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Auf dem Gelände eines ehemaligen Waisenhauses steht eine Voliere, in der ganz unterschiedliche Vogelarten gehalten werden: Kanarienvögel, Haussperlinge und Prachtfinken, aber auch Papageien. Jeden Tag besucht ein Mann die Voliere, um im Schatten eines Ginkgos dem Gesang der Vögel zu lauschen und mit ihnen zu sprechen. Eines Nachmittags jedoch bricht er neben dem Käfig zusammen und stirbt kurze Zeit später. Die Vögel sind über den Verlust ihres treuen Freundes so bestürzt, dass seinem jüngeren Bruder die Obhut der Voliere anvertraut wird, um sie zu beruhigen. Von den Kindern in der Stadt wird der jüngere Bruder fortan der "Herr der kleinen Vögel" genannt - so aufopferungsvoll kümmert er sich um die Tiere. Er lebt einsam und zurückgezogen, nur zwei Menschen gelingt es, sein Vertrauen zu gewinnen. Einer jungen Bibliothekarin, die er kennenlernt, als er in der Stadtbücherei Fachbücher über Vogelkäfige konsultiert. Und einem alten Mann, der stets eine kleine Holzschachtel mit einer Grille bei sich trägt, um sich an ihrem Gesang zu erfreuen … Als eines Tages ein kleines Mädchen vermisst gemeldet wird, gerät die ansonsten so friedliche Stadt in helle Aufregung. Und der Herr der kleinen Vögel wird von zwei Polizisten über seinen merkwürdigen Bekannten mit der Grille befragt, der ebenfalls spurlos verschwunden ist.
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Seitenzahl: 290
Yoko Ogawa
Roman
Aus dem Japanischen übersetztvon Sabine Mangold
liebeskind
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel»Kotori« im Verlag Asahi Shimbun, Tokio.
Yoko Ogawa wird durch das Japan Foreign-Rights Centre vertreten.
© Yoko Ogawa 2012© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2015Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Marc Müller-Bremer, MünchenUmschlagmotiv: plainpicture / Mihaela Ninic
ISBN 978-3-95438-055-8
Als der Herr der kleinen Vögel starb, wurden sein Leichnam und seine Habseligkeiten rasch beseitigt, wie es in solch einem Fall üblich ist. Da er alleinstehend war, hatte man ihn erst einige Zeit nach seinem Ableben gefunden.
Sanitäter, Polizisten, Sozialarbeiter, der Vorstand des Nachbarschaftsvereins, Beamte, eine Putzkolonne, Schaulustige – es herrschte ein geschäftiges Treiben, wobei ein jeder seinen Dienst verrichtete: Die einen schafften den Leichnam fort, während andere Desinfektionsmittel versprühten, wiederum andere durchwühlten seine Korrespondenz nach einer Kontaktadresse. Sogar die Schaulustigen wirkten aufmunternd, indem sie mit ihrem aufgeregten Schwatzen die beklommene Atmosphäre vor Ort zerstreuten.
Kaum einer wusste, dass der Tote der »Herr der kleinen Vögel« war. Selbst die wenigen, die ihn vom Sehen kannten, hatten so gut wie nie ein Wort mit ihm gewechselt. Es war das erste Mal, dass dieses Haus eine so große Schar von Besuchern empfing.
Der Zeitungsjunge hatte den Leichnam entdeckt. Durch den überfüllten Briefkasten am Eingangstor misstrauisch geworden, war er durch den Garten um das Haus herumgegangen und hatte den Toten auf der Veranda neben der weit geöffneten Schiebetür entdeckt.
Der Verwesungsprozess hatte bereits eingesetzt, aber die Miene des Verstorbenen zeigte nicht die leiseste Spur von Agonie. Er wirkte eher erleichtert, so als wäre er sanft entschlafen. Mit Hemd und Hose lag er zusammengerollt auf der Seite, die Beine leicht angewinkelt, den Rücken gekrümmt.
Das Einzige, über das sich die Anwesenden wunderten, war der Käfig aus Bambus, den er in seinen Armen hielt. Darin hockte auf der Sitzstange ein kleiner Vogel.
»Das ist ein Vogel«, meldete sich der Zeitungsbote als Erster zu Wort, da er sich als Entdecker der Leiche verantwortlich fühlte und ein wenig abseits stand, um das Geschehen besser verfolgen zu können.
Obwohl nichts Außergewöhnliches daran zu finden war, dass der Mann sich einen Vogel gehalten hatte, ging ein erstauntes Raunen durch die Menge, als hätten die Leute nie zuvor ein solches Geschöpf gesehen.
Der Vogel war so klein, dass man ihn in der hohlen Hand halten konnte. Obwohl sein Futternapf leer war, machte er keinen geschwächten Eindruck, so wie er mit geneigtem Köpfchen die Anwesenden beobachtete. Behütet von den Armen des Verstorbenen wirkte er furchtlos, seine schwarzen Pupillen huschten flink hin und her. Sein zartgelbes Gefieder ohne auffällige Streifen oder Muster war so schlicht, dass der Beschreibung »kleiner Vogel« nichts hinzugefügt werden musste.
Als ein Polizist den Käfig hochhob, um ihn vor der blendenden Sonne zu schützen, herrschte einen Moment lang Stille. Der Vogel flatterte ein wenig umher, krallte sich an den Stäben fest und kehrte dann auf die Sitzstange zurück. Getrockneter Kot und ausgefallene Federn wurden aufgewirbelt. Selbst im hellen Licht behielt das Gefieder des Vogels seine zarte Färbung.
Nach ein paar zaghaften Piepsern ertönte plötzlich ein lautes Gezwitscher. Ungläubig starrten alle den Käfig an, fassungslos, wie solche Töne, die kristallklar wie ein rauschender Bach in den letzten Winkel des Gartens drangen, von einem derart winzigen Lebewesen hervorgebracht werden konnten.
Der Vogel hörte nicht auf zu singen. Als wäre er davon überzeugt, den Toten wieder ins Leben zurückholen zu können.
Wie hypnotisiert von dem Gesang, öffnete der Polizist versehentlich die Käfigtür. Vielleicht hatte er sich eingebildet, den kleinen Vogel sachte in die Hand nehmen zu können. Doch augenblicklich schoss das Vögelchen aus dem Käfig heraus, flatterte einmal um den Leichnam herum und flog dann zur offenen Verandatür hinaus. Niemand konnte es aufhalten.
Sogleich herrschte wieder reger Betrieb und das Getuschel ging weiter. Jetzt, wo sein Besitzer tot sei, bleibe der kleinen Kreatur sowieso nichts anderes übrig, als in die Natur zurückzukehren. Schließlich sei er ein Vogel, dessen Dasein darin bestehe, frei durch die Lüfte zu fliegen – sagte sich wohl ein jeder im Stillen. Der Polizist hingegen versuchte seine Unachtsamkeit zu vertuschen, indem er demonstrativ irgendwelche Papiere durchwühlte.
Kurz darauf ertönte noch einmal ein kurzes Zwitschern aus dem Garten, aber schon so weit entfernt, dass es auch eine Einbildung hätte sein können. Niemand der Anwesenden wusste, dass es sich bei dem kleinen Vogel um einen Vertreter der Zosteropidae handelte. Einen Brillenvogel.
Der Herr der kleinen Vögel verdankte seinen Namen keineswegs diesem Vogel aus dem Käfig. Die Bezeichnung stammte aus einer Zeit vor etwa zwanzig Jahren, als er begonnen hatte, sich um eine Voliere im benachbarten Kindergarten zu kümmern. Niemand hatte ihn mit dieser Aufgabe betraut, es war eine rein ehrenamtliche Tätigkeit. Seitdem war er als der »Herr der kleinen Vögel« bekannt.
Man traf ihn dort immer nur außerhalb der Öffnungszeiten an oder während der Ferientage. Der Umgang mit Kindern war nicht seine Stärke.
Seine Arbeitsweise war so diszipliniert und gründlich, wie man es für eine Nebentätigkeit nicht erwarten durfte. Sie mutete eher wie eine asketische Übung an. Alles was er brauchte – Eimer, Schrubber, Feudel –, holte er sich aus einer Abstellkammer. Es waren durchweg ausgediente Gerätschaften, aber tadellos in Schuss.
Es gab eigentlich zwei Käfige: Der kleinere beherbergte ein Pärchen von Zwerghühnern, während in der großen Voliere Ziervögel gehalten wurden. Er begann seine Arbeit nach Möglichkeit bei den Zwerghühnern. Kamen die beiden erst später dran, waren sie eifersüchtig und krähten aufgeregt herum.
Die Einstreu trocknen, Kotreste beseitigen, Trinknäpfe auffüllen, neues Futter bereitstellen. Sein Körper beherrschte perfekt die gesamte Prozedur – ein reibungsloser Ablauf, bei dem kein überflüssiger Handgriff erfolgte. Auch das Hühnerpaar war an diese Routine gewöhnt. Sobald die Stalltür aufging, schlüpften sie zwischen den Beinen des Pflegers hindurch, spazierten im Hof herum, hockten sich in den Sandkasten und kehrten just in dem Moment zurück, wo ihr Futternapf aufgefüllt war. Es bedurfte keines Rufes oder Zeichens, sie atmeten im gleichen Rhythmus.
In der Voliere ging es weniger missgünstig zu. Es herrschte ein unentwegtes Gezwitscher und Geflatter. Mit wippenden Schwänzen am Maschendraht pickend, hießen ihn die Vögel willkommen. Australische Wellensittiche, Nymphensittiche, Katharinasittiche, Javafinken, Japanische Mövchen. Arten und Anzahl der Vögel variierten: Manche starben eines natürlichen Todes, andere vertrugen sich nicht. Aber die Auswahl und Anschaffung der Tiere lagen ohnehin nicht in seiner Macht. Der Herr der kleinen Vögel war nur mit der Pflege der Voliere betraut.
Futternäpfe, Tränken und Brutplätze wurden von ihm hingebungsvoll gesäubert. Wenn er anfing, den Boden zu schrubben, fragte sich die Leiterin des Kindergartens besorgt, ob er jemals damit fertig werden würde. Das rhythmische Scheuern und Plätschern hallte durch die ausgestorbenen Flure, im Einklang mit dem Zwitschern der Vögel. Mit gekrümmtem Rücken schaute er konzentriert zu Boden, es schien ihn nicht zu kümmern, dass sein Hosensaum nass wurde und ihm Wasser ins Gesicht spritzte. Sein Atem ging ruhig, sein Blick war klar. Die gesamte Prozedur diente längst nicht mehr nur der Beseitigung von Schmutz, sondern war Kontemplation, ein heiliges Ritual. Zuweilen flogen die Vögel auf und setzten sich hernach auf seine Schultern, wo sie laut und immer lauter zwitschernd ihm ihren Segen erteilten.
Die Kindergärtnerinnen, die sich im Personalraum aufhielten, registrierten zwar seine Anwesenheit, aber sie waren selbst zu beschäftigt, um ihm weitere Beachtung zu schenken. Für sie war er ein selbstverständlicher Bestandteil der Kulisse, ebenso wie die Vögel in der Voliere.
Allein die Leiterin passte ihn manchmal ab, wenn er fertig war, und ging über den Spielplatz an Klettergerüst und Schaukeln vorbei zu den Käfigen, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln.
»Ich danke Ihnen für Ihre Mühe.«
Das weiße Haar kunstvoll frisiert und tadellos geschminkt, in ihrem Seidenkleid, das ihren korpulenten Körper umspielte, war sie, solange er dort arbeitete, die Höflichkeit in Person.
»Ach, nein …«, stotterte er verlegen. Da es ihm fernlag, sich in Schmeicheleien und Floskeln zu ergehen, tat er so, als könne er seine Arbeit nicht unterbrechen.
»Gestern hat sich einer der Wellensittiche furchtbar aufgeplustert.«
»Heute benehmen sie sich wie immer.«
»Das ist schön.«
»Ja.«
»Für nächste Woche hat der Wetterbericht einen Kälteeinbruch angekündigt.«
»Ach wirklich?«
»Vielleicht sollten wir die Heizgeräte einschalten.«
»Ich kümmere mich darum.«
»Das ist freundlich von Ihnen. Dann bin ich beruhigt.«
Ihre Unterhaltung drehte sich ausschließlich um Vögel.
»Letzte Woche hat die Henne ein Ei gelegt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Wir haben noch etwas Pudding übrig, darf ich Ihnen etwas davon anbieten?«
Obwohl die Leiterin genau wusste, dass er derartige Einladungen stets ablehnte, wollte sie auf diese Art ihre Dankbarkeit ausdrücken.
»O nein, dafür habe ich leider keine Zeit mehr.«
Und dann packte er hastig seine Sachen zusammen, als müsste er sich tatsächlich beeilen.
»Dann nehmen Sie den Pudding doch wenigstens mit. Es ist leider nur eine Portion.«
Sie packte den Karamellpudding in einen Beutel mit einem aufgedruckten Kanarienvogel, dem Emblem des Kindergartens.
»Oh, danke …«, sagte er leise und starrte auf das Bild. Ein knallgelber Vogel, der auf einem Zweig hockte und mit seinen klugen, wachen Knopfaugen in den fernen Himmel aufschaute.
Während ihr Blick zwischen seiner sich entfernenden Silhouette und der Voliere hin- und herwanderte, fragte sich die Leiterin, weshalb er sich derart hingebungsvoll um die Vögel kümmerte. Sein Rücken wirkte gebrechlich, sein Pullover schäbig, und etwas wacklig auf den Beinen war er auch, aber den Käfigen mangelte es an nichts. Der Maschendraht war sorgfältig repariert, um Katzen und Schlangen davon abzuhalten, auf der Suche nach Beute hindurchzuschlüpfen. Die für die Vogelkrallen passend zurechtgeschnitzte Stange hing exakt waagerecht, und in den stets gefüllten Futternäpfen glänzte jedes einzelne Getreidekorn. Hatten die Vögel Kot ausgeworfen oder ihr Wasser verspritzt, herrschte bald darauf wieder Sauberkeit.
Sie schaute ihm so lange nach, bis er durch den Hinterausgang verschwunden war. Der Herr der kleinen Vögel blickte sich niemals um.
Zu Hause angekommen, wechselte er seine durchnässte Kleidung, holte den Karamellpudding aus dem Beutel und aß ihn auf.
Da die Kinderportionen nur sehr klein waren, war der Nachtisch rasch verspeist. Eine weiße Flaumfeder, die sich in seinem Haar verfangen hatte, schwebte sanft auf den abgebildeten Kanarienvogel herab.
Seinen Spitznamen »Herr der kleinen Vögel« verdankte er den Kindern aus dem Hort. Obwohl er ihnen aus dem Weg zu gehen versuchte und sich nur sehr vorsichtig der Voliere näherte, gelang es ihnen doch ein ums andere Mal, ihn zu überraschen. So kam es vor, dass Kinder länger blieben, weil sie aus irgendwelchen Gründen noch nicht abgeholt worden waren. In derart unvorhersehbaren Situationen war er ihnen ausgeliefert.
»Ah, der Herr der kleinen Vögel!«
Sie stürmten aus dem Spielzimmer, sprangen aus dem Gebüsch hervor oder purzelten die Rutsche herunter.
»Der Herr der kleinen Vögel!«
»Der Herr der kleinen Vögel!«
»Der Herr der kleinen Vögel!«
Die Kinder benutzten immer nur diesen einen Ausdruck. Es klang so feierlich, als würden sie dem Himmel erklären, es gebe nun mal keinen anderen Namen für ihn. Je ehrfurchtsvoller die Kleinen ihn ansprachen, umso hilfloser reagierte er.
»Können Sie nicht mal einen Vogel in die Hand nehmen und ihn uns zeigen?«
»Sprechen Vögel denn gar nicht?«
»Der hat ja eine Beule auf seinem Schnabel.«
»Können wir Menschen auch von dem Futter essen?«
Die Kinder löcherten ihn mit allen Fragen, die ihnen in den Sinn kamen. Von ihnen angesteckt, fingen auch die Vögel an, um die Wette zu zwitschern. Einige Kinder versuchten, an dem Drahtzaun hochzuklettern, während andere kreischend mit dem Schrubber herumspielten. Manchmal versuchte auch eines der Kinder, seine Hand zu ergreifen. Dann fragte er sich verwirrt, bis zu welchem Grad er den Händedruck erwidern solle. In solchen Momenten redete er sich ein, es sei ein kleiner Vogel, den er da in der Hand hielt. Doch kaum wagte er, ganz sachte zuzudrücken, war ihm das Kind bereits entschlüpft und seine Hand blieb leer zurück.
Die Kinder verströmten alle den gleichen Geruch: warm, ein wenig feucht, nach Gummi. Ganz anders als Vögel.
Um sich die Kinder vom Leib zu halten, konzentrierte er sich noch mehr als sonst auf seine Arbeit und antwortete nur einsilbig auf ihre unablässigen Fragen. Alle waren mit dem gleichen marineblauen Kittel bekleidet, auf denen ein Schild mit ihrem Namen prangte. So tollten sie in der Gegend umher. Irgendwie kamen ihm die Kinder noch winziger vor als die Vögel.
Um sie voneinander zu unterscheiden, nutzte er die Flecken auf ihren Kitteln. Die Namensschilder konnte er wegen seiner schwachen Augen ohnehin nicht lesen. Doch waren die Kittel mit allem Möglichen beschmutzt: Sauce, Milch, Fett, Nasenschleim, Speichel, Tränen, Blut, und gerade diese Flecken gaben ihnen eine persönliche Note, viel mehr noch als die Namensschilder.
Ihre kleinen Füße, die in Turnschuhen verschwanden, waren noch fragiler als die Krallen der australischen Wellensittiche, ihre nackten Waden verwundbarer als die Brust eines Javafinken, während ihre schutzlosen Lippen nicht mit einem harten Vogelschnabel vergleichbar waren.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, tobten die Kinder weiterhin umher. Sie stießen Trinknäpfe um, jagten die Hühner herum, stolperten über den Schlauch, fielen hin und brachen in Tränen aus.
»Tschüss!«
»Auf bald!«
»Bye-bye!«
Sobald ihre Neugier befriedigt war, machten sie sich auf zu neuen Taten und zerstreuten sich in alle Richtungen. Die Vögel hatten sie bald schon vergessen.
»Auf Wiedersehen, Herr der kleinen Vögel!«
»Sie kommen doch wieder, oder?«
Bis zum Schluss ließen sie nicht davon ab, ihn »Herrn der kleinen Vögel« zu nennen.
Es war sein sieben Jahre älterer Bruder gewesen, der ihm damals die Voliere gezeigt hatte. Zu dieser Zeit gab es noch keinen Kindergarten, nur ein kirchliches Waisenhaus mit einem ziemlich bescheidenen Käfig.
»Das sind Vögel«, erklärte ihm der große Bruder in verschwörerischem Ton, so als würde er ihm geheimnisvolle, überaus seltene Kreaturen zeigen.
»Ja, ich weiß.«
Tatsächlich waren für den gerade mal sechsjährigen Jungen Vögel nichts weiter als lärmende Tiere. Ihr rastloses, nervöses Herumgeflatter und der im Verhältnis zum restlichen Körper überproportionale Schnabel waren ihm höchst unheimlich: Wenn man nicht aufpasste, konnten sie einem in die Wange, in die Wade, in die Augen oder andere Weichteile picken.
»Das da ist ein Zitronensittich. Und der sich gerade an den Zaun klammert, heißt Harzvogel. Auf der Stange sitzt ein Albino, wie du unschwer erkennen kannst.«
Er fand es damals faszinierend, dass sein Bruder all diese Namen kannte. Es war unglaublich, wie leicht sie ihm über die Lippen gingen.
»Warum kreischen sie so?«
»Sie kreischen nicht, sie unterhalten sich.«
»Sie klingen aber ziemlich zornig.«
»Aber nein!«
»Bist du sicher?«
»Ja, bestimmt! Sie verwenden bloß jene Worte, die wir vergessen haben.«
Sein Bruder lehnte am Zaun des Waisenhauses und beobachtete aufmerksam die Vögel.
»Sie sind nämlich viel klüger als wir.«
»Ach deshalb …«, murmelte der Kleine. Sollte das heißen, dass auch sein großer Bruder wie die Vögel in einer vergessenen Sprache redete? Dies würde nämlich erklären, weshalb niemand verstand, was er sagen wollte – weder der Lehrer in der Schule noch die Nachbarn, ja nicht einmal ihre Eltern. Obwohl sich jeder große Mühe gab, endete es meistens mit einem verständnislosen Kopfschütteln, einem genervten Seufzen oder einer abfälligen Handbewegung, mit der sie ihn fortschickten. Er selbst hingegen verstand ihn gut, vielleicht konnte er mit ein bisschen Übung irgendwann auch dem Gesang der Vögel folgen.
Dieser Gedanke stimmte ihn vergnügt.
»He da!«, rief er begeistert in Richtung Voliere. Die Sittiche flogen mit einem Schlag auf und zwitscherten aufgeregt im Chor.
Auf dem Hof des Waisenhauses gab es damals noch kein Klettergerüst, auch keine Rutsche und keinen Sandkasten. Überall auf dem Gelände wucherte Unkraut, und auf der bescheidenen Baracke prangte auch noch nicht das Emblem mit dem Kanarienvogel. Im Lauf der vielen Jahre, in denen das Waisenhaus schließlich in einen Kindergarten umgewandelt wurde, hatte sich die Umgebung stark verändert, nur die Vögel befanden sich immer noch an ihrem angestammten Platz. In der Nähe des hinteren Tors, das auf eine Allee hinausführte, im Schatten eines Ginkgos. Dort war ihr Zuhause.
Natürlich hatte es bei der Konstruktion der Käfige und der Zusammensetzung der Vogelschar auch etliche Veränderungen gegeben. Den Hühnerstall gab es erst, seitdem der Herr der kleinen Vögel seinen Dienst aufgenommen hatte, während die Voliere mehrmals infolge von Taifunen, Überschwemmungen oder Erdbeben beschädigt und wieder repariert wurde. Je nach Vorliebe der Direktorinnen oder nach den Wünschen der Kinder wechselten die Tiere: von Kanarienvögeln zu Bengalischen Finken, von Papageien zu großen Sittichen, von Javafinken zu Wellensittichen. Man beherbergte einen entlaufenen Pfau, der zu irgendeinem Anwesen gehörte, und in den Nachrichten wurde ein Papagei gezeigt, der mit den Kindern zusammen ein Lied sang. Krankheiten und streunende Katzen hatten zwar etliche Male den Bestand der Vögel radikal dezimiert, aber die Voliere wurde nie beseitigt. Immer wurden rasch neue Vögel angeschafft.
»Ich mag die Zitronensittiche«, sagte der Kleine.
Vergessen waren der Krach und das Bedrohliche der Vögel.
»Ja, sie sind sehr zahm.«
Der Ältere presste sein Gesicht noch fester an den Zaun. Der Zitronensittich hüpfte auf der Stange hin und her und neigte sein Köpfchen zu den beiden hin, als wüsste er, dass von ihm die Rede war.
»Er denkt doch bestimmt an irgendwas.«
Auf den Kleinen machte der Vogel den Eindruck, als würde er nachdenken.
»Ja, sicher. Er fragt sich bestimmt, wer wir wohl sein mögen.«
»Mit diesem winzigen Kopf?«
»Das hat doch nichts mit der Größe zu tun. Die Augen liegen bei Vögeln seitlich. Deshalb müssen sie den Kopf neigen, wenn sie etwas erkennen wollen. Die können denken, sobald sie aus dem Ei geschlüpft sind.«
»Und über was denkt er gerade nach?«
»Über ein Problem, von dem wir Menschen keine Vorstellung haben.«
»Ach so …«
Der Kleine verstand zwar nicht genau, was sein Bruder meinte, nickte aber zustimmend, um ihn nicht zu enttäuschen. In diesem Moment breitete der Zitronensittich seine Flügel aus, um sie gleich wieder sanft zu schließen.
»Süßigkeiten, die so gelb sind, schmecken bestimmt lecker«, sagte der Kleine.
»Hm«, brummte der Ältere vage.
»Egal, ob Gelee, Zuckerbonbons oder Fruchteis. Die Zunge würde dann dieselbe Farbe haben wie der Sittich. Von den Lutschern bei Aozora schmecken mir die gelben auch am besten.«
Aber diese Worte erreichten den Älteren nicht. Voller Hingabe lauschte er dem Gezwitscher des Vogels. Der Kleine war dennoch überglücklich, in diesem Moment bei ihm zu sein.
Das Waisenhaus war wie ausgestorben, nur die Vögel flatterten umher. Außer den beiden Jungen gab es keine Menschenseele weit und breit. Als wären sie selbst Waisen.
Es war nach seinem elften Lebensjahr, als der Ältere anfing, in einer eigens erfundenen Sprache zu reden, zu einer Zeit also, in der der Jüngere bereits die Welt um ihn herum wahrnahm. Zu jenem Zeitpunkt hatte sein Privatjargon längst eine konsistente Form angenommen. Somit hatte der Kleine seinen Bruder nie jene Worte aussprechen hören, die sonst alle Welt verwendete.
Verglichen mit anderen Kindern war sein Bruder schon immer ein wenig langsam gewesen, wenn er sich einen Ausdruck merken oder aufschreiben sollte. Umso verstörter war ihre Mutter, als er nach Monaten des unergründlichen Schweigens plötzlich rätselhafte Laute von sich gab. Voller Optimismus glaubte sie zunächst, dass es sich dabei um eine vorübergehende Störung in seiner Entwicklung handelte, so wie Fieber beim Zahnen. Später versuchte sie sich einzureden, dass er die Erwachsenen nur ärgern wollte und bald wieder ganz normal sprechen würde. Aber der Wunsch ihrer Mutter wurde nicht erhört. Nie mehr kamen »korrekte« Worte aus seinem Munde.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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