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Eine ungewöhnliche Geschichte um den seltsamen Wunsch einer exzentrischen, jungen Dame: Bevor sie heiratet, will sie unbedingt den 'Grünen Strahl' sehen, der nur sehr selten bei freier Sicht auf einen Sonnenuntergang zu erkennen ist. In diesem humorvollen Roman entdeckt ihn der Leser zusammen mit Miss Campbell: Im Auge des Geliebten. Ein ironisches Werk des Altmeisters der SF-Literatur mit einer mahnenden Wendung. Auch enthalten ist eine Jagdepisode des Verfassers...
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Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jules Verne
Der grüne Strahl
Anmerkung zu dieser Ausgabe: Ich habe 1984 die Jules-Verne-Taschenbuchausgabe in 100 Bänden im Pawlak-Verlag betreut, nachdem meine Jules-Verne-Biografie bereits 1978 erschienen war. Eine Reihe von Texten Vernes gebe ich als durchgesehene Taschenbuchreihe neu heraus, gleichzeitig erscheinen die Bände als illustrierte Paperbacks im Format A 5 und als eBooks. Alle Titel sind im Handel zu beziehen – überall, wo es Bücher gibt.
Thomas Ostwald
Jules Verne
Der grüne Strahl
Zehn Stunden auf der Jagd
Edition Corsar D. u. Th. Ostwald
Braunschweig
Texte: © 2025 Copyright by Thomas Ostwald nach der Ausgabe des Hartleben-Verlages 1885 und der von mir betreuten Taschenbuchausgabe im Pawlak-Verlag 1984 durchgesehen, korrigiert und mit Anmerkungen versehen.
Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by
Thomas Ostwald
Edition Corsar
Dagmar u. Thomas Ostwald
Am Uhlenbusch 17
38108 Braunschweig
Erstes Kapitel Bruder Sam und Bruder Sib
»Bet!«
»Beth!«
»Beß!«
»Betsey!«
»Betty!«
So lauteten die Namen, welche unmittelbar hintereinander aus dem prächtigen Salon der Helenenburg ertönten - eine merkwürdige Gewohnheit des Bruders Sam und des Bruders Sib, die Verwalterin ihres Land hauses herbeizurufen.
In diesem Augenblick verhallten aber jene familiären Abkürzungen des Namens Elisabeth ebenso wir kungslos, als wenn die Trägerin desselben mit ihrem vollen Namen gerufen worden wäre. Dagegen erschien der Intendant Patridge, die schottische Mütze in der Hand, in der Salontür.
Patridge richtete seine Worte an zwei freundlich aussehende Männer, welche in der Nische des großen Fensters saßen, das mit den drei buntglasigen Schei ben ein Stück über die Hausfassade vorsprang.
»Die Herren haben nach Frau Beß gerufen«, sagte er; »Frau Beß befindet sich aber nicht im Hause.«
»Wo ist sie denn, Patridge?«
»Sie begleitet Miss Campbell, welche im Park lust wandelt.«
Auf ein von den beiden Männern gegebenes Zeichen zog sich Patridge würdevoll zurück. Jene waren die Brüder Sam und Sib - oder nach eigentlichem Taufnamen Samuel und Sebastian -, die Oheime der Miss Campbell. Schotten vom alten Schlag, Schotten aus einem antiken Clan der Hochlande, zählten sie zusammen hundertzwanzig Jahre, bei einem Altersunterschied von nur fünfzehn Monaten zwischen dem älteren Sam und dem jüngeren Sib. Um mit wenigen Zügen diese Musterbilder von Ehrenhaftigkeit, Wohlwollen und Aufopferungsfähigkeit zu skizzieren, genügt wohl die Bemerkung, dass deren ganzes Leben einzig und allein ihrer Nichte geweiht gewesen war. Sie waren die Brüder der Mutter derselben, welche, schon nach einjähriger Ehe verwitwet, durch eine hitzige Krankheit frühzeitig hingerafft wurde. Sam und Sib Melvill blieben also als die einzigen natürlichen Beschützer der kleinen Waise zurück. Übereinstimmend in gleicher Zärtlichkeit, lebten, dachten und träumten sie nur für sie.
Um ihretwillen waren sie, ohne es eben zu bedauern, unverheiratet geblieben, zwei gutmütige Naturen, welche hienieden keine andere Rolle als die eines Be schützers zu spielen haben. Ist es nicht schon genug gesagt, wenn wir von ihnen verraten, dass der Altere gleichsam Vaterstelle, der Jüngere dagegen mehr Mutterstelle bei dem Kind vertrat? So kam es zuweilen vor, dass Miss Campbell sie dementsprechend mit ei nem: »Guten Tag, Papa Sam! - Nun, wie geht's, Mama Sib?«, begrüßte.
Wem hätte man sie passender vergleichen können, diese beiden Onkels, als, abgesehen von geschäftlicher Erfahrung und Findigkeit, jenen zwei so guten, so übereinstimmenden und einander zärtlich zugetanen, hochherzigen Kaufleuten, den Gebrüdern Cheeryble aus der City von London, den beiden vollkommensten Geschöpfen, welche je der Phantasie Boz Dickens' entsprungen sind? Es wäre unmöglich gewesen, einen treffenderen Vergleich zu finden, und wenn man den Verfasser beschuldigen könnte, deren Typus dem be deutendsten Werke Nicolas Ricklebys1 entlehnt zu ha ben, so würde niemand dieses Plagiat zu bedauern ha
ben.
Sam und Sib Melvill, durch ihrer Schwester Verheiratung verwandt mit einem Seitenzweig der alten Familie Campbell, hatten einander niemals verlassen. Die gleiche Erziehung hatte sie auch moralisch gleichmäßig gestaltet. Sie hatten zusammen denselben Unterricht in der nämlichen Schule und ein und derselben Klasse genossen. Da sie stets über alles dieselben Gedanken zutage förderten und die gleichen Ausdrücke dafür zu gebrauchen pflegten, so konnte jeder leicht einen angefangenen Satz des anderen vollenden, wobei den Hauptpunkten auch die nämlichen Gesten erhöhten Nachdruck verliehen. Mit einem Wort, diese beiden Wesen bildeten eigentlich nur ein einziges, obgleich ihre persönliche Erscheinung einige Verschiedenheiten darbot. Sam war nämlich etwas größer als Sib, Sib etwas korpulenter als Sam; ihr graues Haar hätten sie aber vertauschen können, ohne den Charakter der grundehrlichen Gesichter zu verändern, denen der ganze Adel der Abkömmlinge des Clans von Melvill aufgeprägt war. Müssen wir besonders hinzufügen, dass sie bezüglich des Schnittes ihrer einfachen, hinter der Mode des Tages stets etwas zurückbleibenden Kleidung, wie der Wahl der Stoffe aus vorzüglichem englischen Tuch ganz denselben Geschmack verrieten? Nur der eine kleine Unterschied - wer hätte den Grund dazu erklären können? - bestand zwischen ihnen, dass Sam die dunkelblaue, Sib dagegen die kastanienbraune Farbe zu bevorzugen schien.
Wer hätte nicht mit diesen ehrenwerten Gentlemen gern auf vertraulichem Fuß gestanden? Gewohnt, im Leben immer gleichen Schrittes zu gehen, machten sie einst gewiss auch einer unfern dem anderen halt, wenn ihnen das Stündlein der ewigen Ruhe schlug. Immerhin konnte man diese beiden letzten Pfeiler der Familie Melvill noch als recht solide bezeichnen. Sie hiel ten gewiss noch lange Zeit das alte Gebäude ihrer Rasse aufrecht, welche dem 14. Jahrhundert ent stammte, der epischen Zeit eines Norbert Bruce und eines Wallace, der Heldenepoche, in der Schottland noch mit England um seine Unabhängigkeit rang.
Wenn Sam und Sib aber auch keine Gelegenheit hatten, für das Wohl des Vaterlandes zu kämpfen, wenn ihr minder bewegtes Leben unter dem Segen friedlicher Ruhe verlief, den ein behäbiges Vermögen verleiht, so darf man ihnen daraus weder einen Vorwurf machen, noch sie für entartet halten wollen. Sie setzten eben in ihrem Bestreben, Gutes zu wirken, die edlen Überlieferungen ihrer Vorfahren fort.
Beide kerngesund, ohne dass sie sich den Vorwurf ir gendwelcher Unregelmäßigkeit der Lebensweise zu machen hatten, schienen sie bestimmt, hohe Jahre zu erreichen, ohne jemals, weder an Geist noch an Kör per, zu altern.
Vielleicht hatten sie einen Fehler - wer könnte sich rühmen, ohne einen solchen zu sein? -, sie verbrämten ihre Unterhaltung gerne mit mannigfachen, dem be rühmten Burgvogt von Abbotsford entlehnten Bildern und Zitaten, und vorzüglich auch mit solchen aus den epischen Dichtungen Ossians, in welche sie geradezu vernarrt schienen. Doch wer könnte ihnen im Land Fingals und Walter Scotts daraus einen Vorwurf ma chen?
Um ihr Porträt durch die letzte Retusche zu vollenden, müssen wir noch hinzufügen, dass sie starke Schnupfer waren. Jedermann weiß ja wohl auch, dass die Tabakshandlungen im Vereinigten Königreich meist einen kräftigen, in Nationaltracht prangenden Schotten mit der Dose in der Hand als allgemein verständliches Symbol gebrauchen. Nun, die beiden Brüder Melvill hätten ganz gut dazu gepasst, als Abzeichen auf den bemalten Zinkschildern zu figurieren, wie man solche an den Schutzdächern über den betreffenden Lokalen sieht. Sie schnupften eben so viel, wenn nicht gar noch etwas mehr, als sonst einer diesseits wie jenseits des Tweed. Dabei besaßen sie merkwürdigerweise nur eine einzige Tabaksdose, natürlich ein sehr großes Exemplar. Dieses tragbare Stück Möbel wanderte stets abwechselnd in die Tasche des einen und des anderen und bildete damit gewissermaßen noch ein weiteres Band zwischen den Brüdern. Es versteht sich ganz von selbst, dass dieselben zu genau der gleichen Zeit, etwa zehnmal in der Stunde, das Bedürfnis empfanden, sich an dem vortrefflichen, aus Frankreich bezogenen Pulver der Herba nicotiana zu erquicken. Wenn der eine die Tabaksdose aus den Tiefen seines Rockes hervorholte, hatten eben beide Appetit auf eine gute Prise, und beide beglückwünschten sich, wenn sie niesten, mit einem: »Gott helfe uns!«
Alles in allem waren sie zwei richtige erwachsene Kinder, die Brüder Sam und Sib, in Bezug auf alle prakti-schen Lebensfragen; von industriellen, finanziellen und kommerziellen Angelegenheiten verstanden sie absolut nichts und gaben sich auch gar nicht das Ansehen, davon etwas zu verstehen; politisch zählten sie im Grunde vielleicht zu den Jakobiten, bewahrten ein ererbtes Vorurteil gegen die Dynastie Hannover und gedachten noch immer des letzten der Stuarts, ungefähr wie in Frankreich jemand dem letzten der Valois pietätvolles Andenken bewahren könnte; in Herzenssachen gar waren sie noch weniger Kenner.
Und doch hatten die Brüder Melvill nur den einen Wunsch, klar zu sehen im Herzen der Miss Campbell, deren geheimste Gedanken zu erraten, diese, wenn nötig, in bestimmter Richtung zu leiten, sie zu entwik keln, wenn das angezeigt erschien, und endlich sie an einen wackeren Mann ihrer (der Brüder) eigenen Wahl zu verheiraten, der gar nicht verfehlen könnte, das junge Mädchen glücklich zu machen.
Wenn man ihnen glauben durfte - oder vielmehr, wenn man sie reden hörte-, schien es, als hätten sie jenen braven Mann schon gefunden, dem jene beneidenswerte Aufgabe zufallen sollte.
»Helene ist also ausgegangen, Bruder Sib?«
»Ja, Bruder Sam; aber es ist schon um fünf Uhr und sie muss bald nach dem Cottage heimkehren ... «
»Und wenn sie zurückkommt ... «
»Denk' ich, Bruder Sam, wird es die geeignete Zeit sein, mit ihr einmal ein recht ernsthaftes Gespräch zu führen.«
»Binnen wenigen Wochen, Bruder Sib, vollendet unsere Tochter das achtzehnte Lebensjahr.«
»Das Alter der Diana Vernon, Bruder Sam. Ist sie nicht ebenso liebreizend wie die bewundernswerte Heldin von Rob-Roy?«2
»Gewiss, Bruder Sib, und bei der Grazie ihres Auftretens ...«
»Bei der Lebhaftigkeit ihres Geistes ... «
»Bei der Originalität ihrer Ideen ... «
»Erinnert sie mehr an Diana Vernon als an Flora Mac Ivor, die große, imponierende Gestalt aus Waverley!«3
Die auf ihren nationalen Romandichter stolzen Brüder Melvill zitierten noch mehrere andere Namen weiblicher Hauptcharaktere aus dem »Antiquar«, »Guy Mannering«, dem »Abbe«, dem »Kloster«, dem »schönen Mädchen von Perth«, dem »Schloss von Kenilworth« usw., aber ihrer Meinung nach mussten alle der Miss Campbell den Vorrang lassen. »Sie ist ein junger Rosenstock, Bruder Sib, der etwas schnell aufgeschossen ist, und dem es eine Wohltat sein wird ...«
»Ihm eine Stütze, einen Beschützer zu geben, Bruder Sam, und da hab' ich mir sagen lassen, dass der be ste Beschützer ... «
»Natürlich nur ein Ehemann sein kann, Bruder Sib, denn er schlägt in demselben Boden Wurzel ... «
»Und wächst ganz entsprechend, Bruder Sam, mit dem Rosenstock, den er schützt.«
Beide Brüder und Oheime Melvill waren gleichmäßig auf diese, dem »Vollkommenen Gärtner« entlehnte Metapher gekommen. Offenbar gewährte ihnen das eine gewisse Befriedigung, denn es erweckte ein ganz gleiches, zufriedenes Lächeln auf ihren gutmütigen Gesichtern. Bruder Sib öffnete die gemeinsame Tabaksdose und griff säuberlich mit zwei Fingerspitzen hinein; dann wanderte dieselbe in die Hand des Bruders Sam, der sich eine tüchtige Prise zulangte und sie dann gelassen in die Tasche gleiten ließ.
»Also stimmen wir überein, Bruder Sam?«
»Wie immer, Bruder Sib!«
»Auch bezüglich der Wahl des Beschützers?«
»Könnte man überhaupt eine sympathischere und für Helena passendere Persönlichkeit finden als jenen jungen Gelehrten, der uns zu wiederholten Malen so anerkennenswerte Gefühle kundgegeben ...«
»Ob ebenso ernsthaft gemeinte?« - »Wer sollte daran zweifeln? Wohl unterrichtet und graduiert auf den Universitäten von Oxford und Edinburgh ... «
»Ein Physiker wie Tyndall ... «4 - »Ein Chemiker wie Faraday ... «5
»Der alle Dinge dieser Erde aus dem Fundament kennt, Bruder Sam ...«
»Und den man mit keiner Frage in Verlegenheit zu setzen vermöchte, Bruder Sib ...«
»Der Abkömmling einer hochangesehenen Familie der Grafschaft Fife und daneben Besitzer eines zulänglichen Vermögens ... «
»Ohne seiner, meiner Empfindung nach, trotz der Aluminiumbrille höchst ansprechenden Persönlichkeit zu erwähnen ... !«
Die Augengläser dieses Helden hätten nun freilich in Stahl, in Nickel oder selbst in Gold gefasst sein kön nen, so hätte das seinen Wert in der Anschauung der Brüder Melvill weder vermehrt noch vermindert. Sol che optischen Hilfsmittel stehen übrigens jungen Ge lehrten meist recht gut zu Gesicht, da sie deren Phy siognomie den Stempel eines gewissen würdigen Ern stes aufdrücken helfen.
Doch würde dieser Graduierte der oben genannten Universitäten, dieser leidenschaftliche Physiker und Chemiker auch Miss Campbell ebenso genehm sein? Glich Miss Campbell einigermaßen der Diana Vernon, so weiß jedermann, dass Diana Vernon für ihren ge lehrten Vetter Rasleigh keine andere Empfindung hegte, als die einer dauernden, aufrichtigen Freund schaft, und dass sie diesen am Ende des Buches nicht heiratete. Schön! Das war indes gar nicht dazu ange tan, die Brüder Melvill zu beunruhigen. Sie gingen hier gänzlich mit der Erfahrung alter Junggesellen zu Werke, d. h. sie verstanden von derartigen Dingen gar nichts.
»Sie sind einander schon öfters begegnet, Bruder Sib, und unser junger Freund schien für die Schönheit Helenas nicht unempfänglich zu sein.«
»Das glaub' ich gern, Bruder Sam. Wäre dem göttlichen Ossian die Aufgabe zugefallen, ihre Tugenden, ihre Schönheit und Grazie zu preisen, so würde er sie
>Moina<, das heißt >Die von der ganzen Welt Ge liebte< genannt haben ... «
»Wenn er, Bruder Sib, für sie nicht auf den Namen >Fiona<, das heißt >Die Schöne ohnegleichen aus der gälischen Zeit<, gekommen wäre.« - »Hat er, Bruder Sam, nicht gewissermaßen vorahnend unsere Helena geschildert, wenn er sagt: >Sie verlässt das schützende Dach, wo sie im geheimen geseufzt, und erscheint in ihrer vollen Schönheit, wie die Mondscheibe am Rande einer Wolke des Orients ...«
»Und der Glorienschein ihrer Reize umrahmt sie gleich Lichtstrahlen<, Bruder Sib, >während der sanfte Schall ihrer leichten Schritte wie Musik an das Ohr schlägt!«<
Glücklicherweise sanken die beiden Brüder, ihre Zitationen unterbrechend, aus dem etwas nebelumhüll ten Himmel der Barden wieder in den Bereich der Wirklichkeit hernieder.
»Jedenfalls«, meinte der eine, »wenn Helena unserem jungen Gelehrten gefällt, kann es gar nicht fehlen, dass er auch ihren Beifall findet ...« - »Und wenn sie ihrerseits, Bruder Sam, ihm noch nicht alle die Aufmerksamkeit erwiesen hat, welche die großen Eigenschaften verdienen, mit denen er von der Hand der Mutter Natur so reichlich ausgestattet ist ... «
»So kommt das, Bruder Sib, einzig und allein daher, dass wir ihr noch nicht gesagt haben, es sei Zeit für sie, in den Stand der heiligen Ehe zu treten.«
»An dem Tage aber, wo wir ihre Gedanken diesem Ziel zugelenkt haben werden, wird sie, selbst angenommen einen gewissen Widerwillen ihrerseits, nicht gegen den ihr erwählten Gatten, noch gegen die Ehe im Allgemeinen ... «
»Gar nicht zögern, uns mit einem freudigen >ja< zu antworten, Bruder Sam…«
»Ganz wie der vortreffliche Benedict, Bruder Sib, der, nachdem er sich lange gesträubt ... «
»Doch bei der Lösung des Knotens in >Viel Lärm um nichts< die Beatrix heiratet.«6
In dieser Weise legten sich die beiden Oheime der Miss Campbell die zu erwartenden Dinge zurecht, und der auf allgemeines Wohlgefallen hinauslaufende Ausgang ihrer Kombination erschien ihnen gleich naturgemäß, wie jener in der Komödie Shakespeares. In vollkommener Übereinstimmung waren sie aufgestanden und sahen einander mit feinem, befriedigtem Lächeln an, rieben sich auch, von derselben Empfindung inspiriert, die Hände. Es war einmal eine abgemachte Sache, diese Heirat. Welche Schwierigkeit hätte sich derselben entgegendämmen können? Der junge Mann hatte bei ihnen schon verblümt um das junge Mädchen angehalten, und diese würde darauf eine Antwort erteilen, um deren Inhalt sie sich keinerlei Sorge zu machen brauchten. Alle Vorbedingungen erschienen ja erfüllt - es konnte sich höchstens noch darum handeln, etwa den Termin der Hochzeit festzusetzen.
Das sollte und musste eine schöne, erhebende Feier werden, die in Glasgow vor sich gehen sollte; hier aber, um diesen Nebenumstand wenigstens zu erwäh nen, nicht in der Kathedrale Saint-Mungo, der einzi gen Kirche Schottlands, welche, mit Saint-Magus auf den Oreaden, im Zeitalter der Reformation unangeta stet geblieben war. Nein! Diese war in ihrer Konstruk tion zu massig und deshalb etwas zu düster für eine Trauung, welche, nach der Vorstellung der Brüder Melvill, einer vollen Blütenentfaltung frischer Jugend, einem Strahlenkranz von Liebe gleichen musste. Sie gedachten dazu eher Saint-Andrew oder Saint-Enoch oder sogar die Kirche Saint-George zu wählen, welche sich im vornehmsten Teil der Stadt erhebt.
Bruder Sam und Bruder Sib fuhren fort, ihre Projekte in einer Form zu entwickeln, welche mehr an einen Monolog, denn an einen Dialog erinnerte, weil ihr Gespräch ausnahmslos dieselbe Reihenfolge in ganz gleicher Weise ausgedrückter Ideen zutage förderte. So plaudernd, betrachteten sie durch die rautenför mige Öffnung des Fensters die schönen Bäume des Parkes, unter denen Miss Campbell eben lustwandelte, die herrlich grünen Rabatten, welche plätschernde Bäche umrahmten, den von einem fast phosphoreszierenden feinen Dunst bedeckten Himmel, der den Hochlanden des inneren Schottlands eigentümlich zu sein scheint.
Sie sahen sich gar nicht an; das wäre unnütz gewe sen; von Zeit zu Zeit aber fassten sie sich, wie getrie ben durch einen zärtlichen Instinkt, am Arm und drückten einander die Hände, als wollten sie durch Schließung einer Art magnetischen Stromes die Überleitung ihrer Gedanken gegenseitig erleichtern.
Oh, das sollte herrlich werden! Alles müsste den Stempel edler Vornehmheit tragen. Die armen Leute von der West-George-Street, wenn es dergleichen gab - doch wo fänden sich Arme nicht?-, würden natürlich auch nicht vergessen werden bei dem frohen Feste. Wenn Miss Campbell unerwarteterweise für größere Einfachheit der Zeremonie sein und ihre beiden Oheime in diesem Sinne zu beeinflussen suchen sollte, so würden diese ihr zum ersten Mal in ihrem Leben ernstlich Widerpart halten. Weder in diesem Punkt, noch in irgendeinem andern gedachten sie sich zu Konzessionen herbeizulassen. Unter höchster Feierlichkeit sollten die Gäste beim Hochzeitsmahl nach altem Brauch »aus dem hölzernen Truthahn« trinken. Und der rechte Arm des Bruders Sam streckte sich zur Hälfte gleichzeitig aus, wie der rechte Arm des Bruders Sib, als wenn sie einander schon im Voraus einen jener berühmten schottischen Trinksprüche zuriefen. Da öffnete sich eben die Tür des Salons. Ein junges Mädchen mit Rosen auf den Wangen, die ein rascher Gang darauf gemalt, wurde sichtbar. In der Hand hielt sie ein aufgeschlagenes Journal. Sie trat auf die Brüder Melvill zu und bewillkommnete jeden mit herzlichen Küssen.
»Guten Tag, Onkel Sam«, sagte sie.
»Guten Tag, mein liebes Kind!«
»Wie geht es, Onkel Sib?«
»Vortrefflich, liebes Kind.«
»Helena«, nahm Bruder Sam wieder das Wort, »wir haben mit dir ein kleines Arrangement zu bespre chen.«
»Ein Arrangement? Welches Arrangement? Was habt ihr heimlich wieder geplant, liebe Onkels?«, fragte Miss Campbell, deren Augen nicht ohne einen gewissen gutmütigen Spott von einem zum anderen wanderten.
»Du kennst einen jungen Mann, Herrn Aristobulos Ursiclos?«
»Gewiss kenne ich ihn.«
»Missfällt er dir?«
»Warum sollte er mir missfallen, Onkel Sam?«
»Also gefällt er dir?«
»Warum sollte er mir gefallen, Onkel Sib?«
»Nun, nach reiflicher Überlegung haben der Bruder und ich geglaubt, ihn dir als Gatten vorschlagen zu sollen.« - »Ich soll mich verheiraten? Ich?«, rief Miss Campbell, während sie in so herzliches Gelächter ausbrach, wie der Widerhall im Salon wohl noch keines zurückgegeben hatte.
»Du willst dich also nicht verheiraten?«, sagte Bruder Sam.
»Wozu sollte das nützen?«
»Niemals? ...«, sagte Bruder Sam.
»Niemals«, erklärte Miss Campbell, eine ernsthafte Miene annehmend, welche ihr lächelnder Mund Lü gen strafte, »wenigstens nicht eher als bis ich ...«
»Als bis du was?«, riefen Bruder Sam und Bruder Sib einstimmig.
»Nicht eher, als bis ich - den Grünen Strahl gesehen habe.«
Zweites Kapitel Helena Campbell
Das von den Brüdern Melvill und Miss Campbell be wohnte Landhaus lag eine (englische) Meile von dem freundlichen Städtchen Helensburgh; am Ufer des Gare-Loch, einer jener pittoresken Einbuchtungen, welche sich hier und dort am linken Clyde-Ufer ins Land hineinziehen.
Während des Winters hausten die Brüder Melvill und ihre Nichte in einem alten Hotel der WestGeorge-Street, im aristokratischen Viertel der Neustadt von Glasgow, unfern des Blythswood-Square. Hier hielten sie sich sechs Monate lang im Jahr auf, wenn sie nicht eine tolle Laune Helenas - der sich die Brüder ohne Widerrede fügten - auf lange Zeit von der Heimat weg, nach den Küstenländern Italiens, Spaniens oder Frankreichs entführte. Während dieser Reisen sahen sie nur noch mit den Augen des jungen Mädchens, gingen dahin, wohin es ihr zu gehen beliebte, verweilten, wo es ihr gerade gefiel zu bleiben, und bewunderten nur, was sie gerade bewunderte. Wenn Miss Campbell dann ihr Album, in welchem sie mit Bleistiftzeichnungen oder mit der Feder ihre Reiseeindrücke aufbewahrte, geschlossen hatte, begaben sie sich friedlich wieder auf den Rückweg nach dem Vereinigten Königreich und bezogen, nicht ohne eine gewisse Befriedigung, die behaglich vornehme Wohnung in der West-George-Street.
Schon war der Monat Mai drei Wochen alt, und Bruder Sam und Bruder Sib fühlten ein unstillbares Verlangen, aufs Land überzusiedeln. Das ergriff sie gerade in dem Augenblick, wo Miss Campbell den nicht weniger lebhaften Wunsch zu erkennen gab, gleichzeitig mit Glasgow dem Geräusch einer großen Industriestadt, dem geschäftlichen Treiben, welches zuweilen bis in das Quartier des Blythswood-Square flutete, zu entfliehen, endlich einen weniger verräucherten Himmel wieder zu sehen und eine minder mit Kohlensäure überladene Luft zu atmen, als den Himmel und die Luft dieser alten Metropole, deren kommerzielle Bedeutung die Tabaksgrafen, »Tobacco Lords«, vor Jahrhunderten begründet haben.
Das ganze Haus, Herren und Dienerschaft, reiste also nach dem höchstens zwanzig Meilen entfernten Landsitz ab. Es ist ein hübscher Ort, das Städtchen Helensburgh. Man hat es zu einer Gesundheitsstation gemacht, welche vielfach von denen aufgesucht wird, welche in der glücklichen Lage sind, ihre gewohnten Spaziertouren am Clyde mit einem Ausflug nach dem, von allen Vergnügungsreisenden hochgeschätzten Lac Katrine oder nach dem Lac Lomond zu vertauschen.
Eine Meile vom Städtchen, am Ufer des Gare-Loch, hatten die Brüder Melvill den reizendsten Platz ausge wählt, um daselbst ihr Landhaus zu errichten. Es lag hier versteckt in prächtigen Bäumen, mitten in einem Netz klarer Wasseradern, auf wechselndem Terrain, das sich zur Anlegung eines Parkes ganz vorzüglich eignete. Erquickende schattige Partien, frisch grünen der Rasen, verschiedene Baumgruppen, Blumenbeete, Wiesen, auf denen ein ausgezeichnetes Futter für die zur Belustigung gehaltenen Lämmer wuchs, Teiche mit klaren dunklen Wasserflächen, bevölkert von wilden Schwänen, von jenen graziösen Vögeln, über welche Wordsworth gesagt hat: »Der Schwan schwimmt zweimal - der Schwan und sein Schattenbild!«
In einem Wort, was die Natur nur vereinigt bieten kann, um das Auge zu ergötzen, ohne dass des Menschen Hand viel daran zu schaffen hat - so war der Sommersitz der reichbegüterten Familie. Wir dürfen nicht vergessen hinzuzufügen, dass der über dem Gare-Loch liegende Teil des Parkes eine wirklich entzückende Aussicht bot. Jenseits des beschränkten Golfs zur Rechten wurde der Blick zuerst gefesselt von der Halbinsel Rosenheat, auf der sich eine dem Herzog von Argyle gehörige Villa in italienischem Stil erhob. Zur Linken begleitete die vordere Häuserreihe des Städtchens Helensburgh die Wellenlinie des Strandes, ragten zwei oder drei Türme empor, streckte sich der elegante Pier aus, der als Anlegeplatz für Dampfboote in den See hinausgebaut ist, und stieg endlich der hü gelige Hintergrund, den da und dort verstreute freund liche Besitzungen belebten, terrassenförmig in die Höhe. Geradeaus, am linken Ufer des Clyde, bildeten Port-Glasgow, die Ruinen des Schlosses Newark und Greenock mit seinem buntbewimpelten Mastenwald ein abwechslungsreiches Panorama, von dem sich das Auge nur ungern trennte.
Diese Aussicht gewann noch an Reiz, wenn man den Hauptturm des Landhauses erstieg, von wo aus eine weite Strecke bis zum Horizont zu überschauen war. Diesen viereckigen Turm, mit leichten, an drei Ecken seiner Plattform angesetzten Ausbauten, mit seinen Zinnen und Schießscharten, den auch ein Gürtel ausgezahnter Steine umschloss, überragte an der vier ten Ecke noch ein achtseitiges Türmchen. Hier erhob sich die Flaggenstange, welche man in dieser Gegend überhaupt auf dem Dach jedes Hauses ebenso sicher wiederfindet, wie am Hinterteil der Schiffe des Verei nigten Königreichs. Diese Art Donjon von neuem Da tum beherrschte also sämtliche zum eigentlichen »Cottage« gehörenden Baulichkeiten mit ihren unre gelmäßigen Dächern, den fast nach Gutdünken ange brachten Fenstern, den vielgestaltigen Vorbauten, mit den die Fenster umrahmenden Gesimsen und den am oberen Ende verzierten Schornsteinen, alles in allem geschmackvolle Phantasien, welche die angelsächsi sche Architektur überhaupt liebt.
Hier auf der Plattform des oberen Turmes, unter der Nationalflagge, welche sich bei der Brise vom Firth of Clyde entfaltete, verträumte Miss Campbell gern man che Stunde des Tages. Sie hatte sich da oben ein rei zendes Plätzchen zurechtgemacht, wo sie - in der freien Luft wie auf einer Sternwarte - bei jeder Witte rung, geschützt vor Wind, Sonnenbrand und Regen, lesen, schreiben und schlummern konnte. Hier musste
man sie meistenteils suchen. Befand sie sich nicht hier, so lustwandelte sie ihrer Neigung folgend in den Alleen des Parkes, allein oder in Begleitung der Frau Beß, wenn ihr feuriges Ross sie nicht durch die umge bende Landschaft trug, wobei ihr der getreue Patridge folgte, der sein Pferd tüchtig antreiben musste, um hin ter der jungen Herrin nicht zurückzubleiben.
Aus der zahlreichen Dienerschaft des Cottage müs sen wir vorzüglich die beiden genannten Leute hervor heben, welche schon von Jugend auf mit der Familie Campbell gewissermaßen verwachsen waren.
Elisabeth, die »Luckie«, die Mutter - wie man die Hausverwalterin in den Hochlanden Schottlands gern nennt - zählte jener Zeit ebenso viele Jahre, wie sie Schlüssel an ihrem gewaltigen Bund trug, und deren waren nicht weniger als siebenundvierzig. Sie stellte eine wirklich umsichtige, ordentliche, ernste, gesetzte Herrscherin des Hauswesens vor, das hier auch in allem Umfang ihrem Ressort angehörte. Vielleicht meinte sie gar, die beiden Brüder Melvill, obwohl diese älter waren als sie, selbst aufgezogen zu haben; jedenfalls widmete sie wenigstens der Miss Campbell die mütterlichste Sorgfalt.
Neben dieser schätzenswerten Intendantin figurierte der Schotte Patridge, ein seinen Herren unter allen Bedingungen ergebener Diener, der noch den alten Gewohnheiten seines Clan treugeblieben war. Unveränderlich bekleidet mit dem nationalen Kostüm der Bergschotten, trug er die bunte hohe Mütze, den Schurz aus großgewürfeltem Wollstoff, der ihm über den kurzen Rock bis zum Knie herabhing, den Pouch, eine Art Beutel aus langen Fasern, die hohen durch rautenförmig geflochtene Schnüre gehaltenen Gamaschen und die gebräuchliche Fußbekleidung mit Sandalen aus Rindsleder.
Eine Frau Beß als Wirtschafterin, und einen Patridge als Schutz des Hauses, was konnte es mehr bedürfen, um sich hienieden der Sicherheit häuslicher Ruhe zu erfreuen? Der Leser wird bemerkt haben, dass Patridge bei Beantwortung der Fragen der Brüder Melvill, als er von dem jungen Mädchen sprach, nur »Miss Campbell« sagte.
Hätte der wackere Schotte sie nämlich »Miss Helena«, also bei ihrem Taufnamen genannt, so würde er sich eines groben Verstoßes gegen die Regeln schuldig gemacht haben, welche die gesellschaftliche Stellung der Personen bezeichnen - eine Verletzung des An standes, die man speziell mit dem Wort »Snobismus« zu kennzeichnen pflegt.
In der Tat trägt die letzte, respektive die einzige Tochter einer Familie aus den vornehmen Ständen niemals ihren Taufnamen. Wäre Miss Campbell die Tochter eines Pairs gewesen, so würde sie » Lady Helena« genannt worden sein; der Zweig der Campbells aber, zu dem sie gehörte, war nur in Seitenlinie und ziemlich entfernt verwandt mit der direkten Linie des Paladin Sir Colin Campbell, dessen Ahnen bis zu den Kreuzzügen zurückreichen. Seit mehreren Jahrhunerten schon hatten sich die aus dem gemeinsamen Stamme hervortretenden Zweige getrennt, von der Linie des ruhmreichen Ahnherrn, an welchen die Clans von Argyle, von Breadalbane, von Lochnell und andere anknüpfen; so entfernt sie diesen auch stand, fühlte Helena doch von ihrem Vater her in ihren Adern ein wenig Blut rollen von dem Blut jener weitberühmten Familie.
Außer eine stammesechte Miss Campbell war sie je doch auch eine wahre Schottin, eine jener edlen herrli chen Töchter von Thule mit blauen Augen und blon den Haaren, deren von Findon oder Edwards gemal tes Porträt, wenn es mitten unter die Minnas, Brendas, Amy Robsarts, Flora Mac-Ivors, Diana Vernons, die Miss Wardour, Catherine Glovers oder Mary Avenels plaziert wurde, die »Keepsakes« (Erinnerungszeichen und Sammlungen) nicht verunziert hätte, in denen die Engländer die schönsten weiblichen Typen ihres gro ßen Romanciers zusammenzustellen lieben.
Wirklich, sie war reizend, diese Miss Campbell. Je derman bewunderte ihr hübsches Gesicht mit den blauen Augen - dem Blau der schottischen Seen, wie man gern sagt -, ihre mittelgroße, aber elegante Figur, den etwas stolzen Gang, ihre meist ein wenig träumeri sche Physiognomie, wenn nicht ein leichter ironischer Anflug ihre Züge belebte, endlich überhaupt die ganze von Grazie und Vornehmheit zeugende Erscheinung. Und Miss Campbell war nicht allein schön, sie war auch gutherzig. Reich durch ihre beiden Onkels, ver mied sie es doch stets, prahlsüchtig zu erscheinen. Mitleidigen Herzens, bemühte sie sich vielmehr, das alte, gälische Sprichwort zu bestätigen: »Möchte die Hand, welche sich öffnet, stets voll sein!«
Vor allem hing sie mit ganzem Herzen an ihrer hei matlichen Provinz, an ihrem Clan und ihrer Familie, mit einem Wort, sie war mit Leib und Seele eine echte Schottin. Sie hätte ohne Bedenken dem niedrigsten Sawney den Vortritt vor dem größten und reichsten John Bull zugestanden, die patriotischen Fibern ihres Herzens erzitterten wie die Saiten einer Harfe, wenn von der Stimme eines Bergbewohners im Land ein nationaler Pibroch der Hochländer an ihr Ohr schlug. De Maistre hat gesagt: »Es gibt in uns zwei Wesen: >Ich und der Andere<.«
Dieses »Ich« der Miss Campbell drückte sich aus in dem ernsten, überlegenden Wesen, welches das Er denleben ebenso vom Standpunkt der Pflichten, wie der Rechte ins Auge fasste. Der »Andere« verriet sich in der romantischen, etwas zum Aberglauben neigen den Natur, welche die wunderbaren Sagen liebt, die in der Heimat Fingals naturgemäß so leicht auftauchen. Etwas verwandt mit den Lindamires, den vielbewun derten Heroinen der Ritterromane, durchstreifte sie die benachbarten Täler und Schluchten, um dem »Dudelsack von Strathdearne« zu lauschen, wie die Hoch länder den Wind nennen, wenn er durch einsame Al leen hinweht. Bruder Sam und Bruder Sib liebten ganz gleichmäßig jenes »Ich« und jenes »Andere« der Miss Campbell; doch wir dürfen nicht verheimlichen, dass wenn das erstere sie durch seine Vernünftigkeit entzückte, das andere sie zuweilen ganz außer Fassung brachte durch unerwartete Antworten, durch launenhafte Fernblicke und durch plötzliche Seitensprünge in das Reich der Träume.
War es nicht dieser zweite Teil ihrer Natur gewesen, der auf den Vorschlag der Brüder eine so bizarre Ant wort gegeben hatte?
»Mich verheiraten!«, würde das »Ich« gesagt haben. »Herrn Ursiclos heiraten! ... Wollen sehen ... davon können wir ja später sprechen.«
»Niemals, so lange ich noch nicht den Grünen Strahl gesehen!«, hatte die »Andere« in ihr eingewendet. Die Brüder Melvill sahen einander verblüfft an, während Miss Campbell es sich in dem großen gotischen Lehnstuhl in der Fensternische bequem machte.
»Was versteht sie unter dem Grünen Strahl?«, fragte
der Bruder Sam.
»Und warum will sie den Grünen Strahl sehen?«, antwortete der Bruder Sib.
Warum? Das werden wir sofort erfahren.
Drittes KapitelDer Artikel der »Morning-Post«
Denselben Tag, an dem sich die im vorhergehenden geschilderte Szene abspielte, hätten Liebhaber von Merkwürdigkeiten folgendes in der »Morning-Post« lesen können.
»Haben Sie jemals die Sonne beobachtet, wenn sie unter einem Meereshorizont verschwand? - Ja, si cherlich. Sind Sie ihr auch mit dem Blick gefolgt bis zu dem Moment, wo sie, wenn der obere Rand ihrer Scheibe den Wasserrand berührt, eben gänzlich unter gehen will? - Höchstwahrscheinlich. Aber haben Sie dabei die Erscheinung bemerkt, welche genau in dem
Augenblick auftritt, wo sie uns, vorausgesetzt, dass der dunstlose Himmel eine durch nichts gestörte Fern sicht gewährt, ihren letzten Strahl zusendet? - Nein, vielleicht nicht. Nun, sobald sich Ihnen eine Gelegen heit bietet - und das ist nur selten der Fall -, bei der Sie diese Beobachtung machen können, so werden Sie wahrnehmen, dass nicht, wie man glauben könnte, ein roter, sondern ein »grüner« Strahl die Netzhaut des Auges trifft, aber ein Strahl von ganz wunderbarem Grün, von einem Farbton, wie ihn kein Maler auf sei ner Palette erzeugen kann, einem Grün, welches die Natur selbst weder in der so verschiedenen Färbung der Pflanzen, noch in der der klarsten, durchsichtig sten Meere jemals wieder in gleicher Nuance hervor bringt. Wenn es im Paradies Grün gibt, so kann es nur das hier gemeinte sein, welches ohne Zweifel das wirkliche Grün der Hoffnung darstellt!«
So lautete der Artikel der »Morning-Post«, welches Blatt Miss Campbell beim Eintritt in den Salon in der Hand hielt. Die kurze Notiz hatte sie vollkommen ein genommen. Mit enthusiastischer Stimme las sie ihren beiden Onkels auch die angeführten wenigen Zeilen vor, welche in lyrischer Form die Schönheit jenes Grü nen Strahls priesen.
Miss Campbell sagte dabei aber nicht, dass gerade dieser Grüne Strahl mit einer alten Legende in Verbin dung steht, deren wirklicher Sinn ihr bisher verborgen geblieben war, einer gleich vielen anderen überhaupt unerklärten sagenhaften Überlieferung, nach welcher derjenige, der jenen Grünen Strahl nur einmal gese hen, sich in Herzenssachen nicht mehr täuschen könne; sein Erscheinen zerstört alle Illusionen und Unwahrheiten; wer so glücklich war, ihn nur einmal wahrzunehmen, sieht dann eben so klar im eigenen Herzen wie in dem anderer.
Verzeihe man der jungen Schottin der Hochlande das poetische Vertrauen, welches die Lektüre obigen Artikels der »Morning-Post« aufs Neue belebte. Bei Anhörung der Worte der Miss Campbell starrten sich die Brüder Sam und Sib mit großen Augen an. Bisher hatten sie ohne jenen Grünen Strahl gelebt und waren der Meinung, man könne auch leben, ohne denselben jemals gesehen zu haben.
Damit schien freilich Helena nicht übereinzustimmen, welche den wichtigsten Schritt ihres Lebens der Beobachtung dieses immerhin seltsamen Phänomens unterzuordnen verlangte.
»Ah, also das ist es, was man den Grünen Strahl nennt?«, sagte Bruder Sam, leise den Kopf bewegend.
»Ja«, erklärte Miss Campbell.
»Der, den du auf jeden Fall sehen willst?«, sagte Bruder Sib.
»Und den ich, mit eurer Erlaubnis, liebe Onkels, se hen und, wenn es euch, wie ich erwarte, genehm ist, binnen recht kurzer Zeit sehen werde.«
»Und dann, wenn du ihn gesehen hast? ...«
»Wenn ich ihn gesehen habe, werden wir von Herrn Aristobulos Ursiclos sprechen können.«
Bruder Sam und Bruder Sib warfen sich einen sinni gen Blick zu und lächelten einander verständnisinnig an.
»So wollen wir uns bemühen, den Grünen Strahl zu
Gesicht zu bekommen«, sagte der eine.
»Ohne nur einen Augenblick zu verlieren«, setzte der andere hinzu.
Aber als sie schon das Fenster des Salons öffnen wollten, hinderte sie Miss Campbells Hand daran.
»Man muss dazu warten, bis die Sonne untergeht«, sagte sie.
»Also diesen Abend ... «, antwortete Bruder Sam.
»Bis die Sonne am reinsten aller Horizonte ver- schwindet«, fügte Miss Campbell hinzu.
»Schön, so werden wir nach dem Essen alle drei nach der Rosenbeatspitze wandern«, erklärte Bruder Sib.
»Oder wir steigen einfach auf den Turm unseres Hauses«, meinte Bruder Sam.
»An der Rosenbeatspitze, wie auf dem Turm des Cottage«, wandte Miss Campbell ein, »erblicken wir keinen anderen Horizont als den der Ufer des Clyde. Es heißt aber ausdrücklich, dass die Sonne an der Li nie zwischen Himmel und Wasser beim Untergang ins Meer beobachtet werden solle. Daraus werden meine lieben Onkels die Notwendigkeit erkennen, mich so bald als möglich unter diese einzig zweckentsprechenden Bedingungen zu versetzen!«
Miss Campbell sprach so ernsthaft und begleitete ihre Wort mit einem so verführerischen Lächeln, dass die Brüder Melvill der Ausführung eines solchen Planes nicht zu widersprechen vermochten.
»Es eilt damit wohl nicht zu sehr? ...«, glaubte doch Bruder Sam bemerken zu müssen.
Und der Bruder Sib zögerte nicht, ihm hilfreich beizuspringen mit den Worten: »Dazu werden wir immer Zeit haben ... « Miss Campbell schüttelte neckisch den Kopf.
»Nein, dazu werden wir nicht immer Zeit haben«, erwiderte sie, »und im Gegenteil, die Sache hat Eile.«
»Wäre es deshalb . . . vielleicht im Interesse des Herrn Aristobulos Ursiclos ... «, sagte Bruder Sam.
»Dessen Lebensglück, scheint es, von der Beobach tung dieses Grünen Strahls abhängt«, setzte Bruder Sib seine Worte fort.
»Zunächst, liebe Onkels, deshalb, weil wir uns schon im Monat August befinden«, antwortete Miss Campbell, »und es also nicht mehr lange währen kann, bis die Nebel den Himmel Schottlands verdüstern; deshalb, weil es geraten erscheint, die schönen Abende, welche das Ende des Sommers und der Anfang des Herbstes noch in Aussicht stellen, zu benützen. Wann reisen wir ab?«