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Wie alles begann – das Prequel zur Anna-Kronberg-Serie Das Prequel zur Anna-Kronberg-Serie: London, 1885. Anna versteckt sich als vorgebliche Krankenschwester im schlimmsten Slum der Stadt und behandelt Prostituierte, Bettler und Kleinkriminelle aller Art. Keiner weiß von ihrem Doppelleben und dass sie tagsüber als Dr. Anton Kronberg im Guy's Hospital praktiziert. Als der irische Dieb Garret O'Hare, der aus einer Schusswunde blutet, tief in der Nacht in ihre Wohnung einsteigt und auf ihrem Bett zusammenbricht, nimmt ihr Leben eine unerwartete Wendung – nicht nur, weil sie Zuneigung zu dem hünenhaften Dieb mit der Löwenmähne empfindet.
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Seitenzahl: 235
Annelie Wendeberg
Ein Anna Kronberg Krimi
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Über Annelie Wendeberg
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Annelie Wendeberg ist eigentlich Umweltmikrobiologin. Doch eines schönen Wintermorgens klappte sie die Augen auf und dachte sich: »Ich schreib mal was.« Seither versucht sie Forschung – ihre Leidenschaft – leicht verständlich und spannend in Blogartikeln zu vermitteln. Sie schreibt über alles Mögliche, was irgendwie mit Wissenschaftlern, Biologie, Umwelt, Ökologie und Mikrobiologie zu tun hat. Des Nachts bringt Annelie Leute um. Auf dem Papier (ach Quatsch, auf dem Bildschirm). Eigenartigerweise klappt das auf Englisch am besten. Sie publiziert ihre Bücher selbst in den USA. Nachdem ihr erster Krimi »Teufelsgrinsen« Zehntausende Leser in den USA gefunden hatte, schickte Annelie zaghaft ein Exemplar an den KiWi-Verlag. Seitdem ist sie eine glückliche Indie-Autorin mit Verlagsanschluss. Ihre drei bisher erschienenen Kriminalromane um Anna Kronberg und Sherlock Holmes: »Teufelsgrinsen« (KiWi 1424), »Tiefer Fall« (KiWi 1428), »Die lange Reise« (KiWi 1439).
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Das Prequel zur Anna-Kronberg-Serie: London, 1885. Anna versteckt sich als vorgebliche Krankenschwester im schlimmsten Slum der Stadt und behandelt Prostituierte, Bettler und Kleinkriminelle aller Art. Keiner weiß von ihrem Doppelleben und dass sie tagsüber als Dr. Anton Kronberg im Guy’s Hospital praktiziert. Als der irische Dieb Garret O’Hare, der aus einer Schusswunde blutet, tief in der Nacht in ihre Wohnung einsteigt und auf ihrem Bett zusammenbricht, nimmt ihr Leben eine unerwartete Wendung – nicht nur, weil sie Zuneigung zu dem hünenhaften Dieb mit der Löwenmähne empfindet.
»Eine gewaltige schwarzromantische Verschwörungsromanze. Das Duell zweier Deduktionsmonster. Ein hartes Leben, ein verkommenes Land, ein ziemlich schöner Roman« (Elmar Krekeler, Die Welt, über »Teufelsgrinsen«).
Schusswunde
Einbruch
Geburt
Huren
Das Mädchen
Verschwunden
Kräuter
Garret
Anna
Sally
Salben
Scotty
Vernarbt
Auf Abwegen
Störungen
Verschwunden
Mann im Spiegel
Newgate
Krankheit
Frankenstein
Baylis
Alf
Nate
Butcher
Das längste Messer
Der Löwe
Fat Annie
Rose
Tanz
Sonne
Epilog
Schlusszitat
Danksagung
Die Seele ist immer schön.
Walt Whitman
Die Finger des Diebes gleiten über sein Werkzeug. Das Blut gerinnt schnell, warmer Matsch auf grob gehämmertem Eisen. Die Gasse ist schmal und finster wie Hundegedärm, keine einzige Laterne brennt. Das Gas ist knapp diese Woche.
Er tastet erneut über das Schlüsselloch, dann wählt er einen anderen Dietrich. Er spürt, wie er mit jedem Moment schwächer wird. Inzwischen zittern ihm die Knie, und seine Zunge ist so ausgedörrt, dass er nicht mehr schlucken kann. Das Blut summt ihm in den Ohren. Der notdürftige Verband schneidet in seine Oberschenkel, doch er kann den Blutfluss nicht stoppen.
Seine letzte Hoffnung liegt hinter dieser gottverdammten Tür.
Er drückt die Stirn gegen das rissige Holz und flucht. Dann beruhigt er die zitternden Hände und lässt das Werkzeug wieder in das Schloss gleiten. Es klickt zweimal. Sein Herz macht einen Satz.
Ein Geräusch. Der Schock reißt sie aus dem Bett, noch bevor ihre Beine ganz wach sind. Jemand kommt die Treppe herauf: groß; jemand, der sich nicht anhört wie ihr versoffener Vermieter. Und doch – könnte er vielleicht tiefer als gewöhnlich ins Glas geschaut haben, sodass sein übliches Gestampfe nun diesem unsicheren Gang gewichen ist?
Sie wickelt den Morgenmantel um ihr Nachthemd und schnappt sich ein Messer aus der Küche; ihre Knöchel sind hart wie Stein, so fest hält sie den Griff umklammert. Sie entfacht eine Kerze und drückt mit der nackten Ferse gegen die Tür, als könne sie so einen Eindringling abwehren. Das Herz trommelt ihr wild gegen die Rippen.
Eine Faust schlägt auf Holz. Zwei Mal.
»Wer ist da?«
»Bin angeschossen«, keucht der Fremde.
Sie bewegt den Fuß, öffnet die Tür ein Stück und linst durch den Spalt. Fahles Licht dringt durch die Lücke. Zuerst fällt ihr Blick auf einen Brustkorb, dorthin, wo sich normalerweise der Kopf einer Person ihrer Größe befände, und wandert dann nach oben. Mit jedem weiteren Zentimeter breitet sich die Angst in ihr aus. Die Stirn und die Schläfen des Mannes sind blutverschmiert – Schlieren, dort, wo er sich den Schweiß abgewischt hat. Eine wirre rote Mähne, hellblaue Augen, das Gesicht aschfahl.
Um sich zu beruhigen, umklammert sie das Messer fester. Die Schneide ist lang genug, um Brust, Herz und Lunge eines ausgewachsenen Mannes zu durchdringen. Selbst eines so riesigen.
»Kumpel meinte du bist ’ne Krankenschwester.« Seine Stimme ist ein kratziges Stöhnen. Er blinzelt, taumelt und ist kurz davor, durch die Tür zu fallen.
Reflexartig tritt sie zur Seite und lässt ihn herein. Starker Blutverlust, Schock. Ihr Verstand wiederholt die Diagnose und kalkuliert das Risiko, heute Nacht verletzt zu werden.
Sie deutet auf einen Stuhl, überlegt und zieht ihn dann zu ihm heran. Der Türrahmen knarrt, als er sich daran festhält. Er stolpert ins Zimmer und nimmt mit einem Schnaufen Platz. Sie steckt das Messer hinten in den Gürtel des Morgenmantels und ermahnt sich, dem Mann nie den Rücken zuzukehren.
Seine Stiefel haben dunkle Abdrücke auf den Dielen hinterlassen. Dicke Blutstropfen bilden eine Spur von der Tür bis zum Stuhl.
»Lehn dich zurück«, befiehlt sie und greift nach seinem Hosenbund. Als sie ihm hilft die Hose auszuziehen, breitet sich Schamesröte auf seinem Gesicht aus und vertreibt die Blässe. Sie zerrt an der Hose, schnauzt »Heb deinen Hintern, Mann!« und reißt sie ihm mit einem Ruck herunter. Die Hose bleibt an den Fersen hängen. Ein letztes Zerren und sie fliegt außer Sichtweite, zusammen mit den Schuhen. Mit einer Schere schneidet sie ein Bein der durchweichten Unterhose ab; das kalte Metall streift kaum seine Haut. Sie zieht einen Druckverband aus ihrem Arztkoffer und bindet den Oberschenkel ab.
Er zittert und fällt fast vom Stuhl.
»Heilige Scheiße!«, stöhnt er, als sie eine brennende Flüssigkeit über die Wunde kippt.
»Sauberer Schuss«, stellt sie fest. »Ist direkt durchgegangen. Die großen Blutgefäße scheinen intakt zu sein.« Sie legt die lange Zange, die sie in der Hand gehalten hatte, zurück in die Tasche und mit ihr verschwindet der panische Ausdruck vom Gesicht des Mannes.
Dann holt sie eine Rolle Verband heraus und wickelt sie ihm um den zuckenden Oberschenkel. »Kannst du aufstehen?«, fragt sie.
Seine Augen verdrehen sich, die Lider flattern. Erst knickt ihm der Kopf weg, dann die Schultern.
Sie versetzt ihm eine Ohrfeige. Dann noch eine. Beim zweiten Mal richtet er sich wieder auf. Sie zieht ihn am Arm hoch und bellt einen Befehl, den er nicht versteht. Dennoch kommt er wieder zu sich, schafft es auf einem Bein zu stehen, jedoch nicht, alleine zu laufen. Sie tapsen ein paar Schritte vorwärts. Dann schlägt er mit dem Gesicht voran auf ihrer Matratze auf.
»Heilige Scheiße!«, nuschelt er und schließt die Augen.
Der Dieb liegt auf weiche Kissen gebettet. Er saugt tief den Duft von frisch gewaschenem Leinen ein. Ein Seufzer entfährt ihm. Als er den Kopf dreht, kratzen seine Bartstoppeln über Baumwolle. Ein Daunenkissen? Er hat noch nie …
Er schlägt die Augen auf. Vor ihm auf dem Stuhl hockt eine stinkende Kakerlake. »Wer bist du?«, raunzt er den Jungen an.
Der kleine Drecksack entblößt mit einem Grinsen eine breite Zahnlücke – ihm fehlen ganze vier Vorderzähne. »Barry«, antwortet er.
Die Hände, das Gesicht, alles an dem Jungen ziert – mangels Kontakt mit Wasser und Seife – eine graubraune Schmutzkruste. Die Kleidung ist ein Mosaik aus Flicken. Nur das Messer – mit einer Schneide so lang wie sein Schienbein – wirkt deplatziert.
Der Dieb blinzelt. Sein Gehirn fühlt sich ein wenig träge an. Als er die Beine bewegt, erinnert ihn ein stechender Schmerz an den gestrigen Abend. Eine Frau hat seine Schusswunde versorgt, eine Schusswunde direkt neben seinen Weichteilen. Beinahe hätte er dabei auf ihren Fußboden gekotzt. Oder hat er? Ein kurzer Blick, und er stellt erleichtert fest, dass das Zimmer sauber ist. Ungewöhnlich sauber.
»Hast du die Frau mit dem Ding da geschlachtet?« Er deutet auf das Messer.
Barry verdreht die Augen und quiekt: »Sie hat gesagt, ich soll dich im Auge behalten.«
Barry ist erst sechs Jahre alt. Zumindest nimmt er das an. Er weiß nicht, welcher Tag heute ist oder welches Jahr geschrieben wird, doch er weiß genau, dass der Dieb ihm mühelos das Genick brechen kann. Um die Gefährlichkeit seiner Waffe zu demonstrieren – sowie seine Furchtlosigkeit – fährt er mit der Spitze des Messers unter den Fingernägeln entlang und entfernt kleine Dreckwürstchen.
»Und warum sollte sie eine so gefährliche Aufgabe einem Knirps wie dir anvertrauen?«, fragt der Dieb.
»Geht dich nichts an.« Die harsche Zurückweisung aus so junger Kehle klingt eher belustigend.
Der Dieb setzt sich auf und das Blut weicht aus seinem Gesicht. Grunzend schafft er es bis zum Bettrand und lässt beide Füße über die Kante baumeln.
Barry deutet mit dem Messer in die hintere Ecke des Raumes. »Sie sagt, du kannst nach Hause gehen, wenn du es bis dahinten schaffst, ohne ohnmächtig zu werden.« Die letzten Worte intoniert er wie eine feine Lady, versucht zumindest so zu klingen. Nicht dass er je eine feine Lady gesehen oder gehört hätte. Mal ganz abgesehen davon, dass er eine feine Lady wohl kaum erkennen würde, wenn sie ihm über den Weg liefe, was so oder so ziemlich ausgeschlossen ist.
Schielend bemisst der Dieb die Entfernung. Seine Hose hängt über einem Stuhl, durch das Einschussloch blinzelt ein Sonnenstrahl. Da ist kein Blut auf der Hose. Sie muss sie letzte Nacht gewaschen haben. Was für eine merkwürdige Frau. Wieder sucht er mit den Augen die Dielenbretter ab, um sicherzugehen, dass er sich auch ganz bestimmt nicht in dem makellosen Zimmer übergeben hat. Er kann keine Anzeichen seines Blutes ausmachen, auch die Abdrücke seiner schmutzigen Schuhe sind über Nacht verschwunden.
Er zuckt die Schultern, drückt sich vom Bett ab und stolpert vorwärts. »Heilige Scheiße!«, keucht er und stützt sich an der Wand ab. Das Zimmer dreht sich ein wenig. Bedächtig setzt er einen Fuß vor den anderen und tastet sich an der Wand entlang, der Putz ist rau unter seinen Händen.
Schließlich erreicht er den Stuhl und sinkt erschöpft darauf nieder. Das Holz gibt ein mitleiderregendes Knarzen von sich. Mit großer Mühe zieht er sich die Hose über das schmerzende Bein. Der dicke Verband behindert ihn. Auf seiner Stirn juckt der Schweiß.
»Du siehst ein bisschen grün um die Nase aus«, witzelt der Junge.
Der Dieb atmet schwer, knöpft den Hosenstall zu und steht auf. »Ich nehme diesen Stuhl mit«, sagt er.
Barry zieht die Augenbrauen so hoch, dass sie unter seiner Mütze verschwinden. Er schüttelt den Kopf und hebt warnend das Messer.
»Ich brauche ihn als Krücke. Ich bringe ihn zurück.«
Der Kopf des Jungen wackelt immer noch hin und her.
Der Dieb wird wütend. Sein Bein pocht und er weiß nicht, wie lange er sich noch aufrecht halten kann.
Der Junge fuchtelt wieder mit dem Messer. Heilige Scheiße, denkt der Dieb, als er die selbst gebaute Krücke neben dem Bett der Krankenschwester sieht. Das üblicherweise bunte Repertoire an Flüchen versagt sich ihm heute. Er fasst sich an den Kopf. Vielleicht hat er da ja auch etwas abbekommen.
Draußen auf der Straße knurrt dem Dieb der Magen. Er hat so großen Hunger, er könnte eine ganze Kuh vertilgen, mit allem, was dazu gehört. Aber eine oder zwei Pasteten müssen reichen. Seine Zunge verlangt nach einem Pint Bier. Er überschlägt sein Budget. Nein, er wird nur einen Tee trinken. Der katastrophale Einbruch letzte Nacht hat ihm nur einen Schilling eingebracht, dazu ein Loch im Bein und eins in der Hose, abgesehen von der weiterhin ausstehenden Miete.
Keuchend lehnt er sich gegen eine Mauer, als ihm seine Einbruchwerkzeuge einfallen. Er klopft die Hosentaschen ab. Hat er seine Ausrüstung bei der Krankenschwester zurückgelassen?
Zu erschöpft, um sich auf die Jagd nach etwas Essbarem zu machen, humpelt er nach Hause – ein kleines Zimmer in einem heruntergekommenen Gebäude, nicht ganz so baufällig wie die Häuser in der Nachbarschaft.
Das vertraute Knarren der Tür, der Geruch von erkalteten Talgkerzen, seine Matratze in der Ecke – unwiderstehlich einladend. Er braucht nur eine Mütze Schlaf, um die Müdigkeit loszuwerden. Aber zuerst muss er seinen Durst löschen. Er nimmt den Krug mit Wasser von dem wackeligen Holztisch und leert ihn in drei Zügen. Er greift sich eine Scheibe altbackenes Brot und schlurft hinüber zu seiner Schlafecke. Das Stroh knistert, als sein gesundes Knie auf der Matratze aufschlägt. Er zieht das verletzte Bein nach, rollt sich zusammen und nagt an dem harten Kanten. Schon zwei Minuten später schnarcht er laut.
Ein Schuss lässt ihn hochfahren. Oder war es ein Klopfen? Da, schon wieder. »Wer ist da?«, grummelt er laut genug, dass man es durch das dünne Holz hören kann.
»Ich bin es«, antwortet sie.
Er versucht, sich an ihren Namen zu erinnern. Hat sie sich letzte Nacht vorgestellt? Er müht sich ab aufzustehen, froh, dass er angezogen ist, und humpelt zur Tür.
»Du hast deine Dietriche vergessen.«
Ihr kurzes Haar schockiert ihn. Die schwarzen Locken, die sie sich hinter die Ohren geklemmt hat, können sich kaum hinter den zarten Ohrläppchen halten. Hatte er sie gestern Abend gar nicht angeschaut, oder konnte er sich nur nicht erinnern?
Sie hat kaum Busen. Mit den hohen Wangenknochen, den geschwungenen Augenbrauen und der Nase, die so scharf ist wie die eines Raubvogels, strahlt sie eine ungeheure Entschlossenheit aus. Fast weicht er vor ihr zurück. Sie ist gerade mal halb so groß wie du, verdammt!, schilt er sich selbst.
Als sie an ihm vorbei ins Zimmer geht, folgt er ihr mit dem Blick. Ihre Schulterblätter zeichnen sich ab unter dem weichen Stoff des Kleides und erinnern ihn an gefaltete Vogelflügel, zu klein, um abzuheben.
Die Werkzeuge immer noch in ihrer Hand, zeigt sie auf sein Bein. »Barry hat dir doch sicher gesagt, dass der Verband jeden Tag gewechselt werden muss, oder?«
Verwirrt schüttelt er den Kopf. Sie knallt ihre Tasche auf den Tisch und hebt eine Augenbraue.
Also schließt er wortlos die Tür und geht hinüber zu einem Stuhl. Selbst nach dieser kurzen Strecke ist es eine Erleichterung, das Bein nicht mehr zu belasten.
»Zieh die Hose aus.«
Er hustet. Er wird rot, als er an den Knöpfen fummelt und verlegen ihrem Befehl nachkommt.
»Du bist in mein Haus eingebrochen«, stellt sie fest und wickelt den Verband ab.
»Ich heiße Garret«, murmelt er.
Sie drückt auf das gerötete Fleisch um die Schusswunde herum. Nur mit Mühe unterdrückt er ein Stöhnen.
»Was zum Teufel?«, ruft er, als sie sich hinunterbeugt und mit der Nase fast seinen Oberschenkel berührt.
»Riecht sauber. Keine Infektion. Gut.« Sie richtet sich auf, lächelt, und der Dieb fällt fast in Ohnmacht. Sie hatte gerade ihr Gesicht an meinen Eiern! Beinahe, jedenfalls …
Die Frau zieht eine Flasche und ein Taschentuch aus ihrer Tasche, verteilt eine braune Flüssigkeit um das Einschussloch herum und tupft dann sachte über die Wunde. Eine klare Flüssigkeit sickert heraus und vermischt sich mit der braunen.
Der Dieb, inzwischen bleich, bemüht sich nach Kräften, an seine Großmutter zu denken; ihre letzten Tage, ohne Zähne, haarlos, halluzinierend, ihre Scheiße hatte ausgesehen wie kleine Pferdeäpfel. Es hilft nichts. Er sieht, wie der Blick der Frau kurz über die verdächtige Ausbeulung in seiner einbeinigen Unterhose flackert, als sie seine Wunde verbindet.
Sie richtet sich auf und streicht die Vorderseite ihres Kleides glatt. Ihr Unterkiefer mahlt. Mit einer Stimme so eisig wie Graupel sagt sie: »Wenn du dich nicht jeden Tag mit Seife wäschst, wird sich die Wunde infizieren, und du wirst sterben. Ich kann das Bein nicht so dicht am Hüftgelenk absägen. Morgen zeige ich dir, wie du den Verband wechseln und die Wunde desinfizieren kannst. Einen schönen Tag noch.«
Die Tür knallt hinter ihr ins Schloss.
Garret sitzt auf seinem Stuhl, zittert und ist unsicher, ob er seine Hose wieder anziehen kann, ohne dabei in Ohnmacht zu fallen.
Die Frau tritt aus der Haustür, wischt die dunklen Gedanken fort und schüttelt ihre Blässe ab. »Danke, dass du gewartet hast, Barry«, sagt sie und zieht sich den Schal enger um den Hals.
Der Junge nickt, schenkt ihr ein schiefes Lächeln, sagt: »Man sieht sich, Anna«, und flitzt um die nächste Straßenecke.
Anna eilt in die entgegengesetzte Richtung, eine mit Menschen, Unrat und Dreck verstopfte Straße hinunter.
An einer Ecke hält sie inne und sieht sich gründlich um. Sie muss sich sicher sein, dass ihr niemand folgt. Dann verschwindet sie in einer Gasse und schlüpft unbemerkt durch eine Hintertür in das Haus des Schusters.
Die Konifere piekt Garret am Nacken. Er schiebt den Zweig beiseite und verändert seine Position, vorsichtig darauf bedacht, unsichtbar zu bleiben. Das Brecheisen, der Glasschneider, ein Holzmesser und ein Stück Seil, alles in Stoffstreifen gewickelt, drücken gegen seinen Bauch. Auch seine Dietriche, die er selbst angefertigt hat, trägt er so bei sich. Er beobachtet eine in dreißig Metern Entfernung liegende Villa. Ein mächtig schickes Haus, würde er wohl feststellen, vergliche er es mit seiner eigenen Wohnstatt. Doch das tut er nicht. Das wäre Zeitverschwendung. Für ihn ist die Villa kein Haus. Sie ist ein Tresor, den er öffnen und ausräumen wird.
Trotz der späten Stunde sickert Licht durch zwei Fenster; alle anderen sind schwarze Löcher in den mit Efeu bewachsenen Steinwänden. Die Dienstboten hatten das Tor kurz vor dem Abendessen geschlossen, den Haupteingang ein paar Minuten nach elf Uhr abends, kurz bevor sie sich zurückzogen – ein gut geführter Haushalt, in dem das Personal seine Aufgaben noch vor Mitternacht erledigt.
Hinter den erleuchteten Fenstern, das hatte Garret in der ersten Nacht unter dem Baum beobachtet, lag das Schlafzimmer der Dame des Hauses. Ihr Mann, erzählten sich die Leute, hatte während des Krimkrieges eine Kugel in den Hintern bekommen. Dort blieb sie ein paar Jahre lang, bis er schließlich den immer wieder auftretenden Infektionen erlag. Der Liebhaber, den sich seine Frau genommen hatte, dürfte seinen Niedergang beschleunigt haben, oder aber auch nicht. Doch niedergegangen war er und verrottet nun zwei Meter tief im Untergrund, von kühlem Londoner Matsch bedeckt.
Sein deutlich jüngerer Ersatz macht nach wie vor täglich seine Aufwartung, kommt häufig schon zum Mittagessen, um dann gegen drei Uhr morgens aus dem Schlafzimmerfenster zu klettern. Dieser Mann ist eine vollkommen andere Art von Dieb. Ein Dieb, mit dem ein so versierter Einbrecher wie Garret nicht verglichen werden möchte. Der Kerl hatte sich eine Mätresse genommen, die reich genug war, ihm bis ans Ende ihrer Tage alles zu bezahlen, wonach ihm der Sinn stand. Jedes Mal, wenn Mr Lover seine Kleidung glatt strich – zerknittert vom letzten Kletterabenteuer – tätschelte er eine Wölbung in seiner Westentasche und schlenderte mit einem zufriedenen Lächeln davon.
Garret weiß, dass der Mann das, was immer sich in den Falten der feinen Wolle und Seide auch verbergen mag, versetzen wird, sobald sich ihm die Gelegenheit dazu bietet.
Garret verlagert leicht das Gewicht. Der Magen knurrt ihm, und seine Wunde pocht unangenehm. Die Kirchenglocken kündigen die Zeit an: vier Uhr morgens. Der Liebhaber hat das Haus immer noch nicht verlassen. Das Schlafzimmer ist nur schwach beleuchtet, und nichts regt sich.
Er betastet sein Brecheisen und die Dietriche, dreht sie hin und her, befühlt sie von der einen Seite, dann von der anderen. Er könnte es auf morgen verschieben. Doch der Hunger und die überfällige Miete zwingen ihn zu handeln.
Er überlegt, nur einen Blick in das Haus zu werfen. Er könnte durch die Haustür rein statt durch ein aufgeschnittenes Fenster. Und wenn er keine Spuren hinterließe und nur etwas Unauffälliges mitnähme? Irgendwelchen Kitsch, den keiner vermissen würde, der ihn aber ein paar Tage über Wasser hielte. Er könnte später zurückkommen und die wertvollen Sachen holen. Sein Magen gibt ein weiteres hohles Rumoren von sich, und er trifft eine Entscheidung.
Geräuschlos und mit überraschender Wendigkeit schleicht Garret zum Haupteingang. Einen Augenblick später verschwindet er im Schatten des dunklen Eichentürrahmens. Seine Hände tasten nach dem Schloss, ein scharfkantiges kleines Loch mit Einkerbungen und Zacken. Er streichelt es wie ein Liebhaber und versucht, ihm die Geheimnisse seiner Tiefen zu entlocken. Und ja, es erweist ihm den Gefallen und bedeutet ihm, welche Werkzeuge vielleicht passen. Er nickt bestätigend und probiert einen der Dietriche aus, dann einen anderen, bis er mit einem leisen Klicken belohnt wird.
Sachte drückt er gegen die Tür. Sie gibt ein winziges Stück nach und blockiert dann. Ein Türriegel, wie erwartet. Garret sucht einen dünnen Metallstreifen aus seiner Werkzeugkollektion aus und schiebt ihn zwischen die Tür und den Rahmen. Mit Dutzenden kleiner Bewegungen schiebt er den Riegel langsam zur Seite, betritt dann die dunkle Eingangshalle und schließt die Tür hinter sich.
Gedämpfte Stimmen dringen an sein Ohr, dämmriges Licht sickert die Treppe herab. Wäre er nicht hungrig und pleite, er würde auf dem Absatz kehrtmachen.
Es hat keinen Sinn, einen sehnsuchtsvollen Blick die Stufen hoch zu werfen, das weiß Garret. Der Schmuck ist sicher im Schlafzimmer der Lady verwahrt, so nah und doch so unerreichbar.
Also schleicht er durch die Eingangshalle in das Zimmer zu seiner Rechten, reißt ein Streichholz an, sieht sich um und zieht sich dann wieder zurück. Der Salon enthält nichts, was für ihn von Interesse wäre.
Er probiert es mit der Tür zu seiner Linken. Dieselbe Prozedur: Er reißt ein Streichholz an, nimmt alle Details in sich auf und prägt sich die von Bedeutung ein. Dann ist das Streichholz verglüht, und Dunkelheit umgibt ihn.
Das leise Murmeln kommt jetzt von genau über ihm. Die Stimme des Mannes klingt trotzig, die der Frau anklagend. Garret bewegt sich flink. Er kann die Entfernung zu den Objekten seiner Begierde genau abschätzen, die er im Schein der kleinen Flamme gesehen hat.
Er schnappt sich zwei kleine Statuen. Auch ein Brieföffner und ein Kristallaschenbecher finden ein neues Zuhause in seiner Jackentasche, und schon ist er bereit, zu verschwinden. In diesem Moment hört er einen Schrei. »Nein!«
Garret drückt sich an die Wand hinter den Brokatvorhängen. Schritte poltern die Treppe hinunter. »Oh, mein Geliebter, verlass mich nicht!«, fleht die Dame des Hauses mit bebender Stimme. Beide bleiben stehen, um dann wieder aufeinander zuzugehen und sich in der Mitte der Stufen zu treffen. Ein Seufzer, dann noch einer, bevor sie wieder nach oben gehen. Als das Bett das erste Quietschen von sich gibt, verlässt Garret sein Versteck.
Unten auf der Straße schlägt er sich auf den gesunden Schenkel und gluckst: »Weibsbilder!« Und damit wandert er in Richtung St. Giles.
Dort angekommen, betritt er durch die Hintertür und ohne anzuklopfen den Laden des Ramschhändlers.
»Was haste heut?«, will der Mann wissen und hebt die Augen kaum von einem zerfledderten Buch mit fettigem Einband und Eselsohren.
Der Ramschhändler hält sich für sehr belesen, obwohl sein Groschenheftchen, in dem Frauen in jeder erdenklichen Stellung posieren, oft mit männlichen Personen in anstrengender Pose an eine oder mehrere der weiblichen Körperöffnungen angeheftet, wohl kaum der klassischen Definition von Lektüre entspricht.
»Nur das Beste«, sagt Garret mit falscher Überzeugung und holt seine Beute hervor.
»Ich soll verflucht sein, wenn das nicht die hässlichsten fetten Engel sind, die ich je gesehen habe!« Der Mann starrt auf die beiden winzigen Statuen, wirft Garret stirnrunzelnd einen abschätzenden Blick zu und weiß, dass der Mann verzweifelt ist. »Jede zwei Pence.«
Sie feilschen, bis dem Dieb der Schweiß auf der Stirn steht. Ärgerlich zieht er ab. Ein Wirtshaus ist genau das, was er jetzt braucht. Vor seinem laut brüllenden Magen scheinen selbst die Ratten zu flüchten.
Drei Pasteten und zwei Pint Bier später sticht ihm jemand den Ellenbogen – komplett mit Parfumwolke und Rüschenärmel – in die Seite.
»Hey, Thrulow«, sagt Garret. »Haste heute Abend keinen Gentleman zum Auspeitschen?«
Samtbehandschuhte Finger wandern über seinen Arm. Unter dem blauen Seidenkleid formt ein Korsett den Körper der Frau zur perfekten Sanduhr. Dicke blonde Locken quellen unter ihrem Bonnet hervor und strömen ihr den Rücken herunter, wo sie frech auf ihr Hinterteil zeigen. In ihren feinen Sachen könnte man sie fast für eine Lady halten, wenn da nicht der übertrieben hochgequetschte Busen wäre. Das Hinterteil eines noblen Lords mit einer Birkenrute zu züchtigen, während eine Kokotte sich an der Frontseite des Mannes zu schaffen machte, war offensichtlich ein sehr gutes Geschäft.
Sie blickt ihn gekränkt an. »Hab einen Tag Urlaub genommen, um meine Mutter zu besuchen.«
»Verstehe«, sagt Garret und denkt bei sich, dass er einen Besen fressen würde, wenn sie ihrer Berufung auch nur einen einzigen Tag nicht folgen würde, um ihre Mutter zu besuchen.
»Du siehst erschöpft aus«, schnurrt sie. »Lust auf ein paar erholsame Aktivitäten?«
Er spürt, wie ihm heiß wird. Die ausgelassene Thrulow mit ihrem munteren Arsch bringt seine Weichteile zum Winseln. Nicht, dass er sich zu der verfluchten Auspeitscherei hingezogen fühlte, aber das Hinterteil dieser Frau hatte eindeutig magische Qualitäten.
»Ich hab kein Geld«, erwidert er. »Außerdem stehe ich nicht auf deine Spiele«, sagt er. Und du bist zu teuer, fügt er im Stillen hinzu.
Sie knufft ihn in die Seite. »Du kannst es mir besorgen, wann immer du willst.«
»Thrulow, ich habe kein Geld und ich mag deine Birkenruten und Nesseln und das alles nicht. Wenn ich jemanden verkloppen will, suche ich mir was in meiner Größe. Ich habe noch nie eine Frau geschlagen und werde damit auch nicht anfangen.«
»Was immer du wünschst, mein Lieber.« Zwar entgeht ihm ihr süßlicher Tonfall, die Hand auf seinem Arm spürt er jedoch deutlich. Hitze breitet sich von dort bis zu seinen Eiern aus. Sie drängt sich dichter an ihn heran, bis er spürt, wie sich ihr Busen an seine Schulter presst.
»Dann gute Nacht, Garret«, haucht sie, schürzt die Lippen und klimpert mit den Wimpern. Sie dreht sich um, geht durch die Tür und schwingt dabei ihr Hinterteil mehr als notwendig.
Garret presst die Stirn auf die hölzerne Tischplatte, zählt bis zehn und überlegt, wann er sich das letzte Mal eine Frau gekauft hat.
Seine Begegnungen mit dem schwachen Geschlecht waren in der Regel eher hastiger Natur. Solange ein oder zwei Schillinge im Spiel waren, hoben die unzüchtigen Frauen in den dunklen Londonder Seitengassen willig die Röcke. Garret war im Umgang mit diesen Frauen eher befangen: Oftmals sagten sie das eine und meinten das andere, benahmen sich, als wollten sie keinen Mann, als wären sie aus gutem Hause und schwer zu kriegen, während sie ihn zugleich neckten, herüberzukommen und ihnen seine Männlichkeit zu beweisen. Warum einige seiner Freunde geheiratet hatten, war ihm ein Rätsel.
Das Gesicht der Krankenschwester taucht vor seinem inneren Auge auf, sie kommandiert: Zieh die Hosen aus!
Sein Herz flattert – ein alarmierender und fremdartiger Zustand. Wie kommt es, dass er noch nicht mal ihren Namen weiß?
Barry kauert auf dem Bürgersteig und wartet. Häufig ist er zu früh da, wie heute, doch das stört ihn nicht. Es kommt zwar des Öfteren vor, dass Barry nicht weiß, welcher Wochentag gerade ist, doch er nimmt diese Teilzeitbeschäftigung für Anna sehr ernst. Er nennt sie »Pasteten-Mann-Nächte«, doch nur im Geheimen, denn die beiden gehen nicht einfach irgendwo essen. Sie arbeiten.
Die Leute hier denken, sie hätte ihn adoptiert. Aber da liegen sie falsch. Es war genau andersherum. Als Anna in St. Giles ankam (Barry glaubt, dass das schon ewig her ist, aber seit ihrer Ankunft sind erst drei Monate vergangen), stach sie mit ihrer gepflegten Erscheinung und dem seltsamen Englisch aus der Menge wie ein Pfau. Dass sie in Besitz einiger Schillinge sein musste (und vielleicht sogar Guineen?), die jeder halbwegs talentierte Gassenjunge ihr aus den Falten des Kleides ziehen konnte, war nicht nur ihm sofort klar gewesen.
Barry hatte gemeinsam mit seinen Jungs einen spontanen Versuch unternommen. Es war ein Kinderspiel: Drei rempelten sie an, sie stolperte, und Barry untersuchte mit flinken Fingern ihre Kleidung, eine seiner leichtesten Übungen. Doch zu seinem Leidwesen konnte er nichts finden, noch nicht mal ein Taschentuch. Äußerst entrüstet hatte er den faulen Sack von einem bludger verflucht. Woraufhin Anna ganz ruhig gesagt hatte: »Nun, dann steht für mich heute ja vermutlich kein Loch im Kopf an.«
Dieser eine Satz ist Barry so klar im Gedächtnis haften geblieben wie kaum etwas anderes in seinem bisherigen Leben. Mit offenem Mund hatte er dagestanden. Er kann sich sogar noch erinnern, wie der Wind durch seine Zahnlücke pfiff. Wie konnte so eine Frau wissen, was ein bludger