Tiefer Fall - Annelie Wendeberg - E-Book

Tiefer Fall E-Book

Annelie Wendeberg

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Beschreibung

Das Biowaffenkomplott – Anna Kronberg und Sherlock Holmes vs. Moriarty 1890. Anna Kronberg hat London auf der Flucht vor Scotland Yard verlassen und führt ein unauffälliges Leben irgendwo auf dem Land. Doch eines Nachts wacht sie auf, mit einer Pistole an der Schläfe. Ihr Vater wird an einem unbekannten Ort gefangen gehalten, und Anna muss sich auf ein gefährliches Spiel mit ihrem dämonischen Entführer einlassen … Kann die brillante Wissenschaftlerin ihn von seinen Plänen abbringen, grausame biologische Waffen zu entwickeln? Und wie soll sie, die mitten in London in einem goldenen Käfig festgehalten wird, zu Sherlock Holmes Kontakt aufnehmen?

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Seitenzahl: 400

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Annelie Wendeberg

Tiefer Fall

Ein Anna-Kronberg-Krimi

Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Annelie Wendeberg

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungZwei MännerMittwochabend, 22. Oktober 1890Tag 1Tag 2Tag 3Tag 10Tag 14Tag 19Tag 40Tag 49Tag 52Tag 53Tag 54Tag 55Tag 57Tag 58Tag 59Tag 62Tag 63Tag 65Tag 66Tag 67Tag 69Tag 71Tag 74Tag 81Tag 82Tag 89Tag 90Tag 91Tag 93Tag 94Tag 104Tag 131Tag 142Tag 151Tag 152Tag 160Tag 171Tag 183Tag 184Freitag, 24. April 1891Richtung KontinentAntonDie GefallenenDanksagungen zur englischsprachigen AusgabeLeseprobe zu Annelie Wendeberg - Die lange Reise
zurück

Gewidmet

der Beharrlichkeit

und den Menschen von Grimma.

Während ich diese Zeilen schreibe, schiebt sich eine der schlimmsten Flutkatastrophen in der Geschichte Europas durch Deutschland. Tausende von Nachbarn wurden aus ihren Häusern gespült. Dennoch werden wir uns nicht an die Katastrophe und den Verlust erinnern, sondern an die Welle der Solidarität, Freundschaft und Courage der Menschen.

Grimma, Juni 2013

zurück

Zwei Männer

Und schon bald verdarben die verwesenden Leichen die Luft und vergifteten die Wasservorräte, und der Gestank war so unerträglich, dass kaum einer der mehreren Tausend in der Lage war, vor der Tatarenarmee zu fliehen.

Gabriele De’ Mussi, 1348, über die Belagerung von Caffa.

 

Für diesen Augenblick, diesen einen Augenblick, sind wir zusammen. Ich drücke dich an mich. Komm, Schmerz, labe dich an mir. Grab deine Krallen in mein Fleisch. Reiß mich in Stücke. Ich schluchze, ich schluchze.

Virginia Woolf

Mittwochabend, 22. Oktober 1890

Etwas Kaltes drückte meinen Kopf in die Strohmatratze. Zwei scharfe Klicks und der Geruch von Metall. Mein Herz schlug wild gegen die Rippen, als die Mündung einer Waffe bündig gegen meine Schläfe gepresst wurde. Einmal abgedrückt, würde die Kugel direkt durch mein Hirn jagen, wobei sie, durch die Matratze hindurch, Blut und Gewebe bis auf den Boden mit sich reißen würde. Wäre die Waffe auch nur ein Stück zur Seite geneigt, würde die Kugel in meinem Schädel kreisen und Furchen im Knochen und zerstörte Gehirnmasse hinterlassen.

»Dr. Kronberg«, echote eine Stimme durch die Dunkelheit, »stehen Sie bitte langsam auf.«

Ich öffnete die Augen.

»Setzen Sie sich dort drüben hin«, krächzte die Stimme, und jemand winkte mit einer Laterne in Richtung des Tisches. Ich gehorchte, und der Stuhl gab das übliche leise Quietschen von sich. Ein Streichholz wurde angerissen. Der Geruch von Schwefel stach mir in der Nase. Eine Kerze flackerte auf und warf den Raum in unruhiges Licht.

Mir gegenüber saß ein Mann von ungefähr fünfundfünfzig Jahren. Ein Gesicht wie aus Hartholz geschnitzt, zerfurcht von Alter und Anspannung, seine Haltung gebot strikten Gehorsam.

»Sie sind gut darin, sich zu verstecken«, sagte er. Wellen von Gänsehaut krochen mir über den Körper. Er sah mich an und wartete auf eine Antwort, die ausblieb. Was hätte ich sagen sollen? Ganz offensichtlich hatte ich mich nicht gut genug versteckt. Meine Zunge klebte am Gaumen. Ein falsches Wort konnte meinem Leben ein schnelles Ende bereiten.

Plötzlich drang ein Geräusch aus einer Ecke des Raumes. Die Dielenbretter hinter mir hatten einen einzelnen leisen Ton von sich gegeben. Meine Nackenhaare stellten sich auf, als wollten sie nach der Gefahr tasten.

»Letztes Frühjahr wurde eine Gruppe von Medizinern festgenommen und vor Gericht gestellt. Einen Monat später hingen sie am Galgen«, sagte der Mann.

Ich erinnerte mich an den Tag – ich saß auf genau diesem Stuhl, als ich über die Hinrichtung von sechzehn Medizinern, dem Oberaufseher der Irrenanstalt von Broadmoor sowie vier der Wachen las. Was für ein Spektakel das für die Londoner gewesen sein musste! Doch über Details, wessen sie sich schuldig gemacht hatten, über die Entführungen, Morde und medizinischen Experimente an Armenhäuslern wurde nicht berichtet.

Die winzigen Härchen in meinem Nacken prickelten bei einem neuerlichen Geräusch. Es war so leise, dass ich es fast nicht bemerkt hätte – ein ruhiges Atmen, direkt hinter mir, weiter oben.

»Alle, bis auf einer«, sagte der Mann, der vor mir saß.

Schock hatte meine Wahrnehmung auf berauschende Weise geweitet und geschärft. Zuerst nahm ich an, der Mann hinter mir sei die Verstärkung, jemand, der mir notfalls das Genick brechen würde. Ich hustete, und mein Blick streifte das Fenster. Dann schloss ich einen kurzen Moment die Augen und untersuchte das Spiegelbild, das sich mir in den Kopf gebrannt hatte: die kleine Flamme der Kerze, der Tisch, der sitzende Mann, ich selbst im Nachthemd und eine große, schlanke Gestalt hinter mir. Ich öffnete die Augen und hoffte, das Verhalten meines Gegenübers würde mir mehr über den anderen verraten.

»Wir waren überrascht, als wir hörten, dass Dr. Anton Kronberg Mr Sherlock Holmes übermannt hatte und fliehen konnte.«

Alles Blut wich aus meinen Händen. Dann verstand ich – der Club. Diesen Titel hatte Holmes einer dubiosen Gruppe von Ärzten gegeben, einem Geheimbund, der tödliche Bakterien an Armenhäuslern testete. Es hatte uns Monate gekostet, die Machenschaften des Clubs aufzudecken. Trotzdem waren wir nicht in der Lage gewesen, den Kopf der Organisation zu identifizieren, die so viel Leid und Tod verursacht hatte. Von dem Tag an, an dem ich in die Sussex Downs geflüchtet war, fürchtete ich, er könnte mich finden und Vergeltung üben. Ich musterte den Mann vor mir, fragte mich, warum er überhaupt mit mir redete, bevor er den Abzug drückte.

»Noch erstaunter waren wir, als wir schließlich auf Anton Kronberg stießen – einen Schreiner in einem Dorf in Deutschland. Ein alter Mann, Vater eines Kindes – einer Tochter genau in Ihrem Alter, Dr. Anna Kronberg.« Er grinste breit, und sein Mund offenbarte eine Reihe gelblicher Zähne.

Ich strengte mich an, mein rasendes Herz zu beruhigen, und versuchte nicht an meinen Vater zu denken oder an das, was sie ihm vielleicht angetan hatten. Der Mann hinter mir schien vollkommen ruhig; seine Atmung hatte sich nicht im Geringsten verändert.

»Sie sagen recht wenig.«

»Sie haben mir noch keine einzige Frage gestellt«, brachte ich heiser hervor.

Keine hörbare Reaktion des Mannes hinter mir. Mein Gegenüber lächelte mich verkniffen an und befingerte seine Pistole. Sein Blick starr auf mein Gesicht gerichtet. Der meine war gebannt vom Hahn seiner Waffe, den er immer wieder spannte und löste, spannte und löste. Klick-klick. Klick-klick.

»In der Tat«, sagte er. »Bekennen Sie sich zu den Anschuldigungen?« Klick-klick.

»Ihre Anschuldigungen müssen mir entgangen sein.«

Der Blick des Mannes schweifte zur Seite und dann wieder zurück zu mir, so als wollte er sich bei dem anderen Mann versichern, konnte aber dessen Anwesenheit nicht verraten, indem er ihn ansah. Hinter mir hörte ich ein leises Schmatzen. Es erinnerte an feuchte Lippen, die zu einem Lächeln auseinandergezogen wurden. Eine Sekunde lang hatte ich den schwachsinnigen Gedanken, es wäre Holmes.

»Amüsiere ich Sie?«, fragte der Mann, der vor mir saß. Klick-klick. Klick-klick. Er stützte sich mit beiden Armen auf seinen Oberschenkeln ab und hielt die Waffe locker zwischen den Beinen. Die Laterne zu seinen Füßen erleuchtete nur das Dreieck von Knien, Händen und Waffe. Der Lichtreflex der silbernen Spitze des Hahns, die vom ständigen Herumspielen glänzte, stach mir in die Augen.

»Nein«, antwortete ich.

Er wartete. Genau wie ich. Und dann machte ich einen Fehler. »Was will ein Mann des Militärs von mir?« Es war nur eine Vermutung, die auf den wenigen Dingen basierte, die ich hatte beobachten können.

»Was wissen Sie?«, knurrte er, bevor er feststellte, dass auch er einen Fehler begangen hatte.

»Sie sind in mein Cottage eingebrochen, um mir ihre geliebte Pistole an die Schläfe zu drücken und mir Dinge zu erzählen, die ich bereits weiß. Hinter mir steht ein Mann, sehr ruhig, ungefähr einsfünfundachtzig groß und sehr schlank. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist er das Gehirn dieser Aktion, während Sie der Mann fürs Grobe sind.«

Ich hatte keine Zeit zurückzuzucken, bevor seine Faust meine Schläfe traf.

Geflüster drang an mein Ohr. Und ich hörte ein Stöhnen, es kam aus dem Inneren meines Brustkorbes. Mein Herz schlug unregelmäßig, und blaue Blitze flackerten über die Innenseite meiner Augenlider. Ich lag mit dem Rücken auf der Matratze, die Hände über dem Bauch gefesselt. Das Flüstern verstummte. Ich öffnete die Augen und drehte den Kopf. Zwei Männer sahen auf mich herunter.

»Danke«, sagte ich. Der Größere von beiden hob die Augenbrauen und wirkte leicht belustigt. »Dass Sie mir Ihr Gesicht gezeigt haben«, erklärte ich.

»Ihnen dürfte klar sein, dass mein Anblick Ihre Überlebenschance minimiert?«

»Ja.«

»Gut. Dann lassen Sie uns fortfahren. Wie haben Sie Mr Holmes übermannt?«

Die Kehle schnürte sich mir zu. Wie sollte ich es beschreiben? Es war eine lange Geschichte, und ich würde mit Sicherheit nicht die ganze Wahrheit erzählen.

»Ich habe ihn geküsst.«

Seine Augen weiteten sich. Dann warf er den Kopf zurück und stieß einen einzigen, bellenden Lacher aus.

Eine Sekunde später hatte er sich von seinem emotionalen Ausbruch erholt. Er wandte sich an den anderen Mann und sagte: »Sebastian, wärst du so freundlich und würdest einen Tee aufsetzen?«

Sebastian ging zum Herd. Ich hörte, wie ein Streichholz angerissen wurde, das Zischen der Gaslampe und dann das Klappern von Steingut. Der Herd war noch heiß. Ich benutzte ihn, um das Cottage während der kühlen Herbstnächte etwas anzuwärmen. Im Winter hätte ich zusätzlich den Kamin benutzt. Aber es würde hier keinen Winter für mich geben.

Sebastian warf Holz in die Glut, während der andere Mann mich schweigend observierte. Mir wurde klar, dass er überlegte, ob er mich jetzt erschießen lassen sollte, oder vielleicht ein wenig später.

Während wir auf den Tee warteten, sagte er: »Wir haben einiges über Sie herausgefunden, Dr. Kronberg. Aber es gibt Lücken, die ich gern gefüllt wüsste.« Er beugte sich zu mir herunter, packte meinen Nacken und zog mich in eine sitzende Position.

Dann redete er weiter. »Sie haben vier Jahre lang in London als Arzt gelebt, verkleidet als Mann. Sie müssen Mr Holmes im Sommer oder Herbst 1889 kennengelernt haben. Habe ich recht?«

Ich nickte und wusste, dass man mir den Schock ansehen konnte.

»Wenn Sie etwas gesprächiger wären, könnte sich das positiv auf Ihre Lebenszeit auswirken.«

Ich räusperte mich. »Ich lernte Mr Holmes im Sommer letzten Jahres am Wasserwerk in Hampton kennen. Ein Choleraopfer trieb im Wasser, und Scotland Yard bat uns um unsere Expertise. Mr Holmes durchschaute meine Verkleidung, entschied sich aber, mich nicht bei der Polizei anzuzeigen. Spuren an der Leiche deuteten auf Misshandlung hin, aber die Beweislage war schwach, und Scotland Yard hielt es nicht für nötig, weiter zu ermitteln.«

Ich sah zu ihm auf. Er wartete darauf, dass ich weiterredete. Was ich tat, wobei ich Lügen und Wahrheit miteinander verwob. »Es gab zu wenig, womit wir weitermachen konnten, und Mr Holmes verlor bald das Interesse an dem Fall. Zumindest nahm ich das an. In der Zwischenzeit erforschte ich Tetanuserreger zuerst im Guys Krankenhaus, später dann im Labor von Robert Koch in Berlin. Es gelang mir, Reinkulturen des Erregers zu züchten; eine Sensation, und die Zeitungen berichteten ausführlich darüber. Aber das ist Ihnen natürlich bekannt.«

Er neigte zustimmend den Kopf, und ich fuhr fort. »Nur ein paar Tage später lud mich Dr. Gregory Stark ein, einen Vortrag an der Cambridge Medical School zu halten, und ich kam in Kontakt mit all jenen Mitgliedern, die Mr Holmes später ›den Club‹ nannte.«

»Den Club? Wie charmant!«, sagte er. Sein linker Mundwinkel schob sich nach oben.

»Ich wusste, dass es nicht Bowden gewesen sein konnte«, sagte ich. »Sie halten die Fäden in der Hand.«

Holmes und ich hatten zuerst angenommen, dass Dr. Jarell Bowden, der für seine grausamen Experimente an weiblichen Patienten berüchtigt war, der Kopf des Clubs wäre. Erste Zweifel an dieser Theorie kamen erst gegen Ende unserer Ermittlungen auf. Doch wir konnten nichts beweisen und hatten keine Ahnung, wer statt seiner der Mann im Zentrum sein könnte. Bis heute.

»Ich bin lediglich ein interessierter Zuschauer oder Assistent, wenn Sie so wollen.«

»Der Assistent, der alles kontrolliert?«

»Vielleicht«, meinte er. Ich zitterte, als er sich wieder vorbeugte und mir eine Decke über die Schultern zog. Genauso schlachtete ich meine Hühner – ich beruhigte sie, streichelte ihnen über Kopf und Rücken, dann brach ich ihnen das Genick und schnitt die Kehle durch.

»Sie infiltrierten den Club und brachten ihn gemeinsam mit Sherlock Holmes zu Fall«, stellte er fest.

Ich zwang mich dazu, ihm in die Augen zu sehen und ruhig zu bleiben. »Nicht ganz, doch in der Rückschau würde ich wohl zu einem ähnlichen Schluss kommen.«

Er lehnte sich zurück und forderte mich mit einer Handbewegung auf, weiterzusprechen.

»Kurz nachdem ich aus Berlin zurückgekehrt war, wurde ich auf offener Straße überfallen und schwer verletzt. Ich brauchte einen Wundarzt, doch wen sollte ich fragen? Sicher nicht meine Kollegen. Also bat ich einen Freund, Dr. Watson zu suchen. So traf ich Mr. Holmes wieder, und nur zwei Tage später erzählte er mir von seinem Verdacht – dass jemand medizinische Experimente an Armenhäuslern in der Irrenanstalt von Broadmoor vornahm. Ich dachte, er wäre nicht ganz bei Trost.«

»Fahren Sie fort«, drängte er, als würde die Zeit ablaufen.

»Ich hatte an der medizinischen Fakultät Londons damit begonnen, Impfstoffe gegen Tetanus zu entwickeln. Es bestand außerdem die Aussicht auf einen Impfstoff gegen Cholera. Aber wir wussten auch, dass wir dafür Opfer bringen mussten.« Ich schob den Gedanken an die abgemagerte, sterbende Frau beiseite, deren Tod ich verschuldet hatte. »Holmes bestand darauf, dass das, was ich tat, falsch sei und ich ihm stattdessen helfen sollte, meine Kollegen hinter Gitter zu bringen.«

»Mr Holmes bittet niemanden um Hilfe. Wie es scheint, sind Sie eine Lügnerin, meine Liebe«, verkündete er.

Endlich eine Reaktion, die ich erwartet hatte. »Er hätte niemals irgendwen darum gebeten, da gebe ich Ihnen recht. Doch er und ich sind aus demselben Holz geschnitzt. Er war fasziniert von einer Frau, die genauso intelligent und willensstark war wie er selbst. Und ich war von ihm angetan, weil ich noch nie einen so aufmerksamen und scharfsinnigen Mann kennengelernt hatte. Aus diesem Grund habe ich ihn aus Broadmoor befreit und aus genau demselben Grund hat er mich gehen lassen.« Ich erinnerte mich an den Kuss, diesen einen Kuss, und wandte meinen Blick ab, dem kleinen Fenster zu, hinter dem sich die Nacht langsam zurückzog und der Himmel den nahenden Tag in zarten Farben begrüßte. Würde ich die Sonne noch sehen? Vielleicht war es egal. Ich hatte sie schon so viele Male gesehen.

»Ich weiß, dass Sie mich brauchen, sonst hätten Sie mir heute Nacht nicht erlaubt, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Wenn Sie mir eine Vermutung gestatten – Sie sind auf die Fähigkeiten eines Bakteriologen angewiesen, um Ihre Arbeit fortzusetzen. Ich bin Ihre erste Wahl, aber Sie vertrauen mir nicht. Natürlich nicht.«

Er lächelte kalt. Es war schlimmer, als eine Pistole an den Kopf gedrückt zu bekommen.

»In der Tat, ich vertraue Ihnen nicht im Geringsten. Und ja, ich benötige die Dienste eines Bakteriologen. Und obwohl Sie der beste Englands sind, birgt die Zusammenarbeit mit Ihnen auch das größte Risiko. Ich kann mir Ihrer Loyalität nicht sicher sein.«

Was konnte ich ihm noch bieten? Mein Leben? Das hielt er ja bereits in Händen.

»Natürlich steht es Ihnen frei, einen raschen, sauberen Tod zu wählen. Aber fällen Sie Ihre Entscheidung schnell, sonst nehme ich sie Ihnen ab.«

Ich starrte hinunter auf meine Hände und malte mir den Moment aus, in dem ich ich diesem Mann ein Messer in die Kehle bohrte. Langsam atmete ich aus.

»Ich werde Pathogene für die Kriegsführung isolieren müssen?«

Wieder ein kaltes Lächeln.

»Sie erinnern mich an ihn«, raunte ich. Sein Gesichtsausdruck blieb starr, doch die Augen flackerten und eröffneten mir eine breite Palette von Möglichkeiten. Im nächsten Augenblick hatte er den Schock weggeblinzelt.

»Sie haben meine Loyalität«, sagte ich.

Die Antwort darauf war ein knappes Nicken. »Trinken Sie Ihren Tee«, sagte er und füllte meine Tasse.

Schließlich wurde mir die eigenartige Situation bewusst – der Grobian hatte Tee gekocht, und das Gehirn servierte ihn. Ich starrte die beiden an. »Was hat Ihr Freund in den Tee gemischt?«

»Chloral.«

»Ah«, hauchte ich. »Wie viel?«

»Ein paar Tropfen«, sagte er leichthin.

Ich nickte und schob meine gefesselten Hände Richtung Tasse. Ringförmige Wellen bildeten sich auf der Oberfläche des harmlos wirkenden Tees, kurz bevor ich ihn zum Mund führte. Das Getränk erzeugte ein eigenartiges Brennen auf der Zunge.

»Sie haben sich noch nicht vorgestellt«, bemerkte ich.

»Ich bitte um Verzeihung. Dies ist mein Freund und Vertrauter Colonel Sebastian Moran. Mein Name ist Prof. James Moriarty, angenehm.«

Und damit hob sich die Welt aus den Angeln. Ich blickte zum Fenster hinüber, das plötzlich ungewöhnlich weit entfernt erschien. War es nicht noch vor Kurzem rechtwinklig gewesen?

»Ich vergaß, ein kleines Detail zu erwähnen«, hallte Moriartys Stimme wie von weit her an mein Ohr. »Wenn Sie wieder zu Bewusstsein kommen, wird Ihr Vater meine Geisel sein. Sollten Sie irgendetwas tun, was unsere Arbeit oder meine Sicherheit gefährdet, wird er sterben, und ich muss sagen, auf recht schmerzvolle Weise.«

Die Welt kippte, und die Tischplatte raste mit entsetzlicher Geschwindigkeit auf mich zu.

zurück

Tag 1

Übelkeit überkam mich, als ich die Augen öffnete. Die Zimmerdecke schwankte von links nach rechts. Der Geschmack von Erbrochenem biss mir in die Zunge. Ich betastete mein Gesicht und die Kehle, aber alles war sauber. Das Nachthemd, das ich trug, war mir ebenso neu wie das Zimmer und das Bett, in dem ich lag. Panik überrollte mich.

Ich klatschte mir ins Gesicht, rieb mir die Augen. Langsam kehrten die Erinnerungen zurück. Ich erinnerte mich an zwei Namen – Prof. James Moriarty und Colonel Sebastian Moran. Ich hatte noch nie von ihnen gehört, nicht vor … wann … gestern?

Moriartys Worte hallten in meinem Kopf wider, Erinnerungsfetzen sickerten in mein Bewusstsein. Mein Vater wurde als Geisel gehalten! Der Schweiß brannte mir auf der Haut. Mein Atem ging stoßweise. Ich setzte mich auf und rang damit, bei Bewusstsein zu bleiben. Galle stieg in mir hoch. Ich zwang sie wieder hinunter. Die Realität schien Sprünge zu bekommen. Ich konnte förmlich sehen, wie sich Risse um mich herum auftaten. Es schnürte mir die Kehle zu, und ein erstickter Schluchzer kroch hindurch. Zitternd brach ich auf dem Bett zusammen.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder gefangen hatte. Auf dem Nachttisch fand ich ein Glas. Vorsichtig roch ich daran, wahrscheinlich war es Wasser. Ich trank es leer, und meine Gedanken klarten etwas auf. Finde einen Weg, ihm zu helfen, sagte mir der Verstand. Finde die Schwäche in Moriartys Plan. Den Grundpfeiler, der, einmal entfernt, die Konstruktion zum Einsturz bringt.

Mein Blick glitt über die luxuriöse Möblierung. Die beiden Fenster waren unvergittert. Ich stand auf und machte ein paar Schritte auf das nächstgelegene zu, als ein leises Klopfen mich innehalten ließ.

»Ja?«, krächzte ich.

Eine kleine Frau trat ein. Ihr blondes Haar war zu einem strengen Knoten zurückgebunden und von einer Kappe gekrönt, die einem Champignon ähnelte. Sie knickste und fragte schüchtern: »Miss Kronberg, fühlen Sie sich ein wenig besser?«

»Ja, danke. Wer sind Sie?«

»Gooding, Miss. Hausmädchen und Ihre Zofe«, sagte sie leise.

Ich hatte eine Zofe? »Würden Sie mir bitte sagen, wie spät es ist, Miss Gooding?«

Etwas perplex sah sie mich an. Wahrscheinlich hatte sie erwartet, ich würde ihr nur den Nachnamen entgegenwerfen und das »Miss« weglassen.

»Es ist Viertel nach fünf«, antwortete sie, »am Abend. Kann ich Ihnen helfen, sich für das Abendessen fertig zu machen, Miss?«

»Ich bin nicht sicher, ob ich schon etwas essen kann.«

»Haben Sie den Wunsch, sich zu waschen?«

Ich nickte. Schweigend verließ sie das Zimmer und schloss hinter sich die Tür. Ich wartete auf das Drehen eines Schlüssels im Schloss, doch das Geräusch blieb aus.

Ich ging zurück zum Fenster und blickte hinaus. Zwei Stockwerke weiter unten erstreckte sich ein wunderschöner Garten. Die Ahornbäume winkten mit rot-goldenen Blättern der Abendsonne zu. Efeu hatte die Ziegelsteinmauer unter mir erklommen. Ein so simpler Fluchtweg. Ich begann, an meinem Verstand zu zweifeln.

Das Hausmädchen kehrte mit einem Wasserkrug, einem Handtuch und einem kleinen Paket zurück. Sie legte alles neben dem Waschtisch ab und blickte mich fragend an. Brauchte ich noch irgendetwas? Ich kramte in meinem konfusen Verstand. »Miss Gooding, können Sie mir sagen, wo ich bin?«

»Aber, Miss, das hier ist das Haus von Prof. Moriarty«, entgegnete sie verdutzt.

Ich nickte, und mir wurde sofort schwindelig. »Könnten Sie mir bitte meine Garderobe zeigen?«

Sie huschte zu einem Kleiderschrank, der trotz seiner Größe meiner Aufmerksamkeit entgangen war. Dann öffnete sie beide Türen und zeigte auf diverse Kleider. Keines davon kam mir bekannt vor.

Nachdem sie gegangen war, torkelte ich durch das Zimmer und versuchte aus dem schlau zu werden, was ich sah. Meine Füße sanken tief in den dicken Teppich ein, und die weiche Wolle kuschelte sich zwischen meine Zehen. Darunter knarrten die Dielen. Das Einzige, was hier mir gehörte, war ich selbst. Selbst meine Kleidung war mir genommen worden. Aber warum? Um mir jegliches Gefühl von Eigenständigkeit zu verwehren?

Ich lehnte mich an das Bett, um nicht zu fallen; es war groß, und ein Kirschholzrahmen stützte den kunstvoll gestickten Baumwollbaldachin. Mein goldener Käfig.

Dann entdeckte ich den Brief. Nachtblaue Schrift rollte über schweres Papier.

Verehrte Frau Dr. Kronberg,

ich hoffe, Sie haben sich von den Strapazen erholt, und bitte Sie, die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen, die Ihnen das Chloral und diese Zwangslage vielleicht bereiten. Gewiss ist Ihnen der Komfort Ihrer Unterkunft aufgefallen, doch lassen Sie sich von diesen Annehmlichkeiten bitte nicht täuschen. Sollten Sie auch nur für einen einzigen Moment lang verschwinden, verliert Ihr Vater seine linke Hand, ein zweites Verschwinden wird den Verlust der rechten Hand zur Folge haben, das dritte Mal kostet ihn den Kopf. Jeder Versuch, das Gelände zu verlassen, wird zudem vergebens sein, da die Hunde Ihren Geruch kennen und nicht zögern werden, Sie in Stücke zu reißen. Mein Dienstbote wird Sie begleiten, wohin Sie möchten, außer natürlich in Ihr Privatgemach. Er berichtet mir unmittelbar und hat mein vollstes Vertrauen. Ich hoffe sehr, dass Ihnen diese Vorkehrungen den Aufenthalt in meinem bescheidenen Heim nicht verderben, und freue mich, Sie morgen zum Abendessen begrüßen zu dürfen.

Ihr Professor James Moriarty

Der Brief segelte zurück auf die Matratze. Gedanken rasten durch meinen Kopf, während ich auf und ab ging. Ich öffnete den Kleiderschrank, die teuren Seidenkleider waren mir alle viel zu groß. Ich ging zur Kommode und entdeckte eine kleine Holzkiste, drehte den Schlüssel und fand eine Sammlung von Ohrringen, Ketten und Ringen, die mit Perlen, Amethysten und anderen Edelsteinen verziert waren. Das Gefühl, in einer Gruft gefangen zu sein, schnürte mir die Luft ab, und die aufsteigenden Bilder von früheren Gefangenen, die Moriarty vielleicht ermordet hatte, quetschten das letzte bisschen Vernunft aus meinem Verstand. Fieberhaft suchte ich an den Wänden und auf dem Boden nach Blutspuren, nach jeglichen Anzeichen für die Identität oder Anzahl seiner Opfer oder wie sie ihr Ende fanden.

Mein Fuß verfing sich im Teppich, ich stolperte und stieß mir den Kopf am Bettpfosten und kam jäh wieder zu Sinnen.

Auf dem Fußboden sitzend hielt ich mir die Stirn und analysierte das wenige, das ich mit Sicherheit wusste.

Wenn die offensichtliche Naivität des Hausmädchens echt war, könnte ich ihr eventuell Informationen entlocken, ohne dass sie es merkte.

Ich öffnete die Augen und schaute nach oben. Die Lampe, die von der Decke herabhing, war außer Reichweite. Sie wirkte vollkommen anders als alle Gaslampen, die ich bisher gesehen hatte. Ich zog einen Stuhl heran und untersuchte den neumodischen Apparat. Drinnen befand sich eine Glaskugel in der Form einer Birne, zusammen mit einem Kabel, das von der Lampe zu einem Schalter an der Wand führte. Elektrizität!

Hoffnungsvoll eilte ich zurück zum Fenster und versuchte etwas Bekanntes zu erkennen. Wenn es Elektrizität gab, musste das Haus innerhalb einer Stadt liegen. Doch ich sah nur Bäume, Büsche, Rasen, einen Zaun und dahinter noch mehr Bäume und Rasen. Das Fenster ließ sich leicht öffnen, und ich lehnte mich hinaus. In der Ferne, auf der rechten Seite, erblickte ich das bläuliche Dach eines großen Hauses, gekrönt von einem Dachreiter. Es war zwar von Bäumen verdeckt, wirkte aber seltsam vertraut.

Weitere Häuser gab es keine auf dem Gelände, was günstig war – man konnte nicht von einem erhöhten Standpunkt in mein Fenster schauen. Nicht einmal eine Straße war in Sichtweite. Lichtsignale zu versenden wäre also völlig sinnlos.

Das Wasser im Krug war noch warm. Ich öffnete das Paket und entdeckte eine kleine Dose Zahnpulver, eine Zahnbürste, eine Haarbürste und ein Stück Seife. Der Duft von Patschuli zog mir in die Nase und bildete einen starken Kontrast zu dem stechenden Geruch des Erbrochenen, das in meinem Haar klebte. Ich wusch mich gründlich. Meine Schläfe schmerzte von Morans Schlag, doch ich fand kein Blut daran.

Das Hausmädchen hatte ein Handtuch über den Stuhl gelegt. Ich rubbelte mich trocken und hämmerte mir selbst ein, dass, was immer ich in diesem Haus fände, entweder unwichtig oder relevant für das Überleben meines Vaters sein würde. Was immer auch passierte, ich würde ohne Emotionen darüber hinweggehen und mich lediglich auf das konzentrieren, was relevant war, was mich weiterbrachte. Doch mein Herz wollte mir nicht gehorchen. Es schlug hart gegen meinen Brustkorb, als versuchte es, Rippen zu brechen.

Mangels passender Kleidung streifte ich mir wieder das Nachthemd über und zog am Klingelband. Ein paar Minuten später erschien das Hausmädchen.

»Miss Gooding, dürfte ich Sie bitten, mir eins Ihrer Kleider zu leihen? Diese hier«, ich winkte Richtung Kleiderschrank, »sind zu groß.« Das Hausmädchen war schlank und klein, ihre Sachen sollten mir passen. Meine Bitte schockierte sie.

»Oh, aber Miss, der Schneider sollte gleich eintreffen.«

»Der Schneider?« Ich war perplex. »Miss Gooding, könnten Sie mir sagen, wessen Zimmer das hier ist?«

»Aber, es ist Ihres.«

Ich hätte sie anspringen können. »Wer hat hier vor mir gewohnt?«

Sie zuckte die Achseln. »Niemand.«

»Wessen Kleider hängen im Schrank?« Langsam verzweifelte ich.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Gooding schlug sich die Hand vor den Mund.

»Gooding, entfernen Sie sich. Dr. Kronberg, das Hausmädchen auszufragen ist zwecklos. Sie weiß nichts.« Ein untersetzter Mann war eingetreten. Seine Kopfhaut schimmerte durch das spärliche Haar. In seinem weißen Hemd und dem schwarzen Frack wirkte er wie eine strenge Hausschwalbe. Das Hausmädchen schlüpfte hinter ihm auf den Flur hinaus.

»Alistair Durham, Diener des Hausherrn. Der Schneider wird jeden Augenblick eintreffen, und das Abendessen wird in einer Stunde serviert. Das ist alles, was Sie wissen müssen.« Er machte auf dem Absatz kehrt, mit quietschenden Schuhen und fliegendem Rockschoß. Die Tür fiel ins Schloss, und ich entspannte meine Fäuste.

Nur wenige Momente später kündigte ein Klopfen den Schneider an. Er war klein und erinnerte an eine Maus. Eilig kam er herein, stieß die Tür mit dem Arm hinter sich zu und wieselte in meine Richtung. Sanft ergriff er mit seiner zarten Hand die meine, verbeugte sich und hauchte einen Kuss auf meine Fingerknöchel. Dann stellte er sich als Mr Nicolas Smith vor, zog ein Maßband aus der Tasche, fuchtelte damit an meinen Gliedmaßen auf und ab und kritzelte Zahlen auf einen Notizblock. »Welche Farben und Formen bevorzugen Sie, Miss?«

»Gedeckte Farben, bitte. Einfache Schnitte ohne Rüschen oder Spitzen, sie würden mich bei der Arbeit behindern. Außerdem bevorzuge ich vorne geknöpfte Kleider.«

Sein Gesicht fiel vor Entsetzen zusammen.

Von Damen der Oberschicht wurde erwartet, dass sie sich ausgefallen kleideten, mit allerlei nutzlosem Putz, der es meist unmöglich machte, sich selbst die Schuhe zuzubinden. Gott behüte, dass sie sich gar ohne die Hilfe eines Hausmädchens an- oder auszogen. Aber als Frau hatte ich keinen irgendwie gearteten Status – jahrelang hatte ich mich als Mann verkleidet. Das Ergebnis waren ein brennendes Verlangen nach Unabhängigkeit und eine Ausbildung, die das Maß an Bildung, das Damen der Oberschicht gewöhnlich erreichten, bei Weitem überstieg. Bisher hatte ich die Gepflogenheiten der Oberschicht aus sicherer Distanz beobachten können. Von Männern mit mehr Geld, als sie ausgeben konnten, in denselben Käfig gesperrt wie all die anderen hübschen Vögelchen – Ehefrauen, Schwestern und Töchter. Nun würde ich lernen müssen, mich in Gesellschaft zurückzuhalten. Ich begann bereits die Freiheit zu vermissen, die mir ein Paar Hosen bot.

Der Schneider zögerte und neigte dann in trauriger Zustimmung den Kopf.

»Ich danke Ihnen, Mr Smith.« Ich verbeugte mich ein wenig, was ihn erröten ließ. »Könnten Sie mir sagen, wie lange Sie benötigen, bis Sie das erste Kleid fertig haben? Meine wurden zerstört, und alles, was ich jetzt habe, ist dieses Nachthemd.«

»Oh, ich verstehe. Ich denke, unter diesen Umständen könnte ich das erste Kleid in zwei Tagen fertigstellen. Wäre das akzeptabel?«

Zwei Tage im Nachthemd? »Mr Smith, meinen Sie, Sie könnten eines dieser Kleider bis morgen früh für mich abändern?« Ich ging hinüber zum Kleiderschrank und präsentierte ihm den Inhalt.

Er inspizierte jedes Stück und wählte dann eines aus dunkelgrüner Seide aus. »Dieses sollte relativ einfach zu ändern sein. Ich könnte es Ihnen morgen früh liefern.«

»Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«

Er gluckste, wieder mit roten Wangen, und ging mit einer Verbeugung und einem »Habe die Ehre«.

Ich starrte die geschlossene Tür an, als wäre sie sein Rücken. Der Mann schien freundlich und fürsorglich, errötete aber so leicht, dass er ungeeignet erschien, für mich zu lügen, ohne entdeckt zu werden. Mit Sicherheit wunderte sich Durham inzwischen über den Zustand von Mr Smith. Ich schlug mir gegen die Stirn. Wie langsam mein Verstand doch war! Warum hatte ich nicht an der Tür gehorcht, nachdem er gegangen war? Ich hätte sehr einfach in Erfahrung bringen können, ob Durham den Mann ausgefragt oder seinen leicht erregten Zustand ignoriert hatte.

Ich trank alles Wasser aus dem Krug, um das restliche Gift aus meinem Körper zu spülen. Dann nahm ich das Zimmer erneut in Augenschein. Es gab keine Türen zu den angrenzenden Räumen. Gut. Ich war nicht sicher, ob ich dazu neigte, im Schlaf zu sprechen.

Etwas Wesentliches fehlte jedoch. Ich klingelte nach dem Hausmädchen.

»Miss Gooding, ich kann den Nachttopf nicht finden …«

Sie lächelte schräg. »Wir haben Wasserklosetts, Miss.«

»Oh.« Ich hatte davon gehört; die Reichen besaßen Rohrleitungen und fließendes heißes Wasser.

»Darf ich es Ihnen zeigen, Miss?«

»Wo ist Mr Durham?« Ich hatte den Satz kaum beendet, als seine Absätze bereits über die Dielen klackerten, nur leicht gedämpft durch den Teppich, und sein Kopf im Türrahmen erschien.

»Miss Kronberg möchte das Wasserklosett in Anspruch nehmen«, erklärte das Hausmädchen mit gesenktem Kopf.

»Ich werde sie hinführen«, sagte Durham. »Folgen Sie mir bitte.«

Wir durchquerten einen Korridor, bogen ab, und er öffnete eine Tür zu einem kleinen, holzvertäfelten Raum, an dessen Ende eine geblümte Porzellanschale mit Eichensitz stand.

Ich hatte noch nie ein Wasserklosett in einer Privatwohnung gesehen. Der Abfluss sah anders aus als die Abflüsse im Guys und der medizinischen Fakultät – er war nicht gerade, sondern s-förmig. Meine Nase registrierte die Abwesenheit von Gestank. Es schien, als würde die S-Form das Aufsteigen von Gerüchen durch die Rohrleitung unterbinden. Wenn bei jedem Londoner ein Wasserklosett installiert werden würde, könnte das die Ausbreitung von Krankheiten verhindern? Vielleicht könnten wir sogar Choleraepidemien in den Griff bekommen. Wie würde London sich verändern, wenn die Leute keine Jauchegruben mehr benutzen müssten? Ich trat einen Schritt zurück und dachte darüber nach, ob sich das Problem der Krankheitsübertragung dann nur verlagerte, zusammen mit dem Abwasser. Dann schoss mir ein Gedanke durch den Kopf – Wasser war das Einzige, das dieses Haus unbeaufsichtigt verließ!

Durham wartete an der Tür, als ich sie eine Minute später öffnete.

»Wie kann ich Sie erreichen, wenn Sie gerade nicht zugegen sind?«, fragte ich ihn und krümmte mich fast bei dem Gedanken, bei einer so privaten Angelegenheit auf sein Wohl und Wehe angewiesen zu sein.

»Gooding wird Ihnen für den Notfall einen Nachttopf bringen.«

Als ich wieder in mein Zimmer zurückkehrte, wartete dort ein Abendessen auf mich. Der Geruch des Wirsingkohls bereitete mir Übelkeit.

Es war bereits nach elf Uhr nachts. Ein ovaler Mond schaute durch das Fenster und tauchte den Boden in silbernes Licht. Meine nackten Füße liefen unregelmäßige Spiralen in das Mondlicht hinein und wieder hinaus, vom Teppich auf die Holzdielen und wieder zurück und erkundeten schrittweise das Terrain. Am Ende der dritten Runde hatte ich mir jede der sechzehn Stellen eingeprägt, die ein Knarren erzeugten, wenn man auf sie trat.

Ich machte eine Pause, trank etwas Wasser, vertrieb das Muster aus meinem Kopf und schaute in den Garten hinab. Der Mond hatte das Laub des Ahornbaumes silberblau angemalt. Nebel waberte über die Wiesen und verwirbelte dort, wo die Hunde rannten. Vier große, breitschultrige Tiere mit kurzem Fell und flatternden Ohren – vielleicht Bulldoggen? Ich hatte mich noch nie vor Hunden gefürchtet, wusste aber genau, dass sie effektive Jäger sein konnten. Darin unterschieden sie sich nicht sonderlich von den Menschen.

Ich schloss meine Augen, wandte mich vom Fenster ab und ging blind zurück zu meinem Bett, ohne ein einziges Geräusch zu erzeugen. Zufrieden ging ich zur Tür und drückte das leere Wasserglas wie ein Stethoskop gegen die Wand.

Ein Scharren. Ruhiges Atmen. Durham musste genau an der Stelle lehnen, wo ich mein Ohr gegen das Glas presste. Ich drückte mich ab und durchquerte das Zimmer, lauschte an jeder Wand, hörte jedoch nichts. Die Wand zum Korridor war die dünnste, wahrscheinlich nur wenige Zentimeter dick. Die anderen Wände waren tragend und ziemlich massiv. Durham konnte problemlos jedes Geräusch in meinem Zimmer hören; es fühlte sich an, als wäre ich ein Goldfisch im Glas. War sich Moriarty bewusst, dass es in beide Richtungen funktionierte?

Ich nahm die kleine Uhr vom Nachttisch, schob sie in den Lichtschein, der unter der Tür hindurchfiel, und lauschte. Durham schien sich nicht viel zu bewegen. In eine Decke gewickelt setzte ich mich neben die Tür. Es würde eine lange Nacht werden.

Trotz meiner Erschöpfung hielt mich die Sorge um meinen Vater wach. Ich versuchte, die schwarzen Gedanken beiseitezuschieben. Sie verängstigten mich nur. Ich ersetzte sie durch Erinnerungen, schloss die Augen und lächelte bei dem Gedanken an das kleine Pferd, das mir mein Vater zu meinem zehnten Geburtstag geschnitzt hatte. Die Mähne und der Schweif waren aus Kaninchenhaar, die Augenbrauen über den Glasaugen aus dünnem schwarzem Leder. Etwas abgewetzt, die Augen nicht mehr so glänzend wie vor achtzehn Jahren, stand es nun im Fenster meiner alten Kammer und blickte in den Garten hinaus.

Ich vergrub mein Gesicht im Stoff des Nachthemds und wischte mir die Tränen ab, verlagerte mein Gewicht und konzentrierte mich wieder aufs Lauschen.

Kurz vor ein Uhr hörte ich Schritte auf dem Flur. Jemand stieg die Stufen hinauf und ging durch den Korridor im unteren Geschoss. Wieder knarrten Stufen, Schritte näherten sich und verstummten dann abrupt.

»Guten Abend, Professor.«

»Durham, Sie dürfen sich jetzt zurückziehen.«

Mein Herz galoppierte, und ich drückte mir die Handfläche gegen die Brust.

»Ist sie da drinnen?«, fragte Moriarty.

Das verwirrte mich. Er musste doch wissen, dass ich hier war, wenn Durham meine Tür bewachte?

»Wie Sie es wünschten«, antwortete Durham.

»Verriegeln Sie die Tür.«

»Natürlich, Professor.«

Ein Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht, und ein Bolzen glitt an seinen Platz. Zwei Paar Füße entfernten sich in zwei verschiedene Richtungen. Durhams leichterer Gang entfernte sich Richtung Stufen, während Moriartys energische Schritte sich nur ein paar Meter entfernten. Eine Tür wurde geöffnet und fiel wieder zu.

Ich schlich zu meinem Bett und lauschte an der Wand. Ich konnte hören, wie er die Schuhe auszog und auf leisen Sohlen im Raum umherging. Ein gelegentliches Rascheln, ein Geräusch – wahrscheinlich von seiner Uhr, die er auf einen Tisch oder eine Kommode ablegte. Dann gewann ich den Eindruck, dass er sich mit einem Brummen ins Bett legte und sich hin und her warf, als käme er nicht zur Ruhe. Ich wartete noch eine weitere halbe Stunde, bis mir ein Geräusch ins Ohr schnitt und einen Schauer über den Rücken jagte. Erschrocken riss ich den Kopf von der Wand – ich hörte den leisen Schrei einer Frau.

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Tag 2

Das Hausmädchen weckte mich noch vor Sonnenaufgang. Den größten Teil der Nacht war ich rastlos im Zimmer auf und ab gelaufen, hatte auf Geräusche außerhalb meines Gefängnisses gelauscht und gegen den Drang angekämpft, aus dem Fenster zu klettern und zu rennen bis meine Lungen brannten. Aber die Hunde wären schneller. Und ich wusste nicht, wo ich meinen Vater finden konnte oder wie ich ihn retten sollte. Diese Nacht war eine qualvolle Übung in Sachen Geduld gewesen.

Miss Gooding brachte mir meine neuen Sachen. Sie zog ein Korsett fest, das mir passabel passte, knöpfte das Kleid, das der Schneider für mich geändert hatte, am Rücken zu und schnürte die Lackstiefel. Die tägliche Routine einer Dame der Oberschicht fühlte sich peinlich und nutzlos an.

Während sie mir half, mich anzuziehen, bemerkte ich, wie ihr Blick über mein Gesicht, den Nacken und die Arme glitt. Beim Anblick der wenig weiblichen Muskulatur und der gebräunten Haut – Resultate der Arbeit auf dem Feld und der nächtlichen Jagd auf Kaninchen und Vögel – presste sie die Lippen zusammen. In ihren Augen musste ich wie eine Barbarin wirken. Sie machte sich bestimmt darüber Gedanken, was ich in einem vornehmen Haus wie diesem zu suchen hatte. Aber sie wagte nicht zu fragen; es ziemte sich nicht.

Sie bürstete meine dunklen Locken. Viel gab es da nicht für sie zu tun, meine Haare kringelten sich nur bis zum Nacken. Die Borsten kitzelten und ich bekam eine Gänsehaut. Mit Sicherheit wunderte sie sich über meine kurzen Haare. Vielleicht nahm sie an, ich hätte meine Haare verkauft.

»Danke, Miss Gooding«, sagte ich, als sie zurücktrat. »Denken Sie, ich dürfte einen Rundgang durch das Haus machen und vielleicht sogar nach draußen gehen?«

»Warum sollten Sie das nicht, Miss?«

»Ich weiß nicht«, murmelte ich und verkniff mir, meine Handfläche an die Stirn zu schlagen. »Ist Mr Durham zugegen?«

»Ich werde ihn für Sie rufen, Miss«, sagte sie und verließ das Zimmer.

Ich ging hinüber zum Waschtisch, der neben dem Kleiderschrank stand, um einen Blick in den Spiegel zu werfen, änderte dann aber meine Meinung und setzte mich aufs Bett. Ich wagte es nicht, mich selbst zu betrachten.

Durham ließ mich unangemessen lange warten. Als wir schließlich aufbrachen, achtete ich auf den Klang, den seine Absätze auf den unterschiedlichen Bodenbelägen erzeugten. Der grobe Teppich im Korridor des zweiten Stocks, das Knarren der Stufen. Die erste Etage mit identischem Teppich wie oben, und die Stufen, die ins Erdgeschoss führten und lauter knarrten.

Am Fußende der Treppe bogen wir scharf rechts ab. Vier Schritte über Steinfliesen, dann betraten wir das Esszimmer. Es war wunderschön eingerichtet – elegant und rustikal zugleich –, mit einer weißen Kalkputzdecke und geräucherten Eichenbalken, die sich von einer Wand zur anderen streckten.

Eine Reihe ordentlich gekleideter Dienstboten senkte simultan die Köpfe; sie wurden von Durham vorgestellt und schwärmten dann aus, um ihre diversen Tätigkeiten wiederaufzunehmen. Ich war erstaunt. Soweit ich bisher mitbekommen hatte, lebte Moriarty hier ohne Frau und Kinder. Dennoch beschäftigte er ein Spülmädchen, eine Küchenmagd, ein Zimmermädchen, eine Wäschemagd, zwei Köche, eine Zofe und einen Diener.

Durham bat mich, an dem großen Eichentisch Platz zu nehmen, räusperte sich, bezog an der Tür Position und starrte mich an, bis mir das Frühstück serviert wurde. Mit zackiger Stimme und einer Aura, die fast schon nach Bleiche roch, stellte die Haushälterin sich als Austine Hingston vor. Ihre Bewegungen waren präzise und flink; im Rang stand sie unter Durham, was ihr verbot, mir gegenüber die Missachtung, die sie für mich empfand, deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Doch ihre Augen verrieten sie. Wann immer ihr Blick mich streifte, verschwand der Anflug von Wärme, die sie für Durham reserviert zu haben schien. Was hatte Moriarty seinen Angestellten über den neuen Gast erzählt? Mit Sicherheit nicht die Wahrheit.

»Was steht auf dem Programm?«, fragte ich Durham, nachdem Miss Hingston gegangen war.

Er hob die Augenbrauen. »Sie sind der Ansicht, ich solle Sie unterhalten?«

»Sie haben einen eigenartigen Humor«, murmelte ich.

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht im Geringsten – sehr angemessen für einen Diener seines Ranges. Heute trug er eine leichte Häme zur Schau. Ich überlegte, was es wohl morgen sein würde. Höchstwahrscheinlich dasselbe.

»Sollen wir spazieren gehen, Mr Durham? Die Sonne scheint, das Wetter ist mild, und die Gänse fliegen gen Süden«, plapperte ich, wohl wissend, dass ihm das vollkommen gleichgültig war. Er schüttelte den Kopf.

»Nun, dann, denke ich, werde ich wohl alleine gehen müssen. Schließlich wird man sehr leicht krank, wenn man nicht regelmäßig an die frische Luft geht.«

Seine Gesichtszüge entgleisten, als ich mich erhob. »Ich werde Sie begleiten«, beeilte er sich.

Gut, ein gewisser Grad an Kontrolle über den Diener könnte sich irgendwann als nützlich erweisen. Besonders, wenn er es nicht wagen würde, seinem Dienstherren von seinen kleinen Ausrutschern zu erzählen.

Zwei Stunden später lag ich wieder auf dem Bett und starrte an die Decke, während mir die Eindrücke des Morgens durch den Kopf jagten.

Durham und Hingston schien eine Art Kameradschaft zu verbinden, und beide schienen sich darin einig, ich würde, gleich einem Klotz am Bein, ihren Alltag nur erschweren. Keiner der beiden würde mir freiwillig helfen, so viel war klar. Aber wenn sie eine heimliche Affäre unterhielten, könnte ich sie vielleicht unter Druck setzen. Trotzdem war es schwer vorstellbar, dass diese beiden in der Nacht etwas anderes umarmten als ein kaltes Kissen.

Ich schob diese Frage vorerst beiseite. Das Treffen mit Moriarty war jetzt dringender. Er würde die Isolation von Bakterien mit mir besprechen wollen und vermutlich auch die Einrichtung eines Labors. Doch alles, worüber ich mit ihm reden wollte, war das Wohlergehen meines Vaters, oder eher: Alles, worum ich bitten, ihn anflehen wollte, war seine Freilassung. Aber was für eine Zeitverschwendung das wäre! Ich musste mich beherrschen. Ich brauchte Hilfe, jemanden, der meinen Vater in Sicherheit bringen konnte, während ich gegen Moriarty vorging. Mir fiel nur eine Person ein, die den Geist und die Mittel besaß, mir zu helfen. Aber wie sollte ich ihn kontaktieren? Einfach in ein Postamt zu marschieren und Holmes einen Brief zu schicken, war unmöglich. Der Name! Der Name, den ich ihm im letzten Frühjahr gegeben hatte! »Versprich mir, dass du eine Anzeige in der Times schaltest, wenn dieser Fall gelöst oder dein Leben bedroht ist. Frag nach Caitrin Mae. Ich werde dich finden.«

Bekäme ich je die Möglichkeit, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen? Wie viel Zeit blieb mir noch? Es würde Monate dauern, Bakterien zu isolieren, ihre Virulenz zu testen und eine Menge zu produzieren, die groß genug war, um sie als Waffe einzusetzen. Bei dem Gedanken an unsere Versuchsobjekte – Menschen, die im letzten Winter aus Arbeitshäusern entführt worden waren – zog sich mir der Magen zusammen. All die Männer und Frauen, die im Austausch für ihr Leben glücklich zwei Sovereign eingesteckt hatten. Ihre Kinder hätten sie uns verkauft, wenn ich es zugelassen hätte.

Es wurde Abend, und Durham begleitete mich nach unten ins Esszimmer. Der Tisch war mit Porzellan und Silberbesteck gedeckt, und Kerzen tauchten den Raum in ein schummriges Halbdunkel. Schwer fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Ich holte tief Luft und trat vor.

Moriarty saß über ein Buch gebeugt in einem Sessel. Im Schein des Kaminfeuers flackerte seine Silhouette unruhig an der Wand.

»Guten Abend!« Er schloss das Buch mit einem leisen Schlag, stand auf und ging einer großen Katze gleich, die glänzenden Augen auf ihre Beute gerichtet, zum Tisch. In seiner Stimme vibrierte ein unangenehmes Schnurren. Ein großer, hagerer Mann mit hoher Stirn und ergrauten Schläfen, etwa Mitte vierzig. Ein alterndes Raubtier. Seine langen Finger schlossen sich um die Rückenlehne eines Stuhls. Auffordernd zog er ihn zurück.

Ich gehorchte, doch ihm den Rücken zuzuwenden fühlte sich ausgesprochen falsch an, und mein Nacken schmerzte in Erwartung eines heimtückischen Schlages.

»Sie dürfen jetzt wieder atmen«, flüsterte er mir ins Ohr und lüpfte den silbernen Deckel einer Kasserolle. »Erlauben Sie mir, heute Abend Ihr Diener zu sein.«

Ich fragte mich, ob Durham die Tür bewachte.

Der Vogel war tranchiert und dekorativ mit Gemüse umrandet. Moriarty arrangierte Teile des Tieres auf meinem Teller, einige Erbsen kullerten ziellos umher, bis sie in der Soße ertranken.

»Danke«, presste ich heraus.

»Es ist mir ein Vergnügen.«

Wir aßen schweigend und taxierten einander. Als wir fertig waren, konnte ich mich nicht mehr an den Geschmack des Essens erinnern, zu viele ungeklärte Fragen brannten mir auf der Zunge.

»Darf ich fragen, wie Sie mich gefunden haben?«

Meine Bemühungen, mein brennendes Interesse unter Kontrolle zu halten, schienen ihn zu amüsieren. Seine Mundwinkel zuckten leicht.

»Ein Bekannter hatte mich auf einen Artikel in der Brighton Gazette aufmerksam gemacht. Zu meiner Verwunderung las ich von einer einfachen Frau, die mit großem Geschick einen höchst kunstvollen Kaiserschnitt durchgeführt haben sollte. Ich ließ es drauf ankommen und schickte Colonel Moran in die Downs, damit er sich die Sache genauer ansieht. Als er zurückkehrte und die Frau beschrieb, hatte es den Anschein, als sähe sie aus wie Dr. Anton Kronbergs Schwester. Oh, gewiss, er hielt es für unbedeutend. Doch mich ließ diese scheinbar unbedeutende Information nicht mehr los, ich rätselte, wer diese Frau sein könnte. Und schließlich machte ich mir selbst ein Bild. Es war unverkennbar.«

Mein Blick sackte auf den Teller, und ich unterdrückte ein Seufzen. Diese kleine Geste hatte meinen Vater und mich verraten? Nachdem ich meine Arzttasche monatelang erfolgreich ignoriert hatte, war ich irgendwann gezwungen gewesen, sie zu greifen und meinen Nachbarn zu Hilfe zu eilen. Mary hatte stöhnend auf dem Bett gelegen, ihr Körper schützend um ihren enormen Bauch gerollt, Blut sickerte durch ihr Kleid. Ihr Uterus war steinhart und versuchte das Kind herauszupressen, das sich jedoch weigerte zu erscheinen. John half mit zitternden Händen, bleichem Gesicht und Schweiß auf der Stirn. Er hielt den Äther und streichelte unablässig seine Frau, während ich ihren Bauch aufschnitt. Ich pellte das Kind aus seiner schützenden Hülle, der schimmernden Fruchtblase, überzogen von einem feinen Spinnennetz aus Adern. Ein Junge, der so blau war, dass ich erst dachte, er sei tot. Ich saugte ihm den Schleim aus Mund und Nase, massierte seine winzige Brust und blies Luft in seine Lungen. Keine Minute später begann er sich zu winden.

Etwas in Moriartys Erklärung stimmte nicht, ich war mir nur nicht sicher, was es war. Ich sah auf und blickte in eine harte, verschlossene Miene. Die Ausweglosigkeit meiner Lage wurde mir schlagartig bewusst, und meine Lungen zogen sich schmerzhaft zusammen. Mir fehlte die saubere Luft und Weite meiner ehemaligen ländlichen Umgebung.

»Können wir unsere Unterhaltung draußen fortsetzen? Ein Spaziergang wäre mir angenehm.«

»Wie Sie wünschen. Der Sonnenuntergang wird heute sicher reizvoll sein.«

Draußen schritt ich in Richtung der großen Ahornbäume am anderen Ende des Geländes und sog die Abendluft ein.

»Morgen werden Sie Ihr Labor in Augenschein nehmen, oder das, was davon übrig ist.« Als er mein Erstaunen bemerkte, fügte er hinzu: »Sie werden Ihren alten Platz an der medizinischen Fakultät einnehmen.«

Ein Ort, an dem ich mich auskannte. Vielleicht war meine Lage doch nicht so ausweglos.

»Mein Kutscher wird Sie morgens dorthin bringen und abends wieder abholen. In der Fakultät gelten dieselben Regeln wie hier in meinem Haus. Ein Assistent wird jeden Ihrer Schritte überwachen.«

Ich nickte. »Ich muss wissen, welche Krankheitserreger ich isolieren soll und wie Sie planen, sie einzusetzen.«

»Das werden wir gleich im Haus besprechen. Sehen Sie, meine Liebe, Deutschland und Frankreich ziehen seit einiger Zeit chemische Kriegsführung in Erwägung. Bisherige Forschungen waren allerdings nicht von Erfolg gekrönt – die Versuche unausgereift. Vermutlich ist der Anreiz nicht groß genug; ein Krieg wohl noch zu fern.«

»Was springt für Sie dabei heraus?«, fragte ich. Er ignorierte meine Frage. »Geld? Ah, Macht. Sie wollen nicht notwendigerweise einen Krieg gewinnen oder beenden, richtig? Ein Mann wie Sie könnte überall leben und seine Dienste an jeden verkaufen.«

Er blieb abrupt stehen, nahm meine Hand und hauchte mir einen Kuss auf die Finger. »Es ist mir eine große Freude, Sie kennengelernt zu haben, meine Liebe.« Seine Stimme triefte nur so vor Spott.

Ich konnte ein Grollen nicht unterdrücken. Der Mann spielte mit seinem Essen! Ich ballte die Hände zu Fäusten, es dürstete mich danach, ihm in sein arrogantes Gesicht zu schlagen.