Der Hund der Baskervilles - Sir Arthur Conan Doyle - E-Book

Der Hund der Baskervilles E-Book

Sir Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

"Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache" (Sherlock Holmes). "Im Jahr 1878 hatte ich meinen Doktor an der Medizinischen Fakultät der Universität London gemacht und im Royal Victoria Military Hospital Netley die für Militärärzte vorgeschriebene medizinische Spezialausbildung absolviert." - So beginnt ein Mythos. Sir Arthur Conan Doyles Detektivgeschichten wurden oft kopiert, vielfach verfilmt und mehr als einmal fürs Fernsehen adaptiert. Aber woher rührt eigentlich die Faszination für den kühlen Logiker Sherlock Holmes und seinen Kompagnon Dr. Watson? Viermal ließ der britische Autor sein berühmtes Duo insgesamt auf Romanlänge ermitteln, jeder Band avancierte rasch zum Klassiker der Kriminalliteratur. Der dritte Fall mit dem Originaltitel The Hound of the Baskervilles – Another Adventure of Sherlock Holmes erschien zuerst von August 1901 bis März 1902 als monatlicher Vorabdruck im "Strand Magazine". Die erste Buchausgabe folgte am 25. März 1902 bei Georges Newnes, London. Bei der vorliegenden Fassung handelt es sich um eine vollständige Neuübersetzung von Susanne Luber. Dazu gibt's ein Kompendium zum Holmes-Kosmos mit einem Who's who, einer Einführung in den Kriminalroman von Joachim Kalka und einer Doyle-Chronik.

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SIR ARTHUR CONAN DOYLE

Der Hund der Baskervilles

Der dritte Sherlock-Holmes-Roman Leipziger Ausgabe

Vollständig neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Susanne Luber

neu gefasst und mit Anmerkungen versehen von Gerd Haffmans

HAFFMANS VERLAG BEI ZWEITAUSENDEINS

Die englische Originalausgabe The Hound of the Baskervilles erschien zuerst von 1901 bis 1902 im Strand Magazine, London, die Buchausgabe folgte 1902 bei Georges Newnes, London, und McClure, Phillips & Co., New York. Die deutsche Erstausgabe erschien in der Übersetzung von Heinrich Darnoc im Verlag Richard Lutz, Stuttgart 1903. Weiteres in der Editorischen Notitz am Schluss des Bandes.

1. Auflage, Winter 2021. Alle Rechte vorbehalten. Alle Rechte an dieser Neuedition & Neuübersetzung vorbehalten. Copyright © 2021 by Haffmans Verlag bei Zweitausendeins Versand-Dienst GmbH, Bahnhofstr. 30, 82340 Feldafing. Gestaltung & Produktion: Zweitausendeins. Umschlagsillustration: Christiane Nebel. ISBN 978-3-96318-137-5

Inhalt

1. Kapitel: Mr Sherlock Holmes

2. Kapitel: Der Fluch der Baskervilles

3. Kapitel: Das Problem

4. Kapitel: Sir Henry Baskerville

5. Kapitel: Drei gerissene Fäden

6. Kapitel: Baskerville Hall

7. Kapitel: Die Stapletons von Merripit House

8. Kapitel: Dr Watsons erster Bericht

9. Kapitel: Das Licht im Moor (Dr Watsons zweiter Bericht)

10. Kapitel: Auszug aus Dr Watsons Tagebuch

11. Kapitel: Der Mann auf dem Black Tor

12. Kapitel: Tod auf dem Moor

13. Kapitel: Die Netze werden ausgelegt

14. Kapitel: Der Hund der Baskervilles

15. Kapitel: Ein Rückblick

ANHANG

Anmerkungen

Editorische Notiz

Kompendium

Bemerkungen zu Sherlock Holmes von Joachim Kalka

Eine Einführung in den Kriminalroman

Who’s Who

Kleine ACD-Chronik

1. Kapitel

Mr Sherlock Holmes

Mr Sherlock Holmes, der am Morgen normalerweise spät aufstand, sofern er nicht, was durchaus vorkam, die ganze Nacht wach blieb, saß am Frühstückstisch. Ich stand auf dem Kaminvorleger und nahm den Stock zur Hand, den unser Besucher am Abend zuvor hier vergessen hatte. Es war ein schönes, kräftiges Stück Holz mit kugelförmigem Knauf, ein Stock von der Sorte, die man als Penang Lawyer bezeichnet. Direkt unterhalb des Knaufes saß ein fast zollbreites silbernes Band. »Für James Mortimer, M. R. C. S. von seinen Freunden im C. C. H.« war darauf eingraviert, ergänzt durch das Datum »1884«. Es war der typische Stock eines altväterlichen Hausarztes – solide, würdevoll und vertrauenerweckend.

»Nun, Watson, was machen Sie daraus?«

Holmes kehrte mir den Rücken zu, und ich hatte durch nichts auf meine Beschäftigung schließen lassen.

»Woher wussten Sie, was ich gerade tue? Ich glaube wirklich, Sie haben Augen am Hinterkopf.«

»Jedenfalls habe ich eine blankpolierte silberne Kaffeekanne vor mir stehen«, antwortete er. »Aber sagen Sie, Watson, was lesen Sie aus dem Stock unseres Besuchers? Da wir ihn unglücklicherweise verfehlt haben und sein Anliegen nicht kennen, ist dieses zufällige Fundstück von gewisser Bedeutung. Lassen Sie hören, wie Sie sich den Mann vorstellen, nach seinem Stock zu urteilen.«

»Ich meine«, antwortete ich, indem ich mich nach besten Kräften bemühte, die Methoden meines Gefährten anzuwenden, »Dr Mortimer dürfte ein älterer Arzt mit gut gehender Praxis sein und überdies ein angesehener Mann, wenn ihm seine Freunde so ein Zeichen ihrer Wertschätzung schenken.«

»Gut«, sagte Holmes. »Ausgezeichnet!«

»Ferner denke ich, die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass er ein Landarzt ist, der einen guten Teil seiner Krankenbesuche zu Fuß macht.«

»Weshalb?«

»Weil dieser Stock, der ursprünglich sehr edel war, jetzt so abgeschabt ist, dass ich ihn mir kaum in der Hand eines Londoner Arztes vorstellen kann. Die dicke eiserne Spitze ist stark abgenutzt, was zeigt, dass sein Besitzer tüchtige Märsche damit unternommen hat.«

»Sehr einleuchtend«, sagte Holmes.

»Und dann, die Inschrift ›Freunde im C. C. H.‹ Ich möchte annehmen, das ›H‹ bezieht sich auf ›Hetzjagd‹ und gemeint ist eine ländliche Jagdgesellschaft. Vielleicht hat er deren Mitgliedern ärztlichen Beistand geleistet, wofür sie sich mit diesem Präsent bedankt haben.«

»Wirklich, Watson, Sie übertreffen sich selbst«, sagte Holmes, indem er seinen Stuhl zurückschob und sich eine Zigarette anzündete. »Ich muss sagen, dass Sie in all den Geschichten, in denen Sie freundlicherweise von meinen bescheidenen Leistungen erzählen, Ihre eigenen Fähigkeiten immer unter den Scheffel gestellt haben. Sie mögen vielleicht kein brillanter Denker sein, aber Sie verhelfen anderen zur Erkenntnis. Es gibt solche Menschen, die selbst kein Genie besitzen, dafür aber die bemerkenswerte Gabe, es in anderen zum Leuchten zu bringen. Ich muss zugeben, mein Lieber, dass ich tief in Ihrer Schuld stehe.«

Nie zuvor hatte er so viel gesagt, und ich gebe zu, dass seine Worte mich tief berührten, denn seine gleichgültige Haltung gegenüber meiner Bewunderung für ihn und gegenüber meinen Bemühungen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf seine Methoden zu lenken, hatten mich oft verletzt. Auch machte es mich nicht wenig stolz, dass ich mir seine Denkmethode gut genug angeeignet hatte, um sie in einer Art und Weise anzuwenden, die seinen Beifall fand. Er nahm mir den Stock aus der Hand und betrachtete ihn eine Weile mit bloßem Auge. Sein Interesse schien geweckt, denn er legte die Zigarette weg, trat mit dem Stock ans Fenster und nahm in noch genauer unter die Lupe.

»Interessant, wenn auch elementar«, sagte er, während er zu seiner Lieblingsecke des Sofas zurückkehrte. »Zweifellos gibt der Stock uns ein paar Anhaltspunkte und damit die Grundlage für mehrere Deduktionen.«

»Habe ich etwas übersehen?« fragte ich ein wenig selbstgefällig. »Ich hoffe doch, mir ist nichts Wichtiges entgangen?«

»Ich fürchte, mein lieber Watson, Ihre Schlussfolgerungen sind zum größten Teil falsch. Als ich sagte, Sie würden mich anregen, meinte ich damit, ehrlich gesagt, dass gerade Ihre Trugschlüsse mich gelegentlich auf die richtige Spur bringen. In diesem Fall liegen Sie aber nicht völlig falsch. Ganz bestimmt ist dieser Mann ein Landarzt. Und er ist viel zu Fuß unterwegs.«

»Dann hatte ich doch recht!«

»In diesem Punkt, ja.«

»Aber das ist doch alles.«

»Nein, nein, mein lieber Watson, das ist nicht alles – bei Weitem nicht alles. Ich würde es für wahrscheinlicher halten, dass ein Geschenk für einen Arzt eher von einem Hospital kommt denn von einer Jagdgesellschaft, und wenn vor dem ›H‹ die Buchstaben ›C. C.‹ stehen, kommt einem sofort ›Charing Cross Hospital‹ in den Sinn.«

»Da könnten Sie recht haben.«

»Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür. Und wenn wir das als Arbeitshypothese nehmen, haben wir eine neue Basis für die Rekonstruktion unseres unbekannten Besuchers.«

»Nun denn, nehmen wir an, ›C. C. H.‹ steht für ›Charing Cross Hospital‹ – welche weiteren Schlüsse können wir denn daraus ziehen?«

»Finden Sie nicht, dass diese sich geradezu aufdrängen? Sie kennen meine Methoden. Wenden Sie sie an!«

»Mir fällt lediglich der naheliegende Schluss ein, dass der Mann erst in London praktiziert hat, bevor er aufs Land gezogen ist.«

»Ich glaube, wir dürfen ruhig noch ein wenig weiter gehen. Betrachten Sie die Sache aus folgendem Blickwinkel: Bei welcher Gelegenheit wird so ein Geschenk normalerweise gemacht? Wann tun Freunde sich zusammen, um jemandem als Zeichen ihrer Wertschätzung ein Präsent zu verehren? Vermutlich zu dem Zeitpunkt, als Dr Mortimer seinen Dienst im Krankenhaus quittiert hat, um eine eigene Praxis zu eröffnen. Wir wissen, dass der Stock ein Geschenk ist. Wir nehmen an, dass der Mann von einem Londoner Krankenhaus in eine Landarztpraxis gewechselt ist. Gehen wir in unseren Schlussfolgerungen zu weit, wenn wir annehmen, das Geschenk wurde ihm anlässlich seines Abschieds gemacht?«

»Das klingt jedenfalls sehr wahrscheinlich.«

»Sie müssen nun bedenken, dass er nicht zum festen Stab des Krankenhauses gehört haben kann, denn so eine Stellung kann nur ein Arzt bekleiden, der auch eine gut etablierte Londoner Praxis besitzt, und ein solcher würde nicht aufs Land ziehen. Was für ein Arzt war er also? Wenn er am Krankenhaus gearbeitet hat, dort aber nicht zum Stammpersonal gehörte, kann er nur ein Assistenzarzt gewesen sein – kaum mehr als ein Medizinstudent in der letzten Phase seiner Ausbildung. Vor fünf Jahren hat er seinen Dienst im Krankenhaus quittiert – das Datum steht auf dem Stock. So löst sich Ihr seriöser Hausarzt gesetzten Alters in Luft auf, mein lieber Watson, und vor unseren Augen erscheint ein junger Mann von kaum dreißig Jahren, liebenswürdig, ohne großen Ehrgeiz, zerstreut, sowie Besitzer eines Lieblingshundes, den ich grob beschreiben möchte als größer denn ein Terrier, aber kleiner als eine Dogge.«

Ich lachte ungläubig, während Sherlock Holmes sich im Sofa zurücklehnte und kleine Rauchringe zur Zimmerdecke blies.

»Ihre letzten Behauptungen kann ich nicht überprüfen«, sagte ich, »aber es ist unschwer möglich, genauere Angaben bezüglich seines Alters und seiner beruflichen Karriere zu finden.«

Ich nahm von dem schmalen Bücherregal, auf dem meine medizinischen Werke stehen, das Ärzteverzeichnis herunter und schlug den Namen nach. Es gab mehrere Mortimers, aber nur einer passte auf unseren Besucher. Ich las den Eintrag laut vor:

»Mortimer, James, M. R. C. S., 1882, Grimpen, Dartmoor, Devon. Assistenzarzt am Charing Cross Hospital 1882 –1884. Gewinner des Jackson-Preises für vergleichende Pathologie für die Abhandlung ›Ist Krankheit ein Atavismus?‹ Korrespondierendes Mitglied der Schwedischen Gesellschaft für Pathologie. Autor von ›Einige Formen des Atavismus‹ (Lancet, 1882) und ›Machen wir Fortschritte?‹ (Journal of Psychology, März 1883). Gemeindearzt für Grimpen, Thorsley und High Barrow.«

»Keine Erwähnung einer ländlichen Jagdgesellschaft, Watson«, sagte Holmes mit verschmitztem Lächeln, »aber ein Landarzt, wie Sie scharfsinnig geschlossen haben. Mir scheint, meine Schlussfolgerungen waren nicht unberechtigt. Was aber seine persönlichen Eigenschaften betrifft, so habe ich ihn, wenn ich mich nicht irre, liebenswürdig, ohne großen Ehrgeiz und zerstreut genannt. Nun, nach meiner Erfahrung bekommt auf dieser Welt nur ein liebenswürdiger Mensch ein Abschiedsgeschenk, nur ein wenig ehrgeiziger Mann tauscht eine Karriere in London gegen eine Existenz in der Provinz, und nur ein zerstreuter Mensch lässt seinen Stock zurück statt seiner Visitenkarte, nachdem er eine Stunde lang hier in unserem Wohnzimmer gewartet hat.«

»Aber der Hund?«

»Hat die Gewohnheit, seinem Herrn den Stock nachzutragen. Es ist ein schwerer Stock, deshalb packt der Hund ihn fest in der Mitte; die Spuren seiner Zähne sind deutlich zu sehen. Der Kiefer des Hundes ist, nach dem Abstand der Zahnabdrücke zu schließen, meiner Meinung nach zu breit für einen Terrier und nicht breit genug für eine Dogge. Vielleicht war es – ja natürlich, beim Jupiter! Es ist ein Spaniel mit gelocktem Fell!«

Er war aufgestanden und im Zimmer auf und ab gegangen, während er sprach. Nun stand er im Erkerfenster, und seine Stimme klang so überzeugt, dass ich ihn überrascht ansah.

»Mein lieber Freund, wie können Sie sich dessen so sicher sein?«

»Aus dem höchst einfachen Grund, weil ich den Hund vor unserer Türschwelle sitzen sehe – und da klingelt auch schon sein Herr. Gehen Sie nicht, Watson, ich bitte Sie. Er ist ein Kollege von Ihnen, und Ihre Gegenwart könnte von Nutzen sein. Und jetzt, Watson, erleben wir den dramatischen, schicksalhaften Moment, da ein Schritt auf der Treppe ertönt und ein Mensch in unser Leben tritt, von dem wir nicht wissen, ob er Gutes oder Böses bringt. Was begehrt Dr James Mortimer, der Mann der Wissenschaft, von Sherlock Holmes, dem Spezialisten für die Welt des Verbrechens? Herein!«

Die äußere Erscheinung unseres Besuchers war eine Überraschung, denn ich hatte die typische Figur eines praktizierenden Landarztes erwartet. Er war sehr groß und sehr hager, mit einer langen, an einen Vogelschnabel erinnernden Nase zwischen zwei scharfen, grauen, dicht zusammenstehenden Augen, die durch eine goldgefasste Brille funkelten. Er war seinem Berufsstand entsprechend, aber etwas nachlässig gekleidet, denn sein Gehrock wirkte ein wenig schmuddelig und seine Beinkleider waren etwas abgetragen. Trotz seiner Jugend war sein langer Rücken bereits gebeugt, so dass er beim Gehen den Kopf leicht vorgestreckt hielt, was den Eindruck wohlwollender Neugier erweckte. Als er eintrat, fiel sein Blick sogleich auf den Stock, den Holmes noch in der Hand hielt, und er trat mit einem freudigen Ausruf auf ihn zu.

»Da bin ich aber froh!« rief er. »Ich war nicht sicher, ob ich ihn hier oder bei der Schiffsagentur stehen gelassen hatte. Nicht um alles in der Welt möchte ich diesen Stock missen!«

»Ein Geschenk, wie ich sehe«, bemerkte Holmes.

»Ja, Sir.«

»Vom Charing Cross Hospital?«

»Von ein paar Freunden dort anlässlich meiner Hochzeit.«

»O je, wie dumm!« rief Holmes kopfschüttelnd.

Dr Mortimer blinzelte in gelindem Erstaunen durch seine Brillengläser.

»Wieso dumm?«

»Ach, nur weil Sie damit unsere netten kleinen Deduktionen zunichtegemacht haben. Anlässlich Ihrer Hochzeit, sagten Sie?«

»Ja, Sir. Ich habe geheiratet, deshalb musste ich meine Arbeit am Charing Cross aufgeben und damit auch alle Hoffnungen auf eine Konsultationspraxis. Ich war ja genötigt, einen eigenen Hausstand zu begründen.«

»Na also, dann lagen wir ja doch nicht so falsch«, meinte Holmes. »Aber nun, Dr James Mortimer …«

»Mister, Sir, ich bin kein Doktor – nur ein schlichtes Mitglied des Royal College of Surgeons, M. R. C. S.«

»Und offensichtlich ein Mann von scharfem Verstand.«

»Ein Amateur auf dem Gebiet der Wissenschaft, Mr Holmes, ein Dilettant, der an der Küste dieses weiten, unbekannten Ozeans Muscheln aufliest. Ich nehme doch an, dass ich mit Mr Sherlock Holmes spreche und nicht …?«

»Ganz recht, dies hier ist mein Freund Dr Watson.«

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Sir. Ich kenne Ihren Namen in Verbindung mit dem Ihres Freundes. Sie interessieren mich außerordentlich, Mr Holmes. Ich hatte weder einen so ausgeprägt dolichocephalen Schädel noch eine so starke Entwicklung des Supraorbitalschilds erwartet. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich einmal mit dem Finger über Ihre Schädelnaht fahre? Ein Gipsmodell Ihres Schädels, Sir, wäre die Zierde jedes anthropologischen Museums, solange das Original nicht zur Verfügung steht. Jede Art von Übertreibung liegt mir fern, aber ich muss sagen, Ihren Schädel würde ich nur allzu gern besitzen.«

Sherlock Holmes lud unseren kuriosen Besucher mit einer Handbewegung zum Sitzen ein.

»Sie sind auf Ihrem Gebiet ein ebenso großer Enthusiast wie ich auf meinem«, sagte er. »Ich sehe an Ihrem Zeigefinger, dass Sie Ihre Zigaretten selbst drehen. Bitte haben sie keine Hemmungen, sich eine anzuzünden.«

Mortimer holte Tabak und Zigarettenpapier aus seiner Rocktasche und rollte beides mit erstaunlicher Geschicklichkeit zusammen, wobei die Bewegungen seiner langen, agilen Finger an die rastlosen Fühler eines Insekts erinnerten.

Holmes schwieg, aber die raschen forschenden Blicke, die er auf unseren seltsamen Gast warf, verrieten mir, dass sein Interesse geweckt war.

»Ich nehme an, Sir«, sagte er schließlich, »dass es nicht lediglich die Absicht war, meinen Schädel in Augenschein zu nehmen, was mir die Ehre Ihres Besuches gestern Abend und am heutigen Vormittag beschert hat?«

»Nein, Sir, nein – obwohl ich mich glücklich schätze, diese Gelegenheit wahrnehmen zu dürfen. Ich bin zu Ihnen gekommen, Mr Holmes, weil mir bewusst ist, dass ich kein sonderlich lebenspraktischer Mensch bin, und weil ich mich ganz unvermutet vor ein ungewöhnliches und sehr ernstes Problem gestellt sehe. Und da ich weiß, dass Sie in solchen Fällen der zweitbeste Experte in Europa sind –«

»So? Darf ich fragen, wer die Ehre hat, der beste zu sein?« fragte Holmes mit einer gewissen Schärfe.

»Auf einen Mann von streng wissenschaftlicher Denkart wird Monsieur Bertillons Methode stets höchst überzeugend wirken.«

»Täten Sie dann nicht besser daran, ihn um Rat zu fragen?«

»Ich habe gesagt, Sir, für einen Mann von streng wissenschaftlicher Denkart. Aber als Mann der Praxis stehen Sie nach allgemeiner Anschauung unerreicht da. Ich will doch hoffen, Sir, dass ich nicht unabsichtlich …«

»Nicht der Rede wert«, antwortete Holmes. »Ich glaube, Dr Mortimer, es wäre gut, wenn Sie mir jetzt ohne weitere Umschweife klar und deutlich vortrügen, welcher Art das Problem ist, bei dem Sie meinen Beistand wünschen.«

2. Kapitel

Der Fluch der Baskervilles

Ich habe ein Manuskript mitgebracht«, sagte Dr James Mortimer.

»Das sah ich bereits, als Sie ins Zimmer traten«, antwortete Holmes.

»Es ist eine alte Handschrift.«

»Frühes achtzehntes Jahrhundert, vorausgesetzt, es ist keine Fälschung.«

»Wie kommen Sie darauf, Sir?«

»Ein Streifen davon war die ganze Zeit sichtbar, so dass ich die Schrift betrachten konnte, während wir miteinander sprachen. Das wäre ein armseliger Experte, der eine Handschrift nicht auf ein Jahrzehnt genau datieren kann. Vielleicht haben Sie meine kleine Monographie zu diesem Thema gelesen. Ich schätze das Alter des Dokuments auf etwa 1730.«

»Das genaue Datum ist 1742.« Dr Mortimer zog das Manuskript aus seiner Brusttasche. »Dieses Familiendokument ist mir von Sir Charles Baskerville anvertraut worden, dessen plötzlicher tragischer Tod vor rund drei Monaten in der Grafschaft Devonshire so großes Aufsehen erregt hat. Ich darf wohl sagen, dass ich nicht nur sein ärztlicher Berater war, sondern auch sein persönlicher Freund. Er war ein energischer Mann, Sir, scharfsinnig, praktisch veranlagt und ebenso wenig anfällig für irgendwelche phantastischen Hirngespinste wie ich selbst. Trotzdem hat er dieses Schriftstück sehr ernst genommen, und so war er innerlich auf jenen Tod vorbereitet, der ihn schließlich ereilt hat.«

Holmes nahm das Manuskript in die Hand und strich es auf seinem Knie glatt.

»Sie werden bemerken, Watson, dass die lange und die kurze Form des ›S‹ abwechselnd gebraucht werden. Dies ist einer der Indikatoren, die es mir ermöglichten, die Handschrift zu datieren.«

Ich blickte ihm über die Schulter und betrachtete das vergilbte Papier und die verblasste Schrift. Am Kopf des Blattes stand »Baskerville Hall« und am Schluss in großen krausen Ziffern »1742«.

»Es scheint eine Art Bericht zu sein.«

»Ja, es ist die Aufzeichnung einer Familienlegende, die im Geschlecht der Baskervilles überliefert ist.«

»Aber wenn ich Sie recht verstehe, ist Ihr Anliegen von einer mehr gegenwärtigen, praktischen Natur?«

»Nur allzu gegenwärtig, allerdings. Eine höchst reale und dringliche Angelegenheit, in der binnen vierundzwanzig Stunden eine Entscheidung fallen muss. Aber dieses Dokument ist nicht lang, und es ist mit der Sache aufs Engste verbunden. Wenn Sie gestatten, lese ich es vor.«

Holmes lehnte sich im Sessel zurück, legte die Fingerspitzen gegeneinander und schloss resigniert die Augen. Dr Mortimer hielt das Manuskript ins Licht und las mit seiner hohen, etwas heiseren Stimme die nachfolgende Erzählung aus alten Zeiten:

»Um den Ursprung des Hundes der Baskervilles ranken sich mancherlei Legenden, aber da ich in direkter Linie von Hugo Baskerville abstamme und die Historie von meinem Vater gehört habe, dem sie wiederum von seinem Vater überliefert worden ist, schreibe ich sie hier nieder in der festen Überzeugung, dass sich alles genau so zugetragen hat, wie ich es hier berichten werde. Ich will und wünsche, dass Ihr, meine Söhne, in dem festen Glauben leben sollt, dass jene höhere Gerechtigkeit, die uns für unsere Sünden straft, dieselben auch in überreicher Gnade vergeben kann und dass kein Fluch so mächtig ist, dass er nicht durch Gebet und tätige Reue überwunden werden kann. Möget Ihr aus dieser Geschichte lernen, nicht die Früchte der Vergangenheit zu fürchten, sondern in der Zukunft Umsicht walten zu lassen, auf dass jene verruchten Leidenschaften, die unserem Geschlecht so schweres Leid zugefügt haben, niemals wieder zu unserem Schaden entfesselt werden mögen.

Wisset also, dass in der Zeit der Großen Rebellion (deren Geschichte, aufgezeichnet von dem gelehrten Lord Clarendon, ich Euch recht angelegentlich zur Lektüre empfehle) der Herrensitz der Baskervilles im Besitz von Hugo desselben Namens war, und dieser war unleugbar ein wilder, lasterhafter und gottloser Mann. Dies hätten seine Nachbarn ihm wohl noch verzeihen mögen, sintemalen in den hiesigen Landstrichen Heilige niemals haben gedeihen wollen; aber ihm waren Wollust und Grausamkeit in solchem Maße zu eigen, dass sein Name im ganzen Westen Englands sprichwörtlich wurde. Nun begab es sich, dass dieser Hugo zur Tochter eines Freibauern, dessen Land an den Besitz der Baskervilles grenzte, in Liebe entbrannte (sofern man eine so schändliche Leidenschaft wie die seine mit einem so edlen Wort benennen darf). Aber die junge Maid, die züchtig und ehrbar war, verstand es, seine Nähe zu meiden, denn sie kannte und fürchtete seinen schlimmen Ruf. Es begab sich aber, dass jener Hugo an einem Sankt-Michaelis-Tag, als er wusste, dass ihr Vater und ihre Brüder fort waren, zusammen mit fünf oder sechs seiner ruchlosen, frevelhaften Gesellen in das Haus des Freibauern eindrang und das Mädchen entführte. Sie schleppten die Maid zum Herrenhaus und schlossen sie in einem Zimmer im obersten Stockwerk ein, und darauf setzten Hugo und seine Kumpane sich zu einem üppigen Zechgelage, wie sie es allnächtlich zu tun pflegten. Dem armen Mädchen dort oben mochten wohl die Sinne geschwunden sein, als sie das Singen und Grölen und das entsetzliche Fluchen hörte, das von unten heraufscholl, denn man sagt, dass solche Worte, wie Hugo Baskerville sie im Weinrausch ausstieß, jedem, der sie in den Mund nahm, sogleich das Tor zur Hölle geöffnet hätten. Zuletzt tat sie in ihrer Verzweiflung etwas, was auch der tapferste und gewandteste Mann kaum gewagt hätte – sie benutzte das Efeugestrüpp, das die Südwand des Herrenhauses bedeckte (und das sie noch immer bedeckt), und kletterte daran hinunter, von ihrem Gefängnis oben unter dem Dach bis auf den festen Erdboden, und dann floh sie quer über das Moor zu ihrem Vaterhaus. Es lagen aber drei Wegstunden zwischen dem Herrenhaus und dem Hof ihres Vaters.

Kurz darauf verließ Hugo seine Gäste, um seiner Gefangenen Speise und Trank – und vielleicht auch Schlimmeres – zu bringen, da fand er den Käfig leer und den Vogel entflohen. Und nun schien es, als würde der Teufel in ihn fahren, denn er stürzte die Treppen hinunter in den Speisesaal und sprang mit einem wilden Satz auf den großen Tisch, dass die Flaschen und Platten nur so tanzten, und er schrie den Tafelnden zu, noch in selbiger Nacht wolle er sich mit Leib und Seele dem Bösen verschreiben, wenn er nur die Dirne bekommen könnte. Und während seine Saufkumpane noch voller Entsetzen auf den Rasenden starrten, rief einer von ihnen, der noch verruchter war als die anderen, oder vielleicht auch nur noch betrunkener, man solle die Hunde auf sie hetzen. Da rannte Hugo aus dem Haus und schrie seinen Stallknechten zu, sie sollten sein Pferd satteln und die Meute aus dem Zwinger lassen. Er warf den Hunden ein Halstuch des Mädchens hin und ließ sie die Fährte aufnehmen, und dann ging die wilde Jagd wie der Sturmwind über das vom Mondlicht erhellte Moor.

Die Zechkumpane standen eine Weile starr vor Verblüffung; sie vermochten kaum zu begreifen, was sich da in solcher Hast abgespielt hatte. Aber dann dämmerte in ihren umnebelten Hirnen eine Ahnung auf, was sich dort auf dem Moor wohl begeben würde. Alles geriet in Aufruhr, die einen riefen nach ihren Pistolen, die anderen nach ihren Pferden, und wieder andere nach mehr Wein. Endlich kehrte ein wenig Vernunft in ihre wirren Köpfe ein, und die ganze Gesellschaft, dreizehn an der Zahl, sprang auf ihre Pferde und nahm die Verfolgung auf. Der Mond schien hell vom Himmel, und Seite an Seite sprengten sie in die Richtung, die das Mädchen genommen haben musste, um ihr väterliches Haus zu erreichen.

Sie hatten eine oder zwei Meilen zurückgelegt, da begegneten sie einem Schafhirten, der nachts im Moor Wache hielt, und sie schrien ihm zu, ob er nicht die wilde Jagd gesehen hätte. Der Mann aber, so berichtet die Legende, war so von Angst geschüttelt, dass er kaum reden konnte. Endlich aber sagte er, er habe die Unglückliche tatsächlich gesehen, und auch die Meute auf ihrer Spur. ›Aber ich habe noch mehr gesehen‹, sagte er. ›Hugo Baskerville sprengte auf seiner schwarzen Stute an mir vorüber, und hinter ihm lief lautlos ein Hund – ein solcher Höllenhund, wie Gott ihn mir niemals auf die Fersen hetzen wolle!‹

Die bezechten Junker bedachten den Schäfer mit Flüchen und galoppierten weiter. Aber nach kurzer Zeit überlief es sie kalt, denn vom Moor her hörten sie ein galoppierendes Pferd näher kommen, und die schwarze Stute raste, mit weißem Schaum bedeckt, an ihnen vorüber – mit schleifendem Zügel und leerem Sattel. Da drängten die Zechbrüder sich eng aneinander, denn Furcht überkam sie. Aber sie ritten weiter, obwohl jeder Einzelne von ihnen, wäre er allein gewesen, nur allzu gern sein Pferd herumgeworfen hätte. Sie trabten langsam voran, und schließlich fanden sie die Meute. Die Hunde, die doch bekannt waren für ihre edle Rasse und ihre Tapferkeit, drängten sich am Rande eines Tales, eines goyal, wie wir es hier in Exmoor nennen, winselnd aneinander. Einige schlichen sich seitlich fort, andere starrten mit gesträubten Haaren und stieren Augen in das Tal hinein, das vor ihnen lag.

Die Reiter hatten angehalten, und die Herren waren, wie Ihr Euch denken könnt, jetzt viel nüchterner als bei ihrem Aufbruch. Die meisten wollten um keinen Preis weiterreiten, nur drei von ihnen, die Kühnsten oder die Betrunkensten, wagten sich in das Tal hinein. Dieses öffnete sich zu einer breiten Senke, in der zwei von jenen Steinriesen standen und auch heute noch stehen, die in uralten Zeiten von einem längst vergessenen Volk errichtet worden sind. Das Mondlicht fiel hell auf den grasigen Talgrund, und in der Mitte lag das unglückliche Mädchen, das dort vor Angst und Erschöpfung tot hingesunken war. Doch es war nicht der Anblick ihres Leichnams, und auch nicht der Anblick des toten Hugo Baskerville, der daneben lag, was den drei draufgängerischen Wüstlingen die Haare zu Berge stehen ließ, sondern es war das grausige Wesen, das über Hugos Leichnam stand und ihm die Kehle zerfleischte – eine riesige schwarze Bestie in Gestalt eines Hundes, aber viel größer als jeder Hund, den je eines Sterblichen Auge erblickt hatte. Vor ihren entsetzten Augen riss das Tier dem Hugo Baskerville die Gurgel heraus, und als es seine glühenden Augen und triefenden Lefzen den Reitern zuwandte, kreischten sie vor Angst laut auf und flohen schreiend über das Moor, als gälte es ihr Leben. Man sagt, einer von ihnen sei noch in derselben Nacht vor Entsetzen ob dieses Anblicks gestorben, und die beiden anderen blieben für den Rest ihrer Tage gebrochene Männer.

Dies, meine Söhne, ist die Geschichte vom Ursprung des Hundes, der der Legende nach unsere Familie seither so schwer heimgesucht hat. Ich habe sie hier niedergeschrieben im Wissen, dass Bekanntes uns weniger Grauen einflößt als dunkle Gerüchte oder Andeutungen. Es lässt sich freilich nicht leugnen, dass einige unserer Vorfahren ein unseliges Ende gefunden haben und eines plötzlichen, gewaltsamen oder mysteriösen Todes gestorben sind. Dennoch wollen wir auf die unendliche Güte der Vorsehung vertrauen, welche Unschuldige nicht auf ewig und nicht über das dritte oder vierte Glied hinaus bestraft, wie es in der Heiligen Schrift steht. Ich empfehle Euch der Gnade der Vorsehung, meine Söhne, aber ich gebe Euch auch den Rat, Vorsicht walten zu lassen und dem Moor fern zu bleiben in jenen finsteren Stunden, da die Macht des Bösen dort ihr Unwesen treibt.

(Dies schrieb Hugo Baskerville für seine Söhne Rodger und John, mit der Mahnung, ihrer Schwester Elisabeth nichts davon mitzuteilen.)«

Dr Mortimer beendete die Lesung dieses außerordentlichen Berichts, schob seine Brille auf die Stirn und blickte erwartungsvoll zu Mr Sherlock Holmes hinüber. Der gähnte und warf seinen Zigarettenstummel ins Feuer.

»Nun?« fragte er.

»Finden Sie das nicht faszinierend?«

»Vielleicht für Märchensammler.«

Dr Mortimer zog eine zusammengefaltete Zeitung aus der Tasche.

»Dann, Mr Holmes, kann ich jetzt mit etwas Aktuellerem dienen. Dies ist der Devon Country Chronicle vom 14. Juni mit einem kurzen Bericht über die Umstände des Todes von Sir Charles Baskerville, welcher wenige Tage vor diesem Datum erfolgt war.«

Mein Freund beugte sich ein wenig vor, und sein Gesichtsausdruck wurde aufmerksamer. Unser Gast schob seine Brille zurecht und begann:

»Der kürzlich erfolgte plötzliche Tod von Sir Charles Baskerville, welcher bei der kommenden Wahl als aussichtsreicher Kandidat der Liberalen Partei für Mittel-Devon galt, hat einen Schatten über unsere Grafschaft geworfen. Obwohl Sir Charles erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in Baskerville Hall gelebt hat, gewann er durch seine Liebenswürdigkeit und seine außerordentliche Freigebigkeit die Zuneigung und Achtung aller, die mit ihm in Berührung kamen. In dieser Welt der nouveau riches ist es erquickend, einem Spross aus altem, unverschuldet in böse Zeitläufte geratenen Landadel zu begegnen, der aus eigener Kraft ein Vermögen erworben hat und es nutzt, um dem verblichenen Glanz seines Geschlechtes wieder zu neuer Größe zu verhelfen. Wie allgemein bekannt, hat Sir Charles mit Spekulationen in Südafrika ein großes Vermögen erworben. Anders als viele andere, die kein Ende finden können, bis das Glücksrad sich gegen sie kehrt, war er weise genug, seine Gewinne zu Geld zu machen und damit nach England zurückzukehren. Vor zwei Jahren nahm er seinen Wohnsitz in Baskerville Hall. Seine weitreichenden Wiederaufbau- und Modernisierungspläne waren das allgemeine Gespräch in der Gegend, bis sein plötzlicher Tod dem einen Schlussstrich setzte. Da er selbst kinderlos war, war es sein ausdrücklicher Wunsch, die ganze Region noch zu seinen Lebzeiten von seinem Wohlstand profitieren zu lassen, und so mancher dürfte auch persönliche Gründe haben, das vorzeitige Ableben des Gutsherrn zu beklagen. Seine großzügigen Spenden an Wohltätigkeitseinrichtungen sowohl im engeren Umkreis wie auch in der ganzen Grafschaft waren nicht selten Thema dieser Spalten.

Die gerichtliche Untersuchung konnte die Todesumstände von Sir Charles nicht gänzlich aufklären, aber es wurde genug Klarheit geschaffen, um gewissen Gerüchten entgegentreten zu können, die auf einem althergebrachten lokalen Aberglauben beruhen. Es gibt nicht den geringsten Hinweis auf ein Verbrechen oder auf einen anderen als einen natürlichen Tod. Sir Charles war Witwer und galt als Mann von leicht exzentrischer Lebensart. Trotz seines beträchtlichen Reichtums war er bescheiden in seinen persönlichen Ansprüchen. Das gesamte Hauspersonal von Baskerville Hall besteht lediglich aus dem Ehepaar Barrymore; der Mann bekleidet die Stellung eines Butlers und seine Frau die der Haushälterin. Ihre Aussage, die durch das Zeugnis mehrerer Freunde des Verstorbenen bestätigt wurde, ging dahin, dass Sir Charles schon seit einiger Zeit bei schwacher Gesundheit gewesen sei. Erwähnt wurde insbesondere ein Herzleiden, das sich in rasch wechselnder Gesichtsfarbe, Atemnot und akuten Anfällen einer nervösen Gemütsverstimmung geäußert habe. Dr James Mortimer, persönlicher Freund und ärztlicher Berater des Verstorbenen, bestätigte dies durch seine Aussage.

Die Faktenlage ist unkompliziert. Sir Charles Baskerville hatte die Gewohnheit, jede Nacht vor dem Schlafengehen einen Spaziergang durch die berühmte Eibenallee von Baskerville Hall zu machen. Dies wurde von den Barrymores bezeugt. Am 4. Juni hatte Sir Charles angekündigt, am Tag darauf nach London reisen zu wollen, und er hatte Barrymore angewiesen, sein Gepäck zu besorgen. Am Abend verließ er das Haus zu seinem gewohnten Spaziergang, bei dem er wie gewöhnlich eine Zigarre rauchte. Er kehrte nicht zurück. Als Barrymore gegen Mitternacht die Haustür noch offen fand, wurde er unruhig, zündete eine Laterne an und ging auf die Suche nach seinem Herrn. Es hatte an diesem Tag geregnet, und Sir Charles’ Fußspuren waren in der Eibenallee gut zu erkennen. Auf halbem Weg befindet sich eine Pforte, die zum Moor hinausführt. Es gibt Hinweise, dass Sir Charles hier eine Zeit lang verweilt hat. Dann hat er seinen Weg durch die Allee fortgesetzt, und an ihrem äußersten Ende wurde sein Leichnam gefunden. Noch nicht geklärt ist Barrymores Aussage, die Fußspuren seines Herren hätten jenseits der Pforte anders ausgesehen als vorher; er sei von dort aus augenscheinlich auf Zehenspitzen weitergegangen. Ein Zigeuner namens Murphy, ein Pferdehändler, befand sich um diese Zeit in nicht allzu weiter Entfernung auf dem Moor, allerdings in angetrunkenem Zustand, wie er selbst zugab. Er sagte aus, er habe Schreie gehört, konnte jedoch nicht sagen, aus welcher Richtung diese gekommen seien. An Sir Charles’ Leichnam waren keine Spuren von Gewaltanwendung zu erkennen, allerdings waren seine Gesichtszüge nach Aussage des Arztes auf unbegreifliche Weise verzerrt – so sehr, dass Dr Mortimer zunächst kaum glauben konnte, dass es wirklich sein Patient und persönlicher Freund war, der dort vor ihm lag. Indessen ist dieses Symptom nicht untypisch bei einem Tod infolge Atemnot und Herzversagen. Diese Erklärung wurde durch den Obduktionsbefund bestätigt, der eine schon lange bestehende Erkrankung des Herzens attestiert hat. Die gerichtliche Untersuchungskommission entschied in Übereinstimmung mit dem ärztlichen Zeugnis in diesem Sinne. Das ist sehr zu begrüßen, denn natürlich ist es für die Region von größter Bedeutung, dass Sir Charles’ Erbe sich in Baskerville Hall niederlässt und dessen segensreiches Wirken fortsetzt, das auf so traurige Weise unterbrochen worden ist. Wäre den abenteuerlichen Gerüchten, die in Zusammenhang mit dieser Affäre aufgekommen sind, nicht durch den prosaischen Befund des Untersuchungsrichters jede Grundlage entzogen worden, hätte es schwierig werden können, einen Pächter für Baskerville Hall zu finden. Der nächste Angehörige von Sir Charles Baskerville ist dem Vernehmen nach Mr Henry Baskerville, ein Sohn von dessen jüngerem Bruder. Den letzten Nachrichten zufolge hält der junge Mann sich in Amerika auf, und es wurden bereits Ermittlungen eingeleitet, um ihn von dem ihm zugefallenen Erbe in Kenntnis zu setzen.«

Dr Mortimer faltete die Zeitung wieder zusammen und steckte sie in seine Tasche.

»Dies, Mr Holmes, sind die öffentlich bekannten Fakten im Zusammenhang mit dem Tod von Sir Charles Baskerville.«

»Ich möchte Ihnen meinen Dank aussprechen«, sagte Sherlock Holmes. »Sie haben mich auf einen Fall aufmerksam gemacht, der tatsächlich einige interessante Aspekte hat. Ich hatte seinerzeit die Zeitungsmeldungen gelesen, aber ich war damals sehr eingespannt in diese kleine Affäre der vatikanischen Kameen, und in meinem Bestreben, dem Papst gefällig zu sein, habe ich einige interessante Fälle in England aus den Augen verloren. Aber Sie sagten, dieser Artikel enthalte lediglich die öffentlich bekannten Fakten?«

»So ist es.«

»Dann lassen Sie mich die nicht öffentlichen wissen.« Er lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und setzte seine gleichgültig-skeptische Miene auf.

»Das werde ich gern tun«, sagte Dr Mortimer mit allen Anzeichen einer starken Gemütserregung, »aber ich muss Ihnen vorher sagen, dass ich Ihnen damit etwas erzähle, was ich bisher keinem einzigen Menschen anvertraut habe. Mein Beweggrund dafür, dass ich es bei der Leichenschau vor den Geschworenen verschwiegen habe, war, dass ich als Mann der Wissenschaft davor zurückscheue, mich in der Öffentlichkeit als jemand darzustellen, der dummen Ammenmärchen Glauben schenkt. Ein weiteres Motiv war, dass Baskerville Hall gewiss keinen neuen Bewohner finden wird, wie in der Zeitung ganz richtig bemerkt, wenn der ohnehin schon düstere Ruf des Besitzes noch weiter diskreditiert würde. Aus diesen beiden Gründen glaubte ich mich im Recht, wenn ich nicht alles sagte, was ich wusste. Überdies hätte es auch keine praktischen Auswirkungen auf die Untersuchung gehabt. Aber Ihnen gegenüber habe ich keinen Grund, nicht ganz offen zu sein.

Das Moor ist sehr dünn besiedelt, daher sind alle, die dort leben, eng auf ihre Nachbarn angewiesen. So ergab es sich, dass ich viel mit Sir Charles Baskerville verkehrte. Mit Ausnahme von Mr Frankland in Lafter Hall und Mr Stapleton, einem Naturkundler, findet man im weiteren Umkreis keinen einzigen gebildeten Menschen. Sir Charles lebte recht zurückgezogen, aber durch seine Krankheit kamen wir in Kontakt miteinander, und ein gemeinsames Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen vertiefte die Bekanntschaft. Er hatte aus Südafrika zahlreiche Kuriositäten mitgebracht, und so haben wir viele angenehme Abende miteinander und mit lebhaften Diskussionen über die anatomischen Eigenarten der Buschmänner und der Hottentotten verbracht.

Im Laufe der letzten Monate wurde mir immer klarer, dass Sir Charles’ Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren. Er hatte sich diese Legende, die ich Ihnen vorgelesen habe, sehr zu Herzen genommen, was so weit ging, dass er seine Spaziergänge zwar auf eigenem Grund und Boden unternahm, aber unter keinen Umständen bereit war, das Moor zu betreten, schon gar nicht in der Dunkelheit. So unbegreiflich es Ihnen erscheinen mag, Mr Holmes, aber er war allen Ernstes davon überzeugt, dass ein grauenvolles Verhängnis über seiner Familie schwebte, und ich muss sagen, was er von seinen Vorfahren zu berichten wusste, klang nicht eben ermutigend. Unablässig verfolgte ihn die Vorstellung einer dunklen Macht, die ihn umgab, und mehr als einmal fragte er mich, ob ich auf meinen nächtlichen Fahrten zu einem Patienten nicht ein merkwürdiges Wesen gesehen oder das Gebell eines Hundes gehört hätte. Die letztere Frage stellte er mir mehrfach, jedes Mal mit vor Erregung bebender Stimme.

Ich erinnere mich genau an einen Abend etwa drei Wochen vor dem traurigen Ereignis. Als ich mit meinem Einspänner vor dem Herrenhaus vorfuhr, stand er zufällig im Eingang. Ich stieg aus und ging auf ihn zu, da bemerkte ich, dass sein Blick über meine Schulter hinweg etwas fixierte und er mit dem Ausdruck tiefsten Grauens dorthin starrte. Ich fuhr herum und konnte gerade noch einen Blick auf ein Tier am Ende der Zufahrt erhaschen, das ich für ein großes schwarzes Kalb hielt. Er war so verängstigt, dass ich mich genötigt sah, dorthin zu gehen und nachzuschauen, wo das Tier geblieben war. Natürlich war es längst verschwunden, aber der Vorfall hatte ihn augenscheinlich zutiefst verstört. Ich blieb den Abend über bei ihm, und bei dieser Gelegenheit vertraute er mir die Familienlegende an, wohl um mir eine Begründung für seinen Nervenzustand zu geben, und er übergab mir zu treuen Händen das Dokument, das ich Ihnen gerade vorgelesen habe. Ich erwähne diesen Vorfall, weil ihm in Anbetracht der darauf folgenden Tragödie eine gewisse Bedeutung zukommt. Damals war ich allerdings fest überzeugt, dass die Sache völlig harmlos und seine Furcht unbegründet war.

Dass Sir Charles eine Reise nach London plante, geschah auf mein Anraten. Ich wusste, dass sein Herz angegriffen war, und die ständige Angst, in der er lebte, auch wenn es reine Hirngespinste waren, wirkte sich offensichtlich negativ auf seinen Gesundheitszustand aus. Ein paar Monate in der Metropole mit ihren Zerstreuungen, meinte ich, würden einen neuen Menschen aus ihm machen. Unser gemeinsamer Freund Mr Stapleton, der sich ebenfalls um Sir Charles’ Gesundheit sorgte, teilte diese Ansicht. Am letzten Abend vor dem Antritt der Reise kam es dann zu der schrecklichen Katastrophe.

In der Nacht von Sir Charles’ Tod schickte der Butler Barrymore, der den Leichnam gefunden hatte, den Stallknecht Perkins zu mir, und da ich trotz der späten Stunde noch wach war, erreichte ich Baskerville Hall schon eine Stunde nach dem Unglück. Ich kann sämtliche Fakten, die während der gerichtlichen Untersuchung zur Sprache kamen, als Augenzeuge bestätigen. Ich bin den Fußspuren durch die Eibenallee gefolgt, ich habe die Stelle an der Pforte zum Moor gesehen, wo er offenkundig einige Zeit gestanden und gewartet hat, ich habe bemerkt, dass seine Fußspuren von jener Stelle ab anders aussahen, ich habe gesehen, dass der weiche Kies des Weges keine anderen Spuren als die von Barrymore zeigte, und schließlich habe ich den Leichnam, der bis dahin nicht angerührt worden war, gewissenhaft untersucht. Sir Charles lag auf dem Gesicht, die Arme ausgestreckt, die Finger ins Erdreich gekrallt, und sein Gesicht war in heftiger Konvulsion so verzerrt, dass ich ihn kaum erkannte. Mit Sicherheit wies er keinerlei körperliche Verletzung auf. Aber eine falsche Angabe hat Barrymore bei der Leichenschau doch gemacht: Er hat gesagt, in der Nähe der Leiche seien keine weiteren Spuren zu sehen gewesen. Jedenfalls habe er keine bemerkt. Aber ich habe welche gesehen – ein kleines Stück entfernt, aber frisch und deutlich.«

»Fußspuren?«

»Fußspuren.«

»Von einem Mann oder von einer Frau?«

Dr Mortimer blickte uns einen Augenblick lang bedeutungsvoll an, dann sank seine Stimme zu einem Flüstern herab, als er antwortete:

»Mr Holmes, es waren Spuren eines gigantischen Hundes.«

3. KAPITEL

Das Problem

Ich gebe zu, dass mir bei diesen Worten ein Schauder über den Rücken lief. Die bebende Stimme des Arztes verriet mir, dass er selbst aufgewühlt war von dem, was er erzählte. Holmes beugte sich gespannt nach vorn; seine Augen sprühten in jenem harten Glanz, den sie stets zeigten, wenn ein Fall ihn faszinierte.

»Sie haben die Spuren deutlich gesehen?«

»So deutlich, wie ich Sie vor mir sehe.«

»Und Sie haben nichts gesagt?«

»Welchen Sinn hätte das gehabt?«

»Wie kommt es, dass sonst niemand diese Spuren gesehen hat?«

»Sie waren fast zwanzig Meter von der Leiche entfernt, und niemand hat ihnen Beachtung geschenkt. Ich hätte es wohl auch nicht getan, wenn ich nicht diese Legende gekannt hätte.«

»Sicherlich gibt es auf dem Moor zahlreiche Hütehunde?«

»Gewiss, aber dies war kein Hütehund.«

»Sie sagten, er war groß?«

»Gigantisch.«

»Aber er hat sich der Leiche nicht genähert?«

»Nein.«

»Wie war das Wetter in jener Nacht?«

»Diesig und nasskalt.«

»Aber kein Regen?«

»Nein.«

»Wie sieht diese Allee genau aus?«

»Sie ist gesäumt von zwei Reihen alter Eibenhecken, zwölf Fuß hoch und undurchdringlich dicht. Der freie Raum dazwischen ist etwa acht Fuß breit.«

»Was liegt zwischen dem Weg und den Hecken?«

»Ein etwa sechs Fuß breiter Grasstreifen zu beiden Seiten des Weges.«

»Wenn ich Sie recht verstanden habe, ist die Eibenhecke an einer Stelle von einer Pforte durchbrochen?«

»Ja, eine niedrige Holztür, die aufs Moor hinausführt.«

»Gibt es noch eine andere Öffnung in der Hecke?«

»Nein, keine.«

»Um in die Eibenallee zu gelangen, muss man also entweder vom Haus her kommen oder durch die Pforte vom Moor?«

»Es gibt noch einen weiteren Zugang, vom Gartenhaus am äußersten Ende der Allee.«

»War Sir Charles so weit gekommen?«

»Nein, er lag etwa fünfzig Meter davon entfernt.«

»Nun sagen Sie mir, Dr Mortimer – und das ist sehr wichtig: Fanden Sie die besagten Spuren auf dem Weg oder auf dem Grasstreifen?«

»Auf dem Weg. Im Gras wären überhaupt keine Spuren zu sehen gewesen.«

»Waren sie auf der gleichen Seite des Weges wie die Pforte?«

»Ja, am Rand des Weges, auf der gleichen Seite wie die Pforte.«

»Sie interessieren mich über alle Maßen. Und noch etwas: War die Pforte verschlossen?«

»Verschlossen und verriegelt.«

»Wie hoch ist sie?«

»Ungefähr vier Fuß.«

»So, dass jeder drüberklettern kann?«

»Ja.«

»Was für Spuren haben Sie an der Pforte gesehen?«

»Keine besonderen.«

»Gütiger Himmel! Hat das denn niemand untersucht?«

»Doch, ich selbst.«

»Und Sie haben nichts entdeckt?«

»Es war alles ziemlich zertreten. Sir Charles hat dort offensichtlich fünf oder zehn Minuten lang gestanden.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Weil er dort die Asche von seiner Zigarre zweimal abgestrichen hat.«

»Ausgezeichnet! Das ist ein Kollege nach unserem Herzen, Watson. Aber die Spuren?«

»Seine Fußspuren fanden sich in diesem Teil des Kiesweges zuhauf. Andere konnte ich nicht entdecken.«

Sherlock Holmes schlug sich mit einer ungeduldigen Geste aufs Knie.

»Wäre ich doch nur dort gewesen!« rief er. »Das ist ein höchst interessanter Fall, der einem wissenschaftlich geschulten Experten zahllose Möglichkeiten eröffnet. Dieser Kiesweg – er hätte mir so viel verraten – aber nun ist er längst vom Regen durchweicht und von den Holzschuhen neugieriger Bauern zertrampelt. Oh, Dr Mortimer, Dr Mortimer, warum haben Sie mich bloß nicht früher konsultiert! Da haben Sie einiges zu verantworten.«

»Ich konnte Sie nicht früher hinzuziehen, Mr Holmes, ohne gewisse Tatsachen an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, und ich habe Ihnen meine Gründe genannt, warum ich das nicht wollte. Und außerdem –«

»Warum zögern Sie?«

»Es gibt eine Sphäre, in der sogar der scharfsinnigste und erfahrenste Detektiv machtlos ist.«

»Sie glauben, wir haben es mit einem übernatürlichen Phänomen zu tun?«

»Das habe ich so dezidiert nicht gesagt.«

»Nein, aber Sie denken es anscheinend.«

»Seit jener tragischen Nacht, Mr Holmes, sind mehrere Vorfälle zu meiner Kenntnis gelangt, die sich kaum mit der wissenschaftlichen Ordnung der Natur in Übereinstimmung bringen lassen.«

»Zum Beispiel?«

»Ich habe erfahren, dass schon vor dem schrecklichen Ereignis mehrere Leute im Moor ein Wesen gesehen haben, das der Beschreibung des Spuks der Baskervilles entspricht und das kein der Wissenschaft bekanntes Tier sein kann. Alle Berichte stimmen darin überein, dass es ein gigantisches Geschöpf ist, gespenstisch leuchtend, dämonisch und grauenhaft. Ich habe die Leute scharf ins Verhör genommen – einen dickschädeligen Landmann, einen Hufschmied und einen Moorbauern, und alle drei haben das Gleiche erzählt über diese furchtbare Erscheinung, die so genau dem Höllenhund der Legende entspricht. Ich kann Ihnen versichern, es herrscht eine wahre Todesangst in der Gegend, und wer sich nachts ins Moor wagt, der muss schon ein hartgesottener Mann sein.«

»Und Sie, ein Mann der Naturwissenschaft, glauben an eine übernatürliche Erscheinung?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«

Holmes zuckte die Schultern. »Bisher habe ich meine Ermittlungen auf die diesseitige Welt beschränkt«, sagte er. »Ich habe das Böse mit meinen bescheidenen Kräften bekämpft. Sich mit dem Vater alles Bösen anzulegen wäre vielleicht ein allzu ehrgeiziges Unterfangen … Aber Sie müssen zugeben, dass diese Spuren durchaus irdisch waren.«

»Der Hund der Legende war irdisch genug, um einem Mann die Gurgel herauszureißen, und doch war es ein Geschöpf der Hölle.«

»Ich sehe schon, Sie sind zu den Esoterikern übergelaufen. Aber sagen Sie mir bitte, Dr Mortimer: Wenn Sie sich zu solchen Ansichten bekennen, warum sind Sie dann zu mir gekommen? Sie erzählen mir, es sei zwecklos, nach der wahren Ursache von Sir Charles’ Tod zu forschen, und bitten mich im gleichen Atemzug, es doch zu tun.«

»Nicht darum habe ich Sie gebeten.«

»Wie kann ich Ihnen dann behilflich sein?«

»Indem Sie mir einen Rat geben, was ich mit Sir Henry Baskerville anfangen soll …« – Dr Mortimer sah auf die Uhr – »der kommt in genau ein und einer viertel Stunde auf dem Bahnhof Waterloo an.«

»Der Erbe?«

»Ja. Nach dem Tod von Sir Charles haben wir nach dem jungen Gentleman geforscht und herausgefunden, dass er als Farmer in Kanada lebt. Nach allem, was wir über ihn gehört haben, scheint er in jeder Hinsicht ein prächtiger Bursche zu sein. Ich sage das jetzt nicht als Arzt, sondern als Sir Charles’ Treuhänder und Testamentsvollstrecker.«

»Gibt es keine weiteren Erben?«

»Nein, keinen. Der einzige andere Verwandte, den wir ausfindig machen konnten, ist Rodger Baskerville, der jüngste Bruder des armen Sir Charles, welcher der Erstgeborene war. Der mittlere der drei Brüder, der Vater von Henry Baskerville, ist schon in jungen Jahren gestorben. Der jüngste, Rodger, war das schwarze Schaf der Familie. Er war ein echter Spross der alten herrischen Baskervilles und angeblich das leibhaftige Ebenbild des alten Hugo, so wie er auf dem Familienporträt dargestellt ist. Als ihm in England der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, setzte er sich nach Mittelamerika ab, wo er 1876 am Gelbfieber starb. Henry ist also der letzte lebende Baskerville. In einer Stunde und fünf Minuten werde ich ihn am Bahnhof Waterloo treffen. Er hat mir ein Telegramm geschickt, dass sein Schiff heute früh in Southampton angelegt hat. Nun, Mr Holmes, was meinen Sie? Was soll ich ihm raten?«

»Warum sollte er nicht den alten Familienbesitz übernehmen?«

»Das wäre das Natürliche, nicht wahr? Aber Sie müssen bedenken, dass jeder Baskerville, der dort gelebt hat, ein schlimmes Ende gefunden hat. Ich bin sicher, dass Sir Charles, hätte er vor seinem Ende mit mir sprechen können, mich davor gewarnt hätte, den letzten Spross dieses uralten Geschlechts und Erben eines großen Vermögens an diesen fluchbeladenen Ort zu bringen. Und doch lässt sich nicht leugnen, dass der Wohlstand dieses ärmlichen, wenig fruchtbaren Landstriches von seiner Anwesenheit abhängt. All die guten Werke, die Sir Charles begonnen hat, werden nur unvollendet bleiben, wenn Baskerville Hall keinen Bewohner hat. Ich fürchte allerdings, dass ich mich in dieser Frage vielleicht allzu sehr von meinem eigenen Interesse leiten lasse. Deshalb habe ich Ihnen den Fall vorgelegt und bitte Sie um Ihren Rat.«

Holmes überlegte kurz, dann sagte er: »In knappe Worte gefasst, liegt die Sache so: Ihrer Meinung nach ist eine höllische Macht am Werk, die Dartmoor zu einem gefährlichen Aufenthaltsort für einen Baskerville macht. – Ist das richtig?«

»Ich denke jedenfalls, dass es Anhaltspunkte gibt, die darauf hinweisen.«

»Ganz recht. Aber wenn übernatürliche Mächte im Spiel sind, können sie dem jungen Mann in London genauso leicht schaden wie in Devonshire. Ein Höllenwesen mit lediglich lokaler Zuständigkeit, vielleicht für ein einziges Kirchspiel, wäre doch allzu unwahrscheinlich.«

»Sie betrachten die Sache auf eine leichtfertige Art, Mr Holmes, als Sie es vielleicht tun würden, wenn Sie persönlich betroffen wären. Wenn ich Sie richtig verstehe, gehen Sie davon aus, dass der junge Mann in Devonshire genauso sicher ist wie in London. In fünfzig Minuten wird er hier sein. Was raten Sie mir also?«

»Ich rate Ihnen, Sir, eine Droschke zu rufen, Ihren Spaniel an die Leine zu nehmen, der unten an unserer Haustür kratzt, und zum Bahnhof Waterloo zu fahren, um Sir Henry Baskerville abzuholen.«

»Und dann?«

»Dann erzählen Sie ihm kein einziges Wort von der Sache, bis ich mir darüber klar geworden bin.«

»Wie lange wird das dauern?«

»Vierundzwanzig Stunden. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Dr Mortimer, wenn Sie mich morgen früh gegen zehn Uhr aufsuchen würden. Und es wäre hilfreich für meine weiteren Pläne, wenn Sie Sir Henry Baskerville mitbringen würden.«

»Das werde ich gern tun, Mr Holmes.« Er notierte den Termin und eilte in seiner sonderbar kurzsichtigen, zerstreuten Art zur Tür. Als er schon auf dem Treppenabsatz war, rief Holmes ihn noch einmal zurück.

»Nur noch eine Frage, Dr Mortimer. Sie sagten, in der Zeit vor Sir Charles Baskervilles Tod hätten mehrere Leute diese Geistererscheinung im Moor gesehen?«

»Ja, drei Männer.«

»Und danach?«

»Danach ist mir nichts mehr zu Ohren gekommen.«

»Danke sehr. Guten Morgen.«