Der Graf von Monte Christo - Alexandre Dumas - E-Book

Der Graf von Monte Christo E-Book

Dumas Alexandre

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Beschreibung

Der Abenteuerklassiker von Weltruhm

Die dramatische Geschichte des jungen Seefahrer Edmond Dantès, der aufgrund einer Intrige am Tag seiner Hochzeit verhaftet wird. Ohne Gerichtsverhandlung sperrt man ihn ins berüchtigte Gefängnis Château d’If, eine Festungsinsel vor der Küste von Marseille. Dort lernt er den Geistlichen Abbé Faria kennen, der ihm ein väterlicher Freund wird. Kurz vor seinem Tod erzählt er Dantès von einem unermesslich wertvollen Schatz, der auf der unbewohnten Insel Monte Christo versteckt sein soll.

Nach 14 langen Jahren gelingt Dantès schließlich die abenteuerliche Flucht und der Schatz Farias macht ihn zum reichen Mann. Als Graf von Monte Christo kehrt er nach Frankreich zurück – die Zeit für Gerechtigkeit ist gekommen …

»Alle menschliche Weisheit liegt in den zwei Worten ›Harren und Hoffen‹!« Alexandre Dumas

Der nexx verlag veröffentlicht Neu- und Wiederauflagen von besonderen Klassikern der Weltliteratur, die bezüglich Rechtschreibung und Lesegewohnheiten aufwändig »in die Gegenwart geholt« werden, ohne den Text zu verfremden.

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Alexandre Dumas

Der Graf von Monte Christo

Alexandre Dumas

Der Graf von Monte Christo

ISBN/EAN: 978-3-958-70690-3

2. Auflage

Wir haben für Sie die Originaltexte an die aktuelle Rechtschreibung

und heutigen Lesegewohnheiten angepasst.

Cover: "Portrait de Léon Riesener" (1835) von Eugène Delacroix (1798 - 1863)

Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2023

www.nexx-verlag.de

1. Kapitel

Am 28. Februar 1815 gab die Hafenwache von Notre-Dame das Signal für das Heransegeln des Dreimasters »Pharaon«, der von Smyrna, Triest und Neapel kam. Ein Küstenlotse verlies sofort den Hafen und erreichte das Fahrzeug zwischen dem Kap Morgion und der Insel Rion. Auch hatte sich, wie immer, die Plattform der Festung Saint-Jean mit Neugierigen gefüllt; denn in Marseille ist die Landung eines Schiffes stets von großer Wichtigkeit – zumal wenn es einem Reeder der Stadt gehört.

Schwer und langsam rückte der Koloss näher und näher, so dass die Zuschauer eine unheilverkündende Ahnung packte.

Die Aufmerksamkeit Aller richtete sich auf einen jungen Mann, der – neben dem Steuermann stehend – jede Bewegung des Schiffs mit offensichtlicher Sachkenntnis verfolgte. Er war groß und schlank und hatte kohlschwarze Haare und Augen. Sein ganzes Wesen zeigte jene ruhige Sicherheit, wie sie Menschen zu eigen ist, deren Leben von Kindheit an ein Kampf war.

Einer aus der wartenden Menge konnte seine Ungeduld nicht länger beherrschen. Er sprang in eine Barke und ließ sich zur »Pharaon« hinüberrudern.

Als der junge Seefahrer das Boot herankommen sah, lehnte er sich grüßend über die Brüstung des Schiffes, den Hut in der Hand.

»Dantes!« rief der Mann in der Barke. »Was ist geschehen?«

»Ein großes Unglück, Monsieur Morrel«, entgegnete der junge Mann. »Wir haben auf der Höhe von Civita-Vechia den wackeren Kapitän Leclère verloren.«

»Und die Ladung?« fragte der Reeder lebhaft.

»Sie kommt glücklich in den Hafen, Monsieur Morrel. Ich glaube, Sie werden zufrieden sein. Aber der arme Kapitän Leclère ...«

»Was ist ihm denn passiert?« fragte der Reeder.

»Er starb an einer Gehirnentzündung unter schrecklichen Schmerzen.« Dann wandte sich Dantes an seine Leute und rief: »Holla he! Jeder zum Ankern auf seinen Posten!«

Die Schiffsmannschaft gehorchte.

»Das ist ja traurig,« erwiderte der Reeder; »aber wir alle sind sterblich, und es ist nun mal so, dass die Alten den Jungen Platz machen. In dem Augenblick, wo Sie mir versichern, dass die Schiffsladung ...«

»Sie ist in gutem Zustand, Monsieur Morrel, dafür bürge ich. Wenn Sie jetzt heraufkommen wollen, Monsieur Morrel,« sagte Dantes, der die Unruhe des Reeders bemerkte, »da ist Ihr Buchhalter, Monsieur Danglars, der wird Ihnen Auskunft geben. Was mich betrifft, ich muss das Ankern überwachen und das Schiff in Trauer versetzen.«

Das ließ sich der Reeder nicht zweimal sagen; er griff nach dem Seil, das ihm Dantes zuwarf, und kletterte mit einer Gewandtheit, die einem Seemann Ehre gemacht hätte, an den Sprossen empor, die an die Schiffswand genagelt waren.

Monsieur Danglars war ein Mann von fünf- bis sechsundzwanzig Jahren, hatte ein finsteres Aussehen und war gegenüber seinen Vorgesetzten unterwürfig, aber gegenüber seinen Untergebenen unfreundlich. Und außer, dass sein Titel »Buchhalter« an sich schon einen üblen Klang für die Matrosen hatte, betrachtete ihn die Mannschaft mit einem ebenso bösen Auge, wie sie mit Liebe auf Edmond Dantes blickte.

»Ja, ja! Der arme Leclère, er war ein braver, ehrenhafter Mann und ein ausgezeichneter Seemann, ergraut zwischen Himmel und Wasser, wie es sich für einen Mann gehört, dem die Interessen eines Hauses wie Morrel & Sohn anvertraut werden«, sagte Danglars.

»Nun,« meinte der Reeder, »es ist doch nicht nötig, ein alter Seemann zu sein, um sein Geschäft zu verstehen. Sehen Sie unsern Freund Edmond, der übt sein Amt aus – wie mir scheint – wie ein Mann, der niemanden um Rat zu fragen braucht.«

»Ja,« erwiderte Danglars, einen missgünstigen Blick des Hasses auf Dantes werfend, »ja, er ist jung und fürchtet noch nichts. Kaum war der Kapitän tot, übernahm er das Kommando, ohne jemanden zu fragen, und ließ uns eineinhalb Tage auf der Insel Elba verlieren, statt direkt nach Marseille zurückzukehren.«

»Was die Übernahme des Schiffskommandos betrifft,« sagte der Reeder, »war es als Vizekapitän seine Pflicht; was aber den Verlust von anderthalb Tagen auf der Insel Elba anbelangt, tat er unrecht.«

»Kommen Sie doch mal schnell her, Dantes!« rief der Reeder.

»Wie kann ich helfen?« fragte Dantes und kam rasch herbei.

»Ich wollte Sie fragen, warum Sie bei der Insel Elba angehalten haben?«

»Es geschah auf die letzte Bitte von Kapitän Leclère, der mir sterbend ein Paket für den Großmarschall Bertrand übergeben hat.«

»Haben Sie ihn gesehen, Edmond?«

»Wen?«

»Den Großmarschall.«

»Ja.«

Morrel blickte um sich und zog Dantes beiseite. »Und wie geht es dem Kaiser?« fragte er lebhaft.

»Gut, soweit ich von weitem seinem Aussehen nach schließen konnte.«

»Sie haben richtig gehandelt, lieber Dantes, obwohl es Sie in Gefahr bringen kann.«

»Wie! Mich in Gefahr bringen? Ich weiß ja nicht einmal, was ich überbrachte«, rief der junge Mann. Da er aber die Zollbeamten ankommen sah, bat er, sich entfernen zu dürfen. Sofort trat Danglars zu dem Schiffsreeder: »Nun, er hat wohl triftige Gründe für sein Verhalten gehabt, wenn ich fragen darf?«

»Durchaus, mein lieber Danglars.«

»Und der Brief, den er mit dem Paket empfangen ...?«

»Was meinen Sie für ein Paket, Danglars?«

»Das, was Dantes in Porto-Ferrajo abgegeben hat.«

»Woher wissen Sie, dass er in Porto-Ferrajo ein Paket abgegeben hat?«

Danglars errötete.

»Ich ging an der halb offenen Tür des Kapitäns vorüber und sah, wie er Dantes das Paket und den Brief übergab.«

»Er hat mir nichts davon gesagt,« erwiderte der Reeder, »aber was den Brief betrifft, so wird er ihn mir gewiss aushändigen.«

Danglars dachte einen Augenblick nach: »Ich möchte nichts gesagt haben, Monsieur Morrel; ich kann mich ja auch irren.«

In diesem Augenblick kehrte der junge Mann zurück; Danglars entfernte sich.

»Sind Sie jetzt frei, lieber Dantes?« fragte der Reeder.

»Jawohl, Monsieur Morrel.«

»Es wäre mir lieb, wenn Sie bei mir zu Mittag speisten.«

»Oh, verzeihen Sie gütigst, Monsieur Morrel – aber mein Vater ...«

»Ja, richtig, Dantes! Ich weiß, Sie sind ein guter Sohn.«

»Wissen Sie vielleicht,« fragte Dantes stockend, »wie's ihm geht?«

»Ich glaube, gut, lieber Edmond. Hab' ihn nie zu Gesicht bekommen.«

»Hm, er hält sich in seinem kleinen Zimmer verschlossen.«

»Das beweist wenigstens, dass es ihm in Ihrer Abwesenheit an nichts fehlte.«

Dantes lächelte.

»Mein Vater ist stolz, Monsieur, und wenn es ihm auch an allem gefehlt hätte, so zweifle ich, dass er irgendjemanden auf der Welt, Gott ausgenommen, um etwas gebeten hätte.«

»Nun also: nach diesem ersten Besuch dürfen wir auf Sie zählen.«

Dantes wurde rot. »Nach diesem ersten liegt mir ein anderer Besuch nicht weniger am Herzen ...

»Ach, dass ich das vergessen konnte! Die schöne Mercédès ... Da will ich Sie nicht aufhalten, mein lieber Edmond. Übrigens: brauchen Sie Geld?«

»Besten Dank, Monsieur! Ich habe noch mein ganzes Reisegehalt, das heißt den Sold von beinahe drei Monaten.«

»Edmond, Sie sind ein tüchtiger Kerl.«

»Bedenken Sie, Monsieur Morrel, dass ich einen armen Vater habe.«

»Ja, ja, ich weiß, dass Sie ein guter Sohn sind. Gehen Sie also zu Ihrem Vater.«

»Sie erlauben also?« sagte der junge Mann, wobei er sich verneigte.

»Ja, wenn Sie mir nichts weiter zu sagen haben?«

»Nein.«

»Hat Ihnen Kapitän Leclère auf seinem Sterbelager nicht einen Brief an mich übergegeben?«

»Es war ihm unmöglich, zu schreiben, Monsieur. Aber Ihre Frage erinnert mich daran, dass ich Sie um einige Tage Urlaub bitten möchte.«

»Um zu heiraten?«

»Ja, aber auch, um nach Paris zu reisen.«

»Gut, gut, Dantes! Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie wollen. Wir brauchen wohl sechs Wochen, um das Schiff auszuladen, und werden vor drei Monaten nicht wieder in See stechen. Sie müssen also erst in drei Monaten wieder hier sein. Die ›Pharaon‹«, fuhr der Reeder fort und klopfte auf die Schulter des jungen Seemannes, »könnte ja nicht absegeln – ohne ihren Kapitän.«

»Ohne ihren Kapitän?« wiederholte Dantes mit freudefunkelnden Augen. »Oh Herr! Versteh' ich Sie recht?«

»Auf Wiedersehen, lieber Dantes«, sagte Monsieur Morrel, fasste den jungen Mann bei den Schultern und drängte ihn zur Eile.

»Oh, Monsieur Morrel!« rief der junge Seemann mit Tränen in den Augen, die Hände des Reeders ergreifend. »Ich danke Ihnen in Vaters und Mercédès' Namen.«

Die Nachricht von der Ankunft der »Pharaon« war noch nicht bis zum alten Dantes durchgedrungen, der auf einem Stuhl saß und gerade damit beschäftigt war, einige Kapuzinerblumen, die sich am Fenstergitter emporrankten, mit zitternder Hand an Stäben zu befestigen.

Auf einmal fühlte er sich von einem Arm umschlungen und hörte eine wohlbekannte Stimme:

»Vater, mein guter Vater!«

Der Alte stieß einen Schrei aus und drehte sich um; als er seinen Sohn sah, sank er zitternd und bleich in dessen Arme.

»Was ist mit dir, Vater?« rief der junge Mann. »Du bist doch nicht krank?«

»Nein, nein, mein lieber Edmond, mein Sohn, mein Kind! Nein; aber ich habe dich nicht erwartet, die Freude, die Überraschung, dich so unvermutet zu sehen! Ach Gott ... ich glaube zu sterben!«

Dem Greis schwanden die Kräfte, und er sank zurück.

»Schnell ein Glas Wein, mein Vater, das wird dich erfrischen«, sagte der Jüngling.

Er öffnete zwei oder drei Schränke.

»Du suchst umsonst, mein Sohn.«

»Wie? Kein Wein mehr da?« rief Dantes erschreckt und schaute auf die eingefallenen Wangen des Greises und dann auf die leeren Schränke. »Hat es dir an Geld gefehlt, Vater?«

»Es fehlt mir an nichts, weil du bei mir bist«, sagte der Greis.

»Ja, ich bin hier,« sagte der junge Mann, »ich bin hier mit einer guten Aussicht und ein bisschen Geld; da sieh, Vater! Nimm, und lass sogleich etwas holen.«

Er leerte auf dem Tisch seine Taschen aus, die ein Dutzend Goldstücke, fünf oder sechs Fünf-Franc-Stücke und etwas Kleingeld enthielten.

Das Gesicht des Greises erhellte sich.

»Wem gehört das?« sagte er.

»Mir, dir, uns – nimm, kauf' ein; morgen gibt es mehr. Vor allem aber nimm eine Magd, Vater! Ich will nicht, dass du länger alleine bleibst. Ich habe Kaffee und ausgezeichneten Tabak. Morgen sollst du alles haben. Doch horch, da kommt jemand.«

»Das ist Caderousse, der deine Ankunft erfahren haben wird, und der gewiss kommt, um dir zu deiner Heimkehr Glück zu wünschen.«

»Das sind abermals Lippen, die manches sagen, was das Herz nicht denkt,« murmelte Edmond; »doch es ist ein Nachbar, der uns einst Dienste geleistet hat, darum sei er willkommen.«

Caderousse trat ein. Er war ein Mann von fünf- bis sechsundzwanzig Jahren. »Nun, wieder zurück, Edmond?«

»Wie Sie sehen, Nachbar Caderousse. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Danke bestens; ich brauche nichts.« Dabei streiften seine lüsternen Blicke das auf dem Tisch liegende Geld. Edmond machte eine ungeduldige Bewegung. »Vater, da ich dich nun gesehen habe, erlaubst du mir wohl, den Katalanen einen Besuch zu machen.«

»Geh, mein lieber Sohn. Gott segne dich. Grüß' mir deine Mercédès.«

Edmond umarmte seinen Vater, verabschiedete sich von Caderousse mit einem Kopfnicken und ging fort.

Caderousse blieb noch ein Weilchen, dann trat er auf die Straße und traf sich mit dem Buchhalter Danglars, der an der Straßenecke auf ihn wartete.

»Nun,« rief ihm Danglars zu, »hast du ihn gesehen?«

»Ich komme gerade von ihm«, antwortete Caderousse.

»Der spielt jetzt wohl den großen Herrn. Und die Katalanin?«

»Er ging gerade zu ihr.« Caderousse lachte. »Hoffentlich erlebt er keine Enttäuschungen.«

»Wie meinst du das?«

»Ich habe Mercédès oft in Begleitung eines großen, stattlichen, sehr temperamentvollen Katalanen angetroffen, den sie ›Vetter‹ zu nennen pflegt.«

»Hm ... und Dantes ist jetzt zu Mercédès gegangen ...«

»Weißt du was, wir setzen uns zu Père Pamphile und trinken ein paar Gläser Wein. Du bezahlst.«

»Natürlich!« antwortete Danglars.

»Dantes muss an uns vorbei; da kann man vielleicht etwas erleben.«

Hundert Schritte von den beiden Kumpanen entfernt, die weintrinkend auf der Lauer saßen, erhob sich auf nacktem, sonnverbranntem Felsen das seltsame und pittoreske Dorf der Katalanen.

Ein junges Mädchen von seltener Schönheit, mit Augen und Haaren dunkel wie Achat, steht einem schlanken Mann gegenüber, der nicht in allzu rosiger Stimmung zu sein scheint.

»Sehen Sie, Mercédès,« sagt er, »Ostern kommt. Wäre das nicht die beste Gelegenheit, zu heiraten?«

»Sie fragen mich immer wieder dasselbe, Fernand, trotzdem ich ...« sagte das Mädchen.

»Ja, Sie haben mir gegenüber eine sehr schöne Offenheit an den Tag gelegt, Gott sei's geklagt.«

»Und ich sage Ihnen nun zum letzten Mal: Niemand anders als Edmond Dantes wird mein Gatte«, rief das Mädchen heftig. Der junge Mann ballte die Fäuste.

»Wenn er nun tot ist, Mercédès?«

»Dann sterbe ich auch.«

»Und wenn er Sie vergessen hat?«

»Mercédès!« rief da eine fröhliche Stimme außerhalb der Hütte. »Mercédès!«

»Ah!« rief das Mädchen, vor Freude erglühend. »Er hat mich nicht vergessen; er ist da!«

Sie stürzte zur Tür: »Edmond! Edmond! Hier bin ich!«

Fernand wich erblassend zurück.

Edmond und Mercédès lagen einander in den Armen. Die ganze Welt versank für sie.

Auf einmal bemerkte Edmond die finstere Gestalt Fernands, die bleich und bedrohlich im Schatten stand.

»Ah, Vergebung,« sagte Dantes, die Stirn runzelnd, »ich ahnte nicht, dass wir zu dritt sind.« Dann wandte er sich zu Mercédès und fragte: »Wer ist dieser Herr?«

»Dieser Monsieur wird dein bester Freund sein, Dantes, denn er ist mein Freund, mein Vetter, mein Bruder Fernand, das heißt der Mann, den ich nach dir, Edmond, am meisten auf der Welt liebe.«

Edmond reichte mit Herzlichkeit dem Katalanen die eine Hand, während er mit der anderen die Hand Mercédès' hielt. Aber anstatt diese freundschaftliche Begrüßung zu erwidern, verharrte Fernand stumm und unbeweglich wie eine Statue. Dann ließ Edmond seinen forschenden Blick von Mercédès auf Fernand fallen. Dieser einzige Blick gab ihm Aufschluss über alles. Zorn malte sich auf seiner Stirn.

»Ich dachte nicht, Mercédès,« sagte er, »dass ich einen Feind hier treffen würde.«

»Einen Feind?« rief Mercédès mit zornglühendem Blick auf ihren Vetter. »Einen Feind bei mir, sagst du, Edmond? Wenn ich das wüsste, würde ich dich am Arm fassen und nach Marseille gehen, um dieses Haus für immer zu verlassen.«

Fernands Augen schleuderten Blitze.

»Und begegnete dir ein Unglück, mein Edmond,« fuhr sie mit unveränderlicher Ruhe fort, die Fernand bewies, dass sie in der Tiefe seiner finsteren Gedanken gelesen hatte, »wenn dir ein Unglück passieren würde, stiege ich auf das Kap von Morgion und stürzte mich kopfüber die Felsen hinunter.«

Fernand wurde blass.

»Nein, du hast dich geirrt, Edmond,« fuhr sie fort, »du hast hier keinen Feind, hier ist nur Fernand, mein Bruder, der dir die Hand reichen wird.«

Bei diesen Worten schaute das junge Mädchen den Katalanen mit einem gebieterischen Blick an, worauf der sich, als wäre er verzaubert, langsam näherte und Edmond die Hand entgegenstreckte. Aber kaum hatte er sie berührt, stürzte er aus dem Haus.

»He, Katalane! He, Fernand! Wohin läufst du?« rief eine Stimme dem Davoneilenden zu.

Der junge Mann sah sich um und sah Caderousse, der mit Danglars in der Laube eines Schankwirts saß. Fernand blickte mit blöder Miene auf die beiden Männer und gab keine Antwort.

»He, Freundchen! Pech gehabt in der Liebe?« lachte Caderousse.

Fernand setzte sich zu ihnen und ließ stöhnend den Kopf in die Hände sinken.

Die beiden andern machten ihre rücksichtslosen Scherze dazu.

»Wann wird denn geheiratet?« fragte Danglars lachend.

»Soweit ist es noch nicht«, murmelte Fernand.

»Holla! Was ist das denn da drüben für ein Pärchen, das da so lustwandelt? Schaut, Ihr habt bessere Augen als ich, haha! Sie glauben sich unbeobachtet und küssen sich alle zehn Schritte«, rief Caderousse.

»Tatsächlich, es sind der schöne Edmond und Mercédès. Viel Glück, mein Junge!«

Spöttisch schwenkte Danglars sein Glas in Richtung des Pärchens.

Fernand ballte die Faust. Danglars schaute unentwegt zu den beiden Liebenden hinüber.

»Der Mann fühlt sich so sicher und ahnt gar nicht, auf welch wankendem Boden sein Glück steht.«

»Weshalb? Warum?« fragten die beiden anderen begierig.

»Hm ... das ist so eine Sache ...«

»Rede, Mensch!« stießen die beiden anderen ihn an.

»Tja ...«, meinte Danglars, »es bedürfte nur eines Bogens Papier, einer Feder und Tinte.«

»He! Wirt! Bring Papier!«

Der Wirt brachte das Gewünschte.

Danglars lächelte geheimnisvoll, nahm die Feder in die linke Hand und schrieb mit verstellter Schrift:

»Der königliche Prokurator wird von einem Freund des Thrones und der Religion darüber in Kenntnis gesetzt, dass ein gewisser Edmond Dantes, Vizekapitän des Schiffes ›Pharaon‹ – der heute Morgen über Neapel und Porto-Ferrajo von Smyrna ankam – von Murat einen Brief für den Usurpator, und vom Usurpator einen Brief für das bonapartistische Komitee in Paris zur Überbringung erhalten hat.

Den Beweis seines Verbrechens erlangt man mit seiner Verhaftung, denn man wird diesen Brief entweder bei ihm oder bei seinem Vater oder in seiner Kajüte an Bord der ›Pharaon‹ finden.«

»Sehen Sie!« flüsterte Danglars mit gemeinem Lächeln. »Damit wäre es um den Mann geschehen.«

Die beiden anderen sahen mit starren Augen auf den ihnen hingehaltenen Bogen.

»Donnerwetter!« murmelte Caderousse, dem der Wein bereits in den Kopf gestiegen war.

»Und wohin müsste man solch ein Schriftstück schicken?«

Danglars schrieb spielend die Adresse.

»So so ... so so ...«, brummte Caderousse halb wie im Schlaf; dann sprang er plötzlich hoch: »Das ist eine Gemeinheit, Monsieurs! Man treibt mit dergleichen Sachen keinen Spaß. Her mit dem Wisch!«

Er griff danach. Danglars fiel ihm abwehrend in den Arm: »Komm, komm, lieber Freund; es ist Zeit, nach Hause zu gehen.«

»Den Brief will ich haben, den Brief! Ihr seid gemein gegenüber Dantes«, lallte Caderousse.

»Da liegt der Brief«, sagte Danglars, ließ das Schriftstück zur Erde fallen und trat mit dem Fuß drauf. »Deinem guten Dantes wird keiner ein Haar krümmen. Komm, komm ...«

Er zog den Schwankenden mit sich, wobei er den Katalanen heimlich scharf beobachtete.

Fernand hatte mit zusammengepressten Lippen die ganze Zeit hindurch dagesessen, ohne etwas zu sagen. Kaum aber glaubte er die beiden anderen außer Sehweite, stürzte er sich wie ein wildes Tier auf den Brief, steckte ihn in die Tasche und rannte davon.

2. Kapitel

Wenige Tage darauf wurde die Verlobung Dantes' mit der schönen Mercédès feierlich begangen. Das Brautpaar, strahlend in seinem Glück, saß inmitten einer Schar von guten Freunden, Bekannten und Verwandten. Caderousse, Danglars und Fernand hatte man auch eingeladen. Durch Monsieur Morrels Erscheinen aber hatte das junge Paar sich ganz besonders geehrt gefühlt.

Man aß und trank, schwatzte und lachte. Die allgemeine Fröhlichkeit hatte ihren Höhepunkt erreicht. Nur Fernand und Danglars verhielten sich auffallend ruhig, Caderousse dagegen freute sich mit den Glücklichen; er schien die Vorgänge vom vorigen Tag völlig vergessen zu haben.

Plötzlich ertönten drei laute Schläge. Erstaunt blickten alle zur Tür.

»Im Namen des Gesetzes!« schnarrte eine Stimme, der niemand antwortete.

Die Tür ging auf, und ein Kommissar, mit seiner Schärpe umgürtet, trat in den Saal, ihm folgten vier bewaffnete Soldaten, von einem Korporal angeführt.

»Was gibt es?« fragte der Reeder, der den Kommissar kannte, »hier liegt doch sicher ein Irrtum vor.«

»Wenn da ein Irrtum im Spiel ist, Monsieur Morrel,« entgegnete der Kommissar, »dann seien Sie überzeugt, dass er sofort wiedergutgemacht wird. Solange bin ich der Überbringer eines Haftbefehls, und obwohl ich meinem Auftrag mit Bedauern nachkomme, muss ich ihn doch ordnungsgemäß vollziehen. Wer von Ihnen, Monsieurs, ist Edmond Dantes?«

Die Blicke aller wandten sich dem jungen Mann zu, der, zwar heftig bewegt, aber doch seine Würde bewahrend, einen Schritt vortrat und sagte: »Ich bin es, Monsieur, was wünschen Sie von mir?«

»Edmond Dantes!« erwiderte der Kommissar. »Ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes.«

»Sie verhaften mich?« sagte Edmond mit einem leichten Erblassen. »Und warum verhaften Sie mich?«

»Das weiß ich nicht, Monsieur, aber in Ihrem ersten Verhör wird es Ihnen mitgeteilt werden.«

Monsieur Morrel sah ein, dass sich im Augenblick nichts tun ließ, der alte Dantes aber stürzte dem Kommissar entgegen, es gibt eben Dinge, die das Herz eines Vaters oder einer Mutter nie zu begreifen vermag. Er bat und beschwor den Beamten, und seine Verzweiflung war so groß, dass sie den Kommissar rührte.

»Monsieur,« sagte er, »beruhigen Sie sich, vielleicht hat Ihr Herr Sohn nur eine Förmlichkeit außer Acht gelassen; hat man von ihm die Auskunft erhalten, die man verlangt, wird er wieder freigelassen.«

»Sei ruhig, meine Mercédès, sei ruhig, Vater! Es wird sich alles aufklären«, sagte Dantes, küsste die Geliebte und drückte den Seinen die Hand. Dann stieg er hinter dem Kommissar, von Soldaten umgeben, die Treppe hinab. Ein Wagen mit geöffnetem Schlag erwartete ihn an der Tür, er stieg ein, und ihm folgten zwei Soldaten mit dem Kommissar. Der Schlag wurde geschlossen, und der Wagen rollte Richtung Marseille.

»Edmond! Edmond!« rief Mercédès und stürzte zur Balustrade.

Der Gefangene vernahm noch diesen letzten Ruf, der wie ein Schluchzen aus zerrissenem Herzen klang; er neigte seinen Kopf aus dem Wagen hinaus und rief: »Vertraue mir, Mercédès!« Dann verschwand er hinter einer Ecke des Fort Saint-Nicolas.

Eine unbeschreibliche Bestürzung hatte sich in der ganzen Gesellschaft verbreitet.

»So geht es nicht,« sagte Monsieur Morrel, »die Ungewissheit foltert mich. Ich werde den erstbesten Wagen nehmen, um nach Marseille zu fahren und zu sehen, was vorliegt.«

»Ach ja, tun Sie das, und kommen Sie bald zurück«, schluchzte Mercédès.

Als auch Monsieur Morrel gegangen war, blieben der Vater Dantes' und Mercédès für sich alleine. Die Gäste standen beieinander und tuschelten. Da begegneten sich die Blicke der beiden Verlassenen. Sie fühlten ihre Zusammengehörigkeit in dieser Stunde der Verzweiflung doppelt und sanken sich laut weinend in die Arme.

~~~

Endlich kam Monsieur Morrel zurück. Mercédès und der alte Vater liefen ihm entgegen.

»Meine Lieben,« sagte der Schiffsherr bedrückt, »die Sache ist ernster, als man dachte.«

»Edmond ist unschuldig, Monsieur Morrel! Er ist unschuldig!« schrie Mercédès außer sich.

»Davon bin auch ich überzeugt«, sagte der gütige Mann.

»Wessen beschuldigt man ihn?« fragte der alte Dantes mit trockener Kehle.

»Ein Agent der bonapartistischen Partei zu sein.«

Mercédès schrie laut auf; der Greis aber brach zusammen.

»Was hast du getan, du Lump?« bedrängte Caderousse Danglars keuchend. »Sofort geh' ich und sage alles.«

»Untersteh dich!« fauchte Danglars ihn an. »Wer sagt dir, dass Dantes nicht wirklich schuldig ist? Das Schiff ist auf Elba gelandet, er ist dort ausgestiegen und einen Tag lang in Porto-Ferrajo geblieben. Fände man bei ihm einen Brief, der ihn bloßstellte, wären auch diejenigen schuldig, die ihn unterstützten.«

Caderousse begriff mit dem Instinkt der Selbstsucht die ganze Richtigkeit dieser Logik. Er blickte Danglars mit Augen voll Schmerz und Verachtung an, und für einen Schritt, den er vorwärts getan hatte, wich er zwei Schritte zurück.

»Warten wir also«, murmelte er.

»Ja, warten wir,« sagte Danglars; »ist er unschuldig, wird man ihn freilassen, ist er aber schuldig, wäre es unnütz, sich für einen Verschwörer bloßzustellen.«

3. Kapitel

Zur gleichen Zeit, als sich diese Tragödie abspielte, wurde in der Rue Grand Cours ein zweites Verlobungsfest gefeiert. Hatte es sich auf ersterem um Leute des bürgerlichen Mittelstandes gehandelt, fand man hier einen erlesenen Kreis der vornehmsten Marseiller Gesellschaft vor. Man saß bei Tisch, und die Unterhaltung war durch die Leidenschaften jener Zeit lebendig. Leidenschaften, die umso heftiger und entzündbarer waren, als der religiöse Hass dem politischen seit fünfhundert Jahren immer wieder neue Nahrung gab.

Der Kaiser – damals König auf der Insel Elba – der einen großen Teil der Welt beherrscht hatte und sich nun mit dem kleinen Elba begnügen musste, schien für diese Gesellschaft ein toter Mann und für immer erledigt zu sein.

So erhob denn der greise Marquis de Saint-Méran, der heute seine Tochter Renée mit dem Stellvertreter des königlichen Prokurators, Monsieur de Villefort, verlobt hatte, sein Glas, um ein Hoch auf das Wohl Ludwigs XVIII. auszubringen. Das rief allgemein eine stürmische Begeisterung hervor. Man schwang die Gläser auf englische Manier, und die Damen lösten ihre Blumensträuße auf, um die Tafel mit Blüten zu bestreuen.

In diesem Augenblick trat ein Kammerdiener ein, näherte sich Monsieur de Villefort und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Villefort entschuldigte sich bei seiner Braut und verließ eilig die Festtafel.

Kaum hatte Villefort den Speisesaal verlassen, als er sich bemühte, eine strenge Amtsmiene aufzusetzen. Das gelang ihm heute nicht so leicht, weil er so froh und glücklich war, wie es ein Mensch nur sein kann. Er hatte auch allen Grund dazu. So jung er noch war, bekleidete er bereits eine ansehnliche Stellung, und durch seine Verlobung mit der schönen Renée de Saint-Méran kam er in eine Familie, die bei Hofe zurzeit das größte Ansehen hatte. Dazu war Renée das einzige Kind ihrer Eltern und brachte eine Mitgift von fünfzigtausend Franc mit in die Ehe. Sollte er da nicht guter Dinge sein?

Er traf vor der Tür den Polizeikommissar, der auf ihn wartete. Er ging auf ihn zu und sagte: »Es ist gut, dass Sie den Mann verhaftet haben. Wissen Sie bereits Näheres über dieses Komplott?«

»Von einem Komplott, Monsieur, weiß ich nichts. Alle Papiere, die man bei ihm fand, liegen versiegelt in Ihrem Büro. Der Verhaftete ist es ein gewisser Edmond Dantes, Kapitän des Handelsschiffes von Morrel & Sohn in Marseille.«

Auf dem Weg zum Justizpalast wurde Villefort von jemandem angesprochen. Es war Monsieur Morrel.

»Ah, Monsieur de Villefort!« rief der aufrichtige Mann, als er ihn erblickte. »Ich bin sehr erfreut, Ihnen hier zu begegnen. Man hat eben den seltsamsten und unerhörtesten Missgriff getan und Edmond Dantes verhaftet, den Kapitän meines Schiffes.«

»Ich weiß, Monsieur!« entgegnete Villefort. »Und ich gehe, um ihn zu verhören.«

»Ach, Monsieur,« fuhr Morrel – voller Angst und Sorge um seinen jungen Kapitän – fort, »Sie kennen ihn nicht, aber ich kenne ihn. Denken Sie sich den friedlichsten, rechtschaffensten Menschen, ich möchte fast sagen, den Mann, der bei der ganzen Handelsmarine seinen Platz am besten ausfüllt. Oh, Monsieur de Villefort, ich empfehle Ihnen den Mann aufrichtig und von ganzem Herzen.«

Wie man weiß, gehörte Villefort der Adelspartei der Stadt an und Morrel der bürgerlichen; der erste war Ultra-Royalist, der zweite des geheimen Bonapartismus verdächtig. Villefort blickte mit Geringschätzung auf Morrel und sagte kalt zu ihm:

»Sie wissen, Monsieur, man kann friedlich im Privatleben, rechtschaffend im Handel, geschickt in seinem Beruf und – politisch gesprochen – dennoch ein großer Verbrecher sein. Sie wissen das, Monsieur, nicht wahr? Im Übrigen dürfen Sie davon überzeugt sein, dass man Ihrem Schützling Gerechtigkeit widerfahren lassen wird.«

Damit grüßte er frostig und ließ den gütigen Mann auf der Straße stehen.

Der Vorraum des Justizpalastes war voll von Gendarmen und Polizeiagenten. Mitten unter ihnen stand regungslos der Gefangene.

Als Villefort eintrat, warf er einen missgünstigen Blick auf Dantes. Dann nahm er das Bündel Schriften in Empfang und sagte: »Man führe den Gefangenen vor!«

Als Dantes vor dem Richter stand, grüßte er höflich.

»Wer sind Sie? Wie ist Ihr Name?« fragte Villefort.

»Ich nenne mich Edmond Dantes, Monsieur,« antwortete der junge Mann mit einer ruhigen, klangvollen Stimme, »und bin Kapitän an Bord des Schiffes ›Pharaon‹ der Herren Morrel & Sohn.«

»Ihr Alter?« fragte Villefort weiter.

»Neunzehn Jahre«, entgegnete Dantes.

»Was haben Sie in dem Augenblick getan, als Sie verhaftet wurden?«

»Ich feierte mein Verlobungsfest, Monsieur«, antwortete Dantes mit bewegter Stimme.

»Sie waren auf Ihrem Verlobungsfest?« fragte Villefort, unwillkürlich zitternd.

»Ja, Monsieur, ich möchte das Mädchen heiraten, das ich seit drei Jahren liebe.«

Wie unempfindlich Villefort auch gewöhnlich war, dieses zufällige Zusammentreffen der Umstände erschütterte ihn.

»Man beschuldigt Sie stark übertriebener politischer Gesinnungen«, fuhr er fort.

»Was meine politischen Gesinnungen betrifft, Monsieur, so schäme ich mich beinahe, es zu sagen: ich habe nie welche gehabt. Ich zähle kaum neunzehn Jahre, weiß nichts und bin nicht dazu bestimmt, irgendeine Rolle zu spielen; das wenige, was ich bin, habe ich Monsieur Morrel zu verdanken. Demnach beschränken sich alle meine Gesinnungen einzig auf drei Empfindungen: ich liebe meinen Vater, ich achte Monsieur Morrel und bete meine Mercédès an. Das ist alles, Monsieur, was ich dem Gericht sagen kann.«

Villefort grübelte vor sich hin.

»Haben Sie Feinde?« fragte er dann.

»Ich bin noch zu unwichtig, um Feinde zu haben«, äußerte Dantes bescheiden.

»Nun – oder Neider?«, forschte Villefort weiter. »Sie sind mit neunzehn Jahren zum Kapitän ernannt worden, ein schönes Mädchen hat Ihnen seine Neigung geschenkt, zwei Tatsachen, um die Sie wohl beneidet werden könnten.«

»Bisher habe ich nie an dergleichen gedacht. Aber Sie mögen recht haben. Sollte ich die Neider aber unter meinen Freunden suchen müssen, wünschte ich sie lieber nicht zu kennen, um nicht genötigt zu sein, sie zu hassen.«

»Das ist töricht, mein Lieber. Wohl dem, der klarsieht. Ihnen wäre vielleicht all dies erspart geblieben, denn Sie scheinen mir wirklich ein Opfer von Neid und Missgunst zu sein. Ich will Ihnen gern zur Aufklärung Ihrer Lage verhelfen. Sehen Sie einmal: kennen Sie diese Handschrift?«

Er reichte ihm den anonymen Anklagebrief hinüber.

Dantes las, und seine Stirn verdüsterte sich.

»Nein, Monsieur, ich kenne die Handschrift nicht. Sie ist verstellt, obwohl sie Schwung hat.«

Villefort ging ein paarmal hin und her, dann wandte er sich an Dantes und sagte: »Jetzt antworten Sie mir mal ganz freimütig, nicht wie ein Angeklagter seinem Richter, sondern wie ein Mensch in einer schiefen Stellung einem anderen Menschen antwortet, der ihm Teilnahme schenkt: Was ist Wahres an dieser anonymen Beschuldigung?«

»Alles und nichts, Monsieur! Das ist die reine Wahrheit, bei meiner Seemannsehre, bei meiner Liebe zu Mercédès, bei dem Leben meines Vaters!«

»Sprechen Sie weiter, Monsieur!« sagte Villefort.

»Gut! Als wir Neapel verließen, wurde Kapitän Leclère von einer Gehirnentzündung heimgesucht. Als er den Tod herannahen fühlte, verlangte er mich zu sehen und sagte: ›Mein lieber Dantes, schwören Sie mir bei Ihrer Ehre, das zu tun, was ich Ihnen sagen werde, denn es ist von größter Wichtigkeit.‹ ›Ich schwöre es Ihnen, Kapitän!‹ war meine Antwort. ›Nun gut; da Ihnen als Vizekapitän nach meinem Tod das Schiffskommando gebührt, übernehmen Sie es; Sie segeln zur Insel Elba, landen in Porto-Ferrajo, fragen nach dem Großmarschall und überreichen ihm diesen Brief; vielleicht übergibt man Ihnen einen anderen Brief und erteilt Ihnen irgendeinen Auftrag. Diese Sendung, Dantes, die für mich gedacht war, sollen Sie nun statt meiner übernehmen, und es wird Ihnen alle Ehre zuteilwerden.‹ ›Ich will es tun, Kapitän. Aber so leicht wird man nicht zum Großmarschall gelangen.‹ ›Hier ist ein Ring, den Sie ihm zukommen lassen werden,‹ sagte der Kapitän, ›er wird alle Schwierigkeiten beseitigen.‹ Mit diesen Worten übergab er mir einen Ring; es war höchste Zeit, zwei Stunden darauf lag er im Delirium, am folgenden Tag war er tot.«

»Und was haben Sie getan?«

»Was ich tun musste, Monsieur, und was jeder andere an meiner Stelle getan hätte. Die Bitten eines Sterbenden sind heilig, aber bei uns Seeleuten sind die Bitten eines Vorgesetzten Befehle, die man ausführen muss. Wir segelten also zur Insel Elba, wo wir am folgenden Tag ankamen. Ich befahl der ganzen Mannschaft, auf dem Schiff zu bleiben, und ging alleine an Land. Wie ich es voraussah, machte man mir Schwierigkeiten, beim Großmarschall vorstellig zu werden; als ich ihm aber den Ring zuschickte, wurden mir alle Türen geöffnet. Er empfing mich, befragte mich um die letzten Lebensumstände des unglücklichen Kapitäns Leclère und übergab mir einen Brief mit dem Auftrag, ihn persönlich nach Paris zu bringen. Ich versprach es ihm, denn dies hieß den letzten Willen meines Kapitäns zu erfüllen. Ich kehrte an Bord zurück, wir steuerten nach Marseille, wo wir gestern landeten, und nachdem ich rasch alle Schiffsangelegenheiten in Ordnung gebracht hatte, eilte ich zu meiner Braut. Morgen hatte ich die Absicht, nach Paris zu fahren.«

»Ja, ja,« murmelte Villefort, »das alles scheint mir wahr zu sein, und wenn Sie schuldig sind, dann sind Sie es aus Unklugheit. Außerdem wurde diese Unklugheit durch die Befehle Ihres Kapitäns vorgegeben. Übergeben Sie uns jenen Brief, den man Ihnen auf der Insel Elba ausgehändigt hat. Verbürgen Sie mir mit Ihrem Ehrenwort, dass Sie sich bei der ersten Vorladung stellen und kehren Sie jetzt zu Ihren Freunden zurück.«

»Ich bin also frei, Monsieur?« rief Dantes voll Entzücken.

»Ja, nur geben Sie mir jenen Brief.«

»Er muss vor Ihnen liegen, Monsieur, denn man hat ihn mir mit meinen anderen Papieren weggenommen, und ich erkenne einige davon in diesem Bündel.«

»Warten Sie,« sagte Villefort zu Dantes, der schon seine Handschuhe und seinen Hut genommen hatte, »warten Sie, an wen war er adressiert?«

»An Monsieur Noirtier, Rue Coq-Héron in Paris«, antwortete Dantes.

Als hätte ihn ein Blitz getroffen, sank Villefort auf seinen Stuhl zurück. Dann griff er mit zitternder Hand nach dem Brief.

»Monsieur Noirtier, Rue Coq-Héron, Nummer 13?«

Stöhnend verbarg der Mann einen Augenblick sein Gesicht in den Händen. Dann fragte er mit rauer Stimme: »Weiß noch jemand von dem Brief?«

»Nein, Monsieur«, sagte Dantes verwundert.

»Und war dies der einzige Brief?«

»Ja, Monsieur.«

»Können Sie beides beschwören?«

»Ich beschwöre es.«

»Gut«, sagte der Richter mit Anstrengung. »Der Brief könnte für Sie sehr verhängnisvoll werden. Ich habe Interesse für Sie und möchte Ihnen helfen. Sehen Sie: ich vernichte den Brief, dass keine Spur von ihm bleibt.« Er war zum Kamin gegangen und warf das Schriftstück in die lodernden Flammen. Dann sah er Dantes mit leeren Augen an.

»Dafür erwarte ich von Ihnen eine Gegenleistung. Ich kann Sie im Augenblick doch noch nicht gehen lassen ... ein anderer Beamter wird Sie noch einmal verhören. Sagen Sie alles, was Sie mir gesagt haben, aber kein Wort von dem Brief.«

»Ich verspreche es Ihnen.«

»Das ist gut so. Und nun noch ein wenig Geduld und den Kopf hoch.«

»Ich danke Ihnen, Monsieur!«

Villefort griff nach der Klingelschnur, der Kommissar trat ein. Der Richter flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Der Beamte nickte, dann wandte er sich an Dantes:

»Folgen Sie mir!«

4. Kapitel

Man hatte Dantes in ein ziemlich reinliches Zimmer geführt, allerdings mit Gittern und Riegeln versehen. Er versuchte krampfhaft, jedes Gefühl von Besorgnis zu unterdrücken und erinnerte sich immer wieder an das wohlwollende Verhalten von Villefort, um daraus Mut und Hoffnung zu schöpfen. Das Tageslicht schwand, und Dantes befand sich im Dunkeln. Es verging Stunde um Stunde mit Bangen.

Endlich hörte er Schritte. Die Tür wurde geöffnet, und der Schein zweier Fackeln fiel ins Zimmer. Dantes sah vier Gendarmen mit Säbeln und Musketen.

»Kommt ihr, um mich zu holen?« fragte er.

»Ja«, erwiderte einer von den Leuten.

»Auf Befehl des Stellvertreters des königlichen Prokurators?«

»Es wird wohl so sein.«

»Gut,« sagte Dantes, »ich bin bereit, euch zu folgen.« Der Glaube, dass man ihn auf Befehl von Monsieur de Villefort hole, nahm dem unglücklichen Jüngling alle Furcht. Er schritt also vorwärts, ruhig im Geist, frei im Gang, und stellte sich zwischen seine Begleitung. Ein Wagen hielt am Straßentor, der Kutscher saß auf dem Bock und neben ihm ein Gefreiter.

»Ist dieser Wagen für mich bestimmt?« fragte Dantes.

»Für Sie,« entgegnete einer der Gendarmen, »steigen Sie ein.«

Dantes wollte einige Bemerkungen machen, aber der Kutschenschlag ging auf, und er spürte, dass man ihn hineinschob.

Die Fenster des Fuhrwerks waren vergittert, doch Dantes vermochte zu erkennen, dass die Fahrt zum Kai ging. Der Wagen hielt. Ein Dutzend Soldaten eilten herbei und stellten sich auf. »Wie, meinetwegen solch ein militärisches Aufgebot?« fragte Dantes voller Staunen.

Der Gefreite öffnete den Wagenschlag und wies Dantes stumm den Weg zwischen zwei Reihen Bewachung, der zum Hafen führte.

Ehe er sich's versah, saß er, von den Gendarmen umringt, in einem Boot und wurde in die Nacht hinausgerudert.

Trotz seiner Abneigung, mit den Wächtern zu reden, konnte er nun doch nicht den Ausruf unterdrücken: »Mein Gott, wohin führt man mich denn?«

»Wenn Ihr nicht blind seid, schaut Euch doch um«, gab einer von den Gendarmen widerwillig zur Antwort.

Dantes versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen, da sah er in einiger Entfernung auf steilen, schwarzen Felsen das schauerliche Château d'If aufragen. Der Anblick dieses unheimlichen Gebäudes wirkte auf Dantes so furchtbar, wie auf einen zum Tode Verurteilten der Anblick des Schafotts.

»Um Himmels willen, was sollen wir da?« schrie er auf.

Der Gendarm lächelte.

Bei Dantes überstürzten sich Gedanken und Vermutungen.

»Führt man mich etwa dahin, um mich einzusperren? Das ist doch ein Staatsgefängnis für große politische Verbrecher. Ich habe kein Verbrechen begangen. Gibt es Untersuchungsrichter, Beamte im Château d'If?«

»Wie ich vermute,« sagte der Gendarm, »gibt es dort einen Gouverneur, einen Kerkermeister, eine Garnison und gute Mauern. – He, Freund!«

Die Gendarmen waren aufgesprungen und hielten Dantes fest, der sich in grenzenloser Verzweiflung ins Meer stürzen wollte.

Jetzt lag er auf dem Boden des Bootes, und ein Gendarm hatte ihm das Knie auf die Brust gesetzt.

»Noch eine Bewegung, und ich jage Euch eine Kugel in den Kopf.«

Er richtete wirklich seinen Karabiner auf Dantes, der die Mündung des Rohres wie einen eisigen Ring an der Schläfe spürte.

Dantes hatte einen Augenblick lang wirklich den Drang, diese Bewegung zu machen um so dem unerwarteten Unglück ein Ende zu bereiten. Aber gerade weil dieses Unglück so unerwartet kam, glaubte er, es sei nicht von Dauer. Jetzt wurde die Barke von einem heftigen Stoß erschüttert. Einer der Ruderer sprang auf den Felsen, ein Tau knarrte im Abrollen von einer Winde, und Dantes erkannte, dass man gelandet war. Man packte ihn gleichzeitig an Arm und Kragen, zwang ihn, aufzustehen und vorwärts zu gehen.

Dantes leistete keinen weiteren unnützen Widerstand, die Langsamkeit seines Ganges war viel mehr Erschlaffung als Widersetzung. Er war betäubt und wankte wie ein Betrunkener. Er sah aufs neue Soldaten kommen, die sich an der steilen Böschung aufstellten, er spürte Stufen, die ihn zwangen, seine Füße zu heben, und bemerkte, dass er durch ein Tor kam, das sich hinter ihm schloss – aber alles maschinell, wie im Nebel.

Einen Augenblick wurde in einem dunklen Hof haltgemacht.

»Wo ist der Gefangene?« fragte eine Stimme.

»Hier«, antworteten die Gendarmen.

»Er folge mir; ich werde ihn in seine Zelle führen.«

»Vorwärts!« riefen die Gendarmen und gaben Dantes einen Stoß.

Der Gefangene folgte seinem Führer, der ihn in einen unterirdischen Raum geleitete, dessen nackte und feuchte Mauern von Tränendunst geschwängert zu sein schienen. Eine Art Lampe, die auf einem Schemel stand und deren Docht in einem stinkenden Fett schwamm, erleuchtete die Wände dieses schauerlichen Aufenthaltes und zeigte Dantes seinen Führer, der, schlecht gekleidet, gemein aussah und ein untergeordneter Gefängniswärter zu sein schien.

»Sie bleiben hier für diese Nacht«, sagte er. »Es ist schon spät und der Herr Gouverneur bereits im Bett. Wenn er morgen Ihre Papiere durchgesehen hat, wird er vielleicht Ihre Wohnung ändern. Hier ist Brot und Wasser und dort im Winkel Stroh. Gute Nacht!«.

Ehe Dantes noch den Mund auftun konnte, hatte der Wärter die Lampe genommen und die Tür von außen verriegelt.

So stand der Unglückliche alleine in der Finsternis und in einer Stille, die so stumm und schauerlich war wie diese Gewölbe, die eine eisige Kälte auf seine glühende Stirn herabwehten.

Als die ersten Strahlen des Tages diese Höhle ein wenig erhellt hatten, kehrte der Gefangenwärter mit dem Befehl zurück, dass der Eingekerkerte da zu verbleiben habe, wo er war. Dantes hatte sich nicht vom Platz bewegt, eine eiserne Hand schien ihn an der Stelle festgehalten zu haben, wo er tags zuvor gestanden hatte. So hatte er die ganze Nacht stehend zugebracht, ohne einen Augenblick zu schlafen.

Der Gefängniswärter näherte sich und ging um ihn herum; aber Dantes schien ihn nicht zu sehen. Er klopfte ihm auf die Schulter, Dantes erbebte und schüttelte den Kopf.

»Haben Sie denn nicht geschlafen?« fragte der Gefängniswärter.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Dantes.

Der Wärter blickte ihn verwundert an.

»Haben Sie keinen Hunger?« fuhr er fort.

»Ich weiß nicht«, entgegnete Dantes wieder.

»Wünschen Sie etwas?«

»Ich wünsche den Gouverneur zu sehen.«

Der Gefängniswärter zuckte die Achseln und ging fort; Dantes folgte ihm mit den Augen und streckte seine Hände zur halb geöffneten Tür aus; aber die Tür schloss sich. Dann schien seine Brust ein Schluchzen zu zerreißen. Die Tränen, die seine Augenlider anschwellten ließen, rieselten wie Bäche herunter. Er schlug mit der Stirn gegen die Mauer, betete lange Zeit, durchging in seinem Geist sein ganzes verflossenes Leben und fragte sich, was er – noch so jung – für ein Verbrechen begangen habe, das eine so grausame Strafe verdiente? So verging der Tag; er aß kaum einige Bissen Brot, trank kaum einige Tropfen Wasser. Mal saß er in Gedanken verloren, mal kreiste er wie ein wildes Tier in seinem Käfig.

Am nächsten Morgen trat der Kerkermeister zur selben Stunde wieder ein.

»He,« sagte er, »sind Sie heute vernünftiger als gestern?«

Dantes antwortete nicht.

»Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, sagen Sie es.«

»Ich wünsche mit dem Gouverneur zu sprechen.«

»Ich sagte Ihnen schon gestern, dass das unmöglich ist.«

»Warum ist es unmöglich?«

»Weil es nach den Vorschriften einem Gefangenen nicht erlaubt ist, darum zu bitten.«

»Was ist hier denn erlaubt?« fragte Dantes.

»Eine bessere Kost, wenn man bezahlt, ein Spaziergang und zuweilen Bücher.«

»Ich brauche keine Bücher, habe keine Lust, spazieren zu gehen, und finde meine Kost gut. Ich will nur eins: den Gouverneur sehen.«

»Wenn Sie mich mit Ihrem Eigensinn quälen,« sagte der Gefängniswärter, »werde ich Ihnen nichts mehr zu essen bringen.«

»Auch gut,« erwiderte Dantes, »wenn du mir nichts mehr zu essen bringst, werde ich verhungern.«

Der Ton, mit dem Dantes diese Worte aussprach, bewies dem Gefängniswärter, dass sein Gefangener glücklich wäre, wenn er sterben würde. Jeder Gefangene brachte ihm täglich ungefähr zehn Sous ein – schnell berechnete der Wärter den Verlust, der ihm Dantes Tod einbrächte, und fuhr danach mit sanfterer Stimme fort:

»Was Sie verlangen, ist ganz unmöglich; der Gouverneur begibt sich niemals zu den Gefangenen. Seien Sie also vernünftig. Man wird Ihnen den Spaziergang gestatten, und so kann es eines Tages geschehen, dass der Gouverneur vorüberkommt. Dann mögen Sie ihn fragen. Ob er Ihnen antworten will, hängt von ihm ab.«

»Wie lange muss ich warten,« fragte Dantes, »bis dieser Zufall eintritt?«

»Mein Gott,« entgegnete der Schließer, »einen Monat, drei Monate, sechs Monate, vielleicht ein Jahr.«

»Das ist zu lange,« sagte Dantes, »ich muss ihn sofort sehen.«

»Ach,« sprach der Gefangenwärter, »verrennen Sie sich nicht in diesen unmöglichen Wunsch, sonst werden Sie noch vor vierzehn Tagen verrückt.«

»Glaubst du das?« rief Dantes.

»Ja, so fängt das Verrücktsein immer an. Wir haben hier ein Beispiel: ein Abbé, der dem Gouverneur ununterbrochen eine Million anbot, wenn man ihn freiließe.«

»Wann hat er dieses Zimmer verlassen?«

»Vor zwei Jahren.«

»Hat man ihn freigelassen?«

»Nein, man brachte ihn in einen Kerker.«

»Höre,« sprach Dantes, »ich bin kein Abbé und ich bin kein Verrückter. Vielleicht werde ich's, aber unglücklicherweise bin ich noch bei Verstand. Ich mache dir einen anderen Vorschlag.«

»Welchen?«

»Ich biete dir keine Million, denn ich könnte sie dir nicht geben, aber ich biete dir hundert Taler, wenn du zu den Katalanen gehst und einem jungen Mädchen namens Mercédès nur zwei Zeilen aushändigst.«

»Wenn ich diese zwei Zeilen überbrächte und würde entdeckt, verlöre ich meinen Platz, der jährlich tausend Franc einbringt, ohne die anderen Vorteile und die Kost zu rechnen. Sie sehen also, dass ich ein großer Tor wäre, wenn ich es täte.«

»Gut,« antwortete Dantes, »höre und merke es dir gut: Wenn du dich weigerst, den Gouverneur zu benachrichtigen, dass ich ihn zu sprechen wünsche, wenn du dich weigerst, Mercédès zwei Zeilen zu bringen oder ihr wenigstens zu melden, dass ich hier bin, dann erwarte ich dich eines Tages hinter meiner Tür und will dir in dem Augenblick, wo du eintrittst, mit diesem Schemel den Kopf zerschmettern.«

»Das sind Drohungen!« rief der Schließer, wobei er einen Schritt zurückwich. »Es wirbelt offenbar schon in Ihrem Kopf; der Abbé hat genauso angefangen wie Sie. Glücklicherweise gibt es im If noch Kerker.«

Dantes nahm den Schemel und schwenkte ihn wild.

»Gut, gut,« sprach der Gefangenwärter, »ich werde es dem Gouverneur melden.« Er ging fort und kehrte ein Weilchen darauf mit vier Soldaten und einem Korporal zurück.

»Auf Befehl des Gouverneurs,« sprach er, »bringt den Gefangenen ein Stockwert tiefer.«

»Also in den Kerker?« fragte der Korporal.

»Ja, in den Kerker, man muss die Verrückten zu den Verrückten sperren.«

Die vier Soldaten ergriffen Dantes, der in eine Art Stumpfsinn verfiel und ihnen ohne Widerstand folgte. Man ließ ihn fünfzehn Stufen hinabsteigen und öffnete die Tür eines Kerkers, in den er eintrat und die Worte murmelte: »Er hat recht, man muss die Verrückten zu den Verrückten sperren!«

5. Kapitel

Als Villefort wieder zu seinen Schwiegereltern zurückkehrte, fand er die Gäste, die er bei Tisch verlassen hatte, im Salon, den Kaffee nehmend. Renée erwartete ihn mit einer Ungeduld, die sich der ganzen Gesellschaft mitteilte. Man empfing ihn mit einem Jubelruf.

»Gnädigste Marquise,« sprach Villefort, sich seiner künftigen Schwiegermutter nähernd, »ich bitte um Entschuldigung, dass ich gezwungen bin, Sie zu verlassen. – Marquis, könnte ich die Ehre haben, mit Ihnen ein paar Worte alleine zu sprechen?«

»Hm ... Die Sache ist also wirklich wichtig?« fragte die Marquise, als sie die Wolke wahrnahm, die Villeforts Stirn verdunkelte.

»Ja, so wichtig, dass ich mich für einige Tage von Ihnen verabschieden muss.«

»Sie ersuchten mich um eine kurze Unterredung?« fragte der Marquis.

»Ja, gehen wir in Ihr Kabinett, wenn es Ihnen recht ist.« Der Marquis fasste Villefort am Arm und ging mit ihm fort.

Als sie alleine waren, bat Villefort seinen Schwiegervater, ihm ein Schreiben mit auf den Weg zu geben, das ihm bei Hofe Tür und Tor öffne; er habe Seiner Majestät eine äußerst wichtige Mitteilung zu überbringen. Der greise Marquis erfüllte seinen Wunsch und übergab ihm bald einen Brief von Monsieur de Salvieur an den Grafen von Blacas.

Villefort nahm darauf Abschied von seiner reizenden Braut und fuhr mit der Post auf der Straße von Aix davon.

Wenige Tage später hatte er – durch Vermittlung des Grafen Blacas – die Ehre, Ludwig XVIII. gegenüberzustehen und seinen Bericht zu erstatten.

Er stieß zunächst nur einige Worte hervor: »Sire, der Usurpator Bonaparte hat drei Schiffe ausgerüstet und sinnt auf neue Schrecken, die den Thron Eurer Majestät bedrohen!«

Der König bewahrte die Fassung, doch die Minister wurden blass, und das Gesicht des Polizeiministers zeigte die höchste Bestürzung. »Das kann nur ein Irrtum sein«, meinte er. Doch Villefort bewies durch das, was er wusste, wie ernst die Sache war. Napoleon habe bereits Elba verlassen und werde demnächst in Neapel, an der Küste der Toskana oder in Frankreich selbst zu landen versuchen.

Kaum hatte er das gesagt, als ein Sonderbericht an den Kriegsminister eintraf: Bonaparte sei am 1. März bereits in Frankreich gelandet.

Unheimliches Schweigen herrschte im Raum, dann erhob der König seine Stimme:

»Gut! Dann heißt es jetzt mit dem Kriegsminister verhandeln.« Doch als die anderen Minister sich zurückziehen wollten, rief er ihnen zu: »Halt, Monsieurs! Was haben Sie Neues über die Affäre in der Rue St. Jaques erfahren? Es besteht kein Zweifel, dass der Tod von General Epinan mit dem großen Komplott zusammenhängt.«

»Sire,« begann der Polizeiminister, »Eure Majestät durchschauen die Sache vollkommen; alles weist darauf hin, dass es sich nicht um einen Selbstmord handelt, sondern dass der General ermordet wurde. Ein unbekannter Mann hat ihn frühmorgens aufgesucht und ihn zu einer Besprechung in der Rue St. Jaques eingeladen.«

Villefort wurde bei diesen Worten erst blass, dann rot.

»Was war das für ein Mann?« fragte der König weiter.

»Ein dunkelhaariger Fünfziger mit auffallend starken Brauen und Bart. Er trug einen blauen, zugeknöpften Überrock und im Knopfloch die Rosette eines Offiziers der Ehrenlegion.«

»Schafft mir diesen Mann her, diesen Meuchelmörder, der uns des besten Generals beraubt hat. Ob er Bonapartist ist oder nicht, ich will, dass er mit aller Strenge bestraft wird«, rief der König voller Zorn.

Villefort stützte sich auf einen Stuhl, denn er fühlte den Boden unter den Füßen wanken.

»Sie fühlen sich von der Reise angegriffen, lieber Baron«, wandte sich der König an Villefort. »Beeilen Sie sich, zu Ihrem Vater zu kommen.«

»Eure Majestät irren; ich habe nicht die Absicht, meinen Vater aufzusuchen, und wohne im ›Hotel de Madrid‹.«

»Ah, ich vergaß«, lächelte der König wohlwollend. »Politische Meinungsverschiedenheiten ... so, so. Nun, was Sie heute für Ihren König getan haben, ist ein Beweis für Ihre Ergebenheit.«

»Die Güte Eurer Majestät ist mir höchster Lohn.«

»Empfangen Sie zunächst dieses Kreuz.« Damit nahm der König das Kreuz der Ehrenlegion, das er selbst neben dem Kreuz des heiligen Ludwig auf seinem Rock trug, ab und reichte es Villefort. »Und sollte ich Sie jemals vergessen – das Gedächtnis der Könige ist kurz – dann scheuen Sie sich nicht, sich wieder in Erinnerung zu bringen.«

Villefort kehrte wie im Taumel zu seinem Hotel zurück. Er war gerade dabei, sich ein Frühstück servieren zu lassen, als er nebenan eine bekannte Stimme zu seinem Diener sagen hörte: »Ist das in Marseille etwa Sitte, dass Söhne ihre Väter im Vorzimmer warten lassen?«

6. Kapitel

Gleich darauf trat ein schwarzbärtiger Herr ins Zimmer, während Baron de Villefort noch immer mit seinem Erstaunen rang: also sein Vater – der Bonapartist – Monsieur Noirtier, dessen Namen er, um seiner ehrgeizigen Pläne willen, längst abgelegt hatte.

»Vater!« rief Villefort und gab dem verdutzt dreinschauenden Bediensteten einen Wink, zu verschwinden,

Monsieur Noirtier trat zu ihm heran: »Wie kommt's, mein lieber Gerard, dass du trotz deiner Verlobungsfeier, die am 28. Februar stattfand, heute am 4. März in Paris bist?«

»Um ihretwillen, Vater, um Sie zu retten.«

»Ach, wie hübsch!« sagte Monsieur Noirtier und streckte sich bequem im Sessel aus.

»Mein Vater, was ist mit dem Klub in der Rue ...«

»St. Jaques Nr. 53? Ich bin dort Vizepräsident.«

»Vater – man hat den General dort hingelockt; drei Tage später wurde er ermordet aufgefunden.«

»Lass dir erzählen, was passiert ist. Wir glaubten, General Epinan zähle zu den Unsrigen. Wir luden ihn ein und machten ihn mit unseren Plänen bekannt. Er hörte sich alles ruhig an und sagte zum Schluss, er sei Royalist. Darauf ließen wir ihn frei nach Hause gehen.«

»Vater – man hat mir eine genaue Beschreibung der Person gegeben, die im Verdacht steht ...«

»Und diese Person hat eine verteufelte Ähnlichkeit mit ... hahaha!« Monsieur Noirtier schlug sich lachend aufs Knie.

»Mein Vater, Sie zählen auf die Rückkehr des Usurpators?«

»Das tue ich.«

»Oh Vater, er kommt keine zehn Meilen nach Frankreich hinein; er wird umlauert und gefangen werden wie ein wildes Tier.«