Der große Gatsby - F. Scott Fitzgerald - E-Book

Der große Gatsby E-Book

F.Scott Fitzgerald

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Beschreibung

F. Scott Fitzgeralds Der große Gatsby wurde erstmals 1925 veröffentlicht und gilt heute als einer der wichtigsten amerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts. So virtuos wie unterhaltsam wird darin die vornehme New Yorker Gesellschaft des "Jazz-Age" porträtiert: die rauschenden Feste in den Wilden Zwanzigern, aber auch die innere Leere derjenigen, die scheinbar alles erreicht haben. Fitzgerald erzählt die Geschichte des Farmersjungen James Gatz, der seinen Traum vom Erfolg vor allem als brillanter Selbstdarsteller verwirklicht. Er arbeitet sich mit nicht immer legalen Mitteln zum Millionär hoch und gibt, fortan unter dem Namen Jay Gatsby, in seiner Traumvilla auf Long Island sagenumwobene Partys. Damit will er vor allem seine große Liebe Daisy anlocken, die aus besseren Verhältnissen stammt und inzwischen längst standesgemäß verheiratet ist. Am Ende geht Gatsbys Plan auf – und ist doch zum Scheitern verurteilt: Denn wie alle Menschen um ihn herum ist Daisy in ihrem Reichtum zu einer oberflächlichen, zynischen Person geworden. Fitzgerald beschreibt die starke Anziehungskraft des "American Dream" und liefert zugleich einen desillusionierenden Abgesang darauf – künstlerisch anspruchsvoll und spannend zugleich.

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Seitenzahl: 255

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Der große Gatsby

F. Scott Fitzgerald

Inhaltsverzeichnis
Der große Gatsby
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
ALLGEMEINE VORSÄTZE

I

In meinen jüngeren Jahren, als ich noch zarter besaitet war, gab mein Vater mir einmal einen Rat, der mir seitdem wieder und wieder durch den Kopf gegangen ist.
»Bedenke«, sagte er, »wenn du an jemand etwas auszusetzen hast, daß die meisten Menschen es im Leben nicht so leicht gehabt haben wie du.«
Weiter sagte er nichts, aber da wir uns auf eine scheue Art immer ungewöhnlich gut verstanden, begriff ich, daß er damit sehr viel mehr gemeint hatte. Daher neige ich dazu, mit meinem Urteil zurückzuhalten, eine Gewohnheit, die mir viele interessante Menschen erschlossen hat, mich aber auch nicht selten routinierten Schwätzern auf den Leim gehen ließ. Überdurchschnittliche Geister wittern diese Eigenschaft rasch bei einem normalen Menschen und klammern sich daran. So kam es, daß man mich schon auf dem College zu Unrecht für einen ehrgeizigen Intriganten hielt, weil ich in den heimlichen Kummer irgendwelcher Unbekannter, denen man alles mögliche zutraute, eingeweiht war. Meist kam es ohne mein Zutun zu solchen Geständnissen – oft stellte ich mich schlafend oder geistesabwesend, oder ich gab mich boshaft und leichtfertig, wenn ich aus untrüglichen Anzeichen merkte, daß eine vertrauliche Enthüllung im Anzuge sei. Denn gewöhnlich sind bei jungen Menschen solche vertraulichen Enthüllungen oder zumindest die Worte, in denen sie sich äußern, nicht ihr eigenes Gewächs und obendrein durch offensichtliche Komplexe entstellt. Sich des Urteils enthalten heißt, unbegrenzt hoffen. Dennoch wäre, fürchte ich, nicht alles gesagt, wenn ich verschwiege, was mein Vater mit 5 einigem Dünkel zu verstehen gab und was ich hier nicht minder dünkelhaft wiederhole – daß nämlich nicht jeder in der Wiege die gleiche Portion Taktgefühl mitbekommen hat.
Nachdem ich mich so mit meinem toleranten Wesen gebrüstet habe, muß ich gestehen, daß diese Toleranz auch ihre Grenzen hat. Das Tun und Lassen eines Menschen kann felsenfest begründet sein oder aus sumpfigen Niederungen wachsen. Wenn aber ein gewisser Punkt überschritten ist, kümmert mich diese Grundlage nicht mehr. Als ich vorigen Herbst aus dem Osten zurückkam, hätte ich am liebsten die Welt in eine Uniform gesteckt und sozusagen für immer moralisch strammstehen lassen. Ich hatte genug von den turbulenten Exkursionen und dem Privileg, hie und da einen Blick in das menschliche Herz zu erhaschen.
Einzig und allein Gatsby, der Mann, der diesem Buch den Namen gibt, machte darin für mich eine Ausnahme – Gatsby, der Inbegriff all dessen, was ich aus tiefster Seele verachte. Wenn allerdings Persönlichkeit nur eine ununterbrochene Kette großartiger Gesten ist, dann ging von ihm etwas Strahlendes aus, eine hochgradige Empfindlichkeit für die Verheißungen des Lebens, als hätte er Kontakt mit einem jener verzwickten Instrumente, die auf zehntausend Meilen ein Erdbeben registrieren. Diese Sensibilität hatte nichts mit der läppischen Aufgeschlossenheit zu tun, der man den Namen schöpferisches Temperament umgehängt hat – es war eine ungewöhnliche Begabung, immer etwas zu erhoffen, eine romantische Bereitschaft, wie ich sie bei keinem Menschen sonst gefunden habe und wohl nie wieder finden werde. Nein – Gatsby ging am Ende untadelig aus allem hervor. Aber was ihm auf den Fersen war, der widerliche Dunst, der seine Träume umspielte, stieß mich 6 ab und lähmte zeitweise mein Interesse für die kümmerlichen Fehlschläge und kurzatmigen Aufschwünge der Menschen.
Meine Familie sitzt seit drei Generationen hier in dieser Stadt im Mittelwesten – angesehene, gutsituierte Leute. Die Carraways haben etwas von einem Klan; es heißt, wir stammten vom Herzog von Buccleuch ab, doch der eigentliche Gründer meiner Linie war der Bruder meines Großvaters, der im Jahre herkam, im Bürgerkrieg einen Ersatzmann stellte und den Eisenwarengroßhandel eröffnete, den mein Vater heute noch fortführt.
Ich habe diesen Großonkel nicht gekannt; man sagt aber, ich sei ihm sehr ähnlich, und beruft sich dabei besonders auf das nachgerade altbackene Ölbild, das in Vaters Büro hängt. Ich machte 1915, genau ein Vierteljahrhundert nach meinem Vater, in New Haven Examen und sah mich bald darauf als Teilnehmer jener verspäteten germanischen Völkerwanderung, auch bekannt unter dem Namen: der Große Krieg. Ich genoß den Feldzug so gründlich, daß ich danach nicht wieder zur Ruhe kam. Der Mittelwesten erschien mir nicht mehr als wärmender Weltmittelpunkt, sondern als die schartige Peripherie des Universums. Daher beschloß ich, nach Osten zu gehen und mich im Börsenhandel umzutun. Wen ich auch kannte – alle handelten mit Wertpapieren, was mich zu der Annahme verleitete, dieses Geschäft könne wohl auch noch einen mehr ernähren. Meine Onkel und Tanten besprachen die Angelegenheit, als gelte es, mich auf eine Klippschule zu schicken. Sie setzten eine gewichtige Miene auf und sagten schließlich zögernd »Ja-a, warum nicht«. Vater fand sich bereit, mich für ein Jahr zu finanzieren, und so kam ich im Frühjahr 1922, nachdem die Sache mehrmals vertagt worden war, nach New York – für immer, wie ich 7 dachte.
Praktisch ging es zunächst darum, eine Wohnung in der Stadt zu finden. Aber es war schon heiß, und ich kam aus einer ländlichen Gegend mit viel Grün und freundlichen Bäumen. Als daher ein junger Mann im Büro mir vorschlug, gemeinsam ein Häuschen in einem Vorort zu mieten, schien mir das ein grandioser Einfall. Er fand auch das Haus, einen windschiefen gebrechlichen Bungalow für achtzig Dollar im Monat. Doch plötzlich beorderte ihn die Firma nach Washington, und ich zog allein aufs Land. Ich besaß – wenigstens die paar Tage, bis er mir davonlief – einen Hund, ferner einen alten Dodge und ein finnisches Weib, das mein Bett machte und, über dem elektrischen Kocher finnische Sprüche murmelnd, das Frühstück bereitete. Einen Tag oder länger war es ganz einsam, bis mich eines Morgens auf der Straße ein Mann ansprach, der noch kürzer da war als ich.
»Wie kommt man nach West Egg?« fragte er ratlos. Ich gab ihm Auskunft, und im Weitergehen kam ich mir nicht mehr so verloren vor. Ich war ein Pionier, ein Pfadfinder, ein echter Ansiedler. Unwillkürlich hatte dieser Mann mir das Bürgerrecht in dieser Gegend verliehen.
So wandelte mich denn, indes die Sonne schien, die Bäume gewaltig ausschlugen und die Blätter sich im Zeitraffer entfalteten, das bekannte Gefühl an, mit diesem Sommer beginne das Leben wieder einmal ganz von vorne.
Da war erstens so vieles, was ich lesen wollte, und dann so viel gesunde Kraft, die man nur mit der jungen frischen Atemluft einzuziehen brauchte. Ich kaufte mir ein Dutzend Bücher über Bank- und Kreditwesen und über sichere Kapitalanlagen. Die standen gleichsam frischgemünzt in Rot und Gold auf meinem Bücherbord und versprachen, mich in die fabelhaften Geheimnisse einzuweihen, die vor 8 mir nur ein Midas, ein Morgan oder Maecenas ergründet hatten. Außerdem hatte ich mir fest vorgenommen, noch vieles andere zu lesen. Schon auf dem College hatte ich mich literarisch hervorgetan und ein Jahr lang für Yale News geschwollene und triviale Leitartikel geschrieben. Indem ich mich all dieser Dinge erinnerte und sie in meinem Leben unterzubringen suchte, war ich im Begriff, mich wiederum zu einem ›allseitig beschlagenen‹ Mann, das heißt zum beschränktesten aller Spezialisten zu entwickeln. Das soll kein Aphorismus sein – aber es springt nun mal im Leben mehr heraus, wenn man es aus einem einzelnen Fenster betrachtet.
Rein zufällig hatte ich ein Haus in einem der seltsamsten Gemeinwesen von Nordamerika gemietet. Es lag auf jener schmalen, wild belebten Halbinsel, die sich von New York genau nach Osten erstreckt. Sie hat, neben anderen Naturwundern, zwei ungewöhnliche Formationen aufzuweisen. Dreißig Kilometer von der Stadt ragen, durch eine gefällige Bucht getrennt, zwei riesige eiförmige Landzungen von genau gleichem Umriß in den wohlumhegten Sund von Long Island, dieses zahmste Salzwasserbecken der westlichen Erdhälfte. Sie sind nicht völlig oval, sondern wie das Ei des Kolumbus an der Verbindungsstelle plattgedrückt; aber ihre physische Ähnlichkeit dürfte für die Möwen, die darüber hinstreichen, eine ständige Quelle der Verwunderung sein. Für uns Ungeflügelte ist das andere Phänomen interessanter, daß sie – außer in Gestalt und Größe – in allen Einzelheiten grundverschieden sind.
Ich wohnte in West Egg, dem – sagen wir – weniger mondänen Platz, womit allerdings der bizarre und geradezu düstere Kontrast zwischen beiden nur ganz oberflächlich gekennzeichnet ist. Mein Haus stand buchstäblich auf der Spitze des Eies, nur fünfzig Meter 9 vom Sund, und wurde schier erdrückt von zwei mächtigen Anwesen, die pro Sommer wohl zwölf- oder fünfzehntausend Dollar Miete abwarfen. Das eine, zur Rechten, war in jeder Beziehung eine kolossale Angelegenheit. Es war eine genaue Kopie irgendeines mittelalterlichen Rathauses in der Normandie, mit einem funkelnagelneuen Turm, an dem ein dünner Efeubart sproßte, einem Schwimmbassin ganz aus Marmor und mehr als vierzig Morgen Rasen und Parklandschaft. Das war Gatsbys Palais oder vielmehr, da ich ja Mr. Gatsby noch nicht kannte, das Haus eines Mannes, der so hieß. Mein eigenes Haus war sozusagen ein Dorn im Auge, aber so winzig, daß man es ganz übersehen hatte. So durfte ich mich denn der freien Aussicht aufs Wasser und auf einen Teil der nachbarlichen Grünflächen sowie der beruhigenden Nähe von Millionären erfreuen, und das alles für achtzig Dollar im Monat. Auf der anderen Seite der gefälligen Bucht glitzerten längs des Ufers die weißen Paläste des mondänen East Egg, und die Geschichte jenes Sommers beginnt eigentlich mit dem Nachmittag, da ich dort hinüberfuhr – zu den Buchanans, die mich zum Essen eingeladen hatten. Daisy war eine entfernte Cousine von mir, und mit Tom war ich auf dem College gewesen. Gleich nach dem Kriege hatte ich zwei Tage in Chikago bei ihnen verbracht.
Daisys Mann war, neben seinen Leistungen in allen möglichen Sportarten, einer der gewaltigsten Fußballer, die New Haven je besessen hatte, sozusagen ein Nationalheros und einer jener jungen Männer, die es mit einundzwanzig auf einem engbegrenzten Feld zu solcher Vollendung bringen, daß alles danach nur noch dagegen abfällt. Seine Familie war unermeßlich reich. Sogar auf dem College war er durch seine protzige Geldverschwendung unangenehm aufgefallen. Nun war er aus Chikago hierher in den Osten übergesiedelt, und das in einem Stil, daß einem vor Staunen die Luft wegblieb. So hatte er zum Beispiel aus Lake Forest eine Koppel Poloponys mit herübergebracht, und dazu gehörte für einen Mann aus meiner Generation ein unglaubliches Vermögen.
Was sie eigentlich hergeführt hatte, weiß ich nicht. Sie hatten ohne ersichtlichen Grund ein Jahr in Frankreich gelebt und sich dann rastlos herumgetrieben, mal hier, mal da, wo immer man gerade Polo spielte und mitsammen reich war. Hier seien sie nun seßhaft geworden, hatte Daisy am Telefon gesagt, doch ich glaubte ihr nicht recht. Ich konnte ihr zwar nicht ins Herz sehen, hatte aber das Gefühl, Tom werde sich immer weiter so treiben lassen, etwas melancholisch und immer auf der Suche nach dem dramatischen Getümmel irgendeines unwiederbringlichen Fußballkampfes.
An einem warmen und windigen Tag fuhr ich also gegen Abend hinüber nach East Egg, um die beiden zu besuchen. Wir waren alte Freunde, und doch kannten wir uns im Grunde kaum. Ihr Haus mit Ausblick auf die Bucht war noch kostbarer, als ich erwartet hatte, ein farbenfrohes Herrenhaus, rot und weiß, im Kolonialstil von Georgia. Gleich am Ufer begann der Rasen und lief, Klinkerpfade, Sonnenuhrbeete und andere leuchtende Blumenrabatten überspringend, wohl einen halben Kilometer auf das Hauptportal zu, wo er sich, noch im Schwung seines Laufs, als leuchtender Wein an der Hauswand emporrankte. Die Front gliederte sich in eine Reihe Fenstertüren, die golden in der Sonne funkelten und gegen die warme Nachmittagsbrise weit geöffnet waren. Unter dem Portal stand breitbeinig aufgepflanzt, im Reitdress, Tom Buchanan. Er hatte sich seit New Haven sehr verändert, war jetzt ein schwerer Dreißiger mit strohigem Haar, hochmütiger Miene und einem harten Zug um den Mund. Zwei arrogant blitzende Augen beherrschten sein Gesicht und gaben ihm etwas Aggressives, als wolle er sich im nächsten Augenblick auf einen stürzen. Die gewaltige Kraft dieses Körpers war auch in dem feminin geschwungenen Reitdress nicht zu verkennen. Seine blitzblanken Stiefel saßen so prall, daß die Schäfte sich spannten, und wenn er unter dem feinen Reitjackett mit der Schulter zuckte, sah man, wie ein ganzes Muskelpaket in Bewegung geriet. Es war ein Körper von enormer Wucht – ein gewalttätiger Körper.
Durch sein Organ, einen rauhen heiseren Tenor, wirkte er noch kampflüsterner. In seiner Stimme schwang, auch im Gespräch mit Menschen, die er gern mochte, etwas von überlegener Autorität und Geringschätzung. Schon in New Haven hatten manche ihn nicht ausstehen können.
»Glaub ja nicht«, schien er zu sagen, »meine Ansicht in dieser Sache sei ausschlaggebend, nur weil ich stärker bin und ein ganz anderer Kerl als du.« Wir waren im selben Seniorenverband, und wenn wir einander auch nie nähergekommen waren, hatte ich doch immer den Eindruck, er lasse mich gelten und werbe auf seine barsche, trotzige Art um meine Freundschaft. Wir unterhielten uns ein paar Minuten unter dem sonnigen Vordach.
»Ich hab’s hier gut getroffen«, sagte er; dabei blitzten seine Augen unstet umher.
Er faßte mich an einem Arm und drehte mich um. Seine breite grobschlächtige Hand beschrieb einen Kreis über die Fassade und umschloß mit dieser Bewegung zugleich einen tiefer liegenden italienischen Garten, eine halbmorgengroße, stark duftende Rosenplantage und ein stumpfnasiges Motorboot, das vor der Küste auf den Wellen dümpelte.
»Hat alles Demaine gehört, dem Ölkönig.« Wieder nötigte er mich mit abrupter Höflichkeit zu einer Drehung. »Gehen wir hinein.«
Wir durchschritten einen hohen Vorsaal und gelangten in ein helles rosenfarbenes Raumgebilde, das durch die französischen Fenster an beiden Seiten kaum noch wie ein Innenraum wirkte. Die Fenstertüren waren weit geöffnet und stachen weiß gegen den frischen grünen Rasen ab, der gleichsam bis ins Haus zu wachsen schien. Es ging ein starker Luftzug, der die hauchdünnen Vorhänge auf der einen Seite nach innen, auf der anderen nach außen bauschte. Sie wirbelten gegen den Konditorstuck der Decke oder kräuselten sich auf dem weinroten Teppich und riefen durch ihr Schattenspiel den Effekt einer leichtbewegten Wasserfläche hervor.
Das einzig Feststehende im Raum war eine riesige Couch, auf der zwei junge Frauen wie auf einem Fesselballon in der Schwebe gehalten wurden. Beide waren ganz in Weiß; ihre Gewänder wirbelten und flatterten, als seien sie nach einem kurzen Flug ums Haus nur eben hereingeweht. Ich stand wohl ein paar Augenblicke starr und lauschte dem Geknatter der Vorhänge und dem Ächzen eines Bildes an der Wand. Dann gab es einen dumpfen Laut, als Tom Buchanan die beiden Fenster an beiden Enden des Raumes schloß. Der Luftzug erstarb. Die Gardinen, die Vorhänge und die beiden Frauen schwebten langsam zur Erde hernieder.
Die jüngere kannte ich nicht. Sie lag am einen Ende der Couch lang ausgestreckt und völlig bewegungslos. Nur ihr Kinn hatte sie ein wenig angehoben, als vollführe sie damit einen äußerst schwierigen Balanceakt. Wenn sie mich aus einem Augenwinkel erblickt hatte, so ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken – ja, ich fühlte mich beinahe veranlaßt, eine Entschuldigung zu murmeln, daß ich sie durch meinen Eintritt gestört hatte. Die andere junge Dame – es war Daisy – machte einen schwachen Versuch, sich zu erheben. Sie beugte sich ein wenig vor, wobei sie sich bemühte, sehr gewissenhaft auszusehen. Dann lachte sie – ein irres, aber entzückendes kleines Lachen. Auch ich lachte und trat näher.
»Ich werde wa-ahnsinnig vor Glück.«
Wieder lachte sie, als habe sie etwas sehr Geistreiches gesagt, und hielt einen Augenblick meine Hand. Dabei sah sie mich von unten herauf mit einem Blick an, der zu sagen schien, von allen Menschen in der Welt habe sie gerade mich am sehnlichsten erwartet. Das war so ihre Art. Durch ein Murmeln deutete sie an, die balancierende junge Dame heiße Baker. (Ich habe sagen hören, daß Daisy durch ihr leises Sprechen lediglich die Leute veranlassen wollte, sich zu ihr zu neigen; aber dieser Einwand ist ohne Belang und macht die Sache nicht weniger reizend.)
Für alle Fälle bewegte Miss Baker die Lippen ein wenig, nickte fast unmerklich zu mir hin und legte dann schnell ihren Kopf wieder zurück. Offenbar war der kostbare Gegenstand, den sie balancierte, ein wenig ins Wanken geraten, worüber sie gleichsam heftig erschrak. Wieder hatte ich eine Art Entschuldigung auf der Zunge; denn der Anblick eines so völlig von sich überzeugten Menschen bringt mich fast immer aus der Fassung.
Ich sah nun wieder meine Cousine an, die mich mit ihrer leisen, aufregenden Stimme allerlei zu fragen begann. Diese Stimme war von der Art, daß man unwillkürlich mit dem Ohr dem Auf und Ab folgte, als sei jeder Satz eine Tonfolge, die so nie wieder erklingen würde. Ihr Gesicht hatte einen rührenden Liebreiz und leuchtete aus sich – es leuchteten die Augen, und es leuchtete der leidenschaftlich geschwungene Mund; in ihrer Stimme aber war etwas Erregendes, das Männer, die sie einmal geliebt hatten, nur schwer vergaßen: ein bestrickender Ton, ein geflüstertes »Hör zu«, ein lockendes Versprechen, als sei sie eben noch mit köstlichen und aufregenden Dingen beschäftigt gewesen und als winkten solche köstlichen und aufregenden Dinge auch im nächsten Augenblick.
Ich erzählte ihr, daß ich meine Reise in Chikago für einen Tag unterbrochen hätte und daß ein Dutzend Leute mir Grüße an sie aufgetragen hätten.
»Vermißt man mich?« rief sie ekstatisch aus. »Die ganze Stadt ist untröstlich. Alle Autos haben zum Zeichen der Trauer das linke Hinterrad schwarz angestrichen; es ist ein einziges Wehklagen am Nordufer die ganze Nacht.«
»Herrlich! Wir wollen wieder hin, Tom. Gleich morgen!«
Dann fuhr sie beiläufig fort: »Du müßtest die Kleine sehen.«
»Gern.«
»Sie schläft gerade. Sie ist jetzt drei Jahre. Hast du sie noch gar nicht gesehen?«
»Nein, nie.«
»Dann mußt du sie unbedingt sehen. Sie ist –« Tom Buchanan unterbrach sein rastloses Umherwandern im Raum und legte mir schwer die Hand auf die Schulter. »Was machst du, Nick?«
»Börsenmakler.«
»Bei wem?«
Ich nannte die Firma.
»Nie gehört«, sagte er mit Entschiedenheit.
Das ärgerte mich.
»Wirst schon noch«, erwiderte ich schroff, »wenn du lange genug hier bist.«
»Keine Sorge, ich bleibe«, sagte er; dabei schielte er zu Daisy hinüber und dann wieder zu mir, als sei er auf mehr gefaßt.
»Ich wäre schön verrückt, wenn ich je woanders leben wollte.«
An diesem Punkt der Unterhaltung sagte Miss Baker: »Komplett!« und das so unvermittelt, daß ich stutzte – es war das erstemal, daß sie überhaupt etwas sagte, seit ich da war. Sie schien davon selbst ebenso überrascht wie ich, denn sie gähnte und stand dann mit ein paar raschen, gewandten Bewegungen von der Couch auf.
»Ich bin ganz steif«, klagte sie, »seit ich denken kann, habe ich auf diesem Sofa gelegen.«
»Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an«, entgegnete Daisy. »Schon den ganzen Nachmittag versuche ich, dich zu einer Fahrt nach New York zu bewegen.« »Nein, danke«, sagte Miss Baker. Das bezog sich auf die vier Cocktails, die gerade gereicht wurden. »Ich bin im Training.«
Der Hausherr sah sie ungläubig an.
»Ach so!« Er stürzte seinen Drink hinunter, als sei es nur ein kleiner Rest im Glas. »Wie du je etwas vor dich bringst, ist mir schleierhaft.«
Ich blickte auf Miss Baker und fragte mich, was sie wohl ›vor sich bringen‹ sollte. Es machte mir Spaß, sie anzusehen. Sie war ein schlankes, flachbrüstiges Mädchen, hielt sich sehr gerade und unterstrich das noch durch eine stramme, kadettenhafte Art, die Schultern zurückzunehmen. Ihre grauen, sonnengestählten Augen erwiderten meinen Blick mit höflicher Neugier. Ihr blasses, hübsches Gesicht hatte einen unbefriedigten Ausdruck. Jetzt fiel mir ein, daß ich sie oder ein Foto von ihr schon irgendwo gesehen haben mußte.
»Sie wohnen in West Egg?« bemerkte sie ein wenig von oben herab. »Da kenne ich jemand.«
»Ich kenne keinen Menschen.«
»Aber Sie werden doch Gatsby kennen.« »Gatsby?« fragte Daisy. »Welcher Gatsby?« Das ist mein Nachbar, wollte ich antworten, da wurden wir zu Tisch gebeten. Tom Buchanan hakte mich mit seinem athletischen Arm unter und schob mich gebieterisch aus dem Zimmer, wie man eine Schachfigur von einem Feld auf ein anderes rückt.
Lässig und träge, einander leicht um die Hüften fassend, schritten die beiden Frauen uns voran auf eine rosenfarbene Veranda, die sich gegen die untergehende Sonne öffnete. Auf dem Tisch flackerten vier Lichter im Wind, der sich inzwischen etwas gelegt hatte.
»Wozu Kerzen?« Daisy runzelte leicht die Stirn und schnippte sie mit den Fingern aus. »In zwei Wochen haben wir den längsten Tag im Jahr.« Sie sah uns strahlend an. »Geht es euch auch so, daß ihr immer auf den längsten Tag wartet und ihn dann verpaßt? Ich warte immer darauf und verpasse ihn jedesmal.«
»Wir sollten etwas unternehmen«, gähnte Miss Baker; sie ließ sich so müde am Tisch nieder, als ginge sie zu Bett.
»Fein«, sagte Daisy, »was wollen wir unternehmen?« Sie wandte sich hilfesuchend an mich: »Was unternimmt man denn so?«
Bevor ich noch antworten konnte, blickte sie wehleidig auf ihren kleinen Finger.
»Seht doch!« klagte sie. »Verletzt.«
Wir sahen ihn uns an – der Knöchel war grün und blau. »Das warst du, Tom«, sagte sie vorwurfsvoll. »Nicht mit Absicht, ich weiß, aber du warst es. Das hat man davon, wenn man so einen ungeschlachten Kerl von Mann heiratet, so ein großes massiges, brutales Exemplar von –«
»Ich kann das Wort brutal nicht leiden«, entgegnete Tom scharf, »auch nicht im Scherz.«
»Brutal«, beharrte Daisy.
Manchmal sprachen sie und Miss Baker gleichzeitig. Das wirkte aber nicht aufdringlich und war auch kein bloßes Geschnatter, sondern geschah aus einer gutmütigen Zerstreutheit und war von gleicher Kühle wie ihre weißen Kleider oder ihre ganz unpersönlich blickenden Augen, für die es keinen Wunsch und kein Begehren mehr zu geben schien. Sie waren nun mal da, akzeptierten Tom und mich und zeigten sich lediglich bemüht, uns auf höfliche und gefällige Art zu unterhalten und sich unterhalten zu lassen. Sie wußten, das Dinner würde bald vorbei sein und etwas später auch dieser Abend, vorbei und ad acta gelegt. Wie anders war das im Westen, wo man einen solchen Abend durch alle seine Phasen hetzte, bis zum Ende hin in ständiger Erwartung, enttäuscht zu werden, oder in nervöser Angst vor seinem bloßen Verlauf.
Beim zweiten Glas des korkigen, aber ziemlich schweren Rotweins gestand ich: »Du bist so gräßlich zivilisiert, Daisy. Könntest du nicht einmal über die Weizenernte oder sonst etwas plaudern?«
Ich hatte damit nichts Besonderes sagen wollen, aber es wurde auf eine überraschende Weise aufgegriffen.
»Die Zivilisation geht sowieso zum Teufel«, legte Tom heftig los. »Ich bin mittlerweile ein schrecklicher Pessimist in diesen Dingen. Hast du den ›Aufstieg der farbigen Völker‹ von diesem Goddard gelesen?«
»Wieso? Nein.« Sein Ton überraschte mich. »Nun, das sollte jeder lesen, ein ausgezeichnetes Buch.
Es vertritt die These, daß die weiße Rasse, wenn wir nicht aufpassen, glatt überschwemmt wird. Alles vollkommen wissenschaftlich und belegt.«
»Tom macht nämlich neuerdings in Bildung«, sagte Daisy und blickte unwillkürlich kummervoll drein. »Er liest tiefschürfende Bücher mit gewaltigen Fremdwörtern. Wie hieß doch das Wort, das wir –«
»Sind eben wissenschaftliche Bücher«, sagte Tom und sah sie unwillig an. »Dieser Mann hat das alles durchdacht. Es ist an uns, der dominierenden Rasse, auf dem Posten zu sein, sonst werden die anderen alles an sich reißen.«
»Wir müssen sie eben unterkriegen«, wisperte Daisy und zwinkerte dabei grimmig in die rotglühende Sonne.
»Ihr solltet in Kalifornien leben –«, begann Miss Baker, aber Tom unterbrach sie, indem er sich schwer auf seinem Stuhl zurechtrückte.
»Er geht davon aus«, sagte er, »daß wir die nordische Rasse sind. Ich bin nordisch, du und du, und –« Hier zögerte er für den Bruchteil einer Sekunde und schloß dann durch ein leichtes Kopfnicken auch Daisy mit ein, die mir daraufhin erneut zuzwinkerte.
»–und wir haben alle Dinge produziert, die die Kultur ausmachen – hm, Wissenschaft, Kunst und so. Versteht ihr?«
Es war etwas Rührendes in seiner Konzentration – als ob es ihm neuerdings nicht mehr genüge, von sich selbst überzeugt zu sein. Als gleich darauf drinnen das Telefon läutete und der Butler hineingegangen war, nahm Daisy diese plötzliche Unterbrechung zum Anlaß, sich zu mir zu neigen.
»Ich will dir ein Familiengeheimnis verraten«, flüsterte sie enthusiastisch. »Es betrifft die Nase des Butlers. Willst du ihre Geschichte hören?«
»Unbedingt. Deshalb bin ich doch gekommen.« »Fein. Er war nämlich nicht immer Butler, sondern Silberputzer bei Leuten in New York. Die hatten ein Silberservice für zweihundert Personen. Das mußte er von morgens bis abends putzen, bis schließlich seine Nase davon affiziert wurde –«
»Und das wurde immer schlimmer«, fiel Miss Baker ein. »Ja, es wurde immer schlimmer, und am Ende mußte er die Stellung aufgeben.«
Ein letzter Sonnenstrahl verklärte für einen Augenblick romantisch ihr Gesicht; ihre Stimme zwang mich atemlos lauschend zu ihr. Dann verblaßte das Glühen; ein Lichtstrahl nach dem andern wich von ihr, zögernd und ungern wie Kinder, die im Abenddämmer ihr Straßenparadies verlassen müssen.
Der Butler kam zurück und beugte sich flüsternd zu Tom, der daraufhin stirnrunzelnd seinen Stuhl zurückschob und wortlos hineinging. Als wenn Toms Abwesenheit etwas in ihr gelöst hätte, beugte sich Daisy erneut vor, mit einem dunklen Singen in der Stimme. »Ich bin ja so froh, dich hier bei uns zu haben, Nick. Du erinnerst mich immer an – an eine Rose, eine perfekte Rose. Nicht wahr?« Sie wandte sich, Zustimmung heischend, an Miss Baker: »Eine perfekte Rose?«
Das war glatt gelogen. Ich sehe auch nicht im entferntesten einer Rose ähnlich. Daisy hatte das nur so improvisiert; dabei ging jedoch eine bedrückende Wärme von ihr aus, als habe sie in dieses atemlos geflüsterte, aufregende Wort heimlich ihr Herz gelegt und wolle es mir darreichen. Dann warf sie plötzlich ihre Serviette auf den Tisch, entschuldigte sich und ging ins Haus. Miss Baker und ich wechselten einen kurzen geflissentlich nichtssagenden Blick. Ich wollte gerade sprechen, da machte sie warnend »Sst!« und richtete sich gespannt auf. Von drinnen hörte man jemand gedämpft und mit unterdrückter Erregung sprechen, und Miss Baker beugte sich schamlos vor, um zu lauschen. Das Gespräch wurde für einen Augenblick nahezu deutlich, sank wieder ab, um noch einmal leidenschaftlich anzuschwellen, und hörte dann ganz auf.
»Dieser Mr. Gatsby, von dem Sie sprachen, ist mein Nachbar –«, begann ich.
»Nicht sprechen, bitte. Ich möchte hören, was da vorgeht.«
»Geht da etwas vor?« fragte ich harmlos. »Soll das heißen, Sie wüßten nicht Bescheid?« Miss Baker tat ehrlich überrascht. »Ich dachte, alle Welt wüßte es.«
»Ich nicht.«
»Nun –«, sie zögerte, »Tom hat da so eine Frau in New York.«
»Eine Frau in New York?« wiederholte ich verwirrt. Miss Baker nickte.
»Sie könnte wenigstens so taktvoll sein, ihn nicht bei Tisch anzurufen. Finden Sie nicht?«
Noch ehe ich recht begriffen hatte, rauschte ein Gewand, knirschten Stiefel – Tom und Daisy waren wieder am Tisch.
»Das mußte ja kommen!« rief Daisy mit forcierter Aufgeräumtheit.
Sie setzte sich, blickte forschend Miss Baker und dann mich an und fuhr fort: »Ich mußte einen Moment hinausschauen. Es ist so romantisch draußen. Auf dem Rasen saß ein Vogel, ich glaube eine Nachtigall, die auf einem Cunard- oder White-Star-Dampfer herübergekommen ist. Sie singt in einem fort –« Und in singendem Tonfall: »Ist’s nicht romantisch, Tom?«
»Äußerst romantisch«, sagte er, und dann etwas kläglich zu mir: »Wenn’s nach Tisch noch hell genug ist, will ich dir im Stall die Pferde zeigen.«
Wieder ging drinnen das Telefon und versetzte uns einen Schock, und als Daisy unverhohlen über Tom den Kopf schüttelte, war von der Stallbesichtigung nicht mehr die Rede, ja es gab überhaupt kein Gesprächsthema mehr. Die letzten fünf Minuten bei Tisch zerbröckelten, und ich erinnere mich nur, daß völlig sinnlos die Kerzen wieder angezündet wurden und daß mich der Wunsch ankam, jedem geradezu ins Gesicht zu sehen und dann wieder alle Blicke zu vermeiden. Ich konnte nicht erkennen, was in Daisy und Tom vorging, aber ich glaube, daß selbst Miss Baker, die bis dahin eine gewisse verwegene Skepsis aufrechterhalten hatte, nicht mehr imstande war, nach außen hin den schrillen, metallischen Notruf dieses fünften Gastes zu ignorieren. Mancher hätte sich in dieser Situation vielleicht als Mitverschworener gefühlt – ich reagierte anders und hätte am liebsten sofort die Polizei angerufen. Die Pferde wurden natürlich nicht mehr erwähnt. Tom und Miss Baker schlenderten – zwei getrennte Silhouetten im Zwielicht – hinein in die Bibliothek wie zu einer Vigilie am Ruhebett einer durchaus lebendigen Schönen, während ich, leicht benommen und dennoch krampfhaft bemüht, mich aufgeräumt und interessiert zu zeigen, Daisy durch mehrere ineinandergehende Veranden rund ums Haus folgte. Wir setzten uns im tiefen Schimmer der Abendröte unter das Säulenportal nebeneinander auf eine rohrgeflochtene Bank.
Daisy legte die Hände an ihr Gesicht, als wolle sie sich fühlend seines Liebreizes vergewissern. Ihre Augen wurden allmählich größer und starrten hinaus in die samtene Dämmerung. Ich sah, wie erregt und aufgewühlt sie war, und wollte sie durch ein paar Fragen nach ihrem Töchterchen ablenken und beruhigen.
»Wir kennen uns nur sehr oberflächlich, Nick«, sagte sie plötzlich, »obwohl wir Vetter und Cousine sind. Du bist nicht auf meiner Hochzeit gewesen.«
»Da war ich noch im Krieg.«
»Richtig.« Sie zögerte. »Ich habe viel durchgemacht, Nick. Ich bin inzwischen ganz schön zynisch geworden – in allem.«
Offenbar hatte sie einigen Grund dazu. Ich wartete, aber sie sagte weiter nichts darüber. Nach einer kleinen Pause kam ich etwas zaghaft wieder auf ihr Töchterchen zurück.
»Wahrscheinlich spricht sie schon und – ißt und so weiter.«
»O ja«, sie sah mich geistesabwesend an. »Hör zu, Nick. Willst du hören, was ich sagte, als sie geboren war?«
»Ja, gern.«
»Du kannst daraus sehen, wie ich inzwischen über die Dinge denke. Sie war knapp eine Stunde auf der Welt, und Tom war Gott weiß wo. Ich wachte mit einem Gefühl unendlicher Verlassenheit aus dem Ätherrausch auf. Sogleich fragte ich die Schwester, ob es ein Junge oder ein Mädchen sei. Sie sagte, es sei ein Mädchen. Da kehrte ich mein Gesicht zur Wand und weinte. ›Auch gut‹, sagte ich, ›ich will froh sein, daß es ein Mädchen ist. Hoffentlich ist sie eine Närrin – das ist noch das beste für ein Mädchen auf dieser Welt, eine entzückende kleine Närrin.‹
Du siehst, ich finde alles irgendwie gräßlich«, fuhr sie in überzeugtem Tone fort. »Und so denken wir alle – die kultiviertesten Leute. Ich weiß Bescheid. Ich bin überall gewesen, habe alles gesehen, was es gibt, und alles mitgemacht.« Ihre Augen blitzten herausfordernd, fast wie bei Tom, und sie lachte schrill und verächtlich. »Blasiert – Gott, bin ich blasiert!«
Sobald sie verstummt war und ihre Stimme mich nicht mehr fesselte und überzeugte, empfand ich, wie unaufrichtig im Grunde alles war, was sie gesagt hatte. Ich fühlte mich unbehaglich; man schien es den ganzen Abend nur darauf angelegt zu haben, eine bestätigende Reaktion von mir zu erpressen. Ich wartete – und richtig, als sie mich im nächsten Augenblick ansah, huschte ein affektiertes Lächeln über ihr hübsches Gesicht, als habe sie mir soeben erklärt, daß sie und Tom einem geradezu vornehmen und exklusiven Geheimbund angehörten.
Drinnen der karmesinrote Raum war jetzt von Licht überflutet. Tom und Miss Baker saßen je an einem Ende der langen Couch; sie las ihm aus der Saturday Evening Post vor. Ihre unbeteiligt gemurmelten Worte rannen zu einer einschmeichelnden Melodie zusammen. Das Lampenlicht glänzte auf seinen Stiefeln und lag matt auf ihrem rötlichgelben, herbstfarbenen Haar, und wenn sie mit leichtem Muskelspiel ihres schlanken Armes eine Seite umwandte, glitt das Licht darüber hin.
Als wir eintraten, gebot sie uns mit erhobener Hand einen Augenblick Stille.
»Fortsetzung in der nächsten Nummer«, sagte sie dann und warf die Zeitschrift auf den Tisch.