Der Himmel kommt später - Angelika Glitz - E-Book

Der Himmel kommt später E-Book

Angelika Glitz

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Beschreibung

Ein realistische, wunderschön erzählte Geschichte über eine ganze besondere Freundschaft Louise, genannt Lulu, spart auf Inliner. Als ihr Vater sie bittet, dienstagsnachmittags gegen Bezahlung seiner alten Tante Gesellschaft zu leisten, sagt sie gleich zu. Außerdem fällt dann der ungeliebte Flötenunterricht aus. Tante Hilde ist steinalt, aber sie hat es faustdick hinter den Ohren. Von Mal zu Mal geht Lulu lieber zu ihr. Und schließlich ist es an Lulu, Tante Hildes allergrößten Traum zu erfüllen. Angelika Glitz erzählt in leisen, warmen Tönen und voller Humor die anrührende Geschichte einer wunderbaren Freundschaft, eine Geschichte über das Leben und den Tod. Mit leichter Hand gelingt es ihr, dem Leser ein Lächeln ins Herz zu zaubern.

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Seitenzahl: 179

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Angelika Glitz

Der Himmel kommt später

Mit Vignetten von Leonard Erlbruch

FISCHER E-Books

Inhalt

Ihr Leben lang kroch [...]Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelSiebenundzwanzigstes KapitelAchtundzwanzigstes KapitelNeunundzwanzigstes KapitelDanke

Ihr Leben lang kroch die Raupe herum und fraß Blätter, bis sie irgendwann erschöpft vom Kriechen und Fressen war. Da spann sie einen Kokon und legte sich zur Ruh. Sie glaubte, ihre Zeit sei gekommen. Dabei stand nur ihre Geburt als Schmetterling bevor.

 

nach Laotse

Erstes Kapitel,in dem ein Wunder geschieht

Papa sagt, man kann nur glauben, was man sieht, und Mama sagt, da sei was Wahres dran. Allerdings glaubt Mama trotzdem an Gott und an ein Paradies im Himmel und sogar an Engel. Dabei ist ihr nichts davon je unter die Augen gekommen. Was ich glauben soll, weiß ich nicht. Also, ich denke schon, dass es da oben etwas Großes gibt, doch ob da ausgerechnet der Chef mit Rauschebart auf seiner Wolke sitzt? Ich kann es mir nur schwer vorstellen. Trotzdem bete ich manchmal, meistens, wenn ich etwas brauche.

Einmal zum Beispiel, da habe ich Gott um mehr Taschengeld angefleht, das hatte ich dringend nötig. Und was war passiert? Ich blätterte zwei Comic-Hefte durch, tapste die Treppe hinunter, und da sagte Papa: »Du wolltest dir doch ein bisschen Taschengeld dazuverdienen.«

Einfach so und ohne sich vorher darüber zu beschweren, dass ich nackte Füße hatte oder meine Haare verstrubbelt wie eine Ponymähne waren. Morgens liebt er es nämlich, sich über mein Aussehen zu beschweren und mir Ratschläge zu erteilen: Trag die Haare doch mal zu einem Pferdeschwanz! Zieh doch mal was Hübsches an, zum Beispiel einen Rock oder eine Bluse. Es könnte auch nicht schaden, die »ollen« Turnschuhe endlich in den Müll zu befördern oder wenigstens zu putzen und zu desinfizieren.

Aber heute kein Wort davon, heute kam er gleich auf den Punkt. »Möchtest du mehr Taschengeld?«

Verrückt, also wenn das keine prompte Lieferung war. Ich beugte mich zu meinem kleinen Bruder Ben hinunter, der in seinem Stühlchen mit den Beinen strampelte, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und klaute ihm ein Stückchen Apfel von seinem Teller.

»Das wäre toll, was soll ich tun?«

Papa guckte Mama über den Rand seiner Zeitung hinweg an.

»Siehst du.«

»Na, was soll sie darauf sonst antworten. Schließlich fleht sie dich seit Wochen um mehr Taschengeld an. Sie hat dir sogar angeboten, dein Auto zu waschen.«

»Mein Auto! Das kommt mir nur in die Waschanlage, sonst wird der Lack stumpf. Oder kriegt Kratzer, wenn man mit dem Schwamm so gefühllos umgeht.«

Ich schaute von einem zum anderen und fragte mich, was hier eigentlich los war. Es war Sonntagmorgen. Normalerweise taten meine Eltern um diese Zeit nicht mehr, als mit einer Tasse Kaffee in der Hand die Zeitung zu lesen und Ben ab und an einen Apfel zu schälen oder ihm eine Scheibe Brot in kleine Reiterchen zu schneiden.

»Also, wie ist das jetzt mit meinem Taschengeld?«, fragte ich, damit es mal voranging.

»Erklär du es ihr«, sagte Mama.

Aber dann fing Mama doch an, weil Papa Kaffee aus seiner Tasse schwappte, als er sie auf der Zeitung absetzte, und er eine Serviette suchen musste.

»Ich sage dir gleich, ich halte nichts davon, weil du dienstags Flöten hast, aber mich hat ja niemand gefragt.«

Sie warf Papa einen Seitenblick zu, auf den er nicht reagieren konnte, weil er der Bundeskanzlerin den Kaffee wieder von der Nase tupfen musste. Mama seufzte und fuhr fort.

»Es geht um eine alte Tante von dir, so eine Art Oma, Oma Hilde. Sie ist die Schwester deiner Ur-Oma, also von der Mutter von Oma Martha. Bisher hat sie in einem kleinen Ort in den Bergen gelebt, Hintertux. Sie ist sehr nett und eigentlich richtig rüstig für ihr Alter, aber nun kommt sie nicht mehr alleine klar. Sie kann sich nicht mehr die Schuhe zubinden und Essen kochen, sie ist auch schlecht zu Fuß. Und sie hat keine anderen Verwandten in der Nähe, deswegen müssen wir uns um sie kümmern.«

Ich hockte mich auf unsere Küchenbank, zog die Beine an und wärmte meine Zehenspitzen mit den Händen.

Also sollte ich etwas machen, das mit einer Oma zu tun hatte. Und zwar immer dienstags. Ansonsten hatte ich nur Bahnhof verstanden. Aber ich wusste, wer Oma Martha war, die Mutter von Papa. Sie gab ihre Rente in einem Apartment mit Meerblick auf Mallorca aus. Leider war das Apartment klein und obendrein mit teuren Dingen vollgestellt, die alle kaputtgehen konnten, so dass wir sie nie besuchen durften.

»Es ist nur vorübergehend«, sagte Papa, »bis wir einen Platz im Altersheim haben. Und außerdem weiß man ja nie.«

»Was weiß man nie?«

»Wann Oma Hilde von uns gehen wird«, sagte Papa.

»Ich dachte, sie kann nicht mehr gut gehen?«

Papa seufzte, Mama seufzte, und für ein paar Sekunden herrschte wieder Einigkeit in unserer Küche.

»Oma Hilde ist schon 97«, fuhr Mama fort, »und du weißt doch, irgendwann geht jeder zum lieben Gott, also in den Himmel.«

»Na, das muss erst noch bewiesen werden.«

»Andreas!«

Ich rollte mit den Augen und versuchte sie wieder auf Kurs zu bringen.

»Zieht Oma Hilde jetzt zu uns?«

Papa faltete seine Zeitung zusammen und legte sie in den Zeitungsständer neben der Bank.

»Nein, ich habe ihr ein Apartment gemietet, ganz in der Nähe, in der Mendelssohnstraße. Und deine Aufgabe wäre es, ihr jeden Dienstag etwas Gesellschaft zu leisten: mit ihr Karten spielen, ihr mal aus dem Stuhl helfen, was zum Trinken anbieten. Ansonsten kümmert sich Agathe um sie, aber dienstagnachmittags hat sie keine Zeit, da hat sie ihren polnischen Literaturkreis, den braucht sie, sonst bekommt sie Heimweh. Könntest du das tun, Lulu? Du bekommst jedes Mal vier Euro.«

Mama stellte mir Milch und Müsli vor die Nase und eine Schüssel mit Löffel.

»Dienstags muss Lulu für das Weihnachtskonzert üben, gemeinsam mit den anderen Mädchen. Jeder andere Tag ist okay, aber nicht der Dienstag.«

»Ich kann es nicht ändern, Katrin. Agathe möchte unbedingt den Dienstagnachmittag freihaben. Das war ihre Bedingung. Und ich bin froh, dass ich überhaupt so eine gut ausgebildete Krankenpflegerin gefunden habe, die sind nämlich verdammt schwer zu bekommen. Also, was ist, Lulu?«

Ich ließ Haferflocken, Rosinen und Schokopops in meine Schüssel rieseln. Ich stellte mir eine alte Frau in einem düsteren Apartment vor. Ich kannte sie nicht. Ich kannte überhaupt niemanden, der so alt war. War sie verschrumpelt wie ein Apfel, den man zu lange in der Sonne liegen gelassen hatte? Womöglich hatte sie eine Warze auf der Nase. Kurz musste ich an die Hexe aus Hänsel und Gretel denken. Hatten die Eltern ihre Kinder nicht zu einer Hexe in den Wald geschickt, um sie loszuwerden? Aber nein, das war zum Glück ganz anders gewesen, Hänsel und Gretel hatten sich verlaufen oder so. Außerdem waren vier Euro ein prima Geschäft, besonders wenn man dafür nur ein wenig Karten spielen musste. Und zu Flöte brauchte ich auch nicht mehr, klang also eindeutig nach Hauptgewinn.

»Ich mach es, und Flöte üben kann ich auch alleine. Aber ich will fünf Euro.«

»Ich finde das nicht richtig«, sagte Mama.

»Abgemacht«, sagte Papa.

»Mehr Apfel«, rief Ben.

»Den kann Lulu jetzt schälen«, sagte Mama. Keine Frage, sie war auch ein wenig sauer auf mich. Aber heute, an diesem wunderbaren Morgen, störte mich das wenig. Ich dachte nur, ich sollte wirklich öfters mal beten.

Zweites Kapitel,in dem ich mich von meinen Freundinnen beraten lasse

Man weiß nie, warum sich plötzlich ein Wunsch in einem einnistet. Dabei spreche ich nicht von einem Wunsch, wie eine Eins im Vokabeltest oder Pfannkuchen mit Schokocreme zum Mittagessen. Nein, ich meine einen Wunsch, der sich einem plötzlich in den Kopf klickt wie ein Puzzlestück und millimetergenau passt. »Klack«, da sitzt er und geht nicht mehr raus.

 

»Nee, echt jetzt!?« Meine Freundin Belinda vergaß vor Staunen zu kauen. Sie hatte sich den Schokoriegel in einem Stück in den Mund geschoben. Jetzt lag er quer auf ihren Zähnen und beulte Dellen in ihre Wangen. Das ließ sie wie ein Hammerhai aussehen. Eben hatte ich von meinem neuen Job erzählt. Wir hatten die erste große Pause. Neben Belinda und mir stand noch Marlies auf der Treppe zur Turnhalle. In den Pausen hielten wir uns gerne hier auf, weil man von der obersten Stufe aus den gesamten Schulhof im Blick hatte. Nieselregen wehte uns ins Gesicht, der November hatte es auf einmal eilig gehabt. Ich zog meine Kapuze weiter über die Ohren und zurrte die Bändchen fest.

»Ich frage mich nur, was man mit einer so alten Frau einen ganzen Nachmittag lang anstellen kann?«

Belinda zerbiss die Schokostange in ihrem Mund, dass es krachte.

»Oh, mit Omas kenne ich mich aus.«

Das hatte ich gehofft, schließlich hatte sie eine Oma, die nur drei Häuser weiter wohnte.

»Also, Omas gucken wahnsinnig gerne fern. Am liebsten Verkaufssendungen, wo man Ringe, Fensterreiniger und Gemüseschneider kaufen kann. Dabei kann man mit ihnen Süßigkeiten essen, denn ihre Schränke sind voll davon. Und Omas verlieren ständig ihre Brille. Du könntest ihr also beim Suchen helfen.«

»Machen Ur-Omas so etwas auch alles?«, fragte ich.

»Alt ist alt«, sagte Belinda. »Und vielleicht hast du Glück, und sie hat einen Rollstuhl. Damit kannst du dann herumkurven. Zu uns in den Kindergarten kam früher immer donnerstags eine Vorlese-Oma, aber nicht in einem Rollstuhl, sondern in einem schicken Cabrio. Also Omas lesen auch gerne vor. Du könntest dir was vorlesen lassen.«

»Ja, zum Beispiel das Buch, das du demnächst im Deutschunterricht vorstellen musst«, sagte Marlies.

Sie schob ihre Hand in die Hosentasche und beförderte einen Stapel Karteikarten zutage. Ich brauchte nicht hinzuschauen, um zu wissen, dass sie auf beiden Seiten mit Wissen gefüllt waren.

»Schade, dass sie schon so alt ist«, sagte Belinda. »Dann hast du vielleicht nicht mehr so lange was davon.«

»Papa meint, sie stirbt vermutlich bald«, bestätigte ich.

Marlies zupfte an dem Gummiband, das ihre Karteikarten zusammenhielt und nickte.

»Die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen liegt bei 77 Jahren. Allerdings hat in Kuba mal eine Frau gelebt, die ist 127 geworden. Und mit 100 ist sie noch Fahrrad gefahren.«

Belinda pfiff durch die Zähne und schaute den Schokokrümeln nach, die zwischen ihren Lippen heraussprühten.

»Dann hättest du noch 30 Jahre Zeit, um an ihr Geld zu verdienen. Da kommt ordentlich was zusammen. Hast du schon eine Idee, was du damit anstellst?«

»Ich bin mir noch nicht sicher.«

Das war etwas geflunkert. Schließlich fragte ich mich seit Wochen, wie ich bloß das Geld dafür zusammenbekommen sollte. Aber gerade jetzt auf der zugigen Treppe mit kalten Füßen hatte ich Angst, sie würden meine Begeisterung nicht teilen und mir nur müde zunicken und etwas Langweiliges wie »ja, ganz nett« sagen. Ich wollte keinen Dämpfer auf meine Begeisterung, nein, das wollte ich nicht.

»Aber irgendeine Idee hast du schon«, bohrte sie weiter.

Ich schaute zwei Jungen aus unserer Klasse dabei zu, wie sie sich gegenseitig nasse gelbe Blätter in den Kragen steckten, und gab ein »Nö« von mir. Schmollend schob Belinda die Lippe vor. Sie war der Meinung, dass sich Freundinnen immer und ohne Ausnahme die geheimsten Dinge verraten mussten. Ihr wäre es am liebsten, unsere Schädeldecken würden aus Glasbausteinen bestehen. Marlies schaute zur Uhr über dem Eingang.

»Kommt, ich frage euch schnell noch Physik ab. In sieben Minuten schreiben wir die Arbeit.«

Sie schob ihre Brille auf der Nase ein Stückchen aufwärts. »Also, was passiert mit einem Wasserstrahl, wenn …«

Da platzte Belinda dazwischen: »Ich habe übrigens auch ein Geheimnis.«

Marlies seufzte, und ich fragte: »Was denn für eins?«

»Verrate ich dir nicht.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Na gut!«

Hatte ich mir ja auch gleich gedacht, dass es nur die Rache für meine Verschwiegenheit war. Marlies seufzte.

»Also, was macht der Wasserstrahl, wenn man einen Ballon, den man vorher …

»Melli bekommt Babys«, platzte Belinda heraus.

Melli war Belindas verrücktes Meerschwein. Verrückt deshalb, weil sie jedes Mal wie eine Verrückte Kreise in ihre Sägespäne flitzte, wenn sie eine Mohrrübe erspähte. Sie hatte auch schon mal einen grünen Filzstift für eine Mohrrübe gehalten, was bedeutet, dass sie nicht nur farbenblind, sondern auch noch weitsichtig sein musste.

»Klingt toll«, sagte ich und stellte mir eine Herde quiekender Meerschweinchen vor, die ohne Pause Kreise rannten.

»Wenn ihr wollt, könnt ihr eins haben.«

»Nein, danke«, sagte ich.

»Wieso? Magst du Melli nicht?!«

Oh, da war ich schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten, aber Marlies rettete mich.

»Woher weißt du, dass sie Babys bekommt?«, fragte sie. »Warst du mit ihr beim Arzt?«

»Nö, aber das weiß ich einfach. Ihr Bauch ist ganz rund und prall, richtig aufgebläht wie ein Ballon, und sie liegt nur noch in der Ecke. Genauso ist das, bevor Meerschweinchen Junge bekommen. Das habe ich mal gelesen. In Hexe Willburga. Kennt ihr das? Hexe Willburga dachte erst, ihr Meerschweinchen Rübe sei krank, aber dabei hatte es den Bauch voller kleiner Babys.«

»Hatte sie denn Sex?«, fragte ich.

»Wie bitte?«

»Na, Melli, Sex, du weißt schon, das …«

»He!« Marlies zupfte uns ungeduldig am Ärmel »Kommt jetzt. Biologie machen wir später. Jetzt ist Physik dran.«

Drittes Kapitel, in dem ich so was wie eine Geschäftsfrau werde

Ich konnte es kaum glauben! Ich starrte stumm das Ding an, das Mama für mich auf den Küchentisch gelegt hatte. Ich traute mich nicht, es zu berühren, aus Angst es könnte sich in Luft auflösen – wie eine Fata Morgana in der Wüste. Zwei Jahre hatte ich dafür gekämpft – mal mit Worten, mal mit Tränen. Und jetzt bekam ich es einfach so. Mit einem »hier«, als würde meine Mutter mir bloß mein Pausenbrot auf den Tisch legen.

»Was ist?«, fragte Mama.

Und als ich nicht antwortete, sondern nur einmal schluckte, erklärte sie: »Es ist besser, wenn du ein Handy hast. Falls du mit Oma Hilde nicht weiterweißt. Wenn du plötzlich Fragen hast. Oder sonst was passiert.«

Ich nickte abermals.

»Los, steck es ein, bevor ich es mir noch anders überlege.«

In null Komma nix steckte ich es ein. Es brannte in meiner Hosentasche.

»Ich habe dir meine Nummern eingespeichert. Unter ›Mama Fest‹ und ›Mama Mobil‹. Auch die von Papa. Und unter ›Stresemann‹ findest du Oma Hildes. Und jetzt komm endlich. Sonst bist du gleich das erste Mal zu spät.«

 

Kurz darauf saßen wir im Auto. Es war Dienstag und mein erster Arbeitstag. Ich trug eine frische Bluse und einen Scheitel. Ich wollte einen guten Eindruck machen. In meinem Bauch, Höhe Bauchnabel, hatte ich ein Flattern. Ich versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen, wie Marlies es mir erklärt hatte, wenn ich Bammel vor einer Klassenarbeit hatte. Ich tastete nach meinem nagelneuen Handy in der Tasche. Es fühlte sich supergut an, kühl und glatt. Jetzt konnte ich meinen Freundinnen jederzeit eine Nachricht senden. Ich klappte es auf und tippte auf Menü.

»He, spiel nicht die ganze Zeit auf deinem Handy herum.«

Ich begegnete Mamas Blick im Rückspiegel. »Ich sage dir gleich, wenn ich merke, dass du handysüchtig wirst oder wenn deine Finger Hornhaut bekommen, weil du ständig darauf herumtippst, kommt das Ding wieder weg! Verstanden?«

»Verstanden.«

Also guckte ich aus dem Fenster und sah, dass wir in der Gegend mit den großen Häusern angekommen waren. Sie hatten die Farbe von Herbstlaub, das zu lange auf der feuchten Straße gelegen hatte. Unzählige Fenster reihten sich die Häuserwände empor.

»15b, da ist es.«

Es krachte im Getriebe, als Mama den Rückwärtsgang einlegte, um die letzte freie Parklücke zu besetzen. »Komm!«

Ich stieg aus.

»Hast du keine Mütze?«

»Wozu?«

»Ich dachte, nur falls ihr mal rausgeht.«

Ich schaute in den Himmel hinauf, der aussah, als würde er nie wieder etwas wie eine Sonne zu bieten haben. Rausgehen, bei dem Wetter, das hatte mir niemand gesagt. Außerdem hätte eine Mütze meinen schönen geraden Scheitel zerstört.

 

Neben der Eingangstür von 15b gab es ein Meer aus Klingelknöpfen und Briefkastenschlitzen. Ich beugte mich herunter, um die Namen auf den Schildern zu lesen. Ich tat es, um Zeit zu gewinnen. Aber Mama hatte die Tür bereits aufgeschoben.

»Lulu, komm!«

»Gleich.«

»Lulu!«

Drinnen war es ziemlich schummerig und gar nicht einladend. Eine Mischung aus Essig und Zitrone bitzelte in meiner Nase. Meine Schuhe machten quietschende Geräusche auf den langen Fluren, sie hallten von den Wänden wider. Wir bogen zweimal um eine Ecke, bevor Mama vor einer grauen Tür stehen blieb und sich dicht vors Namensschild beugte. Aber es war zu dunkel. Sie tastete nach einem Lichtschalter, und von jetzt auf gleich war es so hell, dass ich blinzeln musste.

»Hilde Stresemann, hier steht’s. Wir sind richtig.« Mama zog ihren Handschuh aus und drückte die Klingel und wartete. Nichts passierte. Ich atmete auf, Mama seufzte.

»Ist vermutlich eingeschlafen.«

»Kommen wir halt ein anderes Mal wieder«, sagte ich.

Mama versuchte es mit Sturmklingeln und lauschte erneut. Da hörten wir durch die Tür eine Stimme, leise und krächzend: »Schlüssel liegt unter der Matte.«

Mama bückte sich und fand einen kleinen Schlüssel mit einer roten Kappe. Ich hielt ihren Arm fest.

»Vielleicht ist das doch keine gute Idee.«

»Was?«

Und dann schwang die Tür von ganz alleine auf.

Vor uns stand eine große breite Frau mit Lippen, die so rot leuchteten wie das Ampellicht, an dem Mama vorhin vorbeigebraust war. Sie war alt, aber nicht so alt, wie ich sie mir vorgestellt hatte, höchstens ein paar Jahre älter als Mama. Und sie sah so aus, als könnte sie noch sehr gut selbst für sich sorgen.

»War gerade im Bad«, sagte sie. »Hallo, mein Name ist Agathe.«

Sie schüttelte erst Mama und dann mir die Hand, und ich spürte wie ihr Blick einmal an mir rauf- und wieder runterwanderte. Es war mir unangenehm.

»Und du willst dich also um alte Dame kümmern. Hoffe, ich kann mich auf dich verlassen.«

Sie schaute mir in die Augen ohne zu blinzeln, so lange, bis ich nickte. Dann nahm sie meinen Arm, um mich aus dem dunklen Flur in einen größeren helleren Raum zu bugsieren. Ein riesiger Sessel stand genau in der Mitte. Er war mit rotem Samt überzogen, und seine Armlehnen standen zu beiden Seiten ab, wie abgesägte Tragflächen eines Flugzeugs. In ihm saß aufrecht wie eine Zwergenkönigin eine sehr alte Frau. Nie zuvor hatte ich so viele Falten in einem einzigen Gesicht gesehen. Wie die Strahlen der Sonne breiteten sie sich von ihrem Mund und ihren Augen aus. Ihr Haar war stufig geschnitten, fiel ihr bis zum Kinn und hatte mehr rote Schattierungen als mein Tuschkasten. Es war so dünn, dass ihre beachtlichen Ohren daraus hervorlugten, und sie blickte mir durch die Gläser ihrer viel zu großen Brille entgegen. Das also war Oma Hilde. Zum Glück sah sie kein bisschen gefährlich aus. Mama ging mit großen Schritten auf sie zu.

»Hallo Hilde, he, wie geht es dir, hast du es dir gemütlich gemacht?«

Sie beugte sich über Oma Hilde und schüttelte ihr die Hand. »Ich hab dir Lulu mitgebracht. Meine Tochter. Lulu, komm, sag Oma Hilde ›Guten Tag‹.«

Oma Hildes Hand fühlte sich weich und zerbrechlich an. Ich drückte lieber nicht so fest zu.

Mama fischte ein Kissen vom Bett und steckte es Oma Hilde hinter den Rücken.

Agathe nahm erneut meinen Arm in den Klammergriff, um mir die Küche zu zeigen, oder was man so Küche nennen kann. Ein Wasserhahn neben zwei Kochplatten hinter einem Vorhang. Agathe tippte auf die Kühlschranktür unter einer Puppenspüle.

»Hier ist alles drin. Um siebzehn Uhr dreißig braucht Frau Stresemann Abendbrot. Aber du musst die Rinde abschneiden, sonst verschluckt sich.«

Ich drehte mich zu Oma Hilde und fragte mich, was sie wohl dachte, wenn sie Agathe so über sich reden hörte. Ben musste man auch die Rinde vom Brot schneiden, weil er noch mit dem Kauen Probleme hatte. Aber Oma Hilde hatte schließlich genügend Zeit in ihrem Leben gehabt, um das Kauen ordentlich zu lernen. Oma Hilde ließ sich auf jeden Fall nicht anmerken, wie sie darüber dachte. Sie schaute irgendwohin auf den Boden und ließ ihre Daumen umeinanderkreisen.

Agathe nahm ihren Mantel von einer Stuhllehne und zwängte sich hinein. »Und pass auf, sie darf nicht im Zug sitzen. Leg ihr einen Schal um den Hals, wenn du das Fenster aufmachst. Und wenn sie zur Toilette muss, dann musst du sie stützen bis zur Tür. Im Bad kann sie alleine.«

Ich nickte.

»Ansonsten klappt es schon. Hast Fragen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Na, ich bin um 18 Uhr zurück. Wird die Welt schon nicht untergehen.«

Sie verabschiedete sich von Mama.

»Oh, ich gehe gleich mit Ihnen«, sagte Mama. »Das Büro wartet.«

»Wiedersehen, Frau Stresemann«, rief Agathe über ihre Schulter.

»Tschüs, Hilde«, rief Mama.

Dann fiel die Tür ins Schloss, und es wurde sehr still.

Ich schaute Oma Hilde an. Und Oma Hilde schaute mich an.

»Tja«, sagte ich.

»Tja«, sagte Oma Hilde.

Und dann merkte ich, dass mein Kopf leer war wie eine geplatzte Wasserbombe. Keine einzige Idee war noch drin, was man mit Omas so anfangen kann. Ich setzte mich Oma Hilde gegenüber und dachte, dass der Job möglicherweise doch nicht so leicht war, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.

Viertes Kapitel, in dem Oma Hilde Bekanntschaft mit einem Killer macht