»Gewiß.«

»Durch die Umstände?«

»Nein, durch Sie.«

»Durch mich? lassen Sie das, Prinz«, sagte Monte Christo mit absichtlicher Betonung dieses Titels. »Was konnte ich für Sie tun? Genügten nicht Ihr Name, Ihre gesellschaftliche Stellung und Ihr Verdienst?«

»Nein, nein; Sie mögen sagen, was Sie wollen, ich behaupte, Herr Graf, daß die Stellung eines Mannes, wie Sie, mehr getan hat, als mein Name, meine gesellschaftliche Stellung und mein Verdienst.«

»Sie täuschen sich ganz und gar, mein Herr«, sprach mit kaltem Tone Monte Christo, der die treulose Gewandtheit des jungen Mannes fühlte und die Bedeutung seiner Worte begriff. »Sie haben meine Protektion erst erlangt, nachdem ich von dem Einfluß und dem Vermögen Ihres Herrn Vaters Kenntnis genommen, denn wer hat im Ganzen mir, der ich Sie nie gesehen und ebenso wenig den erhabenen Urheber Ihrer Tage, das Glück, Sie kennen zu lernen, verschafft? Zwei von meinen Freunden, Lord Wilmore und der Abbé Busoni. Wer hat mich ermutigt, nicht Ihnen als Bürgschaft zu dienen, sondern Sie zu patronisiren? Der in Italien so bekannte und geehrte Name Ihres Vaters; persönlich kenne ich Sie nicht.«

Diese Ruhe, diese vollkommene Leichtigkeit ließen Andrea begreifen, daß er für diesen Augenblick dem Drucke einer Hand von größerer Muskelkraft als die seinige untertan war, und daß sich dieser Druck nicht so leicht brechen ließ.

»Sprechen Sie, Herr Graf«, sagte er, »ist das Vermögen von meinem Vater wirklich groß?«

»Es scheint so, mein Herr.«

»Wissen Sie nicht, ob die Mitgift, die er mir versprochen hat, angekommen ist?«

»Ich habe den Avisbrief erhalten.«

»Doch die drei Millionen?«

»Die drei Millionen sind aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Wege.«

»Ich werde sie also wirklich erhalten?«

»Verdammt!« rief der Graf, »es scheint mir, bis jetzt, mein Herr, hat es Ihnen nicht an Geld gefehlt.«

Andrea war so erstaunt, daß er notwendig einen Augenblick träumen mußte.

»Mein Herr«, sagte er, aus seiner Träumerei erwachend, »ich habe nur noch eine Bitte an Sie zu richten, welche Sie verstehen werden, selbst wenn sie Ihnen unangenehm sein sollte.«

»Sprechen Sie.«

»Ich setzte mich durch mein Vermögen mit vielen ausgezeichneten Leuten in Verbindung und habe, wenigstens für den Augenblick, eine Menge von Freunden. Doch wenn ich mich, wie ich dies tue, im Angesicht der ganzen Pariser Gesellschaft verheirate, so muß ich durch einen erhabenen Namen unterstützt werden, und in Ermangelung der väterlichen Hand, muß mich eine mächtige Hand an den Altar führen; mein Vater kommt aber nicht nach Paris, nicht wahr?«

»Er ist alt, mit Wunden bedeckt, und leidet, wie er sagt, so sehr, daß ihn jede Reise an den Rand des Grabes bringt.«

»Ich begreife und komme auch, um eine Bitte an.

Sie zu wagen.«

»An mich?«

»Ja, an Sie.«

»Und welche?«

»Die Bitte, ihn zu ersetzen.«

»Ah! mein lieber Herr, nachdem ich so lange mit Ihnen Umgang zu pflegen das Glück gehabt habe, kennen Sie mich so wenig, daß Sie eine solche Bitte an mich richten? Verlangen Sie eine halbe Million von mir zu entlehnen, und Sie werden mir, auf mein Ehrenwort, minder beschwerlich sein, obgleich ein solches Anlehen ziemlich selten ist. Erfahren Sie also, ich glaubte es Ihnen bereits gesagt zu haben, daß der Graf von Monte Christo in seine moralische Teilnahme, besonders bei Dingen dieser Welt, die Bedenklichkeit, ich sage noch mehr, den Aberglauben eines Mannes aus dem Orient zu versetzen nie aufgehört hat. Ich, der ich ein Serail in Kairo, in Smyrna und in Konstantinopel habe, soll den Vorsitz bei einer Hochzeit führen, niemals!«

»Sie schlagen es also ab?«

»Ja: ich würde es abschlagen, und wenn Sie mein Sohn wären.«

»Ah! den Teufel!« rief Andrea verblüfft, »wie soll ich es machen?«

»Sie haben hundert Freunde, wie Sie so eben selbst sagten.«

»Einverstanden, doch Sie stellten mich Herrn Danglars vor.«

»Keines Wegs! wir wollen die Tatsachen in ihrer ganzen Wahrheit erhalten: ich habe Sie mit ihm in Auteuil speisen lassen, und Sie haben sich ihm selbst vorgestellt: Teufel! das ist ein Unterschied.«

»Ja, doch Sie trugen zu meiner Verheiratung bei.«

»Ich! ganz und gar nicht, ich bitte Sie. mir dies zu glauben; erinnern Sie sich doch dessen, was ich Ihnen geantwortet habe, als Sie zu mir kamen und mich baten, die Hand von Fräulein Danglars für Sie zu verlangen. Oh! ich mache nie Heiraten, mein Prinz, das ist bei mir ein fester Grundsatz.«

Andrea biß sich auf die Lippen.

Smyrna.

»Doch Sie werden wenigstens anwesend sein?« sagte er.

»Wird ganz Paris erscheinen?«

»Oh! gewiss.«

»Gut! ich werde es machen, wie ganz Paris.«

»Sie werden den Vertrag unterzeichnen?«

»Oh! ich sehe darin nichts Ungeeignetes, und meine Bedenklichkeiten gehen nicht so weit.«

»Nun, da Sie mir nicht mehr einräumen wollen, so muß ich mich mit dem begnügen, was Sie mir geben. Doch ein letztes Wort, Graf.«

Was denn?«

»Einen Rat.«

»Nehmen Sie sich in Acht, ein Rat ist schlimmer, als ein Dienst.«

»Oh! diesen können Sie mir geben, ohne sich zu gefährden.«

»Sprechen Sie.«

»Die Mitgift meiner Frau beträgt fünfmal hundert tausend Franken?«

»Das ist die Zahl, welche mir Herr Danglars selbst genannt hat.«

»Soll ich sie in Empfang nehmen, oder in den Händen des Notars lassen?«

»Im Allgemeinen werden die Dinge anständiger Weise folgendermaßen abgemacht: Ihre zwei Notare bestellen sich bei dem Vertrag auf den andern, oder auf den zweiten Tag zusammen: am andern, oder am zweiten Tag tauschen sie Ihre zwei Mitgifte aus, worüber sie sich gegenseitig Scheine geben: ist die Hochzeit gefeiert, so stellen sie die Millionen zu Ihrer Verfügung, da sie das Haupt der Gemeinschaft sind.«

»Ich glaube gehört zu haben«, sagte Andrea mit einer gewissen, schlecht verhehlten Unruhe, »ich glaube meinen Schwiegervater äußern gehört zu haben, er beabsichtige unsere Fonds in dem so eben von Ihnen erwähnten Eisenbahngeschäft anzulegen.«

»Ah! das ist, wie die ganze Welt versichert, ein Mittel, wodurch Ihre Kapitalien in einem Jahre wenigstens verdreifacht werden. Der Herr Baron Danglars ist ein guter Vater und weiß zu rechnen.«

»Somit geht Alles vortrefflich, abgesehen von Ihrer Weigerung, die mich im höchsten Maße schmerzt.«

»Schreiben Sie dieselbe einzig und allein einem unter solchen Umständen natürlichen Bedenken zu.«

»Gut!« sprach Andrea, »es geschehe, wie Sie wollen, diesen Abend um neun Uhr.«

»Auf Wiedersehen.«

Und trotz eines leichten Widerstandes von Monte Christo, dessen Lippen erbleichten, der jedoch sein zeremoniöses Lächeln beibehielt, ergriff Andrea die Hand des Grafen, drückte sie, sprang in seinen Wagen und verschwand.

Die vier oder fünf Stunden, welche ihm bis neun Uhr blieben, wandte Andrea zu Besuchen an, welche dazu bestimmt waren, die von ihm erwähnten Freunde zu veranlassen, mit allem Luxus ihrer Equipagen bei dem Bankier zu erscheinen, wobei er sie mit jenen Versprechungen von Aktien blendete, welche seitdem die Köpfe so gewaltig schwindeln gemacht haben, was Andrea um so leichter tun konnte, als Danglars in diesem Augenblick die Initiative hatte.

Um halb neun Uhr Abends waren wirklich der große Salon von Danglars, die an diesen Salon anstoßende Galerie, und die drei andern Salons des Stockes voll von einer duftenden Menge, welche viel weniger die Sympathie anzog, als das unwiderstehliche Bedürfnis, da zu sein, wo man etwas Neues zu sehen hoffen durfte. Ein Akademiker würde sagen, die Soiréen der großen Gesellschaft seien Sammlungen von Blumen, welche unbeständige Schmetterlinge, ausgehungerte Bienen und summende Hornisse anziehen.

Es bedarf kaum der Erwähnung, daß die Salons von Kerzen strahlten; das Licht wogte von den vergoldeten Leisten über die seidenen Tapeten hin, und der ganze schlechte Geschmack der Ausstattung, welche nichts für sich hatte, als den Reichtum, glänzte in seiner vollen Herrlichkeit.

Fräulein Eugenie war mit der zierlichsten Einfachheit angetan: ein Kleid von weißer Seide, weiß broschiert, eine halb in ihren rabenschwarzen Haaren verlorene weiße Rose bildeten ihren ganzen Schmuck, den nicht das kleinste Juwel bereicherte. Man konnte nur in ihren Augen jene vollkommene Sicherheit lesen, welche bestimmt war, das Lügen zu strafen, was diese reine Toilette Gemeinjungfräuliches in ihren eigenen Augen hatte.

Dreißig Schritte von ihr plauderte Madame Danglars mit Debray, Beauchamp und Chateau-Renaud. Debray war für diese große Feierlichkeit wieder in das Haus zurückgekehrt; doch sein Eintritt war wie der von Jedermann und zeichnete sich durch kein besonderes Vorrecht aus.

Von Abgeordneten und Finanzmännern umgeben, erklärte Herr Danglars ein neues Steuersystem, das er in Anwendung zu bringen gedachte, wenn die Macht der Verhältnisse die Regierung gezwungen hätte, ihn in das Ministerium zu berufen.

Andrea, der an seinem Arme einen der lustigsten Dandys der Oper hielt, erklärte diesem ziemlich frech, denn er bedurfte der Keckheit, um leicht und gewandt zu erscheinen, erklärte diesem, sagen wir, seine Pläne für sein zukünftiges Leben und die Fortschritte, welche er mit seinen hundert und fünf und siebzig tausend Franken Rente die Pariser Fashion im Luxus machen zu machen beabsichtigte.

Die Menge trieb sich in diesen Salons umher, wie ein Fluß und Gegenfluß von Türkissen, Rubinen, Smaragden, Opalen und Diamanten. Wie überall, bemerkte man, daß die ältesten Frauen am meisten geschmückt waren, und daß sich die Häßlichsten am hartnäckigsten hervordrängten. Gab es eine schöne weiße Lilie, eine süße, duftende Rose, so mußte man sie verborgen in irgend einem Winkel durch eine Mutter mit einem Turban, oder durch eine Tante mit einem Paradiesvogel suchen und entdecken.

Mitten unter dieses Gedränge, unter dieses Gesumme, unter dieses Gelächter, schleuderte jeder Augenblick die Stimme der Huissiers einen in den Finanzen bekannten, in der Armee geachteten oder in den Wissenschaften berühmten Namen, den sodann eine schwache Bewegung der Gruppen empfing. Doch wie Viele wurden für Einen, der das Vorrecht hatte, diesen Ozean menschlicher Wellen beben zu machen, mit Gleichgültigkeit streit oder mit dem höhnischen Lachen der Verachtung empfangen!

In dem Augenblick, wo der Zeiger der massiven Pendeluhr, welche den entschlummerten Endymion darstellte, neun Uhr auf ihrem goldenen Zifferblatt andeutete, und wo das Glöckchen, der treue Dolmetscher des Gedanken der Maschine, neunmal erklang, erklang der Name des Grafen von Monte Christo ebenfalls, und wie von einer elektrischen Flamme angestoßen, wandte sich die ganze Versammlung der Türe zu.

Der Graf war schwarz und mit seiner gewöhnlichen Einfachheit gekleidet, seine weiße Weste zeichnete seine weite, edle Brust ab: statt jedes Schmuckes trug er auf seiner Weste eine so feine Kette, daß kaum der dünne goldene Faden den weißen Pigun durchschnitt.

Auf der Stelle bildete sich ein Kreis um die Türe.

Der Graf gewahrte mit einem einzigen Blicke Madame Danglars an einem Ende des Salon, Herrn Danglars an dem andern, und Eugenie vor sich.

Er näherte sich zuerst der Baronin, welche mit Frau von Villefort plauderte, die allein gekommen war, da Valentine immer noch litt, und ging dann geraden Wegs, so sehr lichtete sich vor ihm das Gedränge, von der Baronin auf Eugenie zu, die er mit so raschen und so ausgesuchten Worten begrüßte, daß die stolze Künstlerin darüber betroffen war. Neben ihr stand Fräulein Louise d’Armilly; sie dankte dem Grafen für die Empfehlungsbriefe, die er ihr so zuvorkommend für Italien gegeben und von denen sie, wie sie sagte, ungesäumt Gebrauch machen werde. Als er diese Damen verließ, wandte er sich um und befand sich Danglars gegenüber, der sich dem Grafen genähert hatte, um ihm die Hand zu drücken.

Sobald diese drei gesellschaftlichen Pflichten erfüllt waren, blieb Monte Christo stehen und schaute umher mit dem sichern Blicke der Menschen von einer gewissen Gesellschaft und besonders von einer gewissen Bedeutung mit dem Blicke, der zu sagen scheint: Ich habe getan, was ich tun mußte, nun mögen die Andern tun, was sie mir schuldig sind.

Andrea, der sich gerade in einem anstoßenden Salon aufhielt, fühlte ebenfalls jenes Beben, das Monte Christo bei der Menge hervorgebracht hatte, und lief herbei, um den Grafen zu begrüßen. Er fand ihn ganz umringt: man machte sich seine Worte streitig, wie es immer bei den Leuten geschieht, welche wenig sprechen und kein Wort ohne Wert sagen.

Die Notare traten in diesem Augenblick ein und legten ihre gekritzelten Wische auf den goldgestickten Sammet, der einen für die Unterzeichnung bereit stehenden, mit Löwenklauen geschmückten und vergoldeten Tisch bedeckte.

Einer von den Notaren setzte sich, der andere blieb stehen.

Man schritt zu der Vorlesung des Vertrages, den bei dieser Feierlichkeit anwesend, die Hälfte von Paris unterzeichnen sollte.

Jeder nahm Platz, oder es bildeten vielmehr die Frauen einen Kreis, während die Männer, gleichgültiger in Beziehung auf den energischen Styl, wie Boileau sagt, ihre Kommentare über die fieberhafte Aufregung von Andrea, über die Aufmerksamkeit von Danglars, über die Unempfindlichkeit von Eugenie und über die lustige Art und Weise machten, wie die Baronin diese wichtige Angelegenheit behandelte.

Der Vertrag wurde unter einem tiefen Stillschweigen vorgelesen. Doch sobald dies geschehen war, fing der Lärmen in den Salons doppelt so stark als zuvor wieder an. Diese glänzenden Summen, diese in die Zukunft der zwei jungen Leute rollenden Millionen, welche die Ausstellung vervollständigten, die man in einem ausschließlich hierzu bestimmten Zimmer mit dem Trousseau der Verlobten und den Diamanten der jungen Frau gemacht hatte, waren mit ihrem ganzen Blendwerk in der neidischen Versammlung erklungen. Die Reize von Fräulein Danglars verdoppelten in den Augen der jungen Leute diese Millionen und verdunkelten für den Augenblick den Glanz der Sonne.

Was die Frauen betrifft, so glaubten sie, wenn sie auch auf diese Millionen neidisch waren, doch derselben nicht zu bedürfen, um schön zu sein.

Von seinen Freunden umringt, beglückwünscht, umschmeichelt, begann Andrea an die Wirklichkeit seines Traumes zu glauben und war im Begriff, den Kopf zu verlieren.

Der Notar nahm feierlich die Feder, hob sie über sein Haupt empor und sprach:

»Meine Herren, man unterzeichne den Vertrag.«

Der Baron sollte zuerst unterzeichnen dann der Bevollmächtigte von Herrn Cavalcanti Vater, dann die Baronin, dann die zukünftigen Ehegatten, wie man in dem abscheulichen Style sagt, der aus dem gestempelten Papiere Cours hat.

Der Baron nahm die Feder und unterzeichnete, dann kam der Bevollmächtigte.

Die Baronin näherte sich am Arme von Frau von Villefort.

»Mein Freund«, sagte sie, die Feder ergreifend, »ist es nicht zum Verzweifeln? Ein unerwarteter Vorfall bei der Mord- und Diebstahlsgeschichte, deren Opfer der Herr Graf von Monte Christo beinahe geworden wäre, beraubt uns des Glückes, Herrn von Villefort hier zu sehen.«

»Oh, mein Gott!« sagte Danglars mit demselben Tone, als ob er gesagt hätte:

»Meiner Treue, das ist mir ganz gleichgültig!«

»Mein Gott!« sprach Monte Christo hinzutretend, »ich befürchte die unwillkürliche Ursache dieser Abwesenheit zu sein.«

»Wie! Sie Graf?« sagte Madame Danglars unterzeichnend; »wenn dem so ist, so nehmen Sie sich in Acht, ich werde es Ihnen nie mehr verzeihen.«

Andrea spitzte die Ohren.

»Es wäre indessen nicht meine Schuld«, sprach der Graf; »auch ist mir an der Erörterung der Sache gelegen.«

Man horchte gierig: Monte Christo, der nur selten die Lippen öffnete, wollte sprechen.

»Sie erinnern sich«, sagte er mitten unter dem tiefsten Stillschweigen, »daß bei mir der Unglückliche gestorben ist, der mich berauben wollte, und als er mein Haus verließ, wenigstens wie man glaubt, von seinem Genossen ermordet wurde?«

»Ja«, sagte Danglars.

»Nun, um ihm Hilfe zu leisten, hatte man ihn entkleidet und seine Kleider in eine Ecke geworfen, wo sie das Gericht aufhob; doch während das Gericht den Rock und die Hose mitnahm, um Beides in der Kanzlei niederzulegen, vergaß dasselbe die Weste.«

Andrea erbleichte sichtbar und zog sich ganz sachte nach der Türe; er sah am Horizont eine Wolke her, ausziehen, und diese Wolke schien ihm in ihren Seiten den Sturm zu enthalten.

»Diese unglückliche Weste hat man nun heute ganz mit Blut bedeckt und in der Gegend des Herzens durchlöchert gefunden.«

Die Damen stießen einen Schrei aus und zwei oder drei hielten sich bereit, in Ohnmacht zu fallen.

»Man brachte sie mir. Niemand konnte erraten, wem dieser traurige Lumpen gehörte; ich allein dachte, es wäre wahrscheinlich die Weste des Opfers. Plötzlich fühlte mein Kammerdiener, der mit Ekel und Behutsamkeit diese traurige Reliquie untersuchte, ein Papier in der Tasche und zog es heraus: es war ein Brief, adressiert an wen? an Sie, Baron.«

»An mich?« rief Danglars.

»Oh! mein Gott, ja, an Sie; es gelang mir, Ihren Namen unter dem Blute zu lesen, mit dem das Billett befleckt war«, antwortete Monte Christo, mitten unter einem Ausdrucke allgemeiner Verwunderung.

»Aber . . . « fragte Madame Danglars, ihren Gatten unruhig anschauend, »was hindert dies Herrn von Villefort . . . «

»Das ist ganz einfach, Madame«, erwiderte Monte Christo, »diese Weste und dieser Brief sind, wie man sagt, Überweisungsstücke; ich habe auch Brief und Weste zu dem Herrn Staatsanwalt geschickt. Sie begreifen. Herr Baron, der gesetzliche Weg ist der sicherste in Kriminalsachen, vielleicht war es eine Machination gegen Sie.«

Andrea schaute Monte Christo starr an, und verschwand in den zweiten Salon.

»Das ist möglich«, sagte Danglars, »war der Ermordete nicht ein ehemaliger Galeerensklave?«

»Ja«, antwortete der Graf, »ein ehemaliger Galeerensklave, Namens Caderousse.«

Danglars erbleichte leicht, Andrea verließ den zweiten Salon und erreichte das Vorzimmer,

»Unterzeichnen Sie doch«, sagte Monte Christo »ich sehe, daß meine Erzählung Jedermann in Bewegung gesetzt hat, und bitte Sie, Frau Baronin, und Fräulein Danglars um Verzeihung.«

Die Baronin, welche unterzeichnet hatte, übergab die Feder dem Notar.

»Herr Prinz Cavalcanti«, sprach der Notar, »Herr Prinz Cavalcanti, wo sind Sie?«

»Andrea! Andrea!« wiederholten mehrere Stimmen von jungen Leuten, welche bereits mit dem edlen Italiener zu einem solchen Grade von Vertraulichkeit gelangt waren, daß sie ihm mit seinem Taufnahmen riefen.«

»Rufen Sie doch den Prinzen, sagen Sie ihm doch, daß es an ihm sei, zu unterzeichnen!« rief Danglars einem Huissier zu.

Doch in demselben Augenblick strömte die Menge der Anwesenden in den Hauptsalon zurück, als ob ein furchtbares Ungeheuer, quaerens quem devoret, in die Gemächer eingebrochen wäre.

Es war allerdings ein Grund vorhanden, zurückzuweichen, zu erschrecken, zu schreien.

Ein Offizier der Gendarmerie stellte zwei Gendarmen vor die Türe jedes Salon, und ging in Begleitung eines mit seiner Schärpe umgürteten Polizeikommissärs auf Danglars zu.

Madame Danglars stieß einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht.

Danglars, der sich bedroht glaubte (es gibt Gewissen, welche nie ruhig sind), bot seinen Gästen ein vom Schrecken entstelltes Gesicht.

»Was gibt es denn, mein Herr?« fragte Monte Christo dem Commissär entgegengehend.

»Wer von Ihnen«, fragte der Beamte, ohne dem Grafen zu antworten, »wer von Ihnen, meine Herren, heißt Andrea Cavalcanti?«

Ein Schrei des Erstaunens brach aus allen Winkeln des Salon hervor.

Man suchte; man fragte.

»Aber was ist es denn mit diesem Andrea Cavalcanti?« fragte Danglars ganz verwirrt.

»Es ist ein aus dem Bagno von Toulon entsprungener Galeerensklave.«

»Und welches Verbrechen hat er begangen?«

»Er ist angeklagt«, sagte der Commissär mit seiner unerschütterlichen Stimme, »er ist angeklagt, einen Menschen Namens Caderousse, seinen ehemaligen Kettengenossen, im Augenblick, wo dieser aus dem Hause des Herrn Grafen von Monte Christo kam, ermordet zu haben.«

Monte Christo schaute rasch umher.

Andrea war verschwunden.

 

II. Die Straße nach Belgien.

Einige Augenblicke nach der Szene der Verwirrung, welche in den Gemächern von Herrn Danglars die unerwartete Erscheinung des Gendarmeriebrigadier und die Enthüllung des Polizeikommissärs hervorgebracht hatte, leerte sich das große Hotel mit einer Geschwindigkeit, wie sie etwa die Ankündigung, es sei einer von den Gästen von der Pest oder von der Cholera befallen worden, herbeigeführt haben könnte: in wenigen Minuten floh Jedermann, und die Gesellschaft strömte in größter Hast aus allen Touren, über alle Treppen, durch alle Ausgänge; denn es war einer von den Umständen eingetreten, wo man es nicht einmal versuchen darf, die Alltagströstungen anzuwenden, welche bei großen Katastrophen selbst die besten Freunde so lästig machen.

In dem Hotel des Bankier waren nur Danglars, der, in sein Kabinett eingeschlossen, in die Hände des Gendarmerie-Offiziers seine Angaben niederlegte, Madame Danglars in dem uns wohlbekannten Boudoir, und Eugenie, die sich mit hochmütigem Auge und verächtlicher Lippe mit ihrer unzertrennlichen Freundin, Fräulein Louise d’Armilly, in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, zurückgeblieben.

Was die zahlreichen und an diesem Abend noch vermehrten Diener betrifft, denn man hatte für dieses Fest die Glaciers, die Köche und den Haushofmeister des Café de Paris beigefügt, so standen sie, gegen ihre Herren den Zorn über das kehrend, was sie ihre Schmach nannten, gruppenweise in den Küchen, in den Zimmern, in den Gesindestuben und kümmerten sich wenig um den Dienst, der übrigens natürlich unterbrochen war.

Unter diesen einzelnen, von verschiedenartigen Interessen bewegten Personen, verdienen nur zwei, daß wir uns mit Ihnen beschäftigen: Fräulein Eugenie Danglars und Fräulein Louise d’Armilly.

Die junge Verlobte hatte sich, wie gesagt, mit hochmütigem Auge, mit verächtlicher Lippe und mit dem Gange einer beleidigten Königin, gefolgt von ihrer noch bleicheren und noch mehr erschütterten Gefährtin, zurückgezogen. Als Eugenie in ihr Zimmer kam, schloß sie die Türe von innen, während Louise auf einen Stuhl fiel.

»Oh! mein Gott! mein Gott! diese furchtbare Geschichte!« sagte die junge Tonkünstlerin; »wer konnte dies vermuten? Herr Andrea Cavalcanti . . . ein Mörder . . . aus dem Bagno entsprungen . . . ein Galeerensklave! . . . «

Ein ironisches Lächeln zog die Lippen von Eugenie zusammen.

»In der Tat, ich war prädestiniert«, sprach sie. »Ich entgehe Morcerf, um in die Hände von Cavalcanti zu fallen.«

»Oh! verwechsele den Einen nicht mit dem Andern, Eugenie.«

»Schweige, alle Männer sind Schändliche, und ich bin glücklich, mehr tun zu können, als sie zu hassen: jetzt verachte ich sie.«

»Was werden wir machen?« fragte Louise.

»Was wir machen werden?«

»Ja.«

»Was wir in drei Tagen machen sollten . . . abreisen.«

»Also heiratest Du nicht mehr, Du willst beständig . . . «

»Höre, Louise, ich habe einen Abscheu vor diesem Leben der Gesellschaft, das stets geordnet, abgemessen, geregelt ist, wie unser Notenpapier. Was ich immer gewünscht, gewollt, erstrebt habe, ist das Leben einer Künstlerin, das freie Leben, das unabhängige Leben, wobei man nur sich selbst Rechenschaft abzulegen hat. Hier bleiben? warum dies? damit man es in einem Monat abermals versucht, mich zu verheiraten; mit wem? mit Herrn Debray vielleicht, wie man es einen Augenblick im Sinne hatte. Nein, Louise, nein, der Vorfall von diesem Abend wird mir zur Entschuldigung dienen: ich suchte ihn nicht, ich verlangte ihn nicht, Gott schickt ihn mir, und er ist willkommen.«

»Wie stark und mutig Du bist«, sagte das blonde, schwächliche Mädchen zu seiner braunen Gefährtin.

»Kennst Du mich noch nicht? Auf, Louise, laß uns von unsern Angelegenheiten sprechen. Der Reisewagen?«

»Ist zum Glück seit drei Tagen gekauft.«

»Hast Du ihn dahin führen lassen, wo wir ihn nehmen sollen?«

»Ja.«

»Unser Paß?«

»Hier ist er!«,

Eugenie entfaltete mit ihrer gewöhnlichen Festigkeit ein gedrucktes Papier und las:

 

»Herr Leon d’Armilly, ein und zwanzig Jahre alt; Gewerbe, Künstler, Haare, schwarz, Augen, schwarz, reist mit seiner Schwester.«

 

»Durch wen hast Du Dir diesen Paß verschafft?«

»Als ich zu Herrn von Monte Cristo ging und ihn um Briefe an die Direktoren der Theater in Rom und Neapel bat, drückte ich ihm meine Befürchtungen darüber aus, daß ich allein reisen sollte; er begriff dieselben vollkommen, bot sich an, mir einen Paß für einen Mann ausgestellt zu verschaffen, und zwei Tage nachher erhielt ich diesen, welchen, ich mit meiner Hand die Worte: ›Reist mit seiner Schwester,‹ beigefügt habe.«

Die Abreise

»Gut!« sagte Eugenie heiter, »wir brauchen nur noch unsern Koffer zu packen, und reisen am Verlobungsabend, statt am Hochzeitabend, das ist das Ganze.«

»Überlege es wohl, Eugenie.«

»Oh! ich habe Alles überlegt: ich bin es müde, von nichts sprechen zu hören, als von Bilanzen, Monatsschlüssen, von Steigen, von Fallen, von spanischen Fonds, von Haytischen Papieren. Statt dessen, Louise, begreifst Du, die Lust, die Freiheit, der Gesang der Vögel, die Ebenen der Lombardei, die Kanäle von Venedig, die Paläste von Rom, das Gestade von Neapel. Wie viel besitzen wir, Louise?«

Das befragte Mädchen zog aus einem incrustirten Sekretär ein kleines Portefeuille mit Schloß, öffnete es und zählte drei und zwanzig Bankbilletts.

»Drei und zwanzig tausend Franken.« sprach Louise.

»Und für wenigstens eben so viel Perlen, Diamanten und Juwelen«, sagte Eugenie. »Wir sind mit fünf und vierzig tausend Franken reich, wir können zwei Jahre lang wie Prinzessinnen, oder vier Jahre lang anständig leben: doch ehe sechs Monate vergehen, haben wir, Du mit Deiner Musik, ich mit meiner Stimme unser Kapital verdoppelt. Vorwärts! übernimm Du das Geld, ich übernehme das Kistchen mit den Edelsteinen, so daß, wenn Eine von uns das Unglück hätte, ihren Schatz zu verlieren, die Andere immer noch den ihrigen besäße. Und nun den Koffer, rasch den Koffer!«

»Warte«, sagte Louise, an der Türe von Madame Danglars horchend.

»Was befürchtest Du?«

»Man könnte uns überraschen.«

»Die Türe ist geschlossen.«

»Doch wenn man uns öffnen heißt?«

»Man mag sagen, was man will, wir öffnen nicht.«

»Du bist eine wahre Amazone, Eugenie!«

Und die zwei Mädchen fingen an, mit einer wunderbaren Tätigkeit in einem Koffer alle Gegenstände anzuhäufen, welche sie für ihre Reise nötig zu haben glaubten.

»Gut, nun schließe den Koffer, während ich die Kleider wechsele«, sagte Eugenie.

Louise stützte mit aller Gewalt ihre kleinen, weißen Hände auf den Deckel des Koffers.

»Ich kann nicht«, rief sie; »ich bin nicht stark genug, schließe Du.«

»Ah! es ist richtig«, sagte lachend Eugenie, »ich vergaß, daß ich Hercules bin, während Du nur die bleiche Omphale bist.«

Und sie drückte das Knie auf den Koffer und stemmte ihre weißen, muskeligen Arme darauf, bis die zwei Abteilungen des Koffers verbunden waren und Fräulein d’Armilly das Schloß zugemacht hatte. Als diese Operation vorüber war, öffnete Eugenie eine Kommode, deren Schlüssel sie bei sich trug, und zog einen veilchenblauen, wattierten seidenen Reisemantel daraus hervor.

»Du siehst, daß ich au Alles gedacht habe«, sprach sie; »mit diesem Mantel wirst Du nicht kalt haben.«

»Aber Du?«

»Oh! ich habe nie kalt, Du weißt es wohl; überdies mit den Männerkleidern . . . «

»Du willst Dich hier anziehen?«

»Allerdings.«

»Hast Du denn Zeit dazu?«

»Sei unbesorgt, Hasenherz; alle unsere Leute sind mit der großen Angelegenheit beschäftigt. Auch darf man sich, wenn man bedenkt, in welcher Verzweiflung ich sein muß, nicht wundern, daß ich mich eingeschlossen habe.«

»Das ist wahr, Du beruhigst mich.«

»Komm, hilf mir.«

Und sie zog aus derselben Schublade, aus der sie den Mantel für Fräulein d’Armilly genommen, mit dem diese bereits ihre Schultern bedeckt hatte, einen vollständigen Männeranzug, von den Stiefelchen bis zum Oberrock, nebst einem Vorrate von Wäsche, wobei nichts Überflüssiges, wohl aber alles Notwendige war. Mit einer Geschwindigkeit, welche andeutete, daß sie ohne Zweifel nicht zum ersten Male die Kleider eines anderen Geschlechtes anzog, schlüpfte Eugenie in ihre Stiefelchen, in die Beinkleider, band sie sich eine Cravate um, knöpfte sie eine Weste bis zum Halse zu, und legte sie den Oberrock an, der ihre zarte, schön gebogene Gestalt hervorhob,

»Oh! das ist gut! in der Tat, das ist sehr gut!« sagte die Tonkünstlerin, Eugenie mit Bewunderung anschauend; »doch diese schönen, schwarzen Haare, diese herrlichen Flechten, welche alle Frauen vor Neid seufzen machen, werden sie unter einem Männerhute, wie der, welchen ich hier erblicke, halten?«

»Du wirst es sehen«, sprach Eugenie.

Und mit der linken Hand die dicke Flechte ergreifend, über welcher sich ihre langen Finger kaum schlossen, faßte sie mit der rechten eine große Schere, und bald krachte der Stahl mitten durch das weiche, glänzende Haar, das ganz zu den Füßen des Mädchens fiel, welches sich, um es von dem Oberrock abzusondern, zurückgebogen hatte.

Als die obere Flechte abgeschnitten war, ging Eugenie zu denen von den Schläfen über, welche sie nach und nach ebenfalls abschnitt, ohne daß ihr die geringste Klage entschlüpfte: ihre Augen funkelten im Gegenteil freudiger als gewöhnlich unter ihren ebenholzschwarzen Brauen.

»Oh! die herrlichen Haare!« sagte Louise mit Bedauern.

»Ei! bin ich nicht hundertmal besser so?« rief Eugenie, die zerstreuten Locken ihres ganz männlich gewordenen Kopfes glättend, »und findest Du mich so nicht schöner?«

»Oh! Du bist schön, immer schön!« rief Louise. »Doch wohin gehen wir?«

»Nach Belgien, wenn Du willst, es ist die nächste Grenze. Wir erreichen Brüssel, Lüttich, Aachen; wir fahren den Rhein hinauf bis nach Straßburg, reisen durch die Schweiz und steigen über den St. Bernhard nach Italien hinab; bist Du damit einverstanden?«

»Ja wohl!«

»Was betrachtest Du?«

»Ich betrachte Dich. In der Tat, Du bist anbetungswürdig, man sollte meinen, Du entführst mich.«

»Ei! bei Gott! man würde Recht haben.«

»Oh! ich glaube, Du hast geschworen, Eugenie?«

Und die zwei Freundinnen, von denen man hätte annehmen können, sie wären beide in Tränen versunken, die Eine für eigene Rechnung, die Andere aus Ergebenheit, brachen in ein Gelächter aus, während sie die sichtbarsten Spuren der Unordnung, welche natürlich die Vorbereitungen zu ihrer Flucht zur Folge gehabt hatten, verschwinden machten.

Nachdem sie ihre Lichter ausgelöscht, öffneten die zwei Flüchtlinge, das Auge forschend, das Ohr horchend, den Hals gestreckt, die Türe eines Ankleidezimmers, welches auf eine bis in den Hof hinab sich erstreckende Gesindetreppe ging: Eugenie schritt voran und hielt mit einer Hand den Henkel des Koffers, den an dem entgegengesetzten Henkel Fräulein d’Armilly kaum mit, ihren beiden Händen aufzuheben vermochte. Der Hof war leer. Es schlug Mitternacht.

Beim Portier war noch Licht.

Eugenie näherte sich ganz sachte und sah den würdigen Schweizer, auf seinem Lehnstuhle ausgestreckt, mitten in der Loge schlafen.

Sie wandte sich gegen Louise um, nahm den Koffer wieder auf, den sie einen Augenblick auf den Boden gesetzt hatte, und Beide erreichten, dem Schatten der Mauer folgend, das Gewölbe.

Eugenie ließ Louise sich im Winkel der Türe verbergen, so daß der Portier, wenn es ihm zu erwachen beliebte, nur eine Person sah.

Dann stellte sie sich mitten in die Strahlen der Lampe, welche den Hof beleuchtete, schlug an die Scheibe und rief mit ihrer schönen Altstimme:

»Die Türe aufgemacht!«

Der Portier stand auf, wie es Eugenie vorhergesehen hatte, und ging sogar einige Schritte vor, um die Person zu erkennen, welche hinausgeben wollte; als er aber einen jungen Mann sah, der ungeduldig sein Beinkleid mit seinem Stöckchen peitschte, öffnete er auf der Stelle.

Sogleich schlüpfte Louise wie eine Eidechse durch die halb offene Türe und sprang leise hinaus. Scheinbar ruhig, obgleich ihr Herz aller Wahrscheinlichkeit nach mehr Pulsschläge zählte, als in seinem gewöhnlichen Zustande, ging Eugenie ebenfalls hinaus.

Es kam ein Commissionär vorüber, man übergab ihm den Koffer; die zwei jungen Mädchen bezeichneten demselben als Ziel ihrer Wanderung die Rue de la Victoire und die Nummer 26 dieser Straße, und marschierten hinter diesem Menschen, dessen Gegenwart Louise beruhigte. Eugenie aber war stark wie eine Judith oder eine Dalila.

Man kam zur bezeichneten Nummer. Eugenie befahl dem Commissionär, den Koffer niederzusetzen, gab ihm etwas Münze und schickte ihn fort, nachdem sie an den Laden geklopft hatte.

Dieser Laden, an den Eugenie geklopft, war der einer kleinen, zum Voraus benachrichtigten Wäscherin; sie hatte sich noch nicht zu Bett gelegt und öffnete.

»Mademoiselle«, sagte Eugenie, »lassen Sie durch den Portier den Wagen aus der Remise ziehen und schicken Sie ihn nach dem Hotel der Posten, um Pferde zu holen. Hier sind fünf Franken für seine Mühe.«

»In der Tat«, sprach Louise, »ich bewundere Dich, und möchte sogar sagen, ich verehre Dich.«

Die Wäscherin sah ganz erstaunt aus, doch da sie verabredeter Maßen zwanzig Louisd’or bekommen sollte, so machte sie nicht die geringste Bemerkung.

In einer Viertelstunde kam der Concierge mit einem Postillion und mit Pferden zurück, welche in einem Augenblick an den Wagen angespannt waren, aus dem der Concierge mittelst eines Strickes den Koffer befestigte.

»Hier ist der Paß«, sagte der Postillion; »welchen Weg schlagen wir ein, junger Herr?«

»Die Straße nach Fontainebleau«, antwortete Eugenie mit einer beinahe männlichen Stimme.

»Was sagst Du?« fragte Louise.

»Ich gebe einen falschen Weg an«, erwiderte Eugenie; »die Frau, der wir zwanzig Louisd’or geschenkt haben, kann uns für vierzig verraten: auf dem Boulevard nennen wir eine andere Richtung.«

Und das Mädchen sprang in den vortrefflich zum Schlafen eingerichteten Wagen, ohne beinahe den Fußtritt zu berühren.

»Du hast immer Recht, Eugenie«, sagte die Gesangslehrerin, neben ihrer Freundin Platz nehmend.

Eine Viertelstunde nachher fuhr der Postillion, auf den rechten Weg gebracht, mit der Peitsche knallend durch die Barrière Saint-Martin.

»Ah! nun sind wir außerhalb Paris«, sagte Louise atmend.

»Ja, meine Liebe, und die Entführung ist schön bewerkstelligt worden«, versetzte Eugenie.

»Und zwar ohne Gewalt.«

»Ich werde dies als einen mildernden Umstand geltend machen«, sprach Eugenie.

Diese Worte verloren sich in dem Lärmen, den der Wagen über das Pflaster von La Villette, hinrollend machte.

Herr Danglars hatte keine Tochter mehr.

 

III. Das Wirtshaus zur Glocke und Flasche.

Und nun lassen wir Fräulein Danglars und ihre Freundin auf der Straße nach Brüssel hinziehen und kehren zu dem armen Andrea Cavalcanti zurück, der auf eine so unselige Weise mitten im Aufschwunge seines Glückes aufgehalten wurde. Er war trotz seines noch sehr wenig vorgerückten Alters ein äußerst gewandter und gescheiter Junge, dieser Herr Andrea Cavalcanti. Wir sahen ihn auch bei dem ersten Geräusche im Salon sich der Türe nähern, ein oder zwei Zimmer durchschreiten, und endlich verschwinden. Einen Umstand, dessen wir zu erwähnen vergessen, während er doch nicht übergangen werden darf, müssen wir hier nachholen: in einem von den zwei Zimmern, durch welche Cavalcanti ging, war der Trousseau der Verlobten ausgestellt, Schmuckkästchen mit Diamanten, Kaschmirshawls, Spitzen von Valenciennes, Schleier von England, und Alles, was jene Welt von lockenden Gegenständen bildet, deren Name schon das Herz der jungen Mädchen hüpfen macht, und die man das Körbchen nennt.

Durch dieses Zimmer schreitend, bemächtigte sich Andrea, was zum Beweise dient, daß er nicht nur ein sehr gescheiter und gewandter, sondern auch ein sehr vorsichtiger Junge war, bemächtigte er sich, sagen wir, des Reichsten von dem ganzen ausgestellten Schmucke. Mit diesem Viaticum versehen, fühlte sich Andrea halb so leicht, um durch das Fenster zu springen und den Händen der Gendarmen zu entschlüpfen.

Groß und schlank, wie der antike Ringer, muskelig wie ein Spartaner, machte Andrea einen Lauf von einer Viertelstunde, ohne zu wissen, wohin er ging, und einzig und allein in der Absicht, sich von dem Orte zu entfernen, wo er beinahe festgenommen worden wäre. Von der Rue du Mont-Blanc ausgehend, fand er sich wieder mit jenem Instinkte der Barrieren, welchen die Diebe besitzen, wie die Hasen den Instinkt des Lagers, am Ende der Rue Lafayette.

Keuchend, atemlos, blieb er hier stehen. Er war ganz allein und hatte zu seiner Linken das Saint-Lazare-Gehege, zu seiner Rechten Paris in seiner ganzen Ausdehnung.

»Bin ich verloren?« fragte er sich, »Nein, wenn ich eine Summe von Tätigkeit zu liefern vermag, welche die meiner Feinde übertrifft. Meine Rettung ist folglich eine einfache Meilenfrage geworden.«

In diesem Augenblick gewahrte er, von der Höhe des Faubourg Poissonniere herabkommend, ein Regiecabriolet, dessen schweigsamer Kutscher eine Pfeife rauchte und nach dem äußersten Ende des Faubourg Saint-Denis, wo er ohne Zweifel seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, fahren zu wollen schien.

»He! Freund«, rief Benedetto.

»Was gibt es, mein Bürger?« fragte der Kutscher.

»Ist Ihr Pferd müde?«

»Müde! ah ja wohl! es hat den ganzen lieben langen Tag nichts getan. Vier elende Fahrten und zwanzig Sous Trinkgeld; sieben Franken im Ganzen, und ich muß dem Patron zehn geben!«

»Wollen Sie diesen sieben Franken zwanzig beifügen?«

»Mit Vergnügen, Bürger; zwanzig Franken, das ist nicht zu verachten. Was muß ich hierfür tun?«

»Etwas sehr Leichtes, wenn Ihr Pferd nicht zu müde ist.«

»Ich sage Ihnen, es wird gehen wie ein Zephir, ich brauche nur zu wissen, in welcher Richtung.«

»In der Richtung von Louvres.«

»Ah! ah! bekannt: Land des Ratafia!«

»Ganz richtig. Es handelt sich einfach darum, einen von meinen Freunden wieder einzuholen, mit dem ich morgen bei Chapelle-en-Serval jagen soll. Er versprach mich hier mit seinem Cabriolet bis um halb zwölf Uhr zu erwarten: es ist Mitternacht: er wird des Wartens müde geworden und allein weggefahren sein.«

»Das ist wahrscheinlich.«

»Nun, wollen Sie es versuchen, ihn einzuholen?«

»Mit größtem Vergnügen.«

»Wenn wir ihn nicht von hier bis Bourget einholen, so bekommen Sie zwanzig Franken, wenn wir ihn bis Louvres nicht einholen, dreißig.«

»Und wenn wir ihn einholen?«

»Vierzig!« sagte Andrea, der einen Augenblick gezögert hatte, dann aber bedachte, daß er bei dem Versprechen nichts wage.

»Gut!« rief der Kutscher, »Steigen Sie ein und vorwärts! Brrru! . . . brrru! . . . «

Andrea stieg in das Cabriolet, und dieses fuhr durch den Faubourg Saint-Denis, sodann an dem Faubourg Saint-Martin hin, erreichte in raschem Laufe die Barrière und drang in das endlose Villette.

Man war nicht ängstlich darauf bedacht, den schimärischen Freund einzuholen: von Zeit zu Zeit erkundigte sich jedoch Cavalcanti bei den Vorüberkommenden oder an den Schenken nach einem grünen Cabriolet mit einem hellbraunen Pferde, da aber auf der Straße nach den Niederlanden stets Cabriolets in großer Anzahl fahren und neun Zehntel dieser Cabriolets grün angestrichen sind, so regnete es auf jedem Schritt Auskunft. Man hatte es überall vorbeifahren sehen, es war nicht fünfhundert Schritte, nicht zweihundert Schritte, nicht hundert Schritte voraus. Endlich erreichte man dasselbe, fand aber ein anderes Gefährt, als das welchem man nachgejagt war.

Einmal wurde das Mietcabriolet selbst von einer Caleche überholt, welche zwei Postpferde im Galopp fortzogen.

»Ah!« sagte Cavalcanti zu sich selbst, »wenn ich diese Caleche, diese zwei guten Pferde und besonders den Paß hätte, dessen man bedurfte, um sie zu nehmen!«

Und er stieß einen tiefen Seufzer aus.

Diese Caleche war die, welche Fräulein Danglars und Fräulein d’Armilly fortführte.

»Vorwärts! vorwärts!« rief Andrea, »wir müssen ihn bald einholen.«

Und das arme Pferd setzte sich wieder in den wütenden Trab, den es von der Barrière an gelaufen war, und kam ganz rauchend in Louvres an.

»Ich sehe jetzt offenbar, daß ich meinen Freund nicht einhole«, sprach Andrea, »und ich würde Ihr Pferd töten. Es ist also besser, ich halte an. Hier sind Ihre dreißig Franken, ich bleibe im roten Rosse über Nacht und nehme in dem ersten Wagen, den ich finde, einen Platz, Gute Nacht, mein Freund.«

Andrea legte dem Kutscher sechs Fünffrankenstücke in die Hand und sprang leicht auf das Straßenpflaster,

Der Kutscher steckte freudig die Summe in die Tasche und fuhr im Schritte wieder nach Paris zurück; Andrea stellte sich, als ob er nach dem Gasthofe zum roten Rosse ginge, doch, nachdem er einen Augenblick an der Türe stehen geblieben war und das Geräusch des Cabriolets in der Ferne sich hatte verlieren hören, setzte er seinen Weg fort, und machte mit gymnastischen Schritten einen Lauf von zwei Lieues.

Hier ruhte er aus; er mußte ganz nahe bei Chapelle-en-Serval sein, wohin er seinem Vorgeben nach gehen wollte.

Es war nicht die Müdigkeit, was Andrea Cavalcanti aufhielt, sondern das Bedürfnis, einen Entschluß zu fassen, die Notwendigkeit, einen Plan zu entwerfen.

Eine Diligence besteigen, war unmöglich; die Post nehmen, war ebenfalls unmöglich, Um auf die eine oder andere Weise zu reisen, war durchaus ein Paß erforderlich.

In dem Departement der Oise, nämlich in einem der entblößtesten und überwachtesten Departements von Frankreich, bleiben, war auch unmöglich, besonders für einen in Kriminalsachen erfahrenen Menschen, wie Andrea.

Andrea setzte sich an den Rand eines Grabens, ließ seinen Kopf in seine Hände fallen und dachte nach.

Zehn Minuten nachher hob er den Kopf wieder empor: sein Entschluß war gefaßt.

Er bedeckte mit Staub eine ganze Seite des Paletot, den er im Vorzimmer vom Haken zu nehmen und über seinen Ballstaat zu knöpfen Zeit gehabt hatte, erreichte Chapelle-en-Serval und klopfte kühn an die Türe des einzigen Wirtshauses der Gegend.

Der Wirt öffnete.

»Mein Freund«, sagte Andrea, »ich wollte von Mortesontaine nach Senlis reiten, als mein Pferd, ein böses Tier, einen Seitensprung machte und mich zehn Schritte hinausschleuderte. Ich muß notwendig noch in dieser Nacht nach Compiegne, wenn ich nicht meiner Familie die größte Unruhe verursachen soll. Können Sie mir nicht ein Pferd leihen?«

Wohl oder übel, hat ein Wirt immer ein Pferd. Der Wirt von Chapelle-en-Serval rief den Hausknecht, befahl, den Schimmel zu satteln, weckte seinen Sohn, ein Kind von sieben Jahren, das hinter dem Herrn auf dem Kreuze des Pferdes reiten sollte.

Andrea gab dem Wirt zwanzig Franken und ließ, während er sie aus der Tasche zog, eine Visitenkarte auf den Boden fallen. Diese Visitenkarte war von einem seiner Freunde aus dem Café de Paris, so daß der Wirt, als Andrea wieder abgereist war und er die auf den Boden gefallene Karte aufhob, der Überzeugung lebte, er habe sein Pferd an den Herrn Grafen von Mauleon, Rue Saint-Dominique, Nro. 25. vermietet: dies war der Name und die Adresse auf der Karte.

Der Schimmel ging nicht schnell, doch er ging einen gleichmäßigen Schritt; in drei und einer halben Stunde machte Andrea die neun Lieues, die ihn von Compiegne trennten; es schlug vier auf der Uhr des Rathauses, als er auf den Platz kam, wo die Diligencen anhalten.

Es gibt in Compiegne ein vortreffliches Wirtshaus, dessen sich auch diejenigen erinnern, welche nur einmal dort gewohnt haben: Andrea, der daselbst bei einem seiner Ausflüge in die Umgegend von Paris einen Haltgemacht, erinnerte sich des Wirtshauses zur Glocke und Flasche: er schaute sich um, sah bei dem Schimmer eines Scheinwerfers das bezeichnende Schild, entließ das Kind, dem er Alles gab, was er an Münze bei sich hatte, und klopfte an die Türe; denn er bedachte ganz richtig, daß er, drei bis vier Stunden vor sich hätte, und daß es das Beste wäre, sich durch einen guten Schlaf und ein gutes Mahl gegen die zukünftigen Anstrengungen zu verwahren.

Ein Kellner öffnete.

»Mein Freund«, sagte Andrea, »ich komme von Saint-Jean-au-Bois, wo ich zu Mittag gespeist habe; ich wollte den Wagen nehmen, der um Mitternacht durchfährt, verirrte mich aber alberner Weise und laufe seit vier Stunden im Walde umher. Geben Sie mir eines von den hübschen Zimmern, welche nach dem Hofe gehen, und bringen Sie mir ein kaltes Huhn nebst einer Flasche Bordeaux-Wein.«

Der Kellner faßte keinen Verdacht: Andrea sprach mit der vollkommensten Ruhe; er hatte die Zigarre im Mund und die Hände in den Taschen seines Paletot; seine Kleider waren elegant, sein Bart frisch rasiert, seine Stiefeln, tadellos; er sah aus wie ein verspäteter Nachbar.

Während der Kellner sein Zimmer bereitete, stand die Wirtin aus: Andrea empfing sie mit dem reizendsten Lächeln; er fragte sie, ob er nicht Nro. 3 haben könnte, was er schon einmal bei seinem letzten Aufenthalte in Compiégne gehabt; leider war Nro. 3 von einem jungen Manne besetzt, der mit seiner Schwester reiste.

Andrea schien in Verzweiflung, er tröstete sich nur, als ihn die Wirtin versicherte, Nro. 7, wo man ihn einquartierte, hätte ganz dieselbe Lage, wie Nro, 3, und während er sich die Füße wärmte und von dem letzten Rennen in Chantilly plauderte, wartete er, bis man ihm ankündigte, das Zimmer wäre bereit.

Nicht ohne Grund hatte Andrea von den hübschen Zimmern gesprochen, welche nach dem Hofe gingen: der Hof des Gasthauses zur Glocke, mit seiner dreifachen Reihe von Galerien, die ihm das Aussehen eines Schauspielsaales gaben, mit seinen Jasminen und Rebwinden, welche an den leichten Säulen wie eine natürliche Dekoration hinlaufen, ist einer der reizendsten Wirtshauseingänge der Welt.

Das Huhn war frisch, der Wein alt, das Feuer hell und knisternd; Andrea speiste mit so gutem Appetit, als ob nichts vorgefallen wäre. Dann legte er sich nieder und versank bald in jenen unversöhnlichen Schlaf, den der Mensch mit zwanzig Jahren immer findet, selbst wenn er Gewissensbisse hat.

Wir müssen gestehen, Andrea hätte Gewissensbisse haben können, aber er hatte keine.

Man vernehme den Plan von Andrea, einen Plan, der ihm den größten Teil seiner Sicherheit verliehen hatte.

Mit Tagesanbruch stand er, seiner Absicht nach, auf, verließ das Wirtshaus, nachdem er pünktlich seine Rechnung bezahlt, erreichte den Wald, erkaufte, unter dem Vorwand, Malerstudien zu machen, die Gastfreundschaft eines Bauern: verschaffte sich den Anzug eines Holzhauers und eine Axt, und legte dann die Kleidung eines Löwen ab, um die eines Arbeiters anzuziehen; die Hände erdfarbig, die Haare durch einen bleiernen Kamm gebräunt, die Gesichtshaut sonnverbrannt durch ein Präparat, von dem ihm seine ehemaligen Kameraden das Rezept gegeben hatten, gelangte er, von Wald zu Wald, zur nächsten Grenze, bei Nacht marschierend, bei Tag in den Wäldern oder in den Steinbrüchen schlafend, und bewohnten Orten nur sich nähernd, um von Zeit zu Zeit ein Stück Brot zu kaufen.

War die Grenze überschritten, so machte Andrea seine Diamanten zu Geld, vereinigte den Preis, den er dafür erhielt, mit etwa zehn Bankbilletts, die er stets für den Fall eines Unglücks bei sich trug, und war abermals im Besitze einer Summe von fünfzig tausend Franken, was seiner Philosophie keine gar zu harte Not dünkte.

Dabei zählte er sehr darauf, das, den Danglars Alles daran gelegen sein müßte, den Lärmen über den Unfall, der sie betroffen, zu ersticken.

Das war es, warum Andrea, abgesehen von seiner Müdigkeit, so schnell und so gut schlief.

Um früher aufzuwachen, schloß Andrea die Läden nicht; er begnügte sich, die Riegel seiner Türe vorzuschieben, und auf seinem Nachttische ein gewisses sehr scharfes und spitziges Messer von vortrefflich gehärtetem Stahl, das ihn nie verließ, offen zu halten.«

In jedem gut organisierten Gehirne ist der herrschende Gedanke, und es gibt immer einen, ist der herrschende Gedanke derjenige, welcher, nachdem er zuletzt eingeschlafen, zuerst das Erwachen des Geistes erleuchtet. Andrea hatte noch nicht völlig die Augen geöffnet, als ihn schon sein herrschender Gedanke erfaßte und ihm in das Ohr flüsterte, er habe zu lange geschlafen.

Er sprang aus seinem Bette und lief an das Fenster.

Ein Gendarme ging durch den Hof.