Der Ire - Peter Mann - E-Book

Der Ire E-Book

Peter Mann

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Beschreibung

Ein Spion, ein Auftrag, zwei Geschichten darüber. Welche ist wahr?

September 1945. In den Trümmern von Berlin werden zwei Manuskripte gefunden, die jeweils widersprüchliche Versionen des Lebens eines irischen Spions während des Krieges wiedergeben.

Das eine ist das Tagebuch des deutschen Offiziers des militärischen Nachrichtendienstes und Nazi-Gegners Adrian de Groot, der seine Beziehung zu seinem Agenten, Freund und manchmal auch Liebhaber, einem Iren namens Frank Pike, aufzeichnet. In de Groots Erzählung ist Pike ein charismatischer IRA-Kämpfer, der aus dem spanischen Gefängnis entlassen wird, um bei der geplanten deutschen Invasion Großbritanniens zu helfen, der aber nie die Chance bekommt, seinen Pakt mit dem Teufel zu erfüllen.

Das andere Manuskript enthält eine ganz andere Darstellung der Taten des Iren. Unter dem Alter Ego des keltischen Helden Finn McCool tritt Pike hier als der ultimative alliierte Saboteur auf. Sein Auftrag: eine Attentatskampagne auf hochrangige Nazi-Ärzte, die in der Ermordung von Hitlers Leibarzt gipfelt.

Aber welche Variante, welche Version der Wirklichkeit stimmt?

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Seitenzahl: 514

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Cover

Titel

Peter Mann

Der Ire

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel The Torqued Man bei Harper. An Imprint of HarperCollins Publishers.Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5426.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln, unter Verwendung eines Motivs von Midjourney

eISBN 978-3-518-77902-6

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Mum und Dad – meine ersten Leser

Motto

Unser Land ist entvölkert worden, unser Volk erniedrigt, unsere Wirtschaft zerstört. Sollte die Hölle sich gegen die englische Politik wenden, so wie wir sie kennen, dann wird man uns vergeben, wenn wir uns auf die Seite der Hölle schlagen.

Eoin MacNeill, Artikel in Fianna

Und das machtlose Individuum muss die Macht des Willens und der Wahl ausüben und zwischen gewaltigen Übeln wählen, die jeweils von der Stimme eines anderen abhängen.

Louis MacNeice, Autumn Journal

Du hast dir einen schlechten Platz zum Ausruhen und Schlummern gesucht, hier vor der Stadt deines Feindes.

Die Heldentaten des Finn McCool

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

1 Tagebuch

2 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens: Betreffend seine mörderischen Heldentaten in Berlin.

Die Eingeweide

3 Tagebuch

4 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Die Grube

Und dies waren die Erinnerungen, an denen Finn sich auf seiner Reise nach Teutonien festhielt:

5 Tagebuch

6 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Tal der Nymphen

7 Tagebuch

8 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Das Boot

9 Tagebuch

10 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Wolkengucker

11 Tagebuch

12 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Vogelgesang

13 Tagebuch

14 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Die erste Jagd

15 Tagebuch

16 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Die Liste

17 Tagebuch

18 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Verfasser von Taten

19 Tagebuch

20 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Den Köder auslegen

Und so kam es, dass Finn weitere weißgekleidete Teufel in seine Falle lockte.

21 Tagebuch

22 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Ein Arzttermin

23 Tagebuch

24 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Geschenke von hoch oben

25 Tagebuch

26 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Ein großartiger Plan

27 Tagebuch

28 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Die Fianna

29 Tagebuch

30 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Ein Raub

31 Tagebuch

32 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Winterschlaf

33 Tagebuch

34 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Rekonvaleszenz

35 Tagebuch

36 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Der giftige Pilz

37 Tagebuch

38 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Die Hausfrau

39 Tagebuch

40 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Endsieg

41 Tagebuch

42 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Eine Spritze

43 Tagebuch

44 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Zuckerklumpen

45 Tagebuch

46 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Krankenhaus

47 Tagebuch

48 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Flussabwärts

49 Tagebuch

50 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Vater des Waldes

51 Tagebuch

52 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Fliegende Kolonne

53 Tagebuch

54 Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens.

Testament

Historische Anmerkung und Danksagungen

Textnachweis

Informationen zum Buch

Der Ire

G-E-H-E-I-M

Datum: 05. September 1945

CPTN FLOYD WEEKS

BERLIN DISTRICT INTERROGATION CENTER

APO 755US ARMY

AN:

CPTN CHARLES CARSON

OFFICE OF STRATEGIC SERVICES, BERLIN

APO 401US ARMY

CHARLES:

Sende Ihnen das beiliegende Ms. zur Prüfung daraufhin, ob es etwas von Wert enthält. Es wurde heute Morgen im Anschluss an die Festnahme des früheren Abwehragenten Adrian DE GROOT in den Überresten eines ausgebombten Hauses in Schöneberg entdeckt. Über DE GROOTS Aktivitäten während des Krieges ist bisher wenig bekannt, nur dass er mit spanischen und irischen Operationen betraut war, 1944 verhaftet und später zum Volkssturm einberufen wurde. Zur Zeit seiner Verhaftung arbeitete er unter dem Decknamen Johann GROTIUS für das Amt für Immobilien und Arbeit auf dem heutigen Coca-Cola-Gelände. Er wird derzeit verhört und scheint zur Kooperation bereit.

Auch die Briten wollen mit ihm reden, weil der SIS uns auf seine Identität hingewiesen hat. Ich glaube, es wäre im Interesse gutnachbarlicher Beziehungen, wenn wir ihnen mehrere Stunden Lektüre ersparen. Für sie ist alles in diesem Manuskript von Interesse, was Licht in die Rolle von Proinnsias »Frank« PIKE und seine Verbindung zur Abwehr bringen kann. PIKE, ein IRA-Kämpfer und sozialistischer Agitator, der 1940 aus einem spanischen Gefängnis fliehen konnte, ist vermutlich nach Deutschland gegangen, wo er während des Kriegs verschwand.

Bitte werfen Sie einen Blick darauf und schicken Sie einen Bericht, sobald es Ihnen passt.

Ihr Floyd

P.S. Anscheinend handelt es sich um zwei unterschiedliche Mss., die entweder von ihrem Besitzer oder von der Putzfrau, die sie gefunden hat, zusammengestellt wurden. Ich überlasse es Ihnen, den Zusammenhang zu erforschen.

1

Tagebuch

30. November 1943

Frank Pike ist tot.

Die Nachricht kommt nicht überraschend und schockiert mich trotzdem. Was angesichts des andauernden Schockzustands, in den mein Leben sich verwandelt hat, seltsam klingen mag. Ich frage mich, ob Pike je klar war, wie viel er mir bedeutet hat. Außerdem habe ich das Gefühl, nicht ganz unschuldig am Lauf der Dinge zu sein.

Kriegsmann hat die Leiche gesehen, bevor das Krankenhaus getroffen wurde. Jetzt ist an der Stelle ein Loch im Boden. Hätte ich gewusst, dass er dort war, wäre ich selbst hingegangen. Aber mit der tiefen Wunde im Bein – verdammter Hund! – und den Bergen qualmenden Schutts auf den Straßen hätte ich für die Strecke quer durch die Stadt Tage gebraucht. Man muss es sich vorstellen: Um ihn herum steht Berlin in Flammen, aber der Mann stirbt im Bett an einem Fieber. Als wären in diesen Zeiten zur Abwechslung mal andere Todesarten an der Reihe. Natürliche Tode kommen uns plötzlich wie kleine Verschrobenheiten Gottes vor.

Wenn man Kriegsmann glauben darf, hat Pike seinen letzten Atemzug in den Armen einer Nonne getan. Vielleicht hatte er noch die Chance, sie von ihrem Keuschheitsgelübde abzubringen – ein letzter kleiner Stoß mit dem Spieß. Selbst in seinem angeschlagenen Zustand – stocktaub und mit zitternden Gliedmaßen – wusste Pike zu bezaubern. Schade, dass er nie eine angemessene Verwendung für seine Talente gefunden hat. Trotz all seiner kleinen Sünden, seiner unklaren Loyalitäten und dieser unaufhörlichen irischen Redseligkeit – ein verbaler Zapfhahn, der sich nicht schließen ließ, nicht mal in seinem unzulänglichen Deutsch – muss man festhalten, dass er ein Mann der Tat war. Oder einer hätte sein können. Wir waren es, die seine Energien ausgebremst und ihm drei Jahre Trägheit aufgezwungen haben, die ihm zum Verderben geworden sind. Nur im Deutschland von heute konnte die Vitalität eines Mannes wie Pike derart vergeudet werden. Wir können seinen Tod zu den Morden rechnen, mit denen unser Regime die Welt überzogen hat. Vielleicht gibt es so etwas wie natürliche Tode gar nicht.

Zum ersten Mal bin ich Pike 1940 begegnet, in einem Gefängnis in Burgos. Trotz der düsteren Umgebung fühlte ich mich beinahe ausgelassen, schließlich hatte ich gerade eine Woche in Gesellschaft Himmlers hinter mir und hätte mich lieber selbst einsperren lassen, als noch eine Minute mit diesem Deppen zu verbringen.

Beim Gedanken an die Reise schaudert mir noch immer. Ich war dem Reichsführer für seine Tour durch Spanien als Übersetzer zugewiesen worden, eine Degradierung, mit der das Reichssicherheitshauptamt gegenüber der Abwehr seine Muskeln spielen ließ. Dass mir eine elende Woche bevorstand, war mir klar, sobald Himmler in San Sebastián den Zug bestiegen hatte. Er begann sich auf der Stelle darüber zu beklagen, dass der Nitratmangel der iberischen Erde seine Verdauung beeinträchtigt und den Rhythmus seiner Darmaktivität durcheinandergebracht habe. Als sei das nicht genug, habe seine Frau ihm außerdem sein Bienenbrot-Präparat nicht eingepackt, ohne Zweifel aus Arglist, und ihn damit zu acht Tagen mit engem Hals und verstopfter Nase verdammt.

Zu meinem Schrecken hielt diese an sein gesamtes Gefolge gerichtete Tirade – der wir aufmerksam zuhören mussten, um dann die Pausen mit einem Natürlich! oder Wie interessant zu füllen – nicht nur bis zur Einfahrt in Atocha an. Sie zog sich über mehrere Tage hin. In den Galerien des Prado beharrte der Reichsführer darauf, sich nur die deutschen und niederländischen Alten Meister anzusehen. Er bewunderte sie, ohne ein einziges Mal sein Tempo zu verringern. Gleichzeitig dozierte er über die Wunder der Nasendusche, der frühesten Form einer arischen Medizin, die unmittelbar verantwortlich für die Eroberung des dekadenten Hethiterreichs gewesen sei – das alles ließe sich in einem gründlichen Studium der sanskritischen Dokumente belegen. Erst als wir Boschs Garten der Lüste erreichten, legte unsere Gruppe eine Pause ein. Die Falangisten und SS-Männer bestaunten die einfallsreichen Foltermethoden auf dem rechten Flügel und gurrten wie Frauen, die vor einem Schaufenster voller Kleider stehen.

Am nächsten Tag veranstaltete der Bürgermeister von Madrid eigens für den Reichsführer einen Stierkampf. Die corrida hatte sich noch nicht vom langen Belagerungszustand während des Kriegs erholt – die Stiere waren träge, die Matadore ängstlich. Das Regime hatte mehrere Hundert Zivilisten bestochen oder gezwungen, die Ränge zu füllen. Um sich bei den Nazigästen einzuschmeicheln, waren dafür nur die blondesten, arischsten Repräsentanten Madrids ausgewählt worden. Serrano Suñer, Francos Schwager und oberster Speichellecker, war die Aufgabe anvertraut worden, Himmler durchs Land zu begleiten. In der archäologischen Stätte von Segovia schenkte er dem Reichsführer mehrere Fragmente einer Schüssel. »Hmm«, bemerkte Himmler, als er die Scherben begutachtete. »Das könnte eine Nasendusche sein!«

»Sehen Sie, Reichsführer«, sagte Serrano Suñer, »wir Spanier stammen von den Westgoten ab. In unseren Adern fließt gutes arisches Blut, so wie in Ihren.«

Himmler reagierte spöttisch. Kein Arier, sagte er, würde einen Sport daraus machen, unschuldige Tiere zu verstümmeln.

Ich hasste es, Spanien mit Hakenkreuzen tapeziert zu sehen. Das sage ich voller Überzeugung, auch wenn ich zugeben muss, dass meine Sympathien einst den Nationalen gehört hatten. Ich hatte nicht mit ansehen wollen, wie Spanien rot wurde – wie Kirchen dem Erdboden gleichgemacht wurden, wie Frauen ihre Kleider gegen Overalls und Agitprop eintauschen mussten und Weinberge in stalinistische Rübenfarmen verwandelt wurden. In meiner Naivität hatte ich geglaubt, ein konservatives Bollwerk gegen die Exzesse des Materialismus würde die Seele bewahren – und damit die Kunst, die in ihrer authentischen Form immer ein Ausdruck der Seele ist. Aber denjenigen von uns, denen wirklich daran lag, die Kultur gegen alle Angriffe zu bewahren, hätte klar sein müssen, dass unsere Interessen bei keiner der Parteien gut aufgehoben waren. Ich lernte schnell, dass Francos Regime in seiner Besessenheit von limpieza social und seiner panischen Angst vor Ansteckung von außen in Wahrheit nur die Wiedergeburt der Inquisition darstellte. Vielleicht hatte das Spanien meiner Vorstellung, das ich durch die Linke bedroht sah, überhaupt nie existiert, vielleicht war es eine Postkartenfantasie aus meiner Studentenzeit in Salamanca. Bald nach Francos Sieg begriff ich, dass der Caudillo und seine Falangisten demselben unterentwickelten, widerlichen Typus angehörten wie die Gangster unseres eigenen Regimes.

Als wir Barcelona erreichten, war ich kurz davor, mir die Haare auszureißen. Ich war mit einer Flut von Weisheiten über Geflügelzucht, arische Töpferei und Nasenhygiene überschüttet worden. Wie eine Glasscherbe hatte sich mir die Phrase Rudi, deine Hände bitte ins Gehirn gebohrt. So zitierte Himmler seinen Masseur zu sich, der ihn ständig begleitete und dafür sorgte, dass die Chakren des Reichsführers harmonisiert wurden.

Am Vorabend unserer Pilgerfahrt nach Montserrat spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken, eine Krankheit vorzutäuschen. Durch seine pseudowissenschaftlichen Studien und eigene irrsinnige Theorien war Himmler zum Schluss gelangt, der Heilige Gral sei in der Bibliothek des auf einem Berg gelegenen Klosters versteckt. Er war fest entschlossen, ihn zu finden. Ich lag in meinem Bett im Ritz, rüstete mich für einen Tag voller Wutausbrüche und versuchte gleichzeitig, mir durch pure Willenskraft einen Fieberausbruch zuzuziehen. Dann erreichte mich eine Nachricht.

Sie stammte von der Legende selbst: Canaris. Nur selten erhielt ich ein direktes Kommuniqué vom Chef der Abwehr, es war ungefähr so, als würde man einen Blitz von Zeus persönlich geschickt bekommen. Jetzt ließ auch Canaris die Muskeln spielen – er teilte Himmler mit, dieser müsse mit einem anderen Übersetzer vorliebnehmen, weil er seinen Agenten für richtige Spionagearbeit brauche. Ich war so glücklich, dass ich eine Flasche Cava bestellte und gleich im Bad austrank.

Am nächsten Morgen brach ich nach Burgos auf. Meine Anweisungen lauteten, ich solle einen Iren rekrutieren, der in San Pedro de Cardeña eine lebenslange Haftstrafe absaß. Es fühlte sich an, als wäre ich aus dem Gefängnis entlassen worden.

Sein Name, Proinnsias Pike, war mir nicht unbekannt. Natürlich gehörte es zu meinem Job, von dem Mann gehört zu haben, den Franco einmal prahlerisch als seinen wichtigsten Gefangenen bezeichnet hatte. Pike war nach Spanien gekommen, um gegen die Faschisten zu kämpfen. Er hatte die irische Connolly Column angeführt, war aber schnell zum Stabsoffizier der Internationalen Brigaden befördert worden, wo er das folgende Jahr damit zubrachte, die Truppen zu organisieren und die Propaganda zu steuern. Im Herbst 38 war er bei Gandesa von einer italienischen Panzerdivision gefangen genommen worden und saß seitdem im Gefängnis. Nach Kriegsende und der Anerkennung von Francos Regierung durch Irland hatte der Caudillo Pikes Todesstrafe in lebenslänglich umgewandelt. Seitdem hatte Canaris Franco bearbeitet, ihn uns zu überlassen. Vorausgesetzt, er wollte zu uns.

San Pedro de Cardeña war ein Kloster, das die Falange in ein Gefangenenlager und Schlachthaus verwandelt hatte. Fast tausend Männer der Internationalen Brigaden und doppelt so viele Basken waren in die Zellen gestopft worden. Das war jedenfalls der Stand, als ich das Kloster kurz nach Ende des Bürgerkriegs besucht hatte. Als ich jetzt, ein Jahr später, zurückkehrte, schien sich das Problem der Überbelegung ein wenig entspannt zu haben. Ich hatte keinen Zweifel, wie es dazu gekommen war. Natürlich saßen immer noch fünf oder sechs Männer in einer Zelle, die ursprünglich für einen einzigen frommen Mönch gedacht gewesen war. Außerdem stank es weiterhin nach Pisse, Blut und Knoblauch, Letzteres dank riesiger Bottiche von Suppe, die täglich gekocht wurden, neben schimmeliger Brotrinde die einzige Kost, die die Gefangenen erhielten.

Die Zustände in spanischen Gefängnissen hatten sogar Himmler schockiert. Wenigstens damals. Sicher hat der Geflügelzüchter inzwischen Schlimmeres erschaffen. Aber man kann ohne Übertreibung sagen, dass ein Republikaner es im Jahr 1940 in Spanien nicht besser hatte als ein Jude oder ein Kommunist im Reich. Franco hatte die Überlebenden der Zweiten Republik versklavt und ermordete sie durch Arbeit und Hunger. Himmler dagegen sah, wie er bei unserem Ausflug in ein Konzentrationslager bei Barcelona bemerkt hatte, keinen Grund, warum Angehörige europäischer Rassen – wenn auch zweitrangiger – auf derartige Weise vernichtet werden sollten. Schließlich – so argumentierte er – seien sie nur ideologische Feinde, keine rassischen. Natürlich sollten einige von ihnen erschossen werden, und die Zigeuner und Kryptojuden mussten weg, aber die meisten würden sich umerziehen lassen. Serrano Suñer protestierte höflich. Die wichtigsten Berater des Caudillo hätten Nachforschungen angestellt, die zweifelsfrei bewiesen, dass der Bolschewismus ein angeborenes Gebrechen sei, vergleichbar der rassischen Degeneration. »Das mag schon sein«, erwiderte Himmler verärgert. »Aber Sie packen diese Dinge trotzdem falsch an. Schon mit besseren sanitären Bedingungen und einer Verdopplung der Brotrationen ließe sich die Produktivität der Gefangenen verzehnfachen.«

Ein Carlist mit roter Baskenmütze grüßte mich und führte mich ins Allerheiligste. Das Märtyrerkloster mit seinen aus dem 12. Jahrhundert stammenden farbenfrohen Bögen im Mudejar-Stil diente heute anderen Zwecken: Morgens war es Hinrichtungsstätte, tagsüber Grünanlage. Im Zentrum stand eine Garotte, darunter war ein schwarzer Fleck Erde zu sehen, feucht von den täglichen Ausscheidungen erdrosselter Männer. Während ich abwesend diese blutige Pfütze betrachtete, tauchte der Carlist mit einem Häftling auf.

»Sind Sie Proinnsias Pike?«, fragte ich unsicher auf Englisch. Er hatte die schwarzen Haare und das blasse, koboldhafte Gesicht wie auf dem Foto in meinen Unterlagen. Aber das Gefängnis ließ ihn abgemagert und leer aussehen, so gar nicht der bärenstarke irische Raufbold, den ich erwartet hatte.

»Wenn Sie kein Irisch sprechen, sagen Sie Frank. Aber die meisten nennen mich einfach Pike.« Die Stimme bildete einen deutlichen Kontrast zu seinem Äußeren, ein makelloser Bariton mit einem Tonfall, der mir verführerisch erschien.

»Also gut, dann eben Pike. Ich heiße Johann Grotius und arbeite für die deutsche Botschaft in Madrid«, sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen.

Er warf mir einen zweifelnden Blick zu, ehe er einschlug. Ich merkte, dass er zitterte.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns kurz unterhalten?«

»Um zwei gebe ich eine Tennisstunde, danach speise ich mit der Herzogin, aber ich kann Sie sicher irgendwo dazwischenschieben.«

»Wo Sie gerade vom Essen reden«, sagte ich und nahm ein Stück Fuet, einen kleinen runden katalanischen Käse und zwei Brötchen aus der Tasche. »Souvenirs aus Barcelona.« Pikes Augen drohten aus ihren Höhlen zu springen. »Hier entlang, bitte«, sagte ich und führte ihn in eine Ecke.

Es war ein warmer Augusttag, aber Pike, der einen verdreckten Uniformrock und eine Drillichhose mit einem Stück Seil als Gürtel trug, zitterte wie im tiefsten Winter. Er sah mich misstrauisch an. »Könnten wir lieber ein bisschen gehen? Es tut mir gut, die Beine zu bewegen.«

»Natürlich«, sagte ich. »Aber wollen Sie nicht essen?«

»Wir Iren verfügen über die erstaunliche Fähigkeit, unsere Münder und Beine gleichzeitig zu bewegen.«

Wir machten uns auf den Weg über den kreuzförmig angelegten Pfad. Natürlich bemerkte Pike mein Gebrechen, aber er sagte nichts. Ich habe ein leicht entstelltes Bein – einen Klumpfuß. Das linke Bein ist sechs Zentimeter kürzer als das rechte, der Fuß ungefähr fünfzehn Grad nach innen gedreht. Ich trage einen orthopädischen Schuh, der, bei leichtem Humpeln, volle Bewegungsfreiheit ermöglicht. Abgesehen von den zu erwartenden Kindheitsproblemen, Hänseleien und Ausschluss vom Sport, hat das Gebrechen mein Leben nicht beeinträchtigt. Jedenfalls bis Goebbels das Rednerpodium betreten hat. Seitdem hagelt es Vergleiche. Der Giftzwerg hat uns Klumpfüßigen – zumindest den deutschen Klumpfüßigen, die sich nicht als fanatische Nationalsozialisten betrachten, in dauerhafte Verlegenheit gestürzt. Es kam mir so vor, als hätte jeder Spanier, dem ich in den vergangenen sieben Jahre begegnet war, es für nötig befunden, auf diese Gemeinsamkeit mit Señor Gebel hinzuweisen. Einer war sogar so weit gegangen, mir den Spitznamen Gebelito anzuhängen, der mich weit mehr traf als jedes »Missgeburt« und »Kobold« auf dem Schulhof. Deshalb war ich dankbar, dass Pike, ob aus Vorsicht oder Höflichkeit, auf einen Kommentar verzichtete.

Er steckte die Brötchen und den Käse in die Tasche, biss methodisch kleine Happen von der Fuet ab und kaute jeden Bissen bis zum Gehtnichtmehr.

»Sieht aus, als hätten Sie hier eine harte Zeit gehabt, Pike«, bemerkte ich.

Er starrte mich ausdruckslos an, was die Idiotie meiner Aussage noch unterstrich. Damals wusste ich noch nicht, dass sein Gehör sich zusehends verschlechterte.

»Wie kommen Sie zurecht?«, fragte ich.

»Oh, großartig, einfach ganz toll. Sie wissen sicher, was man über die Gastfreundschaft der Falange sagt – immer ein frischer Kessel Tee, ein warmes Bett und ein Tritt in die Zähne. Sagen Sie, ist es wahr, dass Frankreich in nur sechs Wochen gefallen ist?«

»Ja, zusammen mit den Niederlanden. Auch Dänemark und Norwegen haben kapituliert.«

»Und England?«

»Hält noch durch, im Moment jedenfalls. Aber die Luftwaffe hat noch eine Menge Bomben, die sie abwerfen kann.«

»Wird Franco sich am Krieg beteiligen?«

»Unwahrscheinlich«, sagte ich. Natürlich hatte Franco Treue im Kampf gegen die Verschwörung der internationalen jüdisch-bolschewistischen Demokraten versprochen. Aber er verlangte, dass die Deutschen ihm dafür Gibraltar und die Hälfte Nordafrikas gaben, dazu einen unaufhörlichen Nachschub von Getreide und Benzin. Der Führer hatte dieses an Bedingungen geknüpfte Hilfsangebot nicht besonders freundlich aufgenommen, zumal er dem General gerade seinen Krieg gewonnen hatte.

»Hören Sie, Pike. Ich möchte mit Ihnen über Ihre persönliche Situation sprechen. Sie haben sicher gehört, dass Ihr Todesurteil umgewandelt worden ist.«

»Stattdessen hat man mir einen lebenslangen Urlaub in dieser hübschen Umgebung geschenkt.«

Ich reichte ihm eine Zigarette. »Was sagen Sie dazu?«

»Ich bin gefangen in einer Trappistenzelle«, sagte er in melodiösem Tonfall.

»Ja, ich fürchte schon. Es sei denn …«

»Warum klingen Sie eigentlich nicht wie ein Deutscher?«, fragte er.

»Wie bitte? Oh, Sie meinen mein Englisch? Na ja, vermutlich habe ich eine gewisse Sprachbegabung. Als Student habe ich eine Zeit in England verbracht. Und Sie?«, fragte ich. »Sie klingen nach Limerick mit einem Anflug von New York. Haben Sie noch Kontakte nach Amerika?«

»Wie Sie sicher wissen, war ich seit meiner Zeit als pickliger junger Arsch nicht mehr dort – oder ›klingt‹ das nicht durch?«

Ich wusste es nicht. Sein Anwalt, der zu unseren Spionen gehörte, hatte Kopien der Briefe weitergeleitet, die Pike zur Zeit seiner Gefangennahme bei sich trug. Briefe einer Schwester in New York, von Freunden aus Irland, die zur regierenden Fianna-Fáil-Partei oder zur IRA gehörten, und von der School of Celtic Languages am University College Dublin. All das machte ihn aus unserer Sicht potenziell zu einem strategisch wichtigen Agenten. Allerdings hatte er im Gegensatz zu den meisten anderen Häftlingen in den beiden vergangenen Jahren keinen einzigen Brief geschrieben.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte er.

»Gut, wenn Sie Direktheit bevorzugen, möchte ich Ihnen eine Gegenfrage stellen. Was erwarten Sie vom Leben?«

»Zum Nazi zu werden steht auf meiner Liste jedenfalls nicht weit oben. Mir die eigenen Nüsse abzukauen kommt noch knapp davor.«

»Niemand will Nazi werden. Ich bin auch kein Nazi.«

»Sie arbeiten bloß für die.«

»Zufälligerweise bin ich Deutscher. Ich arbeite für Deutschland. Ich kann nichts daran ändern, dass eine Bande Krimineller und Schwachköpfe in meinem Land die Macht übernommen und uns einen Krieg beschert hat, den niemand wollte, den wir aber gewinnen werden.«

In der Abwehr wurden wir ermuntert, eine klare Linie zwischen Nazis und Deutschen zu ziehen, wenn es darum ging, einen potenziellen Rekruten für uns einzunehmen. Ich bildete mir gern ein, dass offene Verachtung für das Regime zum Teil deshalb Erfolg hatte, weil sie – zumindest in meinem Fall – nicht geheuchelt war.

»Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich mit den gegebenen Umständen abzufinden, um zum bestmöglichen Ergebnis zu kommen.«

»Am besten für wen? Für Sie selbst?«

»Für die Welt. Und damit auch für Sie und mich. Ich möchte Ihnen helfen, was Ihnen wiederum ermöglichen wird, dem irischen Volk zu helfen.«

»Eine reizvolle Vorstellung«, sagte er lachend. »Aber ich fürchte, dass wir Sozialisten uns nicht so leicht umfärben lassen.«

»Wir wollen Sie zurück nach Irland schicken. Helmut Kriegsmann hat gesagt, Sie wären für diese Idee wahrscheinlich zugänglich.«

Ausnahmsweise konterte er nicht mit einer cleveren Bemerkung. »Helmut der Cherusker hat Sie geschickt?«

Ich nickte. »Er sagt, Sie würden sich in der politischen Lage dort zurechtfinden. Sie wüssten, wie sich die Kluft zwischen de Valeras Regierung und den IRA-Rebellen überbrücken ließe, damit sie für die gemeinsame Sache gegen die Briten zusammenrücken.«

Pike lachte. »Das Einzige, womit ich mich seit zwei Jahren auskenne, sind harte spanische Steine.«

»Immerhin wissen Sie genug, um zu wissen, dass dieser Krieg anders als der letzte ist. Falls die Russen sich heraushalten, wird England bald besiegt sein. Dann ist der Traum eines deutschen Europa Realität. Und wenn wir die richtigen Verbündeten finden, gilt das auch für den Traum eines vereinten, unabhängigen Irland.«

»Und wenn Hitler verliert?«

»Das ist möglich, obwohl es nicht danach aussieht. So wie es nicht danach aussieht, als würde Ihre frischgebackene Republik jemals ohne die Hilfe einer militärischen Macht, die England besiegen kann, zu einer Einheit werden. Möchten Sie nicht dabei helfen, die Teilung zu überwinden?«

»Mit welchem Ziel? Soll ich helfen, aus Irland statt einer englischen eine deutsche Kolonie zu machen?«

»Soweit ich weiß, hat Deutschland kein Problem mit der irischen Souveränität. Letztlich läuft alles auf die simple Tatsache hinaus, dass alles, was England schadet, gut für unsere beiden Länder ist. Deutschland kann Irlands Freund sein und umgekehrt. Aber warum geben wir uns mit geopolitischen Spekulationen ab? Sie müssen die Lage realistisch einschätzen. Es geht um das Schicksal Irlands, aber auch um Ihres. Die Frage, die Sie sich stellen sollten, ist die, wie Sie aus diesem Gefängnis herauskommen, wenn nicht durch die Zusammenarbeit mit uns.«

Schweigend umkreisten wir die Garotte. Ich blieb stehen und positionierte mich so, dass er über meine Schulter hinweg die Hinrichtungsstätte im Blick hatte. »Betrachten Sie es einmal so: Ich biete Ihnen Ihre Freiheit. Im Gegenzug verlange ich nur Ihre Freundschaft.«

2

Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens: Betreffend seine mörderischen Heldentaten in Berlin

Die Eingeweide

Die Fortsetzung der Großtaten von Finn McCool – Untertan des Taoiseach von Erin und exilierter Kommandant der Fenier. Finn, der Männer durch die Marschen Erins und das leichenübersäte Tal des Ebros gejagt hat, war in dem Augenblick, in dem wir ihm begegnen, auf der Spur seiner Beute in den Eingeweiden Teutoniens.

Ein von inneren Organen überquellender Pferdekarren klapperte über das Kopfsteinpflaster von Horst-Wessel-Stadt. Die Ausdünstungen fanden ihren Weg in die untertassengroßen Nasenlöcher von Finn McCool und erfüllten sein weises Hirn mit Schlachtduft. Der Geruch war unverwechselbar. Übler als die verdorbenen Überreste, die in jenen sonnengebleichten Fässern schwappten, übler sogar als die stinkende Luft von Friedrichshain, die von Hundescheiße, Verzweiflung und in die Spree strömenden Industrieabwässern erfüllt war. Es war der Geruch von Morell. Dr. Theodor Morell. Homöopathischer Heiler und Arzt der Berühmtheiten. Der Herr der Nadeln. Der Giftpilz. Der Leibarzt Adolf Hitlers.

Finn kroch am Kai entlang und folgte der organischen Fracht, die aus den entferntesten Ecken Slawiens gekommen war. Als die beiden Wärter sich von einem Mädchen-Ruderteam auf dem Wasser ablenken ließen, schlüpfte er durchs offene Tor der Warenanlieferung und versteckte sich hinter einer Metalltreppe im Fabrikraum. Genau hier wurden die Innereien in das lebensspendende Serum verwandelt, das durch Hitlers Venen floss. Finn war gekommen, um ein wenig zu panschen. Nach allem, was er aus seinem heimlichen Versteck beobachten und riechen konnte, bestand eigentlich keine Notwendigkeit zu irgendwelchen Manipulationen. Die Zutaten waren selbst schon pures Gift. Schleimige Schafseuter, verfaulte Ochsenziemer, ein gottloser Eintopf aus Ziegendrüsen und Pferdevulven, die über die ukrainischen Ebenen gereist waren – all das musste jeden Mann töten, erst recht einen Vegetarier wie den Führer.

In Wahrheit konnte Finn sich nicht für eine so feige Mordmethode wie einen vergifteten Drink erwärmen. Nicht nach dem Vorfall mit dem verräterischen Fenier. Nein, er bevorzugte den offenen Kampf. Das Gefühl, wenn die Klinge bis zum Schaft in die Eingeweide dringt, das Stöhnen im Todeskampf, den Geschmack spritzenden Blutes. Natürlich hatte er keine Chance, Hitler so nahe zu kommen. Finn kletterte hinter der Treppe hervor und in einen Luftschacht. Er hatte einen anderen Plan.

Es kursierten Gerüchte, nach denen der Führer von seinen täglichen Injektionen abhängig geworden war. Ohne sie funktionierte er einfach nicht. Wenn diese Gerüchte zutrafen, musste man nicht in Hitlers Nähe kommen, um ihn zu fällen. Man musste lediglich den Mann eliminieren, auf den er angewiesen war, um durch den Tag zu kommen. Bring den Doktor um und töte mit ein bisschen Glück gleich auch den Patienten. Der Gedanke, dass ein nichtsnutziger, lebergeschädigter Fenier den Krieg mit einer einfachen Drehung seines Hirschhornmessers beenden könnte – dieser Gedanke brachte Finn derart zum Lachen, dass er beinahe sein Versteck verraten hätte.

Faschisten und Ärzte, so viel hatte Finn begriffen, waren verwandte Seelen, der faschistische Arzt ein tödlicher Hybrid aus beiden. Der Faschist war für seine Intoleranz gegen jede Mehrdeutigkeit, einen überzogenen Ekelreflex und die Vergötterung von Autorität berüchtigt. Der zweite Typ, der Mediziner, existierte als solcher schon wesentlich länger, wies aber verwandte Züge auf: die Sehnsucht, Ordnung durch das Schneiden in fremden Körpern herzustellen, die Bereitschaft zum Zufügen von Schmerzen und das Bedürfnis, die Realität auf bequeme Gegensatzpaare wie gesund und krank zu reduzieren. Die praktische Umsetzung dieser Persönlichkeitszüge konnte im passenden Kontext für sich schon zerstörerisch sein, aber in Kombination mit dem Faschisten war das Ergebnis ohne Ausnahme monströs.

Morell würde Finns sechstes Opfer sein. Das siebte, wenn man die unglückselige Angelegenheit im U-Boot mit einrechnete, was Finn lieber vermied. Die Kerben in seinem Kriegsknüppel standen für vier Naziärzte und eine Krankenschwester, reinrassige Parteimitglieder allesamt. Hitlers Arzt und – mit etwas Glück – Hitler selbst würden sein Werk krönen.

Das Problem bestand darin, dass Morell, obwohl krankhaft fettleibig und einzigartig übelriechend, schwer zu fassen war. Finn war ihm ein einziges Mal begegnet, hatte dem Mann sogar in seiner Praxis gegenübergestanden. Aber kaum hatte er den Arzt gesehen, da war dieser wie durch Zauber in einer Festung in den Wäldern im Osten verschwunden. Jetzt war seine Praxis verwaist, seine illustre, aus Mitgliedern des Reichskabinetts und aus Filmschauspielerinnen bestehende Patientenschaft stand mit ihren Rufen nach härteren Erektionen und weicherem Stuhlgang im Regen. Finn teilte das schwere Schicksal dieser Patienten: Ein Termin war unmöglich zu bekommen. Ärzte – sie mussten eliminiert werden!, dachte Finn in seinem weisen Hirn. Deshalb war er jetzt hier in der Hamma-Fabrik, schlängelte sich durch die enge Röhre und schrammte mit seinem Horn an heißem Metall entlang. Er brauchte einen neuen Zugang zu Morell.

Zentimeterweise schob er sich weiter, bis er die Entlüftungsöffnung über dem Fabrikbüro erreichte. So ruhig wie möglich atmend, schob er sein Gesicht ans Gitter. Am Schreibtisch unter ihm arbeitete ein Mann, der mit dem Rücken zur Öffnung saß. Finn erkannte den kahl werdenden Schädel und die hängenden, über ein Geschäftsbuch gebeugten Schultern. Der Mann musste bald zum Mittagessen aufbrechen, dann konnte Finn in den Akten stöbern. Sicher enthielt einer dieser Schränke ein Blatt mit der Privatadresse des Arztes. Gerüchteweise hatte der Führer ihm eine Villa irgendwo in den westlichen Vororten gekauft, als Gegenleistung für die erfolgreiche Behandlung seines Ekzems. Das Problem war, dass es westlich von Berlin verschiedene Vororte gab, von denen einige proppenvoll mit Villen waren. Er hatte seine verbliebenen Freunde bei den Wilden – junge Außenseiter, die sich an den Seeufern im Grunewald herumtrieben – gebeten, nach dem fetten Arzt Ausschau zu halten, aber bisher hatten die jungen Indianer nur einen Jagdhund mit goldenem Halsband und die Leiche eines ertrunkenen Kleinkinds gefunden.

Fünfzehn Minuten vergingen, die Mittagsglocke ertönte. Zu Finns Überraschung blieb der Angestellte allerdings an seinem Platz. Normalerweise folgten die Teutonen geradezu mechanisch ihren Gewohnheiten. Niemals würde dieser Mann an seinem Arbeitsplatz essen. So etwas galt hierzulande als unhygienisch und typisch für die ordinären Gewohnheiten von New Yorker Finanzmenschen und Filmmoguln aus Hollywood – eindeutiges Symptom liberal-jüdischer Dekadenz. Dann läutete die Zurück-an-die-Arbeit-Glocke um eins, trotzdem zeigte der kleine Büro-Maulwurf kein Anzeichen des Nachlassens. Finn hörte, wie er beim Rechnen leise die Summen vor sich hinsang: Einundvierzig, Fünfundsiebzig, Zweihundertdreiundzwanzig …

Finns Gliedmaßen [perfekte Muskelstränge] fingen an, sich zu verkrampfen. An seiner Nasenspitze sammelte sich Schweiß und tropfte aufs Metall. Er wollte seine Position verändern, blieb dabei aber mit der Brustwarze an einem vorstehenden Nagelkopf hängen und stöhnte auf. Der Angestellte unterbrach seine Berechnungen, hob den Kopf und hielt nach irgendetwas Ausschau, das den Bericht seiner Ohren bestätigen konnte. Finn verharrte reglos und spannte jede am Hals verlaufende Sehne an, um das Gesicht so weit wie möglich vom Gitter entfernt zu halten. Als er nichts sah, nahm der Mann eine Gurke, ein Glas Senf und ein Stück Schwarzbrot aus seiner Schreibtischschublade, wandte Finn den kahlen Hinterkopf zu und machte sich wieder an die Arbeit.

Finn gelangte zu dem Schluss, dass er warten musste, bis der Angestellte fort war. Also setzte er seine sinnlichen Wahrnehmungen auf Sparflamme und zog sich in die Ungestörtheit seiner eigenen Gedanken zurück, wie er es in den Jahren seiner spanischen Gefangenschaft so oft getan hatte. Er ging sein Repertoire an Geschichten durch. Ermüdet von all den Episoden aus seiner Jugend in Irland, den kriminellen Missgeschicken in New York und seiner ernüchternden politischen Weiterbildung in Spanien beschloss er, sich an der Geschichte seiner Auferstehung aus der Grube zu ergötzen und die Metamorphose zum mächtigen Jäger Finn an sich vorbeiziehen zu lassen. Er würde sich die Geschichte von Finn McCool erzählen, dem geheimen, todbringenden Ambidexter, Geißel der Naziärzte und Retter Europas – im Augenblick gefangen in den Eingeweiden.

3

Tagebuch

17. Dezember 1943

Im Spätsommer 1940 holte ich ihn in Hendaye ab. Zu der Zeit war die Luftschlacht um England im Gange. (Ich möchte hinzufügen, dass sich die RAF zum Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, in vollem Umfang revanchiert.)

Zwei Zivilgardisten brachten ihn in einem schwarzen Hispano-Suiza zur Grenze, dessen silberner Storch den Schleier aus angestrahltem Nebel durchbrach. Pike stieg aus und überquerte zu Fuß die Brücke nach Frankreich, wo ich wartete. Er trug eine Uniform der Guardia Civil.

»Hallo, Mephistopheles«, sagte er und ergriff meine Hand. »Wir haben uns nie richtig die Hand gegeben, um den Verkauf meiner Seele zu besiegeln.«

Durch die Nacht fuhren wir nach Paris. Pike sagte kaum etwas. Er schaute durchs offene Fenster hinaus und sog die Luft ein, gierig wie ein Hund.

In der Morgendämmerung hielten wir in Poitiers. Er frühstückte das erste Mal seit zwei Jahren, wobei ich einen ersten Eindruck von seiner geselligen, lustbetonten Art bekam.

»Mein Gott, haben Sie das gesehen?«, fragte er, als die Bedienung uns das Essen gebracht hatte.

»Was?«

»Das Mädel, Mann. Dieses hinreißende Etwas von Kellnerin. Haben Sie ihre Arme gesehen? So möchte ich sterben – totgeschlagen von diesen feinen, schlanken Mädchenarmen. Ich muss feststellen, dass die Frauen in den letzten beiden Jahren noch hübscher geworden sind.«

Dazu hatte ich nichts beizutragen.

»Sagen Sie«, wechselte er das Thema. »Stimmt es, dass Trotzki tot ist?«

Es stimmte.

»Wer hat ihn umgebracht?«

»Jemand, der sich als verschmähter belgischer Sozialist ausgibt, aber mit ziemlicher Sicherheit zu Stalins NKWD-Leuten gehört.«

Pike schüttelte den Kopf. »Und ich dachte, die Wärter hätten es nur erzählt, um uns zu verspotten. Himmel, dieser Kaffee schmeckt traumhaft.«

Soweit ich mich erinnere, war an dem Kaffee nichts Besonderes, auch wenn er damals meist noch aus echten Kaffeebohnen gebraut wurde, nicht aus Zichorien und Dreck wie heute.

Mir war aufgefallen, dass er sein Essen in kleine Happen geteilt und gleichmäßig auf dem Teller arrangiert hatte. Als er merkte, dass ich ihn beobachtete, erklärte er: »Angewohnheit aus dem Gefängnis. Damit das Brot länger hält. Wir haben mit dem am wenigstens Schimmeligen angefangen und uns zu dem mit dem meisten Schimmel vorgearbeitet.«

»Ich glaube, ich hätte es umgekehrt gemacht und mir gesagt, dass das Essen mit jedem Bissen besser wird.«

»Nun ja«, sagte er mit einem Stück Croissant im Mund. »Sie demonstrieren Ihre völlige strategische Unkenntnis beim Konsum vergammelter organischer Substanzen. Der Schimmel legt sich komplett auf Ihre Zunge. Der Geschmack ist scharf und ausdauernd. Wenn Sie mit dem am meisten verschimmelten Stück anfangen, schmeckt das restliche Brot, auch das unverdorbene, eklig. Aber wenn Sie die wenigen kostbaren, nicht besudelten Stücke zuerst essen, mit sauberem Mund und auf dem Höhepunkt Ihres Hungers, dann haben Sie es geschafft, sich an einem Ort, wo sonst nur Schmerz und Entbehrung herrschen, ein kleines bisschen Genuss zu verschaffen. Als würden Sie sich aus dem Schwefel der Hölle ein kühles himmlisches Pint zapfen.«

Ich sagte, es müsse doch trotzdem schrecklich gewesen sein, jede Mahlzeit mit einem verdorbenen Geschmack im Mund zu beenden.

»Ah, aber endet so nicht auch das Leben, Grotius – mit einem verdorbenen Geschmack?«

Er gab sich keinen Illusionen hin, dass es für ihn auf andere Weise enden könnte. »Ich habe die besten Happen des Lebens verspeist. Jetzt, wo ich mich euch angeschlossen habe, kommen die schimmeligen Brocken. Aber immerhin esse ich noch. Sehen Sie, das ist mein Problem. Ich bin immer noch hungrig aufs Leben, auch wenn es verdorben ist.«

»Die größte Narrheit, die ein Mensch in diesem Leben begehen kann, ist, sich mir nichts, dir nichts ins Grab zu legen«, zitierte ich.

»Woher stammt das?«

»Aus Don Quijote. Sancho sagt es zu seinem Herrn an dessen Sterbebett.«

»Gott segne die Bauernlegende und ihren rustikalen Humor.«

In diesem Moment war mir klar, dass ich ihn mochte.

Nach unserem Aufbruch in Poitiers schlief Pike. Ich hatte zum Frühstück zwei Pervitin genommen und fühlte mich, als könne ich bis China durchfahren.

Wir waren noch eine Stunde von Paris entfernt, als er sich regte. »Grotius! Natürlich! Jetzt hab ich es endlich.«

Sein Aufschrei verwirrte mich. »Was? Was haben Sie?«

»Ihr Name. Er ist mir im Schlaf erschienen. Hugo Grotius. De Jure Belli ac Pacis. Ich sehe den Buchrücken im Regal meines Vaters vor mir. Kennen Sie es?«

»Über das Recht des Kriegs und des Friedens.«

»Sind Sie mit ihm verwandt?«

»Nicht dass ich wüsste. Obwohl ich ein paar niederländische Vorfahren habe.«

Natürlich hieß ich in Wirklichkeit nicht Grotius, aber ich hatte die Wahrheit gesagt. Und ich bin ziemlich sicher, dass der Jurist Grotius auf unserem Bücherregal gestanden hatte. Jedenfalls bevor mein Vater die komplette Familienbibliothek verkaufte. Als ich dreizehn wurde, waren von der spektakulären, fünftausend Bände umfassenden Sammlung meines Großvaters Johannes De Groot nur die gebundenen Hauptbücher aus zwei Jahrhunderten, eine Lutherbibel und eine im 18. Jahrhundert erschienene Abhandlung über die Herstellung von Rum übriggeblieben. Ich erinnere mich an die Worte meines Vaters, als die letzte Fuhre Bücher abtransportiert wurde: »Mehr braucht ein Flensburger Kaufmann nicht.« Erst später, nach seinem Tod, entdeckte ich, dass mein Vater eine geheime Bibliothek für sich behalten hatte.

Da das Thema nun aufgekommen ist und dieses Tagebuch vielleicht die einzige bedeutsame Aufzeichnung meines Lebens sein wird, sind wohl einige Worte über meine Herkunft angebracht. Meine Familie stammte von den nördlichen Rändern Deutschlands – Friesen und Holländer auf Seiten meines Vaters, Dänen bei meiner Mutter, dazu als eigenwillige Zutat in diesem Eintopf ein vereinzelter Sachse. Die De Groots hatten sich mitten im Chaos des Dreißigjährigen Kriegs und des Untergangs der Hanse von Fischern zu Kaufleuten entwickelt. Ein Jahrhundert später war Groot & Arnesen das profitabelste Unternehmen in Flensburg. Zucker und Rum aus Dänisch-Westindien und Walöl aus Grönland wurden an unseren Docks angelandet und füllten unsere Truhen mit Geld. Auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs betrieb die Firma ihre eigene Rum-Destillerie.

Unser Schicksal veränderte sich mit Bismarck. Als Flensburg 1864 preußisch wurde, begann der lange, Buddenbrooks-artige Niedergang meiner Familie. »Früher haben wir ganz Europa das Leben versüßt«, prahlte mein Vater, der zu Übertreibungen neigte, vor allem, wenn es um die Vergangenheit ging. Er war Fatalist und betrachtete es als seine Pflicht als Sohn und Epigone, das Schiff des Familiengeschäfts auf seinem vorbestimmten Weg in die Vergessenheit zu steuern. Jeden Versuch, unseren Kurs zu ändern oder im Einklang mit den Zeiten weiterzuentwickeln, betrachtete er als Verrat. Obwohl seine Identität an ein Unternehmen geknüpft war, dessen einziger Zweck der Profit gewesen war, betrachtete er Geld als einen Fluch, als etwas, das so schnell wie möglich ausgegeben oder verspielt werden musste. Er sah das Kaufmannstum als sein Geburtsrecht, das nicht mehr Hege und Pflege brauchte als gelegentlich ein bisschen frische Farbe auf dem Familienwappen.

Als ich im Jahr 1902 in ein Patrizierhaus neben der Marienkirche und die äußeren Insignien ererbten Reichtums hineingeboren wurde, war vom einstigen Familienimperium nur noch die Rum-Destillerie geblieben. Noch dazu war es schlechter Rum, wie ihn die gebrochenen Veteranen auf der Straße tranken. Im Jahr 1921 war die G&A-Destillerie bankrott, mein Vater konsumierte mehr Alkohol, als seine Firma verkaufte. Zum Glück musste ich es nicht aus der Nähe mit ansehen. Ich war in einem Internat in England, das von Geld finanziert wurde, das meine Familie nicht mehr besaß, als Teil einer Goodwill-Kampagne zur Verbesserung der britisch-deutschen Beziehungen. Gerade hatte ich ein Stipendium für die Universität von Salamanca bekommen. Am Ende dieses Jahres, meines ersten in Spanien, verweigerte die Leber meines Vaters ihren Dienst.

Einen Monat nach der Beerdigung kam ich zurück, um das Haus zu verkaufen und mich um meine Mutter und meine Schwester zu kümmern. Eines Morgens, als ich seinen Kleiderschrank ausräumte, entdeckte ich eine kleine, hinter seiner atemberaubenden Sammlung von Anzügen versteckte Tür. Zögerlich drückte ich dagegen. Als ich mich auf der anderen Seite plötzlich in einer bis zur Decke mit Büchern voller Perversionen gefüllten Bibliothek wiederfand, wurde mir klar, dass ich meinen Vater nie gekannt hatte. Zu schrecklichen Posen verdrehte Körper, gefesselt mit Metallzwingen und Ledergurten. Von Holz und Knochen durchbohrtes Fleisch. Schmerz und Lust untrennbar verbunden. Bilder, die mich nach all den Jahren noch verfolgen.

»Ich frage mich, was der muffige alte Humanist zu unserem kleinen Arrangement hier sagen würde«, bemerkte Pike, in Gedanken noch bei dem Juristen, dessen Namen ich trug. »Wir glauben – besser gesagt: diejenigen von uns, die für eine bessere Welt gekämpft haben, glaubten –, dass wir Fortschritte machen, Schritt für Schritt, Jahrhundert für Jahrhundert. Aber schauen Sie sich bloß an, was jetzt in wenigen Jahren passiert ist. Rechtsstaatlichkeit, eine internationale Gemeinschaft friedliebender Staaten, die universell gültige Menschenwürde – all diese vierhundert Jahre alten Ideen von Grotius sind in Windeseile über den Haufen geworfen worden. Wenn man heute über so etwas spricht, kann man sich gleich mit einem Eskimo unterhalten. Und dafür können wir uns bei Ihrem Boss Hitler – Entschuldigung, bei unserem Boss Hitler – bedanken.«

Ich entgegnete, Hitler sei weder mein Boss noch seiner.

»Ich wünschte, ich besäße Ihr Talent zur Selbsttäuschung, Grotius. Hoffentlich bringt man es mir auf der Spionschule bei.«

Ich hielt den Mund.

»Mein Vater hat mir mal erzählt, Grotius habe aus den Spanischen Niederlanden in einem Koffer voller Bücher nach Frankreich fliehen müssen«, sagte Pike und streckte sich so gut wie möglich auf dem engen Sitz aus. »Eine längere und holprigere Reise als in dieser Metallkiste hier. Warum fährt ein Deutscher wie Sie eigentlich einen Renault? Sind Sie nicht verpflichtet, alles Französische zu verachten?«

»Im Gegenteil«, sagte ich. »Wie Sie bald sehen werden, lieben die Deutschen französische Dinge. Sie verachten nur die Franzosen und deren Ideen.«

~

Paris im Sommer 1940 fühlte sich an, als hätte die komplette SS die Stadt für eine Junggesellenparty in Beschlag genommen. Schon das bloße Hindurchfahren an einem Samstagmittag fühlte sich irgendwie schamlos an. Die Champs-Élysées stanken nach ausgekotztem Champagner und Pisse. Uniformierte Offiziere tranken in den Straßencafés mit ihren Kurtisanen oder führten wie Touristen ihre Dänischen Doggen spazieren. Das mürrische Madrid gefiel mir bei Weitem besser, sogar in ausgehungertem und kriegsmüdem Zustand. Nicht nur, dass ich Paris nicht mochte – was für mich wie für alle im Ausland geborenen Hispanisten gilt. Wir alle misstrauen dem lässigen Charme der Stadt und lehnen ihren unhinterfragten Anspruch auf kulturelle Überlegenheit ab. Die Nazis wollten Paris erobern, es aber auch genießen. Noch als Eroberer standen sie unter seinem verführerischen Zauber, was mich zutiefst ärgerte. Beim Anblick von Landsleuten, die meine Sprache sprachen und sich als Nachfahren von Lessing und Goethe wähnten, sich aber zu Herren über ein Volk aufschwangen und dabei betrunkene Touristenfantasien auslebten, schämte ich mich, ein Deutscher zu sein. In Madrid hatten die franquistischen Halunken, mit denen ich zusammenarbeite, so etwas wenigstens ihren eigenen Leuten angetan. Dort war ich vor allem Beobachter, nicht Angehöriger der Besatzungsmacht.

Wir speisten im La Tour d’Argent. Canaris hing der Überzeugung an, dass Spione mit Annehmlichkeiten überschüttet werden sollten – wahrscheinlich hatte ich deswegen den Befehl erhalten, zweihundert Kilometer Umweg für ein Mittagessen auf mich zu nehmen. Angesichts der Umstände, unter denen Pike zuletzt gelebt hatte, glaube ich allerdings, dass er vor allem irritiert war. Während wir durch das schmale Treppenhaus in die sechste Etage hinaufgingen, bemerkte ich, dass der Anzug, den ich Pike mitgebracht hatte, an ihm herunterhing wie ein Bettlaken. (Vermutlich ist er mir bis zum Schluss größer erschienen, als er in Wirklichkeit war.) Außerdem war auf unangenehme Weise offensichtlich, dass er noch nicht geduscht hatte, nachdem er den Kerker in Burgos verlassen hatte. Ich beobachtete, wie er die Eleganz des Speisesaals mit seinen aufwändigen Wandtäfelungen, Kronleuchtern und den riesigen Fenstern mit Blick auf Notre-Dame und die Seine in sich aufnahm. Der Mann sah sich um, als hätte er sich im Wald verlaufen.

»Keine Sorge, Pike, es ist ganz normales Essen. Man spießt es mit der Gabel auf und schiebt es sich in den Mund.«

»Danke für die Information. Damit haben Sie mir die Peinlichkeit erspart, es mit dem Arsch zu verschlingen.«

»Und Sie brauchen sich die Happen auf dem Teller nicht zurechtzulegen«, sagte ich. »Hier ist das Essen nicht verdorben. Was man von der Kundschaft leider nicht behaupten kann.«

Wir näherten uns dem Tisch, an dem Veesenmayer und Kriegsmann uns erwarteten. Ich verfiel in den farblosen Tonfall, den ich in Gesellschaft von Hitler-Verehrern grundsätzlich anschlug. Zuerst stellte ich Pike Dr. Edmund Veesenmayer vor, der zu jener Zeit als Sonderberater für Irland im Außenministerium arbeitete. Er war SS-Mann und leidenschaftlicher Nazi. Und, als wäre das nicht schon abstoßend genug, dazu noch Professor für Politologie. Wie der Führer trug er die Haare schräg über die Stirn gekämmt, unter seiner Haut traten die Venen so deutlich hervor, dass man sich an eine geschwollene Eichel erinnert fühlte. Inzwischen ist er nach Zagreb versetzt worden, wo er sich zweifellos dem Abschlachten von Serben und Juden hingibt.

»Ich glaube, Helmut Kriegsmann kennen Sie schon.«

»Helmut der Cherusker!«, rief Pike und umarmte ihn, womit er die Aufmerksamkeit anderer Gäste auf sich zog. Ich bemerkte, dass er ziemlich laut sprach, zu laut für einen Spion.

Mit Kriegsmann hatte ich weniger Probleme, eigentlich mochte ich ihn sogar. Er gehörte zu den Brandenburgern, einer Kommandoeinheit, die auf Sabotage und Aufstände spezialisiert war, und verströmte die Aura eines verwegenen Abenteurers – die Art Kriegertypus, der zu sein die Veesenmayers dieser Welt insgeheim träumten. Veesenmayer verehrte Kriegsmann wegen der Eigenschaften, die ihm selbst fehlten, die er aber dermaßen schätzte, dass er sich einreden konnte, sie zu besitzen. Wie ein Sammler, der dem Wahn erliegt, allein durch den Besitz eines wunderschönen Gemäldes irgendwie für dessen Entstehung verantwortlich zu sein.

Kriegsmann war der führende Kopf hinter Pikes Freilassung gewesen. Kaum jemand in Deutschland wusste so viel über Irland wie er. Was natürlich kein großes Kunststück war, weil niemand in Deutschland irgendetwas über Irland zu wissen schien. Vor dem Krieg war er Doktorand am Trinity College in Dublin gewesen, wo er die Migrationsgewohnheiten von Wasservögeln studiert, Deutsch unterrichtet und sich in die IRA verliebt hatte. Pike war ein alter Freund von Kriegsmanns irischer Frau Val.

Während die beiden alten Freunde sich auf den neuesten Stand brachten, musste ich mich an Veesenmayer halten. Der Mann sah aus, als wäre er mit Öl eingerieben.

»Er stinkt«, sagte er und meinte Pike.

»Das würde jeder tun, der gerade aus San Pedro de Cardeña kommt.«

»Wie ich gehört habe, war der Reichsführer nicht glücklich über seine Reise nach Spanien.«

»Ich weiß nicht, was Sie gehört haben, aber ich hatte den Eindruck, es ging ihm gut«, sagte ich in Erinnerung an Himmlers tägliche Wutausbrüche.

»Er sagte, die Abwehr habe keinen Finger gerührt, um deutsche Verräter aufzuspüren, die in Spanien gekämpft haben.«

»Verräter? Soweit ich weiß, waren das Reich und die Republik nie offiziell im Kriegszustand.«

»Kommunisten, Anarchisten, Verräter. Alles dasselbe.«

»Canaris sieht es nicht als unsere Aufgabe an.«

»Was für unbeteiligter Haufen ihr doch seid. Nichts scheint eure Aufgabe zu sein. Deshalb muss der Sicherheitsdienst auch die ganze Arbeit erledigen.«

Himmler war mit Franco übereingekommen, dass die Gestapo in Spanien ungehindert operieren durfte, im Gegenzug dafür, dass sämtliche spanischen Republikaner, die irgendwo im erweiterten Reich aufgegriffen wurden, in die Heimat zurückgeschickt wurden. Diese Übereinkunft war gleichzeitig ein indirekter Angriff auf die Abwehr, weil sie zur Folge hatte, dass Heydrich, das Monster aus Himmlers Labor, uns auf die Finger schauen und dafür sorgen sollte, dass Canaris in ideologischen Fragen nicht zu lasch vorging. Weder Hitler noch Himmler hatten volles Vertrauen in Canaris. Er war kein Parteimitglied und zudem noch Exzentriker, ein Fuchs, ein Piratenkapitän, der sein Schiff voller Spione dorthin lenkte, wo es ihm gefiel.

»Merken Sie sich meine Worte, Grotius«, sagte Veesenmayer. »Die Tage eures Haufens sind gezählt.«

Zum Glück tauchte der Kellner mit unserem Essen auf. Andererseits war mir nach den bösartigen Ermahnungen, die Veesenmayer mit unbewegter Miene vorgetragen hatte, der Appetit vergangen. Wir bekamen Canard à la presse, die, mit einer langen Gabel fixiert, an unserem Tisch tranchiert wurde. Pike wäre das Kinn beinahe auf die Tischdecke gefallen. Ich hatte schon Angst, er wäre in eine Schockstarre verfallen, aber er fing sich schnell und griff nach seinem Besteck.

»Wussten Sie, dass Heinrich IV. in genau diesem Restaurant hier die Gabel in die französische Küche eingeführt hat?«, sagte Veesenmayer auf Englisch, als wolle er beweisen, dass seins so flüssig war wie unseres.

»Was ist das für eine Nummer?«, fragte Pike und deutete auf eine kleine Karte neben seinem Teller.

»Das ist die Seriennummer der Ente«, sagte Kriegsmann. »Und offenbar wurde Ihnen Nummer 300.130 serviert.«

»Ist das eine neue deutsche Bestimmung?«, fragte Pike.

Kriegsmann und ich lachten, Veesenmayer wirkte verärgert.

»Im La Tour d’Argent wird seit Jahrhunderten die beste Ente in ganz Frankreich serviert. Es ist eins der ältesten Restaurants Europas«, erklärte er gereizt.

Wir alle begannen zu essen.

»Warten Sie«, sagte Veesenmayer und streckte die Hand aus wie ein Verkehrspolizist. »Zur Ente brauchen wir einen neuen Wein. Dieser passt nicht.« Er rief den Kellner und verlangte die Weinkarte.

»Ist das wirklich nötig? Dieser Mann hier«, ich deutete auf Pike, »hat seit Jahren kein Fleisch zu essen bekommen!«

»Wenn Sie Ihr Essen ruinieren wollen, nur zu«, sagte Veesenmayer.

Pike aß weiter. Kriegsmann und ich sahen uns verlegen an, weil wir uns beide spontan dem Kommando Veesenmayers gefügt hatten. Jetzt fuhren auch wir mit dem Essen fort.

»Ich speise also mit Barbaren«, sagte Veesenmayer mürrisch.

Der Kellner brachte etwas, das wie ein Wörterbuch aussah. Veesenmayer setzte die Brille auf seine Nasenspitze, blätterte nervös und verlangte dann lautstark nach einem Cheval Blanc von 1921.

Als der Kellner die Flasche brachte, hielt Veesenmayer ihn zur Strafe für unsere Aufsässigkeit davon ab, uns einzuschenken. Es war nicht ganz klar, ob es ein Scherz sein sollte, aber Pike sah aus, als würde er ihm die Flasche am liebsten auf dem Kopf zertrümmern.

»Sie mögen mich für einen Pedanten halten, Herr Pike, aber ich versichere Ihnen, dass es nichts Ernsthafteres gibt als das Vergnügen. Und Vergnügen verlangt Disziplin.«

»Mann, bin ich froh, dass ich nicht Ihre Freundin bin«, sagte Pike mit dem Mund voller Ente, die er mit einem Glas von Veesenmayers verbotenem Bordeaux, das er sich selbst einschenkte, herunterspülte.

Der Mann verachtete Autoritäten und hatte ein flottes Mundwerk. Eigentlich war es ein Wunder, dass er ein falangistisches Gefängnis überlebt hatte. Ich fand es aufregend. Und, ich muss es zugeben, auch verführerisch.

Bei Brandy und Zigaretten berichtete Kriegsmann uns von seiner letzten Mission, die des Wetters wegen abgebrochen worden war. Wenn es um Operationen ging, die mit Irland zu tun hatten, war die Nordsee anscheinend unser furchterregendster Feind. Bei der Operation Lobster hätte er mit einem Funkgerät an den Stränden von Dingle abgesetzt werden sollen. Aber vor der Küste waren sie in einen Sturm geraten, der das Fischerboot beinahe zum Kentern gebracht hätte. Während Kriegsmann unerschrocken geblieben war, hatte der Kapitän sich geweigert, im Sturm ans Ufer zu fahren, und war umgekehrt. Pike, vom Wein berauscht, lauschte seinem alten Freund Kriegsmann mit geschlossenen Augen und einem matten Lächeln wie ein Kind, das eine Gutenachtgeschichte hört.

Nach dem Mittagessen fuhren wir zu dem Château im Loiretal, in dem Pike ausgebildet werden sollte. Ich würde übers Wochenende bleiben und dafür sorgen, dass er sich anständig einlebte. Dann sollte ich mit dem Montagszug von Paris nach Madrid zurückkehren. Ich genoss die Vorstellung eines ruhigen Wochenendes auf dem Land mit minimalen Verpflichtungen. Ich hatte sogar ein Schwarzmarktexemplar von Zweigs Erasmus von Rotterdam mitgenommen, in das ich mich am nächsten Tag im Schatten eines Baums vertiefen wollte.

Das Château war ein beeindruckendes Renaissance-Überbleibsel mit zinnenbewehrtem Dach und italienischen Ornamenten, das nur bewies, wie tief die Baukunst in jüngerer Zeit gesunken war. Zweifellos waren die früheren Besitzer des Hauses enteignet worden, weil sie als rassisch oder politisch unwürdig galten. Mit irgendwelchen Tricks musste Canaris es dann in seinen Besitz gebracht haben.

Als wir durch den Haupteingang traten, marschierte Veesenmayer wütend an uns vorbei. Er suchte den Verwalter, Marcel, den er wegen irgendwelcher Nachlässigkeiten im Zusammenhang mit der Zufahrt zur Rede stellen wollte. Er sagte, wir sollten in der Küche warten. Dort befanden sich schon drei andere Rekruten, die am steinernen Kamin rauchten. Ein Amerikaner, ein Elsässer und ein böhmischer Deutscher. Alle waren ungewöhnlich groß, sodass sie mit den Köpfen fast an die vom Deckengewölbe hängenden Kupferkessel stießen

Wir taxierten uns gegenseitig schweigend, bis ein engelhafter Mann die Treppe herunterkam und in die Hände klatschte. »Moin, moin!«, rief er mit verschmitztem Lächeln und einer Wange voll Kautabak.

Er stellte sich als Kapitän Arne Töller vor und hieß alle in seinem »Haus der Täuschung« willkommen. Er trug eine grüne Reithose, einen weiten weißen Kittel und eine griechische Fischermütze. Das mediterrane Flair bildete einen komischen Kontrast zu seinem Plattdeutsch, das mich an meine Kindheit im Norden erinnerte. Kapitän Töller fuhr fort, indem er ankündigte, den vielversprechenden Rekruten in den kommenden Wochen ein paar »nützliche kleine Tricks« beizubringen – Verschlüsselung, drahtlose Kommunikation, unsichtbare Tinte und Sprengstoffe –, die »Meister der Täuschung« aus ihnen machen würden.

Was für seltsame Gestalten die Geheimdienste doch beschäftigen, dachte ich. In diesem Moment stieß Finn mich an. »Ich habe keine Ahnung, was der Kerl da redet.«

Beschämt, dass ich das Thema bis jetzt nicht aufgebracht hatte, fragte ich Pike, ob er ein bisschen Deutsch spreche.

»Sauerkraut, Danke schön, Flugzeug – mehr brauche ich doch wohl nicht?«

Ich seufzte und schlüpfte zum zweiten Mal in diesem Monat in die Rolle des Dolmetschers. Wenigstens tat es ich nicht für Himmler.

Pike bekam ein Zimmer im Château, ich wurde in der Remise untergebracht, ein bisschen unkomfortabler, als ich erwartet hatte. Das Zimmer war feucht und roch nach Schimmel, der Baldachin des Betts hing staub- und spinnwebenbedeckt herunter, die Matratze fühlte sich an, als wäre sie mit Knochen vollgestopft. Immerhin gab es fließendes Wasser und einen Zimmerofen, auf dem ich Wasser kochen konnte. Ich hatte mir gerade Badewasser einlaufen lassen, als es an der Tür klopfte.

Vom vielen Fahren und vom schweren Essen erschöpft, tat ich, als hätte ich nichts gehört. Ich drehte den Wasserhahn wieder auf und hoffte, mein Besucher werde den Wink verstehen. Aber das Klopfen ging weiter. Ich hüllte mich in ein Handtuch mit dem Monogramm des früheren Besitzers und ging zur Tür.

Es war Pike. »Grotius – mein Übersetzer, mein Befreier –, ich muss noch einmal um einen Gefallen bitten.«

»Sicher, Pike, aber kann das nicht warten, bis ich gebadet habe?«, antwortete ich gereizter, als ich eigentlich wollte. Plötzlich fühlte ich mich in meiner Nacktheit befangen. Ich hatte einen schlanken Oberkörper, den ich pflegte und in Form hielt, in der Hoffnung, damit von meinem Bein abzulenken. Ich merkte, dass Pike mich bis zum Saum des Handtuchs hinunter gründlich musterte.

»Ich fürchte, es kann nicht warten, Grotius. Es ist über zwei Jahre her …«

Ich sah ihn verständnislos an.

»Begreifen Sie nicht, Mann? Ich denke die ganze Zeit an dieses Mädchen im Café und an die Frauen auf den Straßen von Paris, sogar an die dicke Gräfin, die beim Essen am Nebentisch saß. Ich kann mich kein bisschen auf die Spionagearbeit konzentrieren, bevor ich nicht ordentlich mit dem Schlitzauge gezwinkert und mir den ganzen Saft aus dem Gehirn gespritzt habe.«

»Tja, was erwarten Sie von mir?«, fragte ich. »Hier gibt es keine Frauen.«

Ich wusste nicht, ob er die unausgesprochenen Implikationen meiner Aussage mitbekam. Ich hatte sie selbst nicht mitbekommen, bis ich es gesagt hatte. Jetzt fürchtete ich, er werde glauben, ich böte ihm eine Alternative an. Es sei denn, er war es, der mir ein Angebot machte.

»Was ist die nächstgelegene Stadt?«

»Tours, aber es ist praktisch zerstört.«

»Gibt es eine Stadt in der Nähe, die nicht zerstört ist?«

»Wahrscheinlich Orléans. Obwohl man dahin fast eine Stunde fährt.«

»Dann müssen Sie mich nach Orléans bringen. Und sei es nur für eine Stunde.«

Ich erklärte, er sei verrückt. Sicher würde sich solch ein Ausflug irgendwann arrangieren lassen, aber nicht heute Abend. »Sie haben nicht mal Papiere, Pike. Wenn die Behörden Sie nun in Gewahrsam nehmen? Ihnen ist doch klar, dass es zum Handwerk eines Spions gehört, unentdeckt zu bleiben?« Ich erinnerte ihn daran, dass er in Spanien als Ausbrecher galt, was bedeutete, dass die französischen Behörden und die Gestapo ihn zurückschicken würden.

»Genau deshalb müssen Sie ja mitkommen, Grotius. Zeigen Sie jedem, der uns Ärger machen will, einfach Ihren Abwehr-Ausweis.«

Ich lachte. »Die Gestapo in Orléans wird es wenig beeindrucken, dass ich für die Botschaft in Madrid arbeite.«

»Und es gibt sicher keinen Weg, Sie zu überzeugen?«, fragte Pike langsam und ließ den Blick mein Handtuch hinunterwandern.

Ehe ich reagieren konnte, stieß er mich zurück aufs Bett, ging auf die Knie, löste das Handtuch und nahm mich in den Mund. Die Plötzlichkeit und die Erregung waren zu viel für mich. Ich spürte seine feuchte Zunge, seine eigene Härte an meinem nackten Bein und kam, bevor ich die erste intime Berührung seit Jahren wirklich genießen konnte.

Pike stand auf und wischte sich den Mund am Ärmel ab. »Können wir dann fahren?«

4

Finn McCool in den Eingeweiden Teutoniens

Die Grube

Als der Wärter Finn aus seiner Zelle holte, hing der Geruch der morgendlichen Exekutionen noch in der Luft. War es das, fragte er sich? Sein Name war nicht aufgerufen worden, was allerdings nichts bedeuten musste.

In den vergangenen zweihundert Tagen hatte der Priester jeden Morgen die Liste der verdammten Seelen intoniert. Und jeden Morgen war sein Name gerufen worden. Bei O begann sein Körper zu zittern. Oppenheimer, Ordoñez, Orozco, Orsen, Peña, Perec, Pérez, Pike – jedes Mal versetzte ihm der Klang seines Namens einen Stich. Noch heute bekam er Kopfschmerzen, wann immer er die spanische Aussprache seines alten Namens hörte, Pi-que. Jeden Morgen öffnete der Wärter Clemente laut klappernd die Zellentür und führte ihn hinaus in den Klostergarten, hinter den anderen von der Liste der Verdammten. In der ersten Zeit, als die Liste noch lang gewesen war, wurden die Gefangenen vor die Steinmauer gestoßen und erschossen. Später, als die Reihen sich lichteten, wurde die Garotte aufgestellt. Zweihundert Tage lang hatten sie Finn gezwungen, im Stehen den Exekutionen zuzusehen und auf seine eigene zu warten. Bis er am Ende allein im Garten stand und zurück in seine Zelle geführt wurde.

Vierhundert Tage waren vergangen, seit sein Name zum letzten Mal aufgerufen worden war. Aber jetzt war Wärter Clemente mit dem stets resignierten Gesichtsausdruck gekommen und trieb Finn mit dem Schlagstock den Wandelgang entlang. Im Garten des Kreuzgangs schimmerte die Garotte in der Mittagssonne.

Drei Krähen hüpften um die Lachen von Erbrochenem am Fuß der Garotte herum und pickten im halbverdauten Brot, während Wärter die letzte Leiche wegschleiften. Keiner von ihnen achtete auf Finn.

Gerade redete er sich zu, dass er heute nicht sterben würde, als er hinter sich eine Stimme hörte.

»Ich habe doch gesagt, dass ich komme.«

Finn drehte sich um und sah in das papierdrachenartige Gesicht des Anwalts Baroucin. Er war dem Mann nur einmal begegnet, bei seiner Gerichtsverhandlung. Wenn man den Ausdruck denn verwenden wollte – schließlich war nichts verhandelt worden. Nach zwanzig Minuten hatte der Vorsitzende Militärrichter ihn zum Tode verurteilt, wie auch das Dutzend andere Gefangene aus den Internationalen Brigaden an jenem Morgen. Baron Baroucin, dessen Spanisch einen leicht französischen Tonfall hatte und der wie der Inbegriff eines reaktionären Aristokraten wirkte, hatte den Richter höflich gebeten, eine Reduzierung der Strafe auf lebenslänglich in Erwägung zu ziehen. Der Richter lehnte die Bitte ab, danach hatte Finn seinen Anwalt nicht wiedergesehen.

»Ich habe Neuigkeiten«, sagte der Mann jetzt.

Finn, der wenig Lust hatte, über die Gedanken des Anwalts zu spekulieren, starrte ihn einfach an.

»Franco hat Ihre Todesstrafe umgewandelt.«

Finn dachte über die Worte nach, nahm sie auseinander und setzte sie wieder zusammen. Ihm kam es vor, als wäre er in diesem Garten schon mehrmals gestorben.

»Dann soll ich also den Rest meines Lebens hier verbringen?«

Baroucin trat näher an Finn heran und flüsterte ihm ins Ohr. »Eigentlich nicht.«