Der gute Hirte - Cornelius Hartz - E-Book

Der gute Hirte E-Book

Cornelius Hartz

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Beschreibung

Dieser Kommissar hat Kultpotential Taifun Çoban arbeitet als Experte beim LKA in Kiel. Der 42-jährige Deutschtürke ist auf die Identifizierung von Toten spezialisiert. Als er nach Harmsbüttel gerufen wird, um an der Seite des Dorfpolizisten Wernersen zu ermitteln, weiß er nicht so genau, was er davon halten soll. Die Polizeiwache nebst Poststation bei den Wernersens im Wohnzimmer? Ein Polizist, der Türken und Araber über einen Kamm schert? Eine Polizistin, die Fanta Braun heißt und darüber lachen kann? Doch dann kommt Bewegung in den Fall rund um den Toten aus der Baugrube, denn Taifun kann ihn identifizieren und mit einem Cold Case in Verbindung bringen. Und – getragen von Wernersens Ortskenntnis und Fantas Humor – nimmt er es mit der eingeschworenen Dorfgemeinschaft auf.

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Der gute Hirte

Der Autor

Cornelius Hartz kam 1973 in Lübeck zur Welt und wuchs im Südosten Schleswig-Holsteins auf, wo Der gute Hirte spielt. Heute lebt er als freier Autor und Übersetzer in Hamburg. Kriminalromane begeistern ihn, seit er als Jugendlicher die Schwedenkrimis von Sjöwall/Wahlöö für sich entdeckte. Mit Mitte dreißig begann er selbst Krimis zu schreiben, die alle mit seiner norddeutschen Heimat verbunden sind.

Das Buch

Taifun Çoban ist Experte für die Identifizierung von unbekannten Toten beim LKA in Kiel. Als eine Leiche in einer Baugrube in Harmsbüttel auftaucht, muss der Deutschtürke an der Seite des Dorfpolizisten Wernersen ermitteln. Doch in der Provinz ticken die Uhren anders: Die Polizeiwache befindet sich bei den Wernersens im Wohnzimmer, der Polizist schert Türken und Araber über einen Kamm, und dann ist da auch noch eine Ermittlerin, die Fanta Braun heißt und darüber lachen kann. Erst als Taifun den Toten mit einem Cold Case in Verbindung bringt, raufen sich die drei zusammen und nehmen es mit der eingeschworenen Dorfgemeinschaft auf.

Cornelius Hartz

Der gute Hirte

Kriminalroman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorenfoto: © Elena GhodesE-Book-Konvertierung powered by pepyrus

ISBN 978-3-8437-2672-6

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Der Anfang

1

Später

2

Früher

3

4

Früher

5

Später

6

7

Früher

8

Früher

9

Früher

10

Später

11

Früher

12

Später

13

Früher

14

Später

15

16

Früher

17

18

Früher

19

Früher

20

Später

21

22

Früher

23

24

25

26

Raimund

27

28

29

Silke

30

31

Später

Danksagung

Social Media

Cover

Titelseite

Inhalt

Der Anfang

Widmung

Für Catrin

Der Anfang

1980

»Wenn du bei uns mitmachen willst, musst du was dafür tun.« Kralle schaute den Neuen finster an.

»Was denn?« Der Neue starrte zurück, Kralle direkt in die Augen. Er wandte den Blick nicht ab, er blinzelte nicht einmal.

Charly, Piepe und Hacki hatten sich neben Kralle vor dem Neuen aufgestellt.

»Er kann da hinten von der Kante springen«, schlug Hacki vor und wies auf die andere Seite der Kiesgrube.

»Quatsch, das bringt doch nix«, sagte Charly. »Dann bricht der sich noch was, und nachher verpetzt er uns.«

Kralle holte eine zerbeulte Schachtel Ernte 23 aus der Tasche seiner Jeansshorts. Vier Zigaretten waren noch drin. Er nahm eine heraus, zog die leicht zerknickte Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger glatt und steckte sie sich zwischen die Lippen. »Feuer«, sagte er und sah den Neuen an.

»Bin ich dein Sklave, oder was?« Der Neue verschränkte die Arme. »Wenn du rauchen willst, bring dein eigenes Feuerzeug mit.«

Kralle ließ die Hand sinken.

Die drei anderen Jungen hielten gespannt den Atem an.

Dann grinste Kralle. »Nicht schlecht. Den Test hast du schon mal bestanden.«

Die anderen drei nickten zustimmend, als hätten sie von Kralle keine andere Reaktion erwartet.

Kralle griff sich wieder in die Hosentasche, förderte ein rotes BIC-Feuerzeug zutage und wollte sich die Zigarette anzünden, doch es kam keine Flamme, sosehr er auch das Rädchen drehte.

»Hier.« Charly reichte ihm eine Streichholzschachtel.

Kralle nickte, zündete sich die Zigarette an und warf Charly die Schachtel zurück.

»Trotzdem«, maulte Hacki, »irgendwas muss er machen.«

»Stimmt.« Kralle nickte. »Sag mal, hat dir schon einer was von dem Einäugigen erzählt?«

Der Neue schüttelte den Kopf.

»Das ist so ein verrückter Typ«, sagte Kralle, »der malt ganz wilde Bilder. Wohnt am anderen Ende der Dorfstraße, das letzte Haus vorm Wald. Vor dem haben alle Kinder Angst, und die Leute erzählen, dass er sich vor der Polizei versteckt. Angeblich, weil er jemanden totgeschlagen hat. Den, der ihm vorher das Auge ausgestochen hat.«

»Der hat nämlich nur ein Auge«, warf Piepe ein.

»Wie auch immer«, sagte Kralle, »ich weiß eine schöne Aufgabe. Ist nicht ganz einfach, aber wir lassen ja auch nicht jeden in die Clique.«

Sie hatten sich an der Ecke verabredet, wo der Weg in den Wald führte. Von hier aus sah man das Haus des Einäugigen gerade noch durch die Tannen schimmern.

Die anderen waren schon da. Kralle musterte den Neuen. Er schaute vollkommen gleichgültig drein. Kralle staunte. Er selbst hätte beim Einäugigen nicht einsteigen wollen.

»Wir müssen noch auslosen, wer klingelt.«

»Ich hab Hölzer.« Charly holte seine Streichhölzer hervor, nahm drei Stück, brach einem den Kopf ab und steckte sie verkehrt herum zwischen Daumen und Zeigefinger.

Piepe zog den Kürzeren. »Na super. Und was sag ich?«

Kralle zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Lass dir was einfallen.«

»Du musst ihn ja nicht lange ablenken«, sagte Hacki. »Nur bis der Neue rein ist und mit dem Bild wieder raus.«

»Und was, wenn die Terrassentür nicht auf ist?«, fragte Piepe.

»Wieso soll die denn nicht auf sein«, sagte Kralle, »wer schließt denn seine Terrassentür ab, wenn er zu Hause ist. Also, was ist? Legen wir los? Ey, Piepe, was fummelst du da schon wieder an deiner Scheißkamera rum?«

»Komm, nur ein Foto, bevor es losgeht. Das erste von der neuen Fünferbande.« Piepe platzierte die Kamera auf einem Baumstumpf, ging in die Hocke, sah durch den Sucher, rückte sie ein wenig zurecht. Dann drückte er auf einen Knopf und lief zu den anderen zurück. »Selbstauslöser«, erklärte er stolz.

Klick!

»Von wegen Fünferbande«, sagte Kralle und schnaubte. »Erst mal muss der Neue zeigen, dass er was draufhat.«

»Ist er so weit? Siehst du ihn?«, fragte Piepe. »Wird langsam echt dunkel.«

»Mach dir nicht ins Hemd«, sagte Kralle.

»Auf jeden Fall ist er an der Ecke bei der Terrassentür«, sagte Charly.

»Das sehe ich selber. Aber macht er das Zeichen?«

Kralle schaute durch sein Fernglas. Sie hatten verabredet, dass der Neue ihnen mit gestrecktem Daumen signalisierte, wenn er bereit war und Piepe an der Haustür klingeln sollte.

In diesem Moment ging in der Küche des Hauses das Licht an.

»Los«, zischte Kralle, und Piepe lief zu seinem Fahrrad und fuhr zum Haus. Kralle beobachtete ihn durchs Fernglas.

»Wir hätten Walkie-Talkies mitnehmen sollen«, sagte Hacki.

»Hast du welche?«, fragte Kralle, ohne das Fernglas abzusetzen.

»Nee.«

»Dann halt’s Maul.« Kralle beobachtete, wie Piepe das Fahrrad abstellte und zum Haus ging. Von hier aus sah er das Gebäude schräg von der Seite, die Front mit der Haustür lag außerhalb seines Blickfelds.

Er schwenkte das Fernglas herum. Der Neue schien das Klingeln gehört zu haben.

Nachdem es geklingelt hatte, waren im Haus zum ersten Mal Geräusche zu hören. Eine Tür wurde geöffnet, schwere, schlurfende Schritte, die sich von ihm wegbewegten.

Jetzt oder nie.

In seinem Hals pochte es.

Er hatte gedacht, der Spalt der Terrassentür müsste breit genug sein, dass er hindurchpasste, aber er blieb stecken und musste die Tür ein Stück weiter aufschieben.

Hinten im Flur waren Stimmen zu hören. Piepe und der Einäugige. Was sie sagten, verstand er nicht, es rauschte plötzlich in seinen Ohren.

Es stank nach Zigarettenrauch und etwas anderem, das er nicht zuordnen konnte. Süßlich, eklig, stechend.

Tatsache, da stand eine Staffelei im Raum und darauf ein Bild. Aber das war mindestens einen Meter hoch. Damit hatte er nicht gerechnet. Da musste er schauen, wie er durch die Terrassentür kam. Warum hatte er die bloß nicht weiter aufgemacht?

Was sollte das auf dem Bild überhaupt darstellen? Er erkannte nichts, nur wilde Farbspritzer und Kleckse. Egal, es musste schnell gehen. Auf dem Boden standen leere Bierflaschen herum, das war ja wie ein Hindernislauf. Drei große Schritte, dann war er bei der Staffelei. Das Rauschen in seinen Ohren wurde stärker. Er konnte nur hoffen, dass Piepe sich etwas ausgedacht hatte, womit er den Mann eine Weile hinhalten konnte.

Das Bild war nicht nur größer, sondern auch schwerer, als er gedacht hatte. Er musste es mit beiden Händen nehmen. Und jetzt schnell zur Terrassentür. Das war wirklich schwer, wie sollte er damit … ?

»Hey!«

»Piepe ist schon wieder auf der Straße«, berichtete Kralle. »Verdammt, wo bleibt der Neue denn mit dem Bild?«

»Lass mal sehen«, sagte Charly.

»Du siehst auch nicht mehr als ich«, erwiderte Kralle. »Wenn es bloß nicht so dunkel wär in der Bude. Man erkennt echt nichts!«

»Vielleicht sollten wir mal gucken gehen?«, schlug Hacki vor.

»Noch nicht«, sagte Kralle. »Wir warten noch.«

Piepe kam auf seinem Fahrrad angefahren. Er stellte es am Rand des Waldwegs ab und ging zu den anderen. Er atmete schwer. »Und?«

»Nix und«, schnauzte Kralle ihn an. »Der ist immer noch da drinnen.«

»Was? Wieso denn?«

»Keine Ahnung.«

»Allzu lange hingehalten hast du den Einäugigen an der Tür ja nicht«, meinte Charly. »Was hast du denn gesagt?«

»Dass mein Ball in seinen Garten geflogen ist und ob ich den holen darf.«

»Und dann?«

»Dann hat er gesagt, ich soll mich zum Teufel scheren, und ich hab noch mal gesagt, das geht ganz schnell, aber der Typ hat mir die Tür vor der Nase zugeknallt, und das war’s.«

»Was für ein Spacken«, sagte Hacki. »Ey, Kralle, was ist denn jetzt?«

»Nix. Geht mir nicht auf den Sack.« Er hielt das Fernglas auf die Terrassentür gerichtet, aber immer noch tat sich nichts. Ob sich der Neue verstecken musste, weil der Einäugige ins Zimmer gekommen war?

»Mensch, Kralle«, sagte Hacki plötzlich und stieß ihn in die Seite. »Guck mal an der Haustür.«

Er schwenkte das Fernglas herum. Tatsächlich. Der Einäugige verließ das Haus und ging die Straße hinunter. »Der Typ geht in Richtung Dorf«, teilte er den anderen mit. Schon sah er ihn nicht mehr.

»Na, Gott sei Dank«, sagte Piepe erleichtert. »Dann wird der Neue ja gleich mit dem Bild auftauchen.«

Aber das tat er nicht.

Er hatte noch nie so einen Schreck bekommen, in seinem ganzen Leben nicht. Aber in die Hose gemacht hatte er sich nicht. Er tastete seine Shorts ab, alles war trocken. Trotzdem musste er auf einmal.

Es war stockdunkel auf der Kellertreppe. Sein Arm tat weh, dort, wo der Mann ihn gepackt hatte. Er hatte weglaufen wollen, das doofe Bild fallen lassen und einfach durch die Terrassentür, aber seine Beine hatten ihm nicht gehorcht. Und einen winzigen Moment lang hatte er gedacht, er könnte dem Mann ja alles erklären, es war doch nur eine Mutprobe.

Aber der Mann hatte ihn bloß gepackt und zu der Tür gezerrt, sie hinter ihm zugeknallt und abgeschlossen und die ganze Zeit kein Wort gesagt.

Er suchte nach einem Lichtschalter, aber da war keiner. Vielleicht unten an der Treppe. Tränen liefen ihm über das Gesicht.

Vorsichtig ging er die Treppe hinunter, tastete mit dem Fuß nach jeder neuen Stufe. Als er unten angekommen war, suchte er wieder die Wände ab, und diesmal fand er einen Schalter.

Eine Neonröhre flackerte ein paar Sekunden, dann erleuchtete sie den Raum. Zwei Türen führten offenbar zu weiteren Räumen, und durch ein schmales Fenster fiel ein kleiner Rest Tageslicht herein. Das Fenster war mit einem engmaschigen Metallgitter versehen, aber es war ohnehin zu klein, als dass er hindurchgepasst hätte.

Er fragte sich, was der Mann mit ihm vorhatte. Ob er ihm vielleicht nur einen Schrecken einjagen wollte. Er hatte nur kurz das Gesicht des Mannes gesehen. Eine Augenhöhle war eben das: eine Höhle. Wo das Auge sein müsste, war nur eine Kuhle aus glattem rosa Fleisch. Zum Fürchten.

Ob die Clique das Ganze genau so geplant hatte? Vielleicht steckten sie ja mit dem Einäugigen unter einer Decke. Das wäre eine ganz schön ausgeklügelte Mutprobe, fand er. Aber irgendwie traute er Kralle das nicht zu. Der war ein cooler Typ und fast zwei Jahre älter als er und die anderen, aber vielleicht nicht ganz der Hellste.

Ein Geräusch, ein leises Scharren. Das kam aus einem der zwei Räume.

Ob es hier Ratten gab? Bestimmt. Kalt lief es ihm den Rücken hinunter. Er wollte raus hier, nur raus!

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Hacki.

Kralle zuckte die Achseln. »Wir gehen hin und gucken nach.«

»Im Haus?« Charly schaute ihn entgeistert an. »Nicht dein Ernst.«

»Pfff«, machte Piepe. »Der Typ ist doch weggegangen.«

»Und wenn er wiederkommt?«

»Deshalb sollten wir keine Zeit verlieren«, meinte Piepe. Er war bereits aufgestanden.

Sie gingen zu ihren Fahrrädern, stiegen auf und radelten zum Haus.

»Die Haustür steht ja offen«, sagte Charly.

»Umso besser«, knurrte Kralle. »Charly, Hacki, wir gehen vorne rein, Piepe über die Terrasse.«

Es roch furchtbar in dem Haus. Ganz ähnlich wie bei Kralles Opa, als der noch gelebt hatte.

»Hallo? Ey, wo steckst du denn?«, rief Hacki.

Plötzlich wummerte es dumpf.

»Das kommt von da«, sagte Piepe und wies in Richtung Flur.

Sekunden später standen sie vor einer grauen Metalltür.

»Hier bin ich«, hörten sie die Stimme des Neuen. »Macht auf!«

»Na toll«, sagte Kralle. »Hast du dich erwischen lassen?«

»Holt mich raus«, wimmerte es.

»Hier steckt aber kein Schlüssel«, sagte Kralle.

Hinter der Tür war ein seltsamer Grunzlaut zu hören.

»Und jetzt?«, fragte Piepe.

»Den Schlüssel hat der bestimmt eingesteckt«, sagte Kralle. »Ich geh in die Küche und guck, ob ich was finde, womit ich die Tür aufbekomme. Hör auf zu heulen.«

»Ich heul doch gar nicht«, schluchzte der Junge hinter dem Metall.

Da war es wieder, ein Kratzen. Und war das eine Stimme? Hatte jemand etwas gesagt? Ach Quatsch, das war nur das Rauschen in seinen Ohren. Er hämmerte gegen die Tür. »Bitte! Macht schnell!«

Er presste sein Ohr gegen die Tür zum Flur. Dahinter waren die Stimmen der anderen zu hören.

»Kralle holt Werkzeug«, hörte er Hackis Stimme. »Moment noch.«

Viel länger konnte er nicht mehr einhalten.

Er nahm allen Mut zusammen und ging die Treppe hinab. Ganz leise, Stufe für Stufe. Als wäre da etwas, das er nicht aufwecken wollte.

Neben dem Waschbecken hing ein fleckiges Handtuch. Er öffnete den Reißverschluss und pinkelte, versuchte, den Strahl so zu halten, dass es kein Geräusch machte.

Als er fast fertig war, hörte er von oben Stimmen. Ein hoher, kurzer Schrei, dann ein dröhnender Bass. Dann ein Poltern, und plötzlich war alles wieder still.

Kralle ließ den Hammer sinken. »Scheiße.«

Die anderen starrten ihn an. Keiner sagte ein Wort.

Angst und Ekel sah er in ihren Blicken. »Was sollte ich denn tun? Der hätte uns alle fertiggemacht.«

»Das weißt du doch gar nicht«, sagte Charly leise.

»Los, hauen wir ab«, sagte Hacki.

»Erst müssen wir den Neuen befreien. Piepe, guck mal, ob der Typ den Schlüssel in der Tasche hat.«

Aber Piepe rührte sich nicht, sondern starrte nur vor sich hin, als wäre er plötzlich gelähmt, taub und stumm.

Kralle kniete sich hin und griff dem Mann in die Hosentaschen. Da war ein Schlüssel, und er passte tatsächlich ins Schloss der Kellertür.

»Hallo?«

Das war jetzt nicht von oben gekommen, sondern von hinter ihm. Eine helle, dünne Stimme. Aus dem Raum mit den Ratten. Er hatte es deutlich gehört. Was war das bloß? Auf jeden Fall keine Ratte. Sein Herz klopfte, als würde es gleich platzen. Mit einem Mal war in seinen Ohren wieder nur Rauschen. Dennoch hörte er, wie oben die Kellertür geöffnet wurde, und er lief sofort die Treppe hoch.

Oben im Flur lag der Einäugige. Er lag auf dem Bauch, und um seinen Kopf herum färbte Blut den grauen Teppichboden dunkelrot.

Keine drei Sekunden nachdem Kralle die Tür geöffnet hatte, stand der Neue bei ihnen im Flur und starrte, wie die anderen vier jetzt auch, auf den Einäugigen.

»Ist der tot? Scheiße, der ist tot, oder?«, sagte Piepe.

»Was denkst du denn«, schnauzte Kralle ihn an.

Piepe drehte sich um. Er ging zwei Schritte in Richtung Haustür, dann sank er auf die Knie und erbrach sich. Mitten auf den Teppichboden.

»Wir müssen hier weg«, sagte Hacki. »Meinst du, uns hat einer gesehen?«

»Weiß nicht«, sagte Kralle. »Glaube ich nicht. Das nächste Haus ist ja ein Stück weg. Gesehen hab ich auf jeden Fall niemanden.«

»Dann lass uns doch abhauen.«

»Und die ganzen Spuren hier?« Kralle zeigte vage auf den Mann und auf die Kellertür. »Hier sind überall unsere Fingerabdrücke und Fußabdrücke und was weiß ich. Und dann hat Piepe auch noch hingekotzt.«

»Aber was sollen wir denn machen«, sagte Hacki. »Wir können ja schlecht das Haus abfackeln.«

Kralle überlegte. »Wieso eigentlich nicht? Der Typ ist doch tot. Und um die Bruchbude hier ist es ja wirklich nicht schade. Charly, du hast doch Streichhölzer?«

Charly klopfte sich an die Tasche seiner Shorts. Es klapperte.

»Na dann los, die erste Idee ist meistens die beste.«

»Guck mal hier«, sagte Piepe. Er hielt eine große, längliche Metallbüchse mit blaugelbem Etikett in der Hand. Terpentin-Ersatz stand darauf. »Das war bei den Malsachen im Wohnzimmer. Ich dachte, damit krieg ich meine Kotze aus dem Teppich. Aber das brennt bestimmt auch gut.«

Kralle nahm ihm wortlos die Büchse ab, öffnete den Verschluss und schüttete den Inhalt über den Mann, den Teppichboden, spritzte es an die Wände, bis die Büchse leer war. Es stank furchtbar. »Wir verschwinden über die Terrasse und schlagen uns hinten durch die Bäume«, bestimmte Kralle. »Charly, zünd an!«

Charly holte die Streichholzschachtel hervor und zog eines der Hölzer heraus. Er zögerte.

»Los, mach schon!«, herrschte Kralle ihn an. »Alle anderen auf die Terrasse.«

Charly seufzte, entzündete das Streichholz und warf es in Richtung des Mannes. Das Streichholz erlosch im Flug, nichts geschah.

»Noch mal!«

Dieses Mal klappte es. Von einem Augenblick auf den anderen stand der ganze Flur in Flammen.

»Los, komm«, sagte Kralle und zog Charly am Ärmel, der mitten im Wohnzimmer stehen geblieben war und in die Flammen schaute. Die anderen drei standen bereits draußen.

»Da … da …«, stammelte Charly und wies in Richtung Flur.

Der Mann, dessen Kleidung und Haare in Flammen standen, bewegte sich. Erst dachte Kralle, es sähe nur so aus, wegen der Hitze, die die Luft durcheinanderwirbelte, aber tatsächlich, der Einäugige versuchte, sich aufzurappeln.

»Scheiße«, zischte Kralle, packte Charly am Arm und hastete mit ihm zur Terrassentür.

Als sie hindurch waren, schrie Charly auf. Der brennende Mann wankte durch das Zimmer, direkt auf sie zu.

Hacki sprang zur großen Glastür und schob sie zu.

Die anderen liefen weg, nur Kralle blieb stehen und sah voll Entsetzen zu, wie Hacki die Tür zuhielt, während der Mann drinnen versuchte, nach draußen zu gelangen.

Das Ganze dauerte nur vier oder fünf Sekunden, aber Kralle kam es vor wie eine Ewigkeit, bis der brennende Mann in sich zusammensank und regungslos liegen blieb. Da stand schon der Vorhang in Flammen.

Die Stimme im Keller fiel ihm erst wieder ein, als sie bei ihren Fahrrädern waren. Hallo? Hinter den Bäumen hörten sie das Rauschen und Knacken der lodernden Flammen.

Das alles war ein Albtraum. Ein einziger Albtraum, und er wachte einfach nicht auf. Er hatte gar nicht richtig mitbekommen, wie sie aus dem Haus gerannt waren, durch die Sträucher und zwischen den Bäumen hindurch, bis sie stehen blieben und einander anschauten. Seine Arme waren voll blutiger Schrammen.

Nur Kralle und Hacki fehlten.

Die Stimme im Keller. Es war eine Stimme gewesen, keine Ratte, kein Geräusch vom Haus oder von der Heizung oder so, nein, eine Stimme, also war da ein Mensch gewesen. Aber der Keller konnte ja nicht mit verbrennen. Oder doch? Wo blieb denn überhaupt die Feuerwehr? Piepe hatte doch gesagt, die kommt und löscht alles. Aber nichts passierte.

Der Raum im Keller. Die Stimme hinter der Tür.

Von außen hatte der Schlüssel gesteckt.

Ihm wurde übel.

1

Montag, 10. Mai 2021

Sie hörte ihn, bevor sie ihn sah. Es dauerte eine Weile, bis der mobile Kran am Ende der Harmsbütteler Dorfstraße beim Dorfkrug um die Ecke bog, aber endlich war er da und fuhr auf das Gelände des Neubaugebiets.

Katja Landmann stand mit ihrem Mann Jens am Rand der Baugrube. Zur Hälfte waren die Kellerwände schon hochgezogen worden.

Und jetzt das.

»Herr Landmann, Frau Landmann, Sie sind ja hier!«

»Das sind wir wohl«, sagte Katja Landmann. »Schön, dass Sie auch hier sind, Herr Reißner. Dann können Sie uns gleich mal berichten, wie das hier« – sie machte eine unbestimmte Geste in Richtung Baugrube – »passieren konnte.«

Ein Dutzend Dorfbewohner stand in der Gegend herum. Gegrüßt hatte sie keiner von ihnen, aber die hatten ja auch nicht wissen können, wer sie war. Höchstens ahnen. Sie musterte die Schaulustigen. Keiner trug eine Maske, und einige standen viel zu dicht zusammen, die konnten kaum alle zu ein und demselben Haushalt gehören. Wobei, hier auf dem Dorf, wer wusste das schon so genau.

Erst zweimal war sie hier gewesen: einmal um sich das Baugrundstück anzusehen und einmal bei der Grundsteinlegung. Sie konnte mitten im Schuljahr schlecht ständig aufs Land fahren. Auch wenn der Präsenzunterricht ausgesetzt war, hatte sie genug zu tun.

Katja Landmann sah ihren Mann an. Der schaute in Richtung der Felder hinter dem Neubaugebiet, wahrscheinlich war er in Gedanken schon wieder im Büro.

Einige der Umstehenden starrten sie an. Waren das feindselige oder neugierige Blicke? Vielleicht beides, das musste sich ja nicht ausschließen. In ihrem Heimatdorf im Rheinland wären die Leute längst angekommen und hätten sie in lauter Gespräche über weiß der Himmel was verwickelt. So etwas lag den Holsteinern fern. Das kannte sie zur Genüge von der Familie ihres Mannes.

Ob unter denen, die sie anstarrten, auch derjenige war, der ihnen die Suppe hier eingebrockt hatte? Der gemerkt hatte, dass der Keller ein Stück zu weit aus der Erde ragte?

Karl Reißner vom Architekturbüro Reißner & Schöffler räusperte sich. »Hören Sie, ich hatte doch keine Wahl.« Er hielt ihr eine hellblaue Plastikrolle vor die Nase. »Hier, die Pläne, Sie können selbst … Ich meine, ich zeige Ihnen das gerne noch mal genau.«

»Entschuldigen Sie, bitte anderthalb Meter Abstand, okay?« Sie trat einen Schritt zur Seite. »Und eigentlich möchte ich von Ihnen gar nichts mehr sehen.« Sie lächelte hinter ihrem Mundschutz. »Ich bin sicher, wir finden schnell einen neuen Architekten. Das Telefonbuch ist voll davon.«

»Aber, Frau Landmann! Das zahlt doch alles meine Versicherung. Und der Boden ist hier so feucht, wenn wir das Fundament nicht zwanzig Zentimeter höhergelegt hätten, dann hätten Sie doch später ständig Wasser aus Ihrem Keller pumpen müssen.«

»Na, und jetzt?« Sie wies auf die Baugrube, an deren Rand sich mittlerweile der Kran postiert hatte. »Jetzt gibt es gleich keinen Keller mehr.«

Wie aufs Stichwort klinkte der Kranführer den immensen Stahlzylinder aus und ließ ihn auf den Beton krachen, der den Boden der Baugrube bedeckte.

»Das hätte doch keiner ahnen können«, sagte Reißner. »Das kommt in tausend Fällen vielleicht einmal vor, dass da jemand nachmisst. Und außerdem, stellen Sie sich mal vor, die Bauarbeiter wären schon weiter gewesen, schon beim Erdgeschoss, dann hätte –«

In diesem Moment ertönte ein spitzer Schrei.

Die Dorfbewohner waren unruhig geworden, einer wies in die Grube, dorthin, wo der Kran zuletzt den Zylinder hatte knallen lassen.

Katja Landmann blickte zum Kranführer und hatte den Eindruck, dass dieser gerade wieder ansetzen wollte, als ein Mann mit gelbem Helm aufgeregt mit den Armen wedelte und rief: »Hauke! Lass gut sein!«

Aber es war zu spät. Das schwere Gerät krachte nieder, der Beton zerbarst, und dann wurde das Ungetüm wieder langsam am Stahlseil emporgezogen. Die Schaulustigen stöhnten wie im Chor auf.

Was war denn da los, verdammt? Katja Landmann ging näher an den Rand der Grube heran.

Da sah sie es auch.

Aus dem Beton, dort, wo nun schon ein mehrere Quadratmeter großes Loch gerissen war, ragte etwas Helles heraus.

Eine Hand, ein nackter Arm.

Katja Landmann schüttelte den Kopf. Das bedeutete garantiert noch mal eine oder zwei Wochen Bauverzögerung zusätzlich.

Sie sah hinunter auf ihren Bauch. Bald ließ es sich gar nicht mehr verstecken. Und ihre Planung sah nicht vor, mit einem schreienden Säugling im vierten Stock einer sanierungsbedürftigen Altbauwohnung in Hamburg-Winterhude zu hocken.